Kapitel 4: Puppenspiel
Unsere Heldin war auf der Flucht vor ihren Feinden in Thengen in einem großen Waldgebiet nördlich der Stadt angekommen. Dort hatte sie einen Albtraum, der sie zurück zu dem Moment führte, der ihr Leben in der Falter-Bande verändert hatte: Nach einer durchzechten Nacht war sie seinerzeit neben der Leiche einer Frau aufgewacht. Der Mutter des kleinen Milano und Exgeliebten ihrer Liebe Missani.
Nachdem sie sich von den Nachwirkungen des Traums erholt hatte, traf Giulia einen seltsamen Mann, der sich ‚Runkel‘ nannte. Er hatte sie gewarnt, dass ihr die Verfolger dicht auf den Fersen seien …
Giulia lief im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch und musste dabei dichtem Gestrüpp und freiliegenden Wurzeln ausweichen, ohne sich den Hals zu brechen. Durch die plötzliche Anstrengung begannen ihre Muskeln bereits zu schmerzen, doch die Angst, geschnappt zu werden, ließ sie immer weiter rennen. Hinter sich hörte sie das Gröhlen ihrer Verfolger, die ihr dicht auf den Fersen waren.
Die Abstände zwischen den Bäumen wurden plötzlich größer und auch das Unterholz wich weitestgehend zurück. Nur noch vereinzelt bildeten hüfthohe Sträucher und Farne grüne Seen in den Senken und Furchen, die den Waldboden durchpflügten.
Giulia stieß einen unterdrückten Fluch aus. Sie kam zwar jetzt deutlich leichter voran, aber das gleiche traf auch auf ihre Verfolger zu.
Sie übersprang einen breiten Graben, auf dessen Grund ein Bach in trügerischer Idylle dahinsäuselte, und landete sicher auf der anderen Seite.
‚Das Fliehen vor den Wachen und die Hindernisläufe über die Dächer waren anscheinend ein gutes Training‘, dachte sie zufrieden. Ohne anzuhalten lief die junge Frau weiter. Sie schlidderte einen Abhang hinab - und plötzlich gab der Boden unter ihren Füßen nach. Giulias überraschter Aufschrei fiel zusammen mit ihr in die verborgene Grube.
Der Aufprall war schmerzhaft und sie wand sich stöhnend auf dem Grund der Fallgrube, die jemand gut unter einem Geflecht aus Zweigen, Laub und Nadeln versteckt hatte.
„Was zum ...“, murmelte sie und setzte sich mühsam auf. Ihr Herz schlug schmerzhaft in der Kehle und ihr Verstand brauchte einen Moment, um zu realisieren, was gerade passiert war. Obwohl ihr erschöpfter Körper lautstark eine Verschnaufpause forderte, zwang sie sich auf die Beine und belastete sie vorsichtig. Giulia atmete erleichtert auf: Scheinbar hatte sie sich höchstens ein paar blaue Flecke zugezogen, zumindest konnte sie sicher auftreten und würde weiterlaufen können - sofern sie es rechtzeitig aus diesem Loch herausschaffte!
Das musste etwa zwei Mannslängen tief und eine breit sein, schätzte sie mit einem kritischen Blick den Schacht hinauf. ‚Ein bisschen tief für eine einfache Wildfalle‘, dachte Giulia, ‚aber bestimmt nicht unüberwindbar.‘
Entschlossen krallte sie sich in den weichen Wänden fest und versuchte, nach oben zu klettern. Doch die Erde war nicht fest genug und bröckelte unter ihren Fingern weg, sobald sie sich hochzuhieven versuchte.
"Steinbockscheiße", fluchte sie und sah sich hektisch um, versuchte immer wieder, eine andere Stelle zu finden, die besser zum Klettern geeignet war - doch es half nichts.
Dann hörte sie schwere Schritte und aufgeregte Stimmen. Wenige Herzschläge später lugten ein paar Gesichter über den Rand der Grube, doch sie waren zu schnell wieder verschwunden, um mehr als ihr triumphierendes Grinsen erkennen zu können.
Giulia drückte sich mit zitterndem Atem gegen die Wand des Lochs. Dich verstecken konnte die sich nicht.
„Sieh Mal einer an, da 'aben wir ja unsere Kleene!“, rief eine männliche Stimme.
Eine zweite fügte enttäuscht hinzu: „Irgendwie schade ... Ich 'atte mit 'ner größeren 'erausforderung gerechnet.“
Die Gruppe beglückwünschte sich zu ihrem Fang, doch keiner machte Anstalten, sie aus der Grube herauszuholen.
Giulias Verstand arbeitete fieberhaft an einem Ausweg. Doch ihre Gedanken fühlten sich an wie zähflüssig er Honig und kamen zu keiner Lösung.
Plötzlich verstummten die Gespräche und einen Augenblick später beugte sich jemand über den Rand der Grube. Jemand, dem niemand freiwillig über den Weg lief.
‚Oh nein‘, dachte Giulia und spürte, wie ihr Herz irgendwo in der Bauchgegend aufschlug.
Die finsteren, mit Kohle aufgemalten Ringe um die Augen, die seinem Gesicht etwas zutiefst Bedrohliches verliehen, waren wohl das deutlichste Erkennungszeichen dieses Mannes. Und jeder, der in Thengens Unterwelt verkehrte, kannte ihn. 'Il procione', der Waschbär, war ein Kopfgeldjäger, der von den Verbrechern der Stadt gleichermaßen respektiert wie gefürchtet wurde. Er konnte eine nahezu fehlerfreie Erfolgsquote vorweisen und arbeitete für jeden, der seine Dienste bezahlen konnte.
Der Waschbär seufzte theatralisch und schüttelte betont langsam den Kopf.
„Du kleines, unglückliches, verlorenes Ding“, sagte er laut, „wie kann man sich in so kurzer Zeit nur so viele Feinde machen? Meine Klienten haben sich mit ihren Geboten für diesen Auftrag überschlagen!“ Er grinste breit und warf sich das lange, blonde Haare mit einer effektvollen Geste über die Schultern. Er erhob sich und holte tief Luft - was seine Kameraden kollektiv aufstöhnen ließ. Augenblicke später verstand Giulia die Reaktion und hätte am Liebsten mit eingestimmt.
„Zu dumm, dass der ehrenwerte, furchtlose und gefürchtete Procione, beispielloser Fährtenleser und Spurensucher, Meister des-“ Er unterbrach sich, als einer seiner Untergebenen ein gespielt diskretes Hüsteln von sich gab. „... und seine treuen Gefährten“, fügte er hinzu und rollte mit den Augen, „auf dich angesetzt wurden. Jedenfalls, Kleines, bin ich ziemlich enttäuscht. Ich hatte gedacht, an dir sei irgendetwas Besonderes, Interessantes, aber du bist erschreckend ... gewöhnlich.“
Giulia spannte sich automatisch an und knirschte mit den Zähnen, erwiderte jedoch nichts. Doch sie wäre vermutlich auch nicht dazu gekommen, denn der Waschbär sprach umgehend weiter.
"Aber zu deiner Verteidigung sei gesagt, dass du natürlich nicht ahnen konntest, dass du es mit mir zu tun bekommst. Du hattest nicht die geringste-"
Er krächzte auf, ruderte mit den Armen und fiel kopfüber in die Grube, wobei er Giulia nur knapp verfehlte. Der Kopfgeldjäger stöhnte und rollte sich auf die Seite, griff zwischen die Schulterblätter, wo ihn offenbar irgendetwas getroffen hatte.
Die Gefährten des Waschbären schrien auf und brüllen durcheinander. Manche entfernten sich von der Grube, um nach dem Angreifer zu suchen, andere krochen am Rand herum und suchten einen Weg, um zu ihrem Anführer zu gelangen.
Il procione richtete sich langsam auf und rieb sich den schmerzenden Rücken. Instinktiv griff Giulia an ihre Hüfte, wollte schnell ihr Messer ziehen – und tastete ins Leere. Anscheinend hatte sie es auf der Flucht verloren.
Hitze schoss ihr ins Gesicht und sie spannte sich erneut an, ließ ihren Gegner nicht aus den Augen.
„Auch der Kluge nimmt Schaden“, knurrte dieser, „aber wenn wir deine Freunde erwischen, werden sie sich wünschen, nie geboren worden zu sein.“ Ein überhebliches Grinsen umspielte seine Lippen und sein Blick war entschlossener denn je.
Bevor er jedoch noch mehr sagen könnte, ließ ein Schmerzensschrei beide Köpfe synchron nach oben fahren, doch es war nichts zu sehen. Es folgten weitere Schreie, manche überrascht, manche gezeichnet von purer Todesangst.
Der Waschbär drehte sich ruckartig zu Giulia um. „Was geht da vor?“, verlangte er mit zitternder Stimme zu wissen. Sein Gesicht war kreidebleich, was die schwarzen Ringe um seine Augen geradezu grotesk erscheinen ließ. Er wirkte beinahe wie ein gepeinigtes Gespenst, in dessen tiefliegenden Augen sich die Angst seiner Opfer wiederspiegelte.
Giulia war nur zu einem stummen Kopfschütteln fähig. Sie hatte tatsächlich keine Ahnung, was da oben passierte, aber sie ahnte, dass es nichts Gutes sein konnte.
Die beiden starrten sich an, lauernd, aber auch das verängstigte Spiegelbild des anderen. Bald wurden die Stimmen an der Oberfläche leiser, und auch das letzte Wimmern verstummte.
Die anschließende Stille war ohrenbetäubend.
Der Kopfgeldjäger rückte instinktiv dichter an Giulia heran, und beide warteten angespannt, mit flachen Atem und bebenden Herzen.
„Was ist da los … was passiert hier bloß …“ flüsterte der Kopfgeldjäger und drückte sich direkt neben Giulia in die erdige Wand. Gerade wollte sie ihn zur Seite stoßen, als ein schwerer Ast knapp an ihr vorbeisegelte und den Waschbären direkt am Kopf erwischte. Wie ein nasser Sack Getreide sackte er zu Boden.
„Was…“, Giulia blickte ungläubig auf den Mann hinab, doch sie hatte kaum Zeit, zu reagieren, bevor sie das gleiche Schicksal ereilte und sie in bleierne Bewusstlosigkeit stürzte.
„Lass mich hier raus, du … was immer du bist!"
„Jammernder Mensch. Ruhe, oder Schmerzen.“
Das abgehackte Lachen, das folgte, ließ Giulia endgültig in die Wirklichkeit zurückgleiten. Sie brummte und ertastete eine dicke Beule an der Stelle, wo sie getroffen worden war und die dumpfen Schmerz in Wellen durch ihren Kopf jagte. Mühsam öffnete sie die Augen und versuchte, sich zu orientieren.
Der Raum, in dem sie sich befand, war überwiegend dunkel. Schwere Vorhänge, die von der hohen Decke bis zum Boden reichten, ließen nur wenig Licht hinein und schufen eine schummrige, unheimliche Atmosphäre. Vermutlich hätte sie den verhängten Gemälden, den abgedeckten Möbeln und dem hier und da aufblitzenden Gold und Silber auch ein wenig Beachtung geschenkt, wenn etwas anderes ihre Aufmerksamkeit nicht stärker in Anspruch genommen hätte. Die Tatsache, dass sie in einer Art übergroßem Vogelkäfig auf Höhe der Galerie im ersten Stock von der Decke baumelte, zum Beispiel.
Sie spürte, wie sich die Haare an ihren Armen aufstellten und bemühte sich, ruhig zu atmen.
Der Waschbär, der wenige Meter neben ihr in einem vergleichbaren Käfig baumelte, redete unterdessen weiter auf jemanden ein, der sich irgendwo in den Schatten aufhalten musste.
„Du weißt wohl nicht, wen du vor dir hast! Aber ich will darüber hinweg sehen: Wenn du mich rauslässt, werde ich niemandem etwas erzählen und dir einen fairen Teil der Belohnung für die Kleine da abgeben.“
„Hey!“, rief Giulia und funkelte wütend zu dem Kopfgeldjäger hinüber. Für einen Moment vergaß sie ihre Lage, bereute diese Unachtsamkeit aber sogleich wieder, als der Käfig unter ihrer Aufregung zu schwanken begann. Sie lehnte sich vorsichtig zurück und wartete, bis ihr rebellierender Magen sich wieder beruhigte.
„Unnötig“, erklang die Stimme, die sie zuvor schon wahrgenommen hatte. „Frau wach. Gut. Meister bald zurück. Still, Jammermann!“
Giulia versuchte angestrengt, etwas zwischen den schemenhaften Umrissen der Möbel zu erkennen, doch es war einfach zu dunkel. Allerdings kam die Stimme aus der Richtung eines seltsamen, riesigen Kastens, der auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand und auf seltsame Weise das Licht zu reflektieren schien.
Sie schüttelte den Kopf. ‚Konzentrier' dich auf's Wesentliche‘, mahnte sie sich. Laut fragte sie: „Wer bist du? Und was ist passiert?“
„Kein Name. Andere Frage: Auftrag Mensch aus Grube holen. Zwei da. Beide geholt.“
‚Na, du bist ja ein richtige Quasselstrippe‘, dachte Giulia stirnrunzelnd. Sie erinnerte sich allerdings an die Schreie der Leute des Kopfgeldjägers und beschloss, es lieber dabei bewenden zu lassen.
Es ertönte der laute Knall einer zuschlagenden Tür – offenbar hatte ihr Gefängniswärter den Raum gerade verlassen. Einen Moment lang war es still, bis Giulias Mitgefangener sich wieder an sie wandte.
„Wieso musstest du auch in diese Grube in diesem verwilderten Teil dieses verdammten Waldes rennen? So etwas Tolpatischiges habe ich noch nie erlebt, und deinetwegen sterben wir jetzt auch noch!“, fauchte il precione.
„Wie bitte?“, gab Giulia irritiert zurück und bemühte sich, den Käfig nicht zu sehr ins Schwanken zu bringen. Ihr Geduldsfaden war dermaßen strapaziert worden, dass jetzt auch für sie eine Grenze überschritten war. „Sei mal schön ruhig, du Möchtegernkopfgeldjäger! Du wolltest mich vor wenigen Augenblicken noch verschachern, um deine Haut zu retten, und jetzt bin ich an allem Schuld?“
„Natürlich ist alles deine Schuld! Wegen dir sind meine Männer tot. Tot! Verstehst du das? Dieses verrückte Stück Kantholz hat sie alle-“ Seine Stimme brach plötzlich, und er schwieg.
Obwohl sich ihr Mitleid in Grenzen halten sollte, spürte Giulia einen harten Klumpen in der Brust.
„Sicher? Vielleicht … konnten sie ja entkommen ...", meinte sie unsicher. Doch sie glaubte genauso wenig daran wie ihr Gegenüber, der nur ein freudloses Lachen ausstieß. Seine offensichtliche Verbitterung und Trauer überraschten sie und passten nicht zu dem selbstgerechten, egozentrischen Kerl, dem sie im Wald begegnet war. Andererseits kannte sie ihn auch nicht besonders gut, nicht wahr?
„Tut mir Leid“, flüsterte sie in die Stille hinein. Ein Schnauben war die einzige Antwort. Eine Weile sagte keiner von beiden etwas.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Giulia schließlich, um das unangenehme Schweigen zu brechen. „Waschbär ist kaum dein Segnungsname, oder?“ Sie war schon sicher, dass er sie mit Schweigen strafen wollte, als er doch noch etwas sagte.
„Samu", flüsterte er kaum hörbar.
„Giulia“, erwiderte sie mit leichtem Lächeln.
Der Angesprochene schnaubte. „Ich weiß. Ich habe schließlich den Auftrag bekommen, dich zu fassen, falls du Spatzenhirn es vergessen haben solltest.“
‚Und schon kehrt sein sprühender Charme zurück‘, dachte Giulia zähneknirschend. Sie wollte etwas Entsprechendes erwidern, als das Knarren einer Tür erneut durch den zweistöckigen Raum hallte.
Gleich darauf flammten mehrere Fackeln an den Wänden auf und erzeugten Schatten, die wie flüchtige Gespenster auf der Suche nach Opfern überall im Raum umhertanzten.
Giulias Blick huschte sofort in Richtung des kastenartigen Gebildes. Dort war niemand zu sehen, außer des seltsamsten Objektes, dass sie je gesehen hatte. Diese „Kiste“ hatte scheinbar durchsichtige Wände und war bis knapp unter den Rand mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. Darin schwebten ein paar bläuliche Quallen umher, die lange, dünne Tentakel wie zerrissene Schleier hinter sich herzogen.
Auf den Märkten in den Hafenstädten ihrer Heimatinsel hatten Händler manchmal getrocknete Quallen feilgeboten. Solche Exemplare hatte Giulia aber noch nie gesehen, schon gar nicht lebend und innerhalb eines Gebäudes!
Schwere Schritte, die die Treppe zur Galerie hinaufkamen, rissen sie aus ihrer Faszination.
Sie sog scharf die Luft ein und starrte das Wesen an, das Stufe um Stufe erklomm, bis es im ersten Stock auf Höhe der Käfige angekommen war.
Am ehesten konnte man es vielleicht als kleinen Mann beschreiben, der sich mit leicht gebücktem Gang und stampfenden Schritten fortbewegte. Das Auffallendste an dem Wesen war aber, dass es ganz aus Holz bestand. Dort, wo man eine Nase vermuten würde, ragte ein kleiner Zweig aus dem Gesicht hervor, an dessen Spitze ein kleines, grünes Blättchen wippte.
„Mund zu, Mensch“, bemerkte es in Richtung Giulias, die vollkommen sprachlos war. Dabei bewegte sich eine kleine Klappe an der Unterseite seines Kopfes, als würde es die Bewegungen eines menschlichen Mundes immitieren wollen. „Fleischwesen komisch.“ Er bewegte ruckartig den Kopf von einer Seite zur andern und schaffte es schließlich, ihn einmal um sich selbst zu drehen, sodass er ihn mit seinen erstaunlich feingliedrigen Fingern festhalten musste.
Samu lachte auf und wollte gerade zu einer hämischen Bemerkung ansetzen, als er überrascht aufschrie und sich jammernd die Stirn rieb. Der Holzmann hatte irgendetwas so schnell und zielsicher auf den Kopfgeldjäger geworfen, dass Giulia es nicht mitbekommen hatte.
„Schweig. Unerträglich“, kommentierte das Wesen und griff hinter sich. Was es dabei zutage förderte, war allerdings kein weiteres Wurfgeschoss - es war eine blank polierte Kupferplatte, wie man sie in den Ankleidezimmern wohlhabender Damen finden konnte. Dann tippte der Holzmann ein paarmal mit seiner Nasenspitze auf die glänzende Oberfläche und begann in einer Sprache, die Giulia nicht bekannt vorkam, zu sprechen. Es war zwar bloß seine Stimme zu hören, doch ab und zu legte es Pausen ein oder bewegte den Holzkopf in zustimmender oder ablehnender Weise. Irgendjemand schien ihm lautlos zu antworten ...
„Pst!“
Giulia wandte sich von dem seltsamen Spektakel ab und ihrem Mitgefangenen zu. Im Licht der Fackeln konnte sie jetzt sehen, dass er nicht nur schmutzig und seine Kohleaugen verwischt und verschmiert waren, sondern er auch ziemlich zerschunden aussah: Sein rechtes Auge schwoll bereits ein wenig an und sie konnte die eine oder andere Schramme in seinem Gesicht erkennen. Offenbar hatten er und ihr treffsicherer Gefängniswärter mehr als eine Auseinandersetzung gehabt, während sie ohnmächtig gewesen war.
„Das Ding ist verrückt“, wisperte er so leise, dass sie es gerade noch verstehen konnte. „und wer auch immer der ‚Meister‘ ist, ist es mindestens genauso. Ich möchte jedenfalls nicht darauf warten, dass der kommt und uns das Feuer löscht.“
Giulia verzog das Gesicht und antwortete ebenso leise: „Willst du etwa vorschlagen, zusammenzuarbeiten? Nachdem du mich verraten und verkaufen wolltest? Mehrfach?“
Samu zuckte mit den Schultern. „Bin auch nicht so scharf drauf, aber haben wir eine Wahl?“
Giulia stieß genervt die Luft aus und strich sich das kurze Haar aus der Stirn. Wenn sie jemandem nicht vertrauen konnte und sollte, geschweige denn wollte, war es dieser Kopfgeldjäger. Die Alternative, einem verschrobenen Einsiedler mit einem hölzernen Mädchen für alles zu irgendwelchen dubiosen Zwecken zur Verüfung zu stehen, war allerdings auch keine berauschende Vorstellung.
„Ich nehme an, du hast schon einen großartigen Plan?“, fragte sie skeptisch.
Ein Lächeln stahl sich auf Samus Lippen, das unter anderen Umständen gewinnend und charmant gewirkt hätte.
„Natürlich“, flüsterte er, „und jetzt hör zu …“