„Warum rebellierst du?“
Ein gelbes Auge starrte aus dem grauen Gebüsch, beobachtete aufmerksam das graue Wasser im dunklen Teich inmitten der farblosen Felsen und Pflanzen unter einem ewig erstarrten Himmel. Orte wie diese waren die schlimmsten. Stellen, denen scheinbar jegliche Kolorierung abhanden gekommen war und an denen sich nichts mehr regte, nicht einmal der winzigste Funken Leben. Gerade in Gegenden wie dieser musste es früher am hellsten und lebendigsten gewesen sein, hier hatte die Lähmung am heftigsten zugeschlagen.
Es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Man musste es hinnehmen. Den Lauf der Dinge akzeptieren und sich den Mächten fügen, die dafür verantwortlich waren. Auflehnung wurde mit dem Tode bestraft. Was konnte man also schon tun? War es nicht besser zu leben, selbst wenn es in einer solch tristen, stillen Welt war? Wer würde schon gerne sein Leben riskieren, um die Grundlage dieser Ära zu ändern, das unverrückbare Fundament einer Welt, die schon lange nicht mehr zu retten war?
Solcherlei Gedanken beherrschten den Verstand der meisten Pokémon und Menschen dieser Tage. Sie vegetierten vor sich hin, furchtsam, niedergedrückt, im ewig dunklen Nebel, und sie nannten es Leben. Aber das war kein Leben. Es war nichts weiter als ein deprimierender Schatten einer Existenz, nicht wert, als wirkliches Leben bezeichnet zu werden.
Warum also rebellierte er, wo es doch so unmöglich schien? Warum konnte er nicht hinnehmen, was alle Anderen so leichtfertig akzeptierten? Es war simpel: Er wollte nicht länger ein solch armseliges Dasein führen, nicht länger in einer stillstehenden Welt leben und nur Tag für Tag auf das Ende warten, ohne jemals einen Sinn in alledem zu finden.
Denn dies war sein Sinn, seine Motivation. Er lebte für die Rebellion, die Revolution, für einen neuen Sonnenaufgang. Und nichts und niemand würde ihn daran hindern, dieses Ziel zu erreichen. Vielleicht würde er scheitern, aber er würde nicht aufgeben wie so viele Andere, und wenn ihn Schatten-Dialgas Häscher erwischten, so würde er wenigstens in der Gewissheit abtreten, es versucht zu haben. Sollte es aber gelingen… sollte dieses Vorhaben wie durch ein Wunder doch von Erfolg gekrönt sein… so hätte er sein Leben für eine Sache gegeben, wie es keine wundervollere gab.
Für die Erlösung und Wiederbelebung eines ganzen Planeten. Nein, so war es falsch ausgedrückt. Es würde keine Wiederbelebung geben. Sondern eine Revision der Geschichte.
„Los jetzt!“, raunte er nach einer Weile an seine beiden Begleiter. „Die Luft ist rein!“
Eilig huschte er aus dem Gebüsch, in dem sie Deckung gesucht hatten, seine Freunde dicht hinter sich wissend. Lange Zeit war er allein gewesen, hatte sich nur um sein eigenes Überleben geschert, war nicht anders gewesen als der Rest. Geistlos, verzagt, erstarrt. Doch nachdem er erwacht war und beschlossen hatte, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen, hatte er wider aller Erwartungen tatsächlich Mitstreiter gefunden – noch dazu war einer davon ein Mensch! Früher hätte er es nie für möglich gehalten, mit einem Menschen zusammenzuarbeiten, und es hatte seine Zeit gedauert, bis sie zu diesem eingespielten Team geworden waren, aber nun war seine Partnerin nicht mehr aus seinem Leben wegzudenken – oder sollte er sie eher Komplizin nennen? Immerhin waren sie Kriminelle, ja, sie waren die Feinde der gesamten Welt, trachteten sie doch nach nichts weniger als deren Zerstörung.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit, schoss es ihm durch den Kopf. Indem wir die Welt zerstören, retten wir sie.
„Hier lang.“ Celebi, die kleine, rosafarbene Fee, welche die dritte im Bunde war, wies in eine Richtung, in welcher der schmale Wildpfad, dem sie bislang gefolgt waren, abrupt endete, als wagten sich die meisten Pokémon nicht jenseits einer unsichtbaren Grenze, die sich dort befand.
„Sie spüren die Macht, die von dort ausgeht“, erklärte Celebi, als sie seinen besorgten Blick sah. „Der Zeittunnel ist nicht mehr fern.“
Nickend setzte er seinen Weg fort und ging wie gewöhnlich voran. Es wäre nun bald so weit – sie würden in die Vergangenheit reisen, in eine Zeit vor der ewigen Nacht, als die Sonne noch hoch am Himmel gestanden hatte, um zu verhindern, dass es jemals zur Lähmung des Planeten kam. Wie es wohl sein würde? Er konnte es sich kaum vorstellen… alles Licht, das er jemals gesehen hatte, war aus kleinen Quellen gekommen, verbotenen Quellen, für deren Nutzung manch einer schon ohne Wiederkehr in den Verliesen unter dem Zeitturm verschwunden war. Es fiel ihm manchmal noch immer schwer, daran zu glauben, dass es einstmals tatsächlich einen riesigen Feuerball gegeben haben sollte, der den ganzen Planeten in weißes Licht tauchte, doch die Recherchen, die sie über Monate und Jahre hinweg angestellt hatten, ließen keinen anderen Schluss zu, als dass die alten Legenden der Wahrheit entsprachen.
Die Geschichten von einer friedlicheren, glücklicheren Welt voller Abenteurer und Erkunder… nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie es wohl gewesen wäre, in solch einer Zeit aufzuwachsen.
Ich werde es nie erfahren. Aber vielleicht kann ich dafür sorgen, dass viele Andere die Gelegenheit dazu erhalten.
Er warf seiner menschlichen Gefährtin einen Blick zu, den sie bemerkte und mit einem Lächeln erwiderte. Ihr von braunem, lockigem Haar umrahmtes Gesicht strahlte dabei einen seltsamen Glanz aus, der sich vor allem in ihren grünen Augen manifestierte. Vom ersten Tag an, seit sie ihm jene Frage gestellt hatte, warum er rebellierte, war er von diesem Glanz fasziniert gewesen. Sie war in dieser Welt die einzige, die niemals unglücklich wirkte, immer motiviert schien und nicht zuließ, dass die Dunkelheit sie brach. Auch wenn er inzwischen wusste, dass auch sie durchaus zweifelte, stand für ihn doch außer Frage, dass sie der Schlüssel zum Licht der Vergangenheit war. Ihr dimensionaler Schrei… diese Fähigkeit, die sie durch Zeit und Raum sehen ließ, kombiniert mit ihrer tiefgreifenden Entschlossenheit und ihrem eisernen Willen… ja, wenn es jemanden gab, der diesen verdammten Planeten, dieses verfluchte Zeitalter zurück ins Licht zu führen vermochte, dann sie. Daran glaubte er mit ganzem Herzen.
Bald schon öffnete sich der Wald zu einer freien Fläche hin, welche nach einigen dutzend Metern abrupt an einer steil aufragenden Felswand endete, die sich jedoch kaum von der tristen, grauen Umgebung abhob. Dasselbe konnte nicht von dem mysteriösen, blauen Orb gesagt werden, welcher dort knapp über den Boden schwebte, in unregelmäßigen Abständen blaue Funken versprühend. Es war eine geradezu dreiste Lichtquelle, so unverfroren präsentiert auf diesem unbewachsenen Plateau, dass es ihn stark wunderte, warum sie nicht längst entfernt worden war, bis es ihm allmählich dämmerte.
„Ist das… der Zeittunnel?“
„In seiner inaktiven Form, ja“, bestätigte Celebi. „Es gibt nur wenige Orte wie diesen auf der ganzen Welt, und ich kenne nur eine Handvoll davon. Schatten-Dialgas Günstlinge setzen alles daran, die Existenz der Zeittunnel geheimzuhalten, aber es braucht schon mehr, um mich, ein Zeitreise-Pokémon, zu täuschen, ha!“
Sie schnippte mit den Fingern und schwebte hinüber zum Tunnel, über welchem sie zu einem schaurigen Lied anstimmte, das ebenso kurz wie gänsehautverursachend war. Als schon nach wenigen Sekunden der letzte Ton verhallte, blitzte die magische Kugel schlagartig auf, sodass er sich schützend einen Arm vor die Augen halten musste. Sobald er wieder hinsehen konnte, befand sich an der Stelle, über der noch immer Celebi schwebte, tatsächlich ein tunnelartiges Gebilde, das augenscheinlich aus reiner, instabil flackernder Energie bestand.
„Schnell jetzt, ihr beiden“, drängte Celebi ihn und seine Partnerin. „Je länger ich ihn geöffnet halte, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir bemerkt werden. Nein… Schatten-Dialga uns wahrscheinlich längst bemerkt. Zwirrfinst war uns ohnehin auf den Fersen, aber jetzt weiß er genau, wo er suchen muss.“
Wie um ihre Worte zu bestätigen, erklang keckerndes Gelächter aus dem Wald, gefährlich nahe. Die Zobiris hatten sie beinahe eingeholt! Jetzt galt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Er sah noch einmal das Mädchen an seiner Seite an. Sie nickten einander entschlossen zu. Es gab keinen Grund, jetzt noch zu zögern, noch war es nötig, kostbare Augenblick für unnötige Floskeln zu verschwenden. Sie hatten diesen Moment wie auch ihren Auftrag gefühlt tausendmal durchgesprochen. Sie wussten beide, was zu tun war und was auf den Spiel stand.
Sie waren Rebellen der schlimmsten Art. Weltzerstörer. Und doch würden sie reinen Gewissens gehen.
„Du bist sicher, dass du nicht mitkommen willst?“, fragte er dennoch noch einmal Celebi, obgleich sie ihm ihre Gründe schon mehrfach erläutert hatte.
„Mein lieber Reptain, ich fühle mich geschmeichelt, dass du dir trotz der Dringlichkeit unserer Situation noch Sorgen um mich machst, aber ich habe von Anfang an gewusst, worauf ich mich einlasse, und irgendjemand muss hier ja die Stellung halten, falls irgendetwas schief geht. Jetzt auf, bevor es zu spät ist!“
Er nickte. „Danke für alles, Celebi.“
Seine Partnerin nahm ihn zu seiner Überraschung bei der Hand, als sie sich vor den Tunnel stellten. Sie lächelte noch immer, und so fühlte auch er sich zu einem verwegenen Grinsen hingerissen. Alles, worauf sie in den letzten Jahren hingearbeitet hatten, würde nun endlich Früchte tragen! Und er, der sich für immer allein gewähnt hatte, würde diese wichtigste aller Aufgaben gemeinsam mit seiner Partnerin erfüllen, mit welcher ihn ein Band verknüpfte, das über Zeit und Raum hinweg reichte.
So traten sie durch den Tunnel, den dunklen Schemen nicht bemerkend, der ihnen lauernd dabei zusah.