4. Kapitel
Auf den nächsten Stand wurde Lian erst aufmerksam, als Shion sie am Arm dorthin zog. Sie waren schon am Ende der Gasse angekommen, wo die Stände nicht so gedrängt wie zuvor waren und eine angenehmere, ruhigere Atmosphäre herrschte. Es war geschäftiger als in einem Laden, aber nicht mit so viel Andrang, als dass man um die Aufmerksamkeit des Händlers kämpfen musste.
Shion steuerte zielgerichtet auf einen Verkäufer am Ende zu, um den sich eine kleine Menschentraube gebildet hatte. Er befand sich neben einem weiteren Stand, der Ketten aus Federn und wundersamen grünen Schuppen, oder einer Kombination aus beiden, verkaufte. Geleitet wurde er von einer großgewachsenen Frau mit langen, blauen Haaren, die einen Mann in einem Gespräch so geschickt um den Finger wickelte, dass seine ausgesuchten Ketten ihm beinahe aus den Händen fielen.
Lian stellte überrascht fest, dass bei dem ersten Stand überhaupt nichts verkauft wurde. Stattdessen saßen davor Kinder auf dem Boden und sahen gebannt zu einem Mann auf, der groß gestikulierend eine Rede oder etwas Ähnliches hielt. Sie schaute zurück zu ihrem Bruder und fragte sich, ob ein Gestaltwandler von ihm Besitz ergriffen hatte. Normalerweise war er der erste, der behauptete, für etwas viel zu alt zu sein. Trotzdem hatte er kein Problem damit, sie hinter sich herzuziehen und am Rand der Kinder Platz zu nehmen.
„Warum machen wir das?“, fragte Lian ihn, doch Shion legte nur einen Finger auf die Lippen und lauschte gebannt dem Redner. Erst jetzt, wo sie besser hören konnten, merkte Lian, dass es sich dabei gar nicht um eine Rede handelte, sondern um eine Geschichte.
„Wir hatten uns also auf den Weg gemacht, Medeus, den Schattendrachen, zu besiegen, der das Land in Schrecken und Armut gestürzt hatte. Zusammen mit meinen mutigen Kriegern haben wir uns durch viele Schlachten geschlagen, eine gefährlicher als die andere, um unserem Ziel näher zu kommen. Der Weg bis dahin war hart und nicht ohne Verletzungen, aber nach monatelangem Reisen hatten wir es bis zu der entscheidenden Schlacht geschafft. Wir standen also vor dem größten, gefährlichsten Drachen, den die Welt je gesehen hatte – so einem wie dem da.“
Erschrocken drehten sich die Kinder um und tatsächlich, vor ihren Augen stand ein leibhaftiger Drache, so groß wie ein Stand, und mit durchscheinenden Flügen an seinem leuchtend grünen Körper. „Besieg ihn, legendärer Heldenkönig Marth!“, rief eines der Kinder erschrocken, während sie sich angsterfüllt zusammenkauerten. Aus ihren Augenwinkeln bemerkte Lian, wie Darios und Kalie ihre Waffen zückten. Auch der Rest der Eskorte machte sich kampfbereit. Sogar Anna hatte die Hand auf das Schwert an ihrer Seite gelegt, bereit zum Einschreiten – aber vielleicht auch nur, um als Dank eine fette Belohnung zu kassieren.
„Ich werde Euch helfen!“, rief Shion und als Lian zu ihm zurückblickte, stand er schon breitbeinig in Kampfposition, sein Schwert gezückt.
„Shion!“, rief sie aufgebracht und erinnerte sich erst zu spät an die Worte ihres Kindermädchens. Das dürfte den Kindern um sie herum, die Geschichten über die Königsfamilien vor dem Zubettgehen lauschten, den letzten Hinweis gegeben haben, wer sich vor ihnen befand.
Plötzlich war von der anderen Seite der Aufschrei eines Mädchens zu hören. Mit Schrecken erwartend, was sie vorfinden würde, drehte Lian sich um, die Hand auf ihr eigenes Schwert gelegt – doch statt eines blutrünstigen Drachens fand sie nur ein kauerndes Mädchen vor, das die Hände schützend über ihren Kopf hielt. „Bitte tut mir nichts, ich hatte nie vor, jemanden zu verletzen.“
„Tiki!“, rief Marth und eilte zu ihrer Seite, um ihr aufzuhelfen.
„Ich hab dir doch gesagt, das mit dem Theaterspiel war eine blöde Idee!“, rief sie und klopfte sich den Schmutz aus der rosa Kleidung, die Lian eifersüchtig machte. In dem Aufzug sah das Mädchen fast mehr wie eine Prinzessin aus als sie selbst in diesem, nun authentisch schmuddeligen, Kleid. Tiki verschränkte die Arme vor der Brust und machte einen Schmollmund. „Spiel den Drachen, hat er gesagt. Es wird lustig, hat er gesagt.“
Marth betrachtete sie mit einem versöhnlichen Lächeln. „Tut mir ja leid, aber es hat doch keiner ahnen können, dass sich plötzlich Wachen um uns versammeln würden. Und den Kindern hast du gut gefallen.“
Tiki schaute ihn skeptisch an. „Die haben so ausgesehen, als hätten sie geglaubt, dass ich sie im nächsten Moment fressen würde!“
„Eben. Du bist eine tolle Schauspielerin“, sagte er und klopfte seiner Kampfgefährtin auf die Schulter.
„Wir sollten von hier verschwinden, bevor der Aufruhr zu groß wird“, raunte Luno den Zwillingen ins Ohr. Lian beeilte sich, aus der Menge zu entfliehen, bevor es einen Aufruhr geben würde, doch Shion steckte nur missmutig sein Schwert weg.
„Aber ich möchte mit dem Mann dort drüben reden. Er ist ein echter Held, und er ist sogar mit einem Drachen befreundet! So jemand möchte ich auch eines Tages sein. Ich will von ihm lernen, wie man das wird!“
„Ihr werdet euch sicher ein zweites Mal begegnen, und dann werdet Ihr eine Gelegenheit dazu bekommen“, redete Darios beschwichtigend auf ihn ein, doch die Zwillinge wussten, dass das eher der Dringlichkeit geschuldet war, sie von diesem Ort wegzubekommen,bevor sie entdeckt wurden, als dass es wirklich darum ging, dem Prinzen Hoffnung zu machen.
Shion hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt und trottete schlecht gelaunt neben ihnen her. Egal wie sehr Lian versuchte, ihn aufzuheitern, es wollte ihr einfach nicht so recht gelingen. Sie probierte es mit allem, was sie in den Jahren ihrer Jugend gelernt hatte. Sie hatte ihn mit einem Witz aufzuheitern wollen oder mit einer alten Anekdote, oder etwas Simplem wie die Aussicht auf den Nachtisch, der heute Abend auf sie warten würde. Doch nichts hatte bewirkt, dass auf seinem Gesicht ein Lächeln erschienen war.
Da fiel ihr Blick auf einen besonders gut ausgearbeiteten Handschuh und sie erinnerte sich daran, wie er sich beim Training mit Darios darüber beklagt hatte, dass seiner schon Risse bekam. Ihr Lehrmeister hatte angemerkt, dass ein wahrer Soldat sich darüber keine Gedanken machen und auf das Wesentliche konzentrieren sollte, aber Shion war da anderer Ansicht gewesen. „Hast du den da gesehen?“ Sie drehte sich erwartungsvoll zu ihrem Bruder um, nur um zu bemerken, dass er nicht mehr neben ihr stand.
„Shion?“, fragte sie besorgt und drehte sich im Kreis, doch noch immer keineSpur von ihrem Bruder. „Shion, wo bist du?“
Mittlerweile waren auch ihre Wachen darauf aufmerksam geworden und sahen sich verwirrt nach dem Jungen um. „Bis eben war er doch noch da“, rief Rike und verzog da Gesicht. Es war ihr anzusehen, dass sie nicht daran glaubte, dass der Junge wegen irgendetwas anderem verschwunden war als seinem eigenen Erkundungsdrang.
Darios seufzte und fuhr sich durch seine kurzen, schwarzen Haare. „Er kann nicht weit gekommen sein. Vermutlich ist er zurück zu diesem Marth gelaufen, den er unbedingt kennenlernen wollte.“
Kalie stemmte die Hände auf die Hüften. „Nur um zu so einem Hochstapler zu gehen, bringt er sich in solche Gefahr? Ich hatte ihn für reifer gehalten.“ Lian nahm sich vor, ihrem Bruder diese Einschätzung lieber nicht weiterzuerzählen, wenn sie sich wiedertrafen. „Nur keine Angst, wir werden Euren Bruder finden“, versicherte Kalie Lian mit einem aufmunternden Nicken.
Shions Schwester machte sich da keine Sorgen. Ihr Bruder war schon immer abenteuerlustig gewesen und ging am liebsten mit dem Kopf durch die Wand. Dass er sich in solch einer Situation wiederfand, war nichts Ungewöhnliches. Lian hatte nur gehofft, dass er sich dafür einen sichereren Ort als einen Marktplatz aussuchen würde.
Also machten sie sich wieder auf den Weg, zurück durch die sich langsam leerenden Gassen. Die Sonne stand schon tiefer und manchmal musste Lian ihre Augen mit der Hand gegen das Licht abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Plötzlich spürte sie einen Widerstand und machte abrupt halt. Sie hob den Kopf und sah, dass sie eine junge Frau angerempelt hatte. „Verzeihung“, sagte die Prinzessin höflich und verbeugte sich vor der Fremden. Sie war überrascht, als diese es ihr gleich tat.
„Oh nein, das war meine Schuld“, erwiderten sie synchron und beide fingen an, lauthals zu kichern. Lian schaute sich ihr Gegenüber genauer an. Diese trug ein cremefarbenes Kleid, das am Rand etwas schmutzig war und abgetragen wirkte. Besonders an den Ärmeln war der Stoff so dünn geworden, dass einzelne Fäden erkennbar waren.
„Verkaufst du hier etwas?“, fragte Lian fröhlich, weil sie sich in den Sinn gesetzt hatte, dass sie heute in Spendierlaune war. Vielleicht hatte die andere ja so etwa Tolles und Wertvolles im Angebot, dass das Mädchen sich von dem Erlös ein neues Kleid kaufen konnte. Allein die Vorstellung davon, ihr zu helfen, machte Lian glücklich.
Die Fremde schüttelte den Kopf. „Nein, deswegen bin ich nicht hier. Eigentlich lebe ich in einem Kloster, aber ich wurde hierher geschickt, um Medizin für meine Freunde zu kaufen. Leider konnten sie mich deshalb nicht begleiten und ich musste mich allein auf die Reise begeben. Mir wurden ein paar Münzen für eine Leibgarde gegeben, aber …“ Die junge Frau verstummte mit einem traurigen Lächeln.
„Schrecklich, diese Leute, die nicht anständig für ihr Geld arbeiten“, bemerkte Anna, die gerade dabei gewesen war, ihre Nägel mit einem Dolch zu reinigen.
Rike schüttelte verächtlich den Kopf. „Heutzutage muss man vorsichtig sein, dass man nicht an die falschen Leute gerät.“
Kalia trat vor und sagte: „Wenn Ihr wollt, bieten wir unsere Dienste an. Wir kennenuns hier gut aus und finden bestimmt jemanden, der sich dazu bereiterklärt, Euch sicher in Euer Kloster zurückzubegleiten.“
„Nein, hier liegt ein Missverständnis vor“, erklärte sie und hob abwehrend ihre Hände. „Das Ganze war nicht ihre Schuld. Ich bin nicht oft unter Menschen und an einer ganz engen Stelle bin ich ausgerutscht und habe Panik bekommen, dass ich zertrampelt werden würde. Ich bin blind durch die Gassen geflüchtet und ehe ich mich versehen habe, war ich allein hier … Ich bin für eure Hilfsbereitschaft sehr dankbar, aber ich bin mir sicher, dass ich es auch allein wieder zurückschaffe. Ich bin durchaus in der Lage, mich zu verteidigen.“
Darios schüttelte den Kopf. „Das mag ja sein, aber wer für die Dienste einer Leibgarde bezahlt hat, dem steht es auch zu, diese in Anspruch zu nehmen. Wenn Ihr schon nicht unsere Hilfe in Anspruch nehmen möchtet, dann erlaubt uns wenigstens, Eure Söldnerin zu finden.“
„Vielen Dank“, sagte das fremde Mädchen noch einmal und zusammen gingen sie durch die Straßen.
Die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, stapfte Shion durch die Gassen. Er hatte ein klares Ziel vor Augen, doch wie mit seinem Wunsch, ein Ritter und somit zum Helden zu werden, wusste er nicht genau, wie er es erreichen konnte. Einem Außenstehenden mochte vielleicht das Wort ‚verloren‘ in den Sinn kommen, doch Shion würde darauf beharren, dass er wusste, wo er war. Nur nicht so genau.
Die meiste Zeit hatte er sich darauf konzentriert, jedem auszuweichen, der ihm folgte, wobei es sich vor allem um die Eskorte gehandelt hatte. Hätte Darios ihn zu fassen bekommen, hätte er den Prinzen wohl den ganzen Weg zurück zum Palast unter seinem Arm getragen, und Shion wollte sich damit wirklich nicht zum Gespött machen. Also hatte er sich darauf konzentriert, so viel Abstand zwischen sich und die anderen zu bringen und gleichzeitig durch die engen Gassen zu laufen, um seinen Weg zu verschleiern.
Dumm nur, dass er sich dabei nicht darauf konzentriert hatte, wo er hingelaufen war, bis er sich schließlich am falschen Ende des Marktes wiedergefunden hatte. Er wusste, dass der Stand mit Marth an dem Ende gelegen hatte, wo es zum Wald herausging, in dem er ein paar Mal mit Lian gespielt hatte. Das war nur selten der Fall gewesen, wenn ein paar der Ritter sich erbarmt hatten, sie zu begleiten. Deshalb hatte er noch nie allein den Weg finden müssen. Schlimmer noch, mit all den Ständen um sich herum, die die Sicht versperrten, war es schwierig, sich zu orientieren. Wenn er doch nur ein bisschen größer wäre…
Wenn man vom Teufel sprach, dacht er sich, als er vor dem massigen Mann stand. „Nettes Schwert, das du da hast“, sagte dieser und deutete auf Shions Seite. Verstimmt, wie er war, hatte der Junge gar nicht bemerkt, dass sich sein Mantel geöffnet hatte und das Stück Metall zum Vorschein gekommen war. Es würde nicht viel bringen, das zu verkaufen, so alt und benutzt, wie es war – aber so, wie der Mann aussah, wäre ihm das wenige Geld es wert, dafür ein Kind zu verletzen.
„Soll ich es dir mal zeigen?“, fragte Shion mit dem selbstbewusstesten Grinsen, das er aufbringen konnte, und ließ seine Hand blitzschnell zum Griff gleiten. Seine Hände schlossen sich um das mit Leder umwickelte Metallende—gerade als sich die Hand des Mannes darauf legte und die Kinderhand so verdrehte, dass Shion ein stechender Schmerz durchzuckte. Der Prinz schrie auf, taumelte rückwärst und fiel zu Boden. Er wimmerte, als er das Handgelenk zu bewegen versuchte, doch das kleinste Zucken brachte ihn dazu, sich zusammenzukauern.
„Und jetzt sei ein braver Junge und rück das Schwert raus. Ich lasse auch deine andere Hand in Ruhe—wenn du schnell genug bist.“
Shion riss die Augen auf, was dem Mann vor ihm ein Lächeln entlockte—allerdings hatte dieser nicht gesehen, was Shion erblickt hatte. Hinter dem Mann war eine Kriegerin aufgetaucht, die ihr Schwert ein kleines Stück herauszog. Shion schob es dem Schmerz zu, der seine Sinne benebelt hatte, doch für einen Moment war es, als würden Abbilder von ihr neben ihr stehen. Einen Moment später hatte sie die Distanz zwischen ihnen überbrückt, so schnell, dass er nur hätte blinzeln müssen, um es zu verpassen.
Sie steckte das Schwert zurück. Shion lag das „Achtung!“ bereits auf der Zunge, als der Mann nach vorn stolperte–und bäuchlings zu Boden fiel. Blut floss aus seiner Wunde auf den Steinboden, doch er schien nicht ernsthaft genug verletzt zu sein für bedrohliche Schäden.
„Es ist eine gängige Bestrafung, Dieben die Hand abzuschneiden“, sagte sie verächtlich zu ihm, doch anstatt dieses Urteil selbst zu fällen, streckte sie eine Hand zu Shion aus. „Lass uns gehen. Hier ist es nicht sicher.“
Shion nickte und ließ sich von ihr hochziehen, behutsam darauf bedacht, seine verletzte Hand nicht mehr zu bewegen als unbedingt notwendig. „Vielen Dank für deine Rettung.“
Die Frau lächelte, obwohl sie sagte: „Ich wünschte, das wäre gar nicht erst nötig gewesen. Mein Name ist übrigens Lyn.“
„Ich bin Shion.“ Zu spät erinnerte er sich daran, dass er seinen wahren Namen lieber hätte geheim halten sollen.
Lyn nickte ohne ein Zeichen von Wiedererkennung. „Hast du Familie hier, zu der ich dich bringen kann? Eigentlich habe ich gerade etwas zu tun, aber ich kann dich hier schlecht allein lassen.“
„Nun, die Sache ist die…“, sprach Shion und erklärte ihr, wie er der Sohn einer Händlerin war und gerade eine Besorgung machte.
„Und dazu noch geschult im Schwertkampf, wie ich sehe“, bemerkte Lyn und schaute auf seine Waffe. Shion konnte spüren, wie seine Ohren rot anliefen und war froh, dass er seinen letzten Haarschnitt so lange aufgeschoben hatte.
„Mein Vater ist Schmied“, log er, gestand dann aber ehrlich: „Aber ich habe noch viel zu lernen.“
Lyn nickte zufrieden. Sie trat auf den Jungen zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Die Einsicht, dass man noch einen langen Weg zu gehen hat, ist der erste Schritt. Wer seine eigenen Schwächen nicht kennt, wird es niemals weiter bringen. Komm jetzt, wir sollten das erledigt haben, bevor es richtig dunkel wird, ich habe auch noch etwas zu tun. Außerdem sollte sich jemand so schnell wie möglich dein Handgelenk ansehen, damit du keine bleibenden Schäden davonträgst.“
Shion nickte. Das schlimmste an dieser Verletzung war nicht der Schmerz, sondern dass er wusste, dass so eine einfache Verletzung das Aus bedeuten konnte, bevor sein Dasein als Ritter überhaupt richtig begonnen hatte. Am Morgen hatte er sich noch so auf dieses Abenteuer gefreut und jetzt war alles, woran er denken konnte, wie er zurück im Palast war mit einem Heiler an der Seite. Er dachte zurück an die beiden Heilerinnen in den verfeindeten Verkaufsständen von zuvor, doch er wusste nicht, ob sie immer noch da waren—oder ob er den Weg zurück zu ihnen finden würde.
Shion hörte ein lautes Räuspern von oben und schaute neugierig hoch. Auf einem der Dächer stand Luno, die Arme verstimmt vor der Brust verschränkt. „Zu schade, dass ich nicht in der Position bin, um zu sagen, dass dies mit unartigen Kindern passiert, die auf eigene Faust losziehen“, rief er, während er geschickt heruntersteig.
Shion schaute währenddessen peinlich berührt zu Boden.
„Ich schlage vor, dass es in unser aller Interesse wäre, den Mantel des Schweigens über diesen Vorfall zu legen und uns zurück zur Gruppe zu begeben.“
Der Prinz nickte geschlagen. Flankiert von den beiden Kämpfern ließ er sich zurück durch den Markt führen.
„Ich weiß gar nicht, wie ich euch genug danken kann“, sagte die junge Frau, die sich als Celica vorgestellt hatte, und verbeugte sich zum nunmehr dritten Mal. „Ohne euch wäre ich wohl immer noch verloren zwischen den Gängen herumgeirrt.“
„Ach, da wärst du nicht die Einzige gewesen“, bemerkte Rike und die Gruppe lachte auf, bis auf Shion, der sich verlegen den Hinterkopf rieb.
Jetzt, wo die Aufregung abgeklungen war, konnten die Anwesenden langsam darüber lachen, was passiert war. Zum Glück waren sie mit Celica einem Mädchen begegnet, das sich seit Kurzem in der Heilmagie übte, und sie war bereits so geschickt, dass Shions Arm wieder so gut wie neu war. „Zum Glück war er nur verstaucht. Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich so weit bin, diese Kräfte bei größeren Wunden auf dem Schlachtfeld einzusetzen.“
„Unsinn, Ihr werdet schon bald den Dreh raushaben“, sagte Rike, die zu aller Ironie die einzige Elementarmagierin weit und breit war, die sich ausschließlich auf die Offensive konzentrierte. Dass ihr das natürliche Potential fehlte, das allen Elementar- und Lichtmagiern ermöglichte, irgendwann ihre Heilerfähigkeiten zu erwecken, hielt sich als hartnäckiges Gerücht—obwohl die meisten Redner sofort verstummten, wenn der erste Feuerball in ihre Richtung flog.
„Ihr wärt sicher ein Gewinn für jede Arme. Alle beide“, fügte Darios hinzu. Celica lächelte mit roten Wangen, während Lyn nur ehrfürchtig wegen des Komplimentes den Kopf neigte. „Und ihr seid euch beide sicher, dass die Königliche Armee nichts für euch ist?“, fragte Darios noch einmal, doch beide Damen schüttelten den Kopf.
„Ich fürchte, wir haben unsere eigenen Kriege zu kämpfen. Frieden ist ein viel zu vergänglicher Zustand“, sagte Lyn und Shion brauchte nur in ihr Gesicht zu sehen, um zu erkennen, dass sie wusste, wovon sie sprach.
„Zu schade, die Armee könnte wirklich etwas mehr Weiblichkeit vertragen“, merkte Kalie an, woraufhin Rike durch zusammengepresste Zähne fragte: „Und was genau soll das heißen?“
„Aber solltet ihr jemals Unterstützung brauchen, dann zögert nicht, nach mir zu fragen. Ich helfe euch gern. Und wo wir gerade dabei sind.“ Celica durchsuchte ihre Taschen und förderte zwei rechteckige Säckchen zu Tage. Kaum hielten die Zwillinge sie in ihren Händen, konnten sie den wohltuenden Duft nach Kiefernwald und Meer riechen. „Das sind Schutzzauber. Ich hoffe, sie werden euch Glück bringen.“
„Danke“, sagten sie beide.
„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, sprach Lian und nun fiel es ihr noch schwerer, sich von der Fremden zu verabschieden. „Ich muss mich doch irgendwie revangieren …“
Celica hob abwehrend die Hände. „Das ist nicht nötig. Ihr habt so viel für mich getan, das ist das Mindeste, was ich tun kann.“
Lian schüttelte entschieden den Kopf. „Dann nehmt wenigstens das hier“, sagte sie, streifte sich das Blumenarmband ab und machte es Celica um. „Ich hoffe sehr, dass wir uns irgendwann wiedersehen werden. Wir uns auch, Lyn.“
Die beiden Frauen nickten, bevor sie sich endgültig mit ihren Pferden, die sie hier am Rande der Stadt festgebunden hatten, auf den Rückweg machten.
Shion und Lian rannten ihnen bis zum Stadttor nach und winkten, bis die beiden nicht mehr zu sehen waren.
Das ganze Schloss schlief bereits, als Shion sich nachts in das Zimmer seiner Schwester schlich. Die beiden hatten es gleich nach dem Abendessen, wo sie ihren Eltern von den Erlebnissen des Tages erzählt hatten, beschlossen. Wie Lian vorausgesagt hatte, waren beide viel zu aufgewühlt, um zu schlafen, und so war das Treffen eine schnelle Entscheidung gewesen—nur noch mehr befeuert durch die Tatsache, dass Lian Lottie dazu überredet hatte, ihr ein paar Kekse aus der Küche vorbeizubringen. „Soll ich auch ein paar Brombeerkekse für Shion einpacken?“, hatte sie mit einem wissenden Lächeln gefragt. Lian war rot bis über beide Ohren geworden, dass sie so leicht zu durchschauen war, also hatte sie nur stumm genickt.
Da saßen sie nun also auf Lians Bett, aßen die Kekse und schauten sich im Kerzenschein die alten Bücher über Heldensagen an, die ihr Bruder schon auswendig kannte. Seit dem heutigen Tag hatten sie aber auch in Lian eine begeisterte Leserin gefunden. Sie mochte sich zwar nicht als Anführerin an der Spitze sehen, dafür aber als tapfere Kämpferin Seite an Seite mit anderen. Wie sehr wünschte sie sich, eines Tages solche Kameraden zu haben, wie die beiden sie heute kennengelernt hatten. Was für ein berauschendes Gefühl es sein musste, mit ihnen in die Schlacht zu ziehen und die wichtigen Kämpfe zu bestreiten, die man allein nicht schaffte.
„Eines Tages werden wir das sein“, sagte Shion mit einem Ton, der keinen Zweifel zuließ, und zeigte auf eine Abbildung. Sie beinhaltete nicht nur den Lord, der danach König geworden war, sondern auch alle, die bereitwillig ihr Leben für seine Sache gegeben hätten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.
So, das wäre dann auch das letzte Kapitel, das mit 3,5k mit Abstand am längsten ist. Dafür hat es aber auch zwei Geschichten, weil eine zu kurz gewesen wäre.
Wie bereits im Startpost geschrieben, ist mir dieses Kapitel am Schwersten gefallen. Wie vermutlich die meisten habe ich den Titel mit Marth nicht gespielt. Dazu habe ich den mit Lyn so gestückelt gespielt, dass ich mich nicht mehr wirklich an sie als Charakter erinnern kann, und wusste auch nicht, was Celica verkaufen würde. Ich denke aber, dass ich das mit dem Geschichtenerzählen und der Eskorte ganz gut gelöst habe. Das "nach monatelange, Reisen" ist übrigens eine kleine Anspielung auf meinen Spielstil, da ich oft Pausen zwischendurch mache, in denen ich das Spiel wochenlang nicht in die Hand nehme, und wenn so oft wegen lebensmüden Einheiten resetten muss, dass ich die Tastenkombi im Schlaf kann^^
Außerdem passt es ganz gut, dass Celicas und Lyns Handlung etwas anders ist und parallel abläuft, da man sie nicht in der eigentlichen Hauptstory bekommt, sondern in einem Nebenmodus, deren Reihenfolge man frei wählen kann (von dem ich aber beim Schreiben noch nichts wusste).
Vielleicht ist es von Lyn nicht sehr gewissenhaft, dass sie nicht sofort nach Celica sucht, aber immerhin braucht ein Kind ihre Hilfe und durch das Spiel wissen wir ja, dass die Hauptgeschichte stillsteht, wenn man eine Nebenmission annimmt ;)
Ich glaube, dass die Stelle mit Anna, die sich abfällig die Nägel mit einem Dolch reinigt, meine Lieblingsstelle mit ihr ist (na ja, nicht umsonst durfte sie meinen ersten männlichen Charakter heiraten ;) )
Ich hoffe, dass ihr Spaß beim Lesen hattet und euch die Geshcichte gefallen hat. Es wäre schön, wenn ihr mir ein kurzes Feedback dafür geben könntet *Brombeerkekse hinstell*.