Der Rest des Tages verging wie im Flug und ich hatte nicht einmal den Rand der nördlichen Naturzonenbrücke erreicht, als es zu dämmern begann. An diesem Tag würde ich es also auf keinen Fall mehr bis nach Keelton schaffen. Stattdessen beschloss ich, mich nach einem geeigneten Platz für mein Zelt umzusehen, um es nicht in völliger Dunkelheit aufbauen zu müssen.
Ich kam gerade über einen kleinen Hügel, als ich ein einsames Haus erblickte, das in der Mitte der Route stand. Mich überkam eine Neugierde, die ich mir in den letzten Wochen kaum hatte leisten können, und so näherte ich mich dem Gebäude. Es dauerte nur ein paar Schritte, bis ich das beleuchtete Logo mit den großen, rot-weißen Pokémon-Eiern über dem Eingang erkannte. Ein Hort.
Blinzelnd blieb ich stehen. Wenn ich Glück hatte, würde ich dort eine Unterkunft finden. Wenn nicht, würde ich zwar tatsächlich in der Dunkelheit mit dem Zelt kämpfen müssen, aber es erschien mir die sinnvollste Vorgehensweise.
Mit seiner weißen Steinfassade und dem grünen Spitzdach wirkte der Pokémon-Hort sehr einladend. In seinem umzäunten Gartenbereich konnte ich sogar einige Pokémon erkennen, die vor sich hin dösten. Dennoch atmete ich einmal tief durch, ehe ich durch die hölzerne Eingangstür trat.
Das Innere des Hauses erschien nicht weniger gemütlich, was sicherlich nicht zuletzt an den hölzernen Fachwerk-Elementen lag. Direkt gegenüber dem Eingang befand sich ein runder Tresen, hinter dem ein blondes Mädchen mit einer älteren Dame sprach.
Da sie mich noch nicht bemerkt hatten, trat ich vorsichtig näher und begrüßte sie freundlich.
„Oh!“ Überrascht drehte sich das Mädchen zu mir um. Es konnte nicht viel älter sein als ich. „Möchtest du noch Pokémon zur Pflege abgeben?“, fragte es professionell.
„Ähm, nein, tatsächlich wollte ich fragen, ob ihr hier auch Zimmer für die Nacht vermietet …“
Unsicher blickte ich zwischen dem Mädchen und der Dame hin und her, ehe mir letztere ein einnehmendes Lächeln schenkte: „Aber natürlich!“
Erleichtert atmete ich auf und schalt mich im nächsten Moment innerlich, dass ich meine Gefühle nicht besser im Griff hatte. Nun, zumindest war dies eine ungefährliche Situation.
„Nur für eine Nacht?“, fragte die Frau noch einmal nach.
„Ja, genau.“
„Ach, natürlich, du gehörst zu den Arena-Challengern!“, stellte das Mädchen erfreut fest. „Ich glaube, ich hab dich sogar bei der Eröffnungszeremonie gesehen! Die Übertragung verpasse ich nie! Schade, dass dieses Jahr bisher so wenige bei uns halt gemacht haben, aber –“
„Theresa!“, unterbrach die ältere Dame sanft den Redefluss des Mädchens.
„Oh, Entschuldigung“, sagte Theresa kleinlaut an mich gerichtet. „Manchmal lasse ich mich ein wenig mitreißen. Ich liebe es einfach, die Challenge zu verfolgen, auch wenn ich selbst viel lieber hier mit den Pokémon arbeite und …“ Ein Blick der anderen ließ sie verstummen, ehe sie fortfuhr: „Und ich sollte dir jetzt vielleicht dein Zimmer zeigen.“
Sie führte mich hinter dem Tresen eine enge Treppe hinauf und ich folgte. In Gedanken meldete sich meine Paranoia, aber alles sagte mir, dass ich den beiden vertrauen konnte.
„Oh Mann, wie unhöflich“, wandte sich meine Begleiterin wieder mir zu. „Wie heißt du eigentlich? Ich bin Theresa.“
„Emilia“, antwortete ich mit einem Lächeln.
„Emilia … werde ich mir merken. Und dann verfolge ich alle deine Kämpfe! Du hast jetzt einen neuen Fan!“, verkündete sie.
Oben im Flur öffnete sie eine der hölzernen Türen und präsentierte ein winziges Zimmer. Obwohl es neben Bett und Schrank kaum mehr Platz bot, wirkte es gemütlich statt einengend, was sicher nicht zuletzt an den freundlichen Farben lag.
„Das Bad ist den Flur runter“, erklärte Theresa nun. „Und du kannst morgen früh gerne mit uns Frühstücken. Aber wir stehen schon sehr früh auf, um uns um die Pokémon zu kümmern. Apropos: Du hast das beste Zimmer.“ Sie zwinkerte mir zu und deute zum Fenster. „Es hat nämlich den besten Blick auf den Garten.“
Überraschenderweise war es nicht Himbeere, sondern Goldi, die am nächsten Morgen als erstes erwachte. Vermutlich hatte sie die Geschäftigkeit im Hort mitbekommen, denn kurz nachdem sie mich mit ihren morgendlichen Dehnübungen weckte, hörte auch ich, dass Theresa und die Leiterin der Pension – Theresas Großmutter, wie ich am Tag zuvor noch erfahren hatte – bereits auf den Beinen waren.
Lächelnd ließ ich meinen Blick über meine zumeist noch schlafenden Pokémon gleiten. Obwohl in diesem Zimmer kaum Platz war, hatten alle darauf bestanden, außerhalb ihrer Bälle zu schlafen. Himbeere und Goldi sogar in meinem Bett. Und so gerne ich Perle ebenfalls direkt neben mir gewusst hätte, hatte er es sich doch auf dem Boden neben Schnee und Schmetterling bequem gemacht. Glöckchen saß auf der Fensterbank vor dem geöffneten Fenster und als würde er meinen Blick spüren, öffnete er die Augen und sah mich direkt an. Ich lächelte ihm zu und begann, Goldi zu kraulen.
Obwohl die Sonne erst langsam zwischen den Bäumen hinter dem Hort hervor blitzte, fühlte ich mich erstaunlich gut ausgeruht. Der größtenteils entspannte Tag hatte mir einen ebenso ruhigen Schlaf beschert. Und trotz der Angst, die der Gedanke an unseren nächsten Arenakampf noch immer in mir auslöste, konnte ich nicht anders, als dem Tag positiv entgegenzublicken. Ich musste alle Lichtblicke nehmen, die ich bekommen konnte. Und dieser Morgen umgeben von meinen Pokémon war definitiv einer davon.
Nach Theresas Ankündigung vom Vorabend war ich überrascht, die Hortleiterin in der offenen Küche zu sehen, als ich kurze Zeit später die Treppe hinunterkam. Als sie mich entdeckte, schenkte sie mir ein freundliches Lächeln. „Auch eine Frühaufsteherin, wie mir scheint?“
Ich zuckte undefiniert mit den Schultern. „Ist auf der Reise halt sinnvoll“, antwortete ich und nahm kurz darauf dankend die Tasse Tee entgegen, die sie mir reichte.
„Ich bewundere euch junge Leute. Die Arena-Challenge ist lang und anstrengend und nur wenige schaffen es bis zum Champ-Cup und dennoch seid ihr immer mit einer solchen Begeisterung bei der Sache.“ Ihr Blick schweifte in die Ferne und ich suchte nach einer Drohung ihrer Worte, wie ich sie schon so oft in Bezug auf die Challenge gehört hatte. Doch ich fand keine. „Vermutlich ist das Reisen auch gut, um sich selbst zu finden. Aber ich wusste halt schon immer, dass ich diesen Hort übernehmen wollte.“ Dann lachte sie. Ich lächelte auch, um den Kloß zu vertreiben, der sich bei ihren Worten in meinem Hals gebildet hatte. Wenn es doch nur so einfach wäre …
Zu meinem Glück ging im nächsten Moment die Hintertür auf und Theresa stand mit einem Toxel im Arm darin. „Oh, wie schön, du bist wach!“, rief sie mir fröhlich entgegen. „Hier! Das ist für dich!“
Ich blinzelte überrascht, als sie mir das Toxel geradewegs ins Gesicht hielt. Das kleine war hingegen noch überforderter als ich und begann zu schreien.
„Nein, nein, nicht weinen. Das ist doch deine neue Trainerin“, versuchte Theresa das Toxel zu beruhigen.
„Bitte was?“, mischte ich mich jetzt ein.
„Oh, ähm, klar, also ich hab ein Ei gefunden und daraus ist dieses Toxel geschlüpft und ich dachte, du könntest es doch sicher gut mitnehmen und trainieren.“
„Das kann ich nicht annehmen“, hielt ich dagegen, denn dieses Baby würde sicher nicht Cosmas Standards standhalten. Weder bezüglich des Balls, den Theresa soeben aus ihrer Tasche zauberte, noch bezüglich des Drucks, der auf mir und meinen Pokémon lastete.
„Blödsinn, natürlich kannst du“, entgegnete Theresa und streckte mir dieses Mal nur den dunklen Luxusball anstelle des gesamten Pokémons entgegen. „Es ist ein schockierend putziges Pokémon, nicht wahr?“
„Ähm, ja schon, aber“, ich suchte verzweifelt nach Gründen, dieses winzige Ding nicht in meinen Albtraum mit reinzuziehen, „wenn du es gefunden hast, gehört es vielleicht jemand anderem.“
„Ach, wir finden häufiger Eier und die meisten behalten wir hier, bis jemand die Pokémon adoptiert“, wiegelte Theresa ab.
„Trotzdem …“
„Theresa, lass unseren Gast doch erst einmal frühstücken“, mischte sich nun die Hortleiterin ein.
„Oh, ja natürlich“, meinte Theresa dann, setzte das Toxel ab und kam zu uns.
„Ich denke, du solltest das Toxel erst einmal selbst behalten“, versuchte ich noch einmal abzulehnen. „Ich habe gerade wirklich genügend andere Pokémon, auf die ich mich konzentrieren muss. Ich will nicht, dass irgendjemand zu kurz kommt.“
„Schade. Es wäre cool gewesen, ein Pokémon anfeuern zu können, dass von hier aus dem Hort kommt.“
Theresa sah so enttäuscht aus, dass ich fast nachgegeben hätte. Aber es war für alle Beteiligten besser, wenn das Toxel nicht mit mir käme. Auch wenn ich seinen Elektro-Typ für die nächste Arena echt gut hätte gebrauchen können. Unauffällig seufzte ich in meinen Tee. Ich hasste es, auf wie viele verschiedene Arten mir Cosma das Leben doch schwer machen konnte.
Nach dem Frühstück hatte Theresa sich wieder gefangen und auch selbst eingesehen, dass es Toxel wohl im Hort am besten haben würde. „Aber es gehört dir“, beteuerte sie noch einmal, als wir schon vor der Tür des Horts standen. „Also musst du versprechen, es irgendwann abzuholen.“ Sie zwinkerte mir zu. „Dann hast du einen Grund, wiederzukommen, wenn du erst mal Champ bist.“
Das Lächeln gefror auf meinen Lippen und ein Schauer durchlief mich. So weit hatte ich noch nie gedacht. Was würde passieren, wenn ich es tatsächlich schaffte, Delion zu besiegen? Würde ich frei sein, und zurückkommen können? Oder …
„Ich verspreche, ich werde daran denken.“ Das war alles, was ich versprechen konnte. Auch wenn ich mir so sehr wünschte, tatsächlich wiederkommen zu können.
Ehe ich mich versah, hatte mich Theresa in eine Umarmung zum Abschied gezogen. „Ich freue mich schon darauf!“, verkündete sie und ließ mich wieder los. „Und ich werde dein größter Fan werden, versprochen!“
„Danke“, erwiderte ich etwas überfordert. Ich bewunderte ihre Offenheit. War ich nicht früher auch so gewesen? Wenn auch etwas weniger extrem. Ich ignorierte den Gedanken und wandte mich zum Gehen. „Auf Wiedersehen.“
„Wir sehen uns!“, rief Theresa mir hinterher. „Und viel Glück!“
Ich schenkte ihr noch ein letztes Lächeln. Viel Glück konnte ich gut gebrauchen.
Das ist nun also der Teil, der alles aufgehalten hatte. Ich hatte ihn übersprungen, weil so vieles unklar war. Würde ich den Hort überhaupt besuchen? Würde ich das Toxel erwähnen, das zwar tatsächlich in meiner Box sitzt, aber von mir nicht genutzt wurde, weil es halt einfach absolut nicht in das Narrativ passt? Wie man sieht, habe ich mich dazu entschieden, sein "in der Box sitzen" irgendwie doch einzubauen. Es fühlt sich aber schon irgendwie seltsam an. Dieses ganze Kapitel wirkt irgendwie sehr gestaucht, alles zu kurz angerissen. Ich wollte aber auch nicht zu viel Zeit damit verbringen, weil es a) nicht so wichtig für die Arena-Geschichte ist und b) eh schon viel zu lange gedauert hat. Vielleicht bin ich aus dem Grund aber auch einfach kritischer gegenüber diesem Abschnitt.
Ich mag Theresa trotzdem. Sie ist die junge Frau, von der man die Pokémon-Eier bekommt, allerdings kombiniert mit der Funktion der Pokémon-Züchterin im Inneren des Hortes (die einem das Toxel gibt) und mit dem Namen einer anderen Züchterin, die man auf der Route bekämpfen kann. Wenn das Spiel einem nicht mehr Charaktertiefe gibt, muss man eben kreativ werden.^^
Rusalka Charakter meiner Pokémon ist mir sehr wichtig. Schön, dass es auch anderen so geht. Ich hab manchmal Angst, dass das zu kurz kommt oder ich irgendwas vergesse. Und es freut mich, dass du selbst nach der längeren Pause noch/wieder hier bist! Danke für deine ganzen Kommentare!