„Du hast sicherlich schon mitbekommen, dass Zyrus auch jemand... besonderes ist“, erwähnte Saturn nebenbei, als sie über die große Wiese Richtung Waldeingang schlenderten. Sie hatte gerade die Pokémon kennenlernen dürfen und auch ihre eigenen Wesen vorgestellt. Ihr sonst so stolzer Drache lief ein wenig eingeschüchtert nebenher. Folipurba rannte von einer Ecke des Platzes zur anderen, Absol wirkte angespannt. Neben ihrem Vater lief sein Toxyquak, das wohl noch nicht wusste, was es von ihr zu halten hatte, auch wenn es sie nicht angriff. Miharu entschloss sich dazu, das Pokémon einfach erstmal zu ignorieren, um ihm zu zeigen, dass sie keine Bedrohung war und konzentrierte sich auf die Bemerkung ihres Vaters.
„Er drückt sich vielleicht ein wenig kompliziert aus, aber er macht einen freundlichen Eindruck“, entgegnete sie, unschlüssig, wie sie darauf sonst reagieren sollte.
„Ja, er gibt sein bestes und ich bin froh, dass du seine guten Seiten jetzt schon erkannt hast. Trotzdem hat er es auch nicht so mit Kommunikation, eigentlich.“
„'Auch' nicht?“, fragte Miharu überrascht, blieb stehen und sah Saturn an, der nickte und ebenfalls stehen blieb.
„Ja, ich werd dir jetzt nicht alles erzählen, aber im Grunde genommen war er am Anfang einfach nur ein schüchterner Junge, der sich lieber mit Maschinen beschäftigt hat, als mit Menschen und als seine Eltern ihn unter anderem dazu zwingen wollten, sich ausgeprägt und in idealer Weise mit Menschen zu unterhalten, hat sich das halt alles nochmal verschlimmert. Selbst einfache Unterhaltungen wurden für ihn immer schwerer, weil er immer dem Drang zuarbeiten musste, perfekt zu sein“. Die Stimme ihres Vaters war mit der Zeit immer nachdenklicher, schwerer geworden, fast als wäre sie mit seiner Aufmerksamkeit in die Vergangenheit geflogen. Auch Miharu wurde nachdenklich, strich ihrem Libelldra über den Kopf, das sich besorgt neben sie gestellt hatte, ganz wie es Toxyquak bei ihrem Vater tat. Es war nicht das gewesen, was sie wissen wollte, aber trotzdem ein wichtiger Einblick in einen Menschen, mit dem sie in nächster Zukunft zusammenleben würde. Und gleichzeitig bedrückte sie das Erzählte. Seit ihrer Zeit an der weiterführenden Schule, für die sie ein Stipendium bekommen hatte, waren ihr auch Schüler aufgefallen, die ähnlich wirkten wie das, was ihr eben erzählt wurde. In irgendwelche Rollen gedrängt, irgendetwas übergestülpt bekommen, was nicht zu einem gehörte... Meist waren es die erstgeborenen Söhne gewesen, die sich dann hin und wieder in ein falsches Selbstbewusstsein geflüchtet hatten. Sie konnte das verstehen, aber sie war froh, dass sie selbst bestimmen konnte, was sie tat. Oder? Würde sie jetzt vielleicht das Geschäft ihres Vaters übernehmen müssen? Hatte er nur deshalb zugestimmt, dass sie an diese Eliteschule wechselte und sich neben Pokémon noch auch Politik und vor allem auf Wirtschaft konzentrierte? War sie deshalb willkommen? Kopfschüttelnd verwarf sie den Gedanken. Nein, Saturn hatte ihr vorhin beim verspäteten Mittag erst gesagt, das sie tun und lassen könnte, was sie wollte und ihn nur vorwarnen sollte, wenn sie etwas Illegales plante. Würde so jemand reden, der wollte, dass seine Tochter das Unternehmen übernahm? Und wie ernst hatte er es gemeint? Als sie gelacht und gesagt hatte, dass sie den Champ nur auf legale Weise entmachten würde, sorgte das irgendwie für eine unangenehme Stille, die sich aber bald gelegt hatte.
„Das tut mir leid. Gibt es irgendwas, das ihm hilft, irgendein Verhalten?“, erwiderte sie schließlich leise, während sie langsam in den Wald weitergingen.
„Naja, was ihm hilft, ist auf jeden Fall Ehrlichkeit, Ironie und so versteht er zwar vom Sinn her, aber er kann nicht gut darauf antworten, oder überhaupt reagieren. Er mag auch keinen Smalltalk und längere Gespräche ermüden ihn, aber wenn du ihm seine Pausen, also zeit, die er mit sich verbringt lässt, dann geht es eigentlich. Achja, körperliche Nähe wie Umarmungen sind auch schwierig, frag ihn lieber vorher“. Als ihr Vater erklärte, merkte Miharu, wie trotz seiner Ernsthaftigkeit ein funkeln in seinen Augen lag, wenn er von seinem Partner sprach und sie musste automatisch lächeln. Sie nickte schließlich und versprach, darauf Rücksicht zu nehmen. Sie gingen weiter den Wald entlang, bis sie zu einer Steilen Küste kamen, an deren Klippen Wingull flogen und Pelipper brüteten. Es war nicht ganz unmöglich, herunterzuklettern, aber doch reichlich riskant für einen Menschen. Hohe Wellen brachen sich in der Brandung, als ihr Vater sie weiterführte, an der Klippe entlang, bis zu einem dünnen Pfad in den Felsen, der die Klippen hinunterführte. Der Salzgeruch und das Geräusch der brechenden Wellen erinnerte Miharu in ihr Zuhause, an das Baden gehen im Meer von Rosaltstadt. Saturn musste sich schon ein wenig bemühen, um die Wellen zu übertönen, als er wieder zu sprechen begann.
„Hier komme ich gerne her, um über alles Mögliche nachzudenken. In den letzten sechs Wochen fast jeden Abend“. Miharu nickte wieder, war aber auch erleichtert, weil Saturn dabei lächelte.
„Ich bin mit Libelldra so lange geflogen, bis ich wieder ins Heim musste“, fügte sie an.
„Wir waren wohl beide ziemlich nervös“, schlussfolgerte sie und setzte sich auf einen der größeren Steine, die überall am Strand verteilt lagen. Auch ihr Vater setzte sich dazu.
„Willst du wirklich von Übermorgen an in die Schule gehen? Schaffst du das?“, fragte ihr Vater und ließ sie damit aufsehen.
„Ja, ich meine, es wird nicht besser, wenn ich rumsitze und warte. Sicher, ich vermisse sie und manchmal will ich mich immer noch einfach einschließen und mich unter einer Decke verstecken und heulen, aber ich will hier auch nicht den Anschluss verpassen und irgendwas machen“, antwortete sie ehrlich, ließ den weichen, weißen Sand durch ihre Finger rinnen.
„Sie war eine tolle Frau“. Wieder blickte Miharu auf und sah, dass Saturn in Gedanken versunken war, als ob er sich an sie erinnerte.
„Auch, wenn ich sie nicht geliebt habe, konnte ich mir mehr vorstellen. Das.. klingt falsch, vergiss, was ich gesagt habe. Ich meine damit, dass man sich gut mit ihr unterhalten und mit ihr klarkommen konnte, sie wäre sicherlich auch gut mit Zyrus zurechtgekommen, hätte ihm sogar helfen können“. Seine Worte zauberten ein Lächeln auf Miharus Gesicht.
„Mama wäre selbst mit tollwütigen Ursaring fertig geworden“, behauptete sie, jetzt eher halb weinend. Hoffentlich war sie glücklich da oben...
Sie brachen auf, als die Sonne schon fast in den Fluten versank und das rote Glühen langsam erlosch. Sie hatten sich über die Schule unterhalten, darüber, dass Saturn Mathe, Informatik und die Naturwissenschaften lagen, ihr eher Sport, Fremdsprachen und Geschichte, obwohl sie diese Fächer nicht mehr häufig auf ihrem Stundenplan fand, dass sie eben so wie er gerne Videospiele spielte und sie hin und wieder sogar ein wenig streamte und dass sie gerne ihren Nachnamen behalten und erst einmal geheim halten würde, dass sie seine Tochter war.
„Naja, nicht richtig geheim halten“, berichtigte sie sich, als sie seine versteckt, enttäuschten Blick bemerkte. „ich will es nur nicht gleich an die große Glocke hängen, wenn es jemand zufällig rausfindet, ist das in Ordnung, aber vielleicht finde ich so auch Freunde, die mich nicht nur abstempeln und mich dementsprechend behandeln“, erklärte sie weiter und ihr Vater nickte beruhigt, wirkte aber immer noch ein wenig enttäuscht. Miharu seufzte innerlich, entschied sich aber, nichts weiter zu sagen.
„Danke auch nochmal für die ganzen Sachen in meinem Zimmer. Ich wollte mir ohnehin einen Job suchen, um Geld zu verdienen und dann werd ich die Sachen auch abbezahlen“. Miharu stoppte, als Saturn abrupt anhielt, hörte sein bestimmtes 'Nein'.
„Du bist mir absolut nichts schuldig und du musst auch nicht irgendwie arbeiten gehen, nur um mir das zu zahlen. Du bist meine Tochter und ich bin in der glücklichen Lage, dich finanziell zu unterstützen“, erklang seine Stimme, halb zwischen ernst und Wut gefangen, doch das war Miharu egal, denn auch sie war wütend.
„Ich bin aber schon fünfzehn Jahre alt und versuche, selbstständig zu leben und für das zu arbeiten, was ich will. Es fühlt sich blöd an, nichts zu tun und dafür etwas zu bekommen“, erklärte sie zornig, die Hände eben so verkrampft wie die ihres Vaters.
„Es gibt mehr als genug Leute, die so leben ohne ein blödes Gefühl und auch, wenn du langsam erwachsen wirst, will ich nicht, dass du das tust, weil du musst, sondern weil du willst. Bleib doch noch ein bisschen Kind!“, erhob sich seine Stimme immer lauter und erschrak Miharu damit, die vor allem mit dem letzten Vorwurf nicht gerechnet hätte. Warum sollte sie? Und warum empfand ihr Vater das Erwachsen werden als eine Pflicht, die lästig war? Im Gegenteil, sie freute sich darauf, weiter eigene Entscheidungen zu treffen und Kind konnte sie doch noch oft genug sein. Wütend stiefelte sie den Waldweg voran entlang, ihr Atem ging heftig, ihre Fäuste immer noch verkrampft.
Es dauerte eine Weile, bis sie ihren Vater verstand, erst zum Abendbrot hatte sie kapiert, dass es vielleicht gar nicht so sehr um sie ging, sondern eher darum, dass sie für ihren Vater noch ein wenig Kind blieb. Sein Kind. Mit dem er scheinbar noch eine Schuld begleichen musste, ihr zurückzahlen, was sie seiner Meinung nach noch von ihm bekommen müsste. Und sie hatte ihm wohl die Möglichkeit dazu genommen. Sie seufzte, als sie sich durch ihre Nudeln grub, bisher hatte sie Blickkontakt vermieden, doch ihr wurde klar, dass sie wohl unfair gehandelt hatte.
„Tschuldigung wegen vorhin. Ich wollte nicht undankbar klingen oder so, als ob ich das nicht wollte und nicht cool finde, aber ich will und brauche auch keine Verhätschelung.“ Ihr Unsicherer Blick brach von dem ihres Vaters ab, blieb an Zyrus hängen, der unsicher zwischen ihnen hin und her sah, bevor ihr Vater begann, zu sprechen.
„Ist schon in Ordnung... ich hatte da wohl ein bisschen übertrieben, aber ich hatte in meiner Familie selbst nicht gerade Vieles, musste schon früh dafür arbeiten und am Ende... egal, jedenfalls dachte ich, dass du und Yuki auch nicht so viel zum Leben hattet und das wollte ich eben irgendwie ausgleichen, ohne dass du arbeiten musst oder..naja.“ Auch seine Stimme wirkte unruhig, hatte er auch darüber nachgedacht? Vorsichtig blickte sie wieder zu ihm, schenkte Saturn ein schüchternes Lächeln, das er kurz erleichtert erwiderte, dann wurde es wieder ernst.
„Wenn du das wirklich machen willst, dann ist auch auch in Ordnung, denke ich. Aber wenn ich kann, will ich trotzdem irgendwo arbeiten gehen“, sagte Miharu, während sie sich die Soße über ihre Nudeln tropfte.
„Einverstanden, du kannst arbeiten gehen, aber nur, wenn dir das nicht zu stressig mit der Schule wird, aber Taschengeld bekommst du trotzdem. Du kannst erwachsen werden, aber dabei sollst du auch nicht vergessen, deine Jugend auszuleben. Wenn du diese komische Cynthia von ihrem Thron gestoßen hast, ist dafür nämlich bestimmt keine Zeit mehr“, ging er schließlich auf ihr Friedensangebot ein, ließ das Lächeln auf Miharus Gesicht erscheinen und auch Zyrus sah erleichtert aus, dass sie sich geeinigt hatten.
Die erste Nacht in ihrem neuen Zimmer war ungewohnt, sie hatte zuerst lange nicht einschlafen können, mit Lotta telefoniert, mit ihren anderen Freundinnen geschrieben und Fotos hin und her getauscht und sich schließlich wieder aufgesetzt, um ein wenig zu spielen, doch auch das hatte sie nicht richtig müde gemacht. Sie war in die Küche heruntergeschlichen um sich eine heiße Milch mit Honig zu machen, doch sie fand nur noch einen halben Liter Milch und keinen Honig, also schlich sie wieder nach oben. Ihre dunkel Jeans und ihr gelbes Oberteil lagen über der Stuhllehne, ihre Jacke an dem ersten Haken ihres Kleiderschranks, sie trug eine kurze, leichte Hose in weiß mit roten Punkten darauf, die sie als Kind mal als Turnhose getragen hatte und ein locker sitzendes grünes Top als Schlafanzug. Unmotiviert ließ sie sich auf ihr Bett fallen und strich ihrer Laubkatze über den Kopf, sah das Porträt ihrer Mutter an und unterdrückte die aufkommende Traurigkeit, bevor sie sich wieder einkuschelte. Auch wenn sie inzwischen alle ihre persönlichen Sachen eingerichtet hatte, war der Raum trotzdem leer und unpersönlich. Hoffentlich würde sich das später noch geben, überlegte Miharu, während sie endlich in einen tiefen Schlaf sank.
Der Sonntag verlief relativ ruhig, was vor allem daran lag, dass Zyrus und Saturn noch viel Papierkram zu erledigen hatten und Miharu so der Vormittag zur freien Verfügung stand. Sie trainierte erst ein wenig mit ihrem Guardevoir, bevor sie in der Küche nach etwas suchte, das man zu etwas essbarem machen konnte. Es sah nicht schlecht aus für einen reinen Männerhaushalt, trotzdem täuschte das nicht über die Leere hinweg, sodass sie schlussendlich nur eine aufgepeppte Tütensuppe hinbekam, die aber ganz passabel schmeckte. Bei Tisch blieb es zumeist stumm, außer das Saturn ihr anbot, später auch einmal in die Firma herein zu schnuppern und sie sich anzusehen, wenn sie das wollte. Sie nahm dankend an, bevor sie sich gemeinsam um den Abwasch kümmerten. Es folgte wieder ein wenig Training und Miharu genoss es, nicht mehr durch die halbe Stadt laufen zu müssen, um einen guten Trainingsplatz zu finden und trotzdem Stille um sich zu haben. Ob die anderen Nachbarn sich wohl schon wegen Ruhestörung beklagen würden? Mit einem Schmunzeln wich sie dem nächsten Flammenwurf aus und stürmte auf ihr Pokémon zu, dem sie halb um den Hals fiel. Solange es ihrem Vater und seinem Freund egal war, würde sie weiterhin trainieren und wenn sich jemand beschweren wollte, könnte er das auch gerne tun, es wäre eine neue Herausforderung, so leise zu kämpfen, dass die Nachbarn nicht gestört werden würden.
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