Der Bahnhof von Engine City war der größte, den ich bisher besucht hatte. Obwohl es inzwischen schon fast Mitternacht war, war er noch immer gut besucht. Die anderen Passagiere, die mit mir aus Keelton ankamen, strömten dem Ausgang entgegen, doch ich hatte noch kein großes Interesse, sofort weiterzugehen. Durch die Zugfahrt kam mir mein Plan zusehends schlechter vor. Ich wusste doch gar nicht, was mich in der Naturzone erwarten würde. Wie konnte ich mir dann so sicher sein, dort tatsächlich einem Pflanzen- oder Elektropokémon zu begegnen?
Ich atmete tief durch und kaufte mir erst einmal ein Tafelwasser aus dem nahestehenden Automaten. Ich war hier, weil es eine Chance war. Und ich wollte diese Chance auch ergreifen.
Etwas ruhiger ging ich vorbei an Geschäften, Schaltern und sogar einem Restaurant, das noch immer geöffnet hatte, und verließ schließlich das große Backsteingebäude, in dessen Glasdach sich das Mondlicht spiegelte. Irgendwie hatte die Stadt etwas Ruhiges und Entspanntes an sich, als sammle sie neue Kräfte für den nächsten Tag. Ich allerdings fand mich schon nach wenigen Schritten in der Erinnerung an meinen letzten nächtlichen Spaziergang hier wieder. Und daran wollte ich gerade nun wirklich nicht denken. Ich würde sicher nicht noch einmal versuchen, nachts ein Pokémon in der Naturzone zu fangen.
Wie von selbst trugen mich meine Füße zum Knospi Inn und erst als ich vor den Schiebetüren aus Milchglas stand, fiel mir ein, dass ich ja auch im Pokémon-Center hätte übernachten können. Aber nun war ich schon einmal hier und es war spät. Hoffentlich hatten sie noch ein Zimmer für mich.
Als sich die Türen vor mir öffneten, bot sich mir ein ähnlicher Anblick wie beim ersten Mal, als ich das Hotel betreten hatte. Vor der Statue des Helden von Galar stand eine mir bekannte Person, die sie betrachtete. Nur war es dieses Mal nicht Sania.
„Oh, hallo“, begrüßte ich Mary, die ebenfalls ein wenig überrascht wirkte, als sie sich zu mir umdrehte.
„Emilia“, sagte sie zur Begrüßung. „Du bist ja noch ganz schön spät unterwegs. Du bist wohl auch eine richtige Nachtschwärmerin.“
„Ja, ähm“, begann ich und irgendwie hatte ich das Bedürfnis ihr alles zu sagen. Zumindest alles, was ich ihr sagen konnte. „Also eigentlich sollte ich auch gar nicht hier sein. Na ja, ich hab Kate noch nicht besiegt.“ Es fühlte sich peinlich an, das zuzugeben, aber in Marys Augen lag kein Funken Verurteilung. Sie hörte mir einfach nur zu. „Ich wollte einfach in der Naturzone nach einem Pokémon suchen, das mich unterstützen könnte.“
„Ja, die richtigen Partner sind wichtig“, sagte Mary und blickte liebevoll zu ihrem Morpeko, das neben ihr stand. Dann wandte sie ihren Blick wieder zu mir. „Solltest du aber nicht fündig werden; ich habe gehört, dass man bei Keelton nach Schmerbe mit Funkensprung angeln kann.“
Die Kombination aus ihrem Blick und ihrer Aussage bereitete mir Unbehagen. Als ahnte sie irgendwas. Auch wenn ich nicht wusste, was. Ich zwang mich dazu, ihr zu danken, aber sie winkte nur ab.
„Aber du willst ja sicher nicht jetzt sofort los“, sagte sie dann. „Deshalb hast du doch bestimmt kurz Zeit, mir bei etwas zu helfen, oder?“
„Wobei?“
„Ich will testen, ob ich die Arena-Challenge gewinnen kann. Bevor du auf dein Zimmer gehst, würde ich gerne noch mit dir einen Pokémon-Kampf austragen.“
Obwohl es bedeutete, dass Mary nicht so viel ahnen konnte, wie ich befürchtet hatte, ließ mich diese Kampfaufforderung erschaudern. „Ich weiß nicht …“
„Hey, wo ist dein Kampfgeist?“
„Na, du hast schon den zweiten Orden, nehme ich an. Du bist also schon weiter und …“ Mir gingen die Argumente aus, weil ich die Angst um meine Pokémon nun nicht wirklich anbringen konnte.
„Jeder Kampf bringt Erfahrung“, meinte Mary. Dann setzte sie hinzu: „Und ich würde dich nicht fragen, wenn ich keinen fairen Kampf erwarten würde.“
Diese Aussage überraschte mich gleich doppelt. Zum einen fühlte ich mich geehrt, dass sie mich als würdige Gegnerin ansah, obwohl ich erst einen Orden hatte, zum anderen fragte ich mich wieder, wie eine so aufrichtige Trainerin einen Fanclub haben konnte, der bereit war, Fahrräder zu stehlen, um Arena-Challenger zu belästigen. „In Ordnung“, stimmte ich schließlich zu.
Über Marys Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns, so schnell, dass man es leicht verpassen konnte. Dann sah sie mich wieder mit scheinbar ausdrucksloser Miene an und sagte: „Ich bin keine gute Verliererin, musst du wissen … Aber ans Verlieren denke ich ja eh nicht.“
Ich denke ständig daran. Aber ich werde nicht verlieren.
Obwohl die Worte ungesagt blieben, warf ich ihr einen grimmigen Blick zu und rief Schmetterling in den Kampf. Doch als ich sah, das Mary mit Glibunkel startete, machte ich von meinem Wechselrecht gebrauch und schickte stattdessen Schnee in den Kampf.
„Du willst es mir echt nicht leicht machen“, kommentierte Mary.
„Die packst du Mary!“, rief plötzlich eine Stimme.
„Ja, mit links!“
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass von irgendwoher zwei Rüpel von Team Yell aufgetaucht waren. Sie standen oberhalb der wenigen Treppenstufen, die zur Rezeption führten und feuerten ihr Idol tatkräftig an.
Mary jedoch schien die beiden nicht weiter zu beachten und befahl ihren Glibunkel Giftschock einzusetzen.
Ich wusste, dass Schnee in dieser Situation nicht würde ausweichen können. Da Gift-Attacken jedoch keine große Wirkung haben sollten, war ich nicht zu besorgt. Und tatsächlich steckte mein Pampuli die Attacke gut weg. „Schnee, kontere mit Dampfwalze!“
Der Hotelboden fing bedrohlich an zu beben, ehe sich die Energie beim gegnerischen Pokémon entlud und Glibunkel mit nur einem Treffer besiegte.
Selbst überrascht sah ich zu Schnee. „Super gemacht!“, lobte ich mein Pokémon und auch Mary nickte anerkennend.
„Ich habe doch gesagt, du wirst mir einen guten Kampf liefern. Zurrokex, jetzt ist dein Auftritt!“
Marys zweites Pokémon kam selbstsicher aus seinem Ball.
„Schnee, Doppelkick!“
„Halt‘ dagegen mit Fußkick!“
Beide Pokémon liefen aufeinander zu und schlugen mit den Füßen gegeneinander. Obwohl Schnee durch den zweiten Kick die Oberhand gewann und Zurrokex zum Schwanken brachte, merkte ich, dass der Attackenaustausch auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen war.
„Wie stehst du zu Heilitems in Kämpfen?“, fragte Mary.
Sie war die erste, die fragte. Und einen Moment lang war ich versucht, mich dagegen zu entscheiden, um meinen aktuellen Vorteil auszunutzen. Aber es war nicht fair. Zumal ich dann auch keine Chance hätte, meinen Pokémon zu helfen, sollte es einmal hart auf hart kommen.
„Ich würde alles tun für meine Pokémon“, sagte ich, ob zu ihr oder zu mir wusste ich nicht genau, aber ich gab Mary mit einem Blick zu verstehen, dass sie dasselbe tun sollte.
Sie nickte mir zu und zückte einen Supertrank, mit dem sie ihr Zurrokex heilte, während ich überlegte, welche Strategie helfen könnte. Doppelkick war offensichtlich die richtige Idee, aber vielleicht gab es eine bessere Möglichkeit, es einzusetzen.
„Schnee, setz‘ noch einmal Doppelkick ein, ziele auf seine Beine!“, rief ich, als der Heilungsprozess beendet war.
Durch die Ablenkung hatte Schnee bei diesem Angriff die Oberhand und traf Zurrokex, ehe es selbst zu einer Attacke ansetzen konnte, so, dass es ins Straucheln geriet. „Und noch einmal!“, befahl ich, während Mary noch versuchte, ihr Zurrokex zu einer Kopfnuss anzutreiben. Doch es war zu spät. Schnees starke Hufe brachten das gegnerische Pokémon zu Fall und es blieb kampfunfähig liegen.
„Und du dachtest, es wäre nicht fair“, kommentierte Mary, als sie Zurrokex zurückrief. „Aber mit Morpeko wirst du nicht so einfach fertig.“
Ich sah zu Schnee, während das kleine Mauspokémon auf unser improvisiertes Kampffeld sprang. Sie hatte schon einiges einstecken müssen, aber sie war meine beste Wahl gegen Elektropokémon. Und sie war zäh. „Wir werden sehen“, sagte ich nur.
Mary musterte mich einen Moment, als würde sie versuchen zu ergründen, warum ich nicht so motiviert klang, wie ich es vermutlich sollte. Ich wusste nicht, ob sie etwas fand, aber ich hielt ihrem Blick stand. Als sie wegsah, wusste ich nicht, ob sie gefunden hatte, wonach sie suchte, oder einfach aufgab. Und ich wusste nicht, welche Variante die Leere in mir auslöste.
Dann wandte sich Mary wieder völlig dem Kampfgeschehen zu. „Hm, ich glaube, diese Attacke bringt meine Gefühle gut zum Ausdruck. Na, was meinst du?“, meinte sie. Und im Gegensatz zu mir, die ich ihre ersten beiden Pokémon nur mit meinem Pampuli besiegt hatte, wirkte sie, als würde sie diesen Kampf genießen. „Morpeko, Biss!“
Ich war mir nicht sicher, ob Biss nun wirklich die Attacke war, die Marys Gefühle beschrieb, aber die Frage hatte mich zumindest so weit abgelenkt, dass ich völlig vergessen hatte Schnee einen Konter zu befehlen. Obwohl sie direkt getroffen wurde, sorgte glücklicherweise ihre Fähigkeit Zähigkeit dafür, dass sie nicht zu sehr ins Schwanken geriet. Ich durfte mich auf keinen Fall noch einmal so ablenken lassen.
Schnell schüttelte ich den Kopf und warf Schnee eine Sinelbeere zu. Wenn Mary Heilitems nutzte, konnte ich das auch. Und mein Pampuli schien durchaus glücklich über diesen kleinen Kraftschub.
„Schnee, Dampfwalze. Gib alles, was du hast!“
Ich spürte, dass auch Schnee den Kampf schnell beenden wollte, ehe sie noch mehr einstecken musste. Das Inn erbebte sogar noch stärker als beim ersten Mal und nur einen Moment später lag auch Morpeko besiegt am Boden. Ich hatte es geschafft. Schnee hatte es geschafft.
„Du hast mich besiegt …“ Mary sah einen Moment zur Seite, doch dann fixierte sie mich mit ihrem Blick: „Mit nur einem Pokémon. Du bist nicht schwach.“
„Danke.“ Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Dass ich vermutlich überlevelt war?
Die Rüpel von Team Yell ließen enttäuscht die Köpfe hängen, aber niemand von uns beachtete sie weiter. „Ich danke auch“, entgegnete Mary. „Aber jetzt hau ich mich am besten ins Bett, um morgen fit zu sein, wenn ich Kabu herausfordere. Und du solltest auch schlafen gehen.“
„Da hast du wohl recht.“
Gemeinsam gingen wir zur Rezeption. Da noch nicht viele Challenger die ersten beiden Arenaleiter besiegt hatten, war tatsächlich noch mehr als genug frei, sodass ich ein Zimmer für die Nacht bekam. Außerdem gaben Mary und ich unsere Pokémon beim hotelinternen Pokécenter-Service ab, damit sie morgen früh wieder fit waren. Allerdings ließ ich nur Schnee dort. Ich würde den Rückhalt meiner Pokémon brauchen, um nicht in Zweifeln über meinen morgigen Ausflug in die Naturzone zu versinken. Doch kaum hatte ich mich in mein Bett gelegt und fühlte, wie Goldi sich an mich kuschelte, schlief ich auch schon ein.
"Hoffentlich komme ich im April trotz täglichen Haiku mal wieder weiter", sagte sie. Und sie lag falsch ... Aber das Mai-Update wollte ich nicht verpassen. Zumal ich sogar etwas weitergeschrieben habe. Nämlich den zweiten Arenakampf. Den ich vor zweieinhalb Jahren bestritten habe. Ähm, ja ...
Hier also, wie angekündigt Dinge, die im Spiel erst später passieren. Aber es ergab einfach keinen Sinn, sie nicht jetzt abzuhandeln, wenn ich etabliert habe, dass Mary weiter ist. Zumal ich glaube, dass ich beim nächsten Mal zusammen mit Hop ankommen werde. Na ja, erstmal muss ich die Lücke im kommenden Kapitel bereinigen. Und dann die in der Galar Mine 2. Und dann sollte ich endlich mal weitermachen. Also so richtig im Spiel. Ich freue mich eigentlich auf den nächsten Arenakampf; aber ich habe auch etwas Angst davor. So wie immer. Dabei habe ich den Großteil meiner Pokémon in meiner letzten Nuzlocke in normalen Trainerkämpfen verloren und nicht in Arenen. Tja. Ich sollte wohl einfach schreiben und nicht nur darüber nachdenken, was ich gerne schreiben würde.
Rusalka, ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht, noch ein Kapitel länger auf den Ausflug in die Naturzone warten zu müssen. Aber es freut mich, dass dir die Charakterumsetzungen gefallen. Es macht mir Spaß, gerade Sanias Rolle auszuweiten und sie als Freundin von Emilia zu etablieren, die nicht jederzeit eines ihrer Pokémon besiegen könnte. Und Hop macht auch Spaß. Ich weiß nicht, was die Leute gegen ihn haben. Ich mag ihn. Und davon ab danke nochmal, dass du immer noch dabei bist :3