Vor nicht allzu langer Zeit hat es sich ergeben, dass ich eine äußerst interessante Konferenz an der Pokémon-Akademie ganz hier in der Nähe besuchen durfte. Es waren hochrangige Professoren aus allen Regionen angereist, die sich einige Tage lang auf mehreren Tagungen über die verschiedensten Themen austauschten. Mein Interesse wurde besonders von einer Diskussionsrunde geweckt, welche den vielsagenden Titel „Die Herrscher der vier Elemente – regionsgebunden oder regionsübergreifend?“ trug.
Folglich betrat ich mit hohen Erwartungen den Hörsaal, der sich nicht nur bis auf den letzten Platz füllte; einige Besucher mussten sogar mit Bedauern wieder weggeschickt werden, da nicht einmal mehr die Stehplätze für alle Interessierten ausreichten.
Margit, die allseits bekannte Moderatorin der Radioshow „Professor Eichs Pokémon-Talk“, war aus Jotho angereist und leitete die abendliche Diskussionsrunde. Zunächst wurden der Reihe nach die anwesenden Professoren vorgestellt. In diesem Raum hatte sich die Crème de la crème der akademisch gebildeten Pokémon-Experten aus allen Regionen versammelt: Professor Eich aus Kanto, Professor Lind aus Jotho, Professor Birk aus Hoenn, Professor Eibe aus Sinnoh, Professorin Esche aus Einall und schließlich Juniorprofessor Platan aus Kalos sollten sich heute mit bereits genannter Fragestellung befassen.
Es wurde auch gar nicht lange gefackelt, sondern gleich zum Thema übergegangen. Margit fasste die Kernaspekte des Abends für die Zuhörer noch einmal kurz zusammen: „Herrscht ein bestimmtes legendäres Pokémon tatsächlich regionsübergreifend über eines der vier Elemente? Oder nehmen je nach Region unterschiedliche Pokémon eine Schlüsselposition ein?“
Professor Birk ergriff als Erster das Wort und bezog eindeutige Stellung: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die vier Elemente definitiv regionsübergreifend beherrscht werden. Schauen wir es uns im Detail an: Rayquaza beispielsweise lebt in der Ozonschicht, die unseren gesamten Planeten überspannt, und wacht über alle Regionen. Groudon hat das Land durch Vulkanausbrüche erschaffen und verkörpert definitiv die Elemente Erde und Feuer. Und Kyogre ist die uneingeschränkte Personifizierung der Meere, die alle Regionen umspülen. Auch unsere Nachforschungen, die den erbitterten Kampf zwischen Groudon und Kyogre belegen, der erst durch Rayquazas Intervention geschlichtet werden konnte, weisen auf die Entstehung der ganzen Welt und aller Regionen durch diesen Konflikt hin.“
Doch kurz darauf begann Professorin Esche ihren Interpretationsansatz: „Dem würde ich nicht zustimmen. Ich bin der Ansicht, dass man das nicht pauschalisieren kann – betrachten wir doch einmal Einall. Eine strikte Trennung zwischen den Elementen ist auch nicht wirklich möglich; oder wie lässt sich ansonsten die Existenz solcher legendärer Pokémon wie Boreos, Demeteros und Voltolos erklären? Rayquaza mag zwar den Himmel und die Atmosphäre erschaffen haben, aber ist es deshalb gleich der ultimative Herrscher des Elementes Luft? Ist da nicht Boreos, der Herrscher aller Winde, viel zutreffender? Oder nehmen wir Voltolos: Seine Blitze stehen nicht nur mit dem Typ Elektro in Verbindung, sondern aufgrund ihrer Temperaturen auch automatisch mit dem Element Feuer. Darüber hinaus verursachen sie häufig Waldbrände. Und zeitgleich ist Voltolos doch dem Typ Flug zuzuschreiben, gehört also durchaus auch dem Element Luft an. Ganz zu schweigen von Demeteros: Es gewinnt seine Energie aus Wind und Donner, also aus dem Element Luft, und überträgt diese auf das Element Erde, indem es Äckerböden mit Nährstoffen anreichert.“
„Ganz richtig, verehrte Kollegin!“, meldete sich nun Professor Lind zu Wort. „Vergessen wir nicht Lugia, welches mit seinen Schwingen Stürme erzeugen kann, die 40 Tage andauern – auch ein repräsentatives legendäres Pokémon für das Element Luft. Oder betrachten wir Ho-Oh, welches durch seine Typkombination aus Flug und Feuer ein sehr schönes Beispiel für die Verschmelzung der Elemente Luft und Feuer abgibt.“
„Quatsch!“, widersprach Professor Birk dann, „Das sind alles nur Wetterphänomene! Stürme, Gewitter, Regenbögen… Aber es muss ein hauptverantwortliches legendäres Pokémon dafür geben. Selbst im alten Griechenland bestand Einigkeit darüber: Da gab es zum Beispiel auch Iris, die Göttin des Regenbogens, die Anemoi als Götter der Winde – und doch war Zeus als der Göttervater auf dem Olymp ihr oberster Herrscher und zeitgleich oberster Wettergott. Und so verhält es sich auch mit unseren legendären Pokémon: Rayquaza ist der Herrscher der Lüfte, und andere Legendäre wie Ho-Oh oder die drei Wettergottheiten aus Einall unterstehen ihm dennoch.“
„Was Professor Birk sagt, erscheint mir schon schlüssig.“, positionierte sich nun auch Professor Eibe. „Wie auch in der griechischen Mythologie Poseidon, dem Meeresgott, für sein Element je nach Gewässerart verschiedene Helfer dienten, so ist es auch bei den Pokémon. Es gab Flussgötter wie den mächtigen Acheloos oder Styx, oder die Najaden extra für Süßgewässer. Was ist in dieser Hinsicht mit legendären Pokémon wie Phione und Manaphy? Ich würde sie beispielsweise auch nicht als die übergreifenden Herrscher des Elementes Wasser klassifizieren, da man sie nur in warmen, aber niemals in Eismeeren antreffen würde. In Sinnoh gibt es schlicht und ergreifend kein legendäres Pokémon, welches alle Meere auf einmal kontrolliert. Als logische Schlussfolgerung unterstehen Phione und Manaphy scheinbar tatsächlich Kyogre und sind seine „Helfer“ in warmen Meeresgewässern.“ Nach einer kurzen Atempause fuhr er fort: „Und als weitere Belege gelten Cresselia, die Mondgöttin, oder Dakrai, der Herrscher der Alpträume. Der Mond ist schließlich auch in jeder Region zu sehen, und überall leiden die Menschen unter nächtlichen Schreckensvorstellungen…“ Währenddessen nickte Professor Birk beständig und fügte hinzu: „Oder kann sich auch jeder Mensch etwas wünschen, und Jirachi wird ihm beistehen. Übrigens…“, wandte er sich nun Professorin Esche zu: „…gilt das doch auch für die legendären Pokémon aus Einall: Sieger aller Regionen werden von Victini begünstigt, und Meloettas Gesang inspiriert sowohl SängerInnen als auch TänzerInnen aus aller Welt!“
Zu diesem Zeitpunkt bemerkte ich einen ersten Anflug von Kopfschmerzen: All diesen wissenschaftlichen Argumentationsketten zu folgen erwies sich doch als anstrengender, als ich erwartet hatte. Wenigstens schien ich mit meiner Verwirrung nicht alleine zu sein, den anderen ZuhörerInnen im Hörsaal schien es ebenso zu ergehen. Die eine Hälfte der Anwesenden befürwortete eher Professor Linds und Professorin Esches Theorien, während die Anderen eher mit Professor Birks und Professor Eibes Ansichten konform gingen.
„Verehrte Kollegen,“, widersprach die Professorin, „ihr vergesst, dass es sich bei diesen legendären Pokémon aber um solche handelt, die mit keinem bestimmten Element in Verbindung stehen. Dakrai gehört zum Beispiel dem Typ Unlicht an, Jirachi und Victini sind Psycho-Pokémon und so weiter.“
„Richtig!“ Nun ergriff Professor Lind erneut das Wort. „Und ich stimme Kollegin Esche weiterhin zu, dass sich die Elemente nicht voneinander trennen lassen und meiner Ansicht nach in jeder Region eigens kontrolliert werden. Bei uns in Jotho bricht ein Vulkan aus, wenn Entei brüllt, aber in Kalos ist es Volcanion, das über das Magma herrscht – wohlgemerkt in der reichlich ungewöhnlichen Typkombination aus Feuer und Wasser, wo wir wieder bei der Verschmelzung der Elemente wären. Doch zurück zum Element Feuer: In Kanto fliegt Lavados mit feurigen Schwingen am Himmel, in Sinnoh wohnt Heatran in vulkanischen Höhlen, und in Einall heizt Reshiram dem Weltklima durch seinen Turbobrand ein. Und bei euch in Hoenn ist es eben Groudon, das im Magma schläft – was aber noch längst nicht bedeutet, dass es alle Feuer der Welt kontrolliert.“
Passend zum Thema Feuer hatte sich die Atmosphäre im Saal mittlerweile ziemlich aufgeheizt, nicht nur unter den hitzig diskutierenden Experten, sondern auch unter den Anwesenden. Darüber hinaus hämmerten mittlerweile brennende Kopfschmerzen gegen die Innenseite meiner Schädeldecke, was durch die schlechte Luft im Raum nur noch verstärkt wurde. In diesem Moment wurde mir alles um mich herum plötzlich zu viel, und in einer Kurzschlussreaktion verließ ich den Hörsaal. Einige BesucherInnen warfen mir böse Blicke zu, als ich die mich umgebenden Personen bitten musste, kurz aufzustehen, damit ich mich heraus schlängeln konnte.
Wie die Diskussionsrunde ausgegangen ist, habe ich in der Tat nie erfahren. Stattdessen habe ich lieber noch einen kurzen Abendspaziergang unternommen, um wieder zu Besinnung zu kommen. Währenddessen kreisten die Gedanken in meinem Kopf, und ich blickte zum hell strahlenden Vollmond auf: ‚Ist das tatsächlich Cresselia, die die Laufbahn des Mondes kontrolliert? Vor gar nicht allzu langer Zeit ist mir das Gerücht zu Ohren gekommen, in einer weit entfernten Region herrsche ein anderes legendäres Pokémon über den Mond…‘ Eine Windbö streifte durch meine Haare, und ich fragte mich, wem sie nun zuzuschreiben war: Rayquaza, Lugia, oder doch Boreos?
Mein Fazit: Dieser Abend hat mir nicht wirklich Aufschluss gegeben, sondern nur noch mehr Verwirrung gestiftet. Aber ich bin zu der Ansicht gekommen, dass man keine tatsächliche Aussage darüber treffen kann, ob und wenn ja welches legendäre Pokémon jetzt welches Element ausnahmslos beherrscht. Vielleicht ist es auch besser, dass wir es nicht eindeutig wissen – denn dadurch bleibt die Faszination für das Unerklärliche, für die Phänomene, die über unseren menschlichen Einfluss hinausreichen, bestehen.