Lang, lang ists her.
Ich hätte auch - ehrlich gesagt - nie gedacht, dass ich hier mal "zurückfinde". Aber ich möchte es in Angriff nehmen. Ich habe in meinen Datein einige Kapitel gefunden, die ich hier nun nach und nach posten möchte. Jedoch sind diese von vor 4+ Jahren. Und vermutlich trotzdem besser, als das, was ich jetzt schreiben würde bzw. werde, da ich seitdem diese Welt nicht mehr angefasst habe.
Rex Lapis und Rusalka - vielen Danke für euer Feedback, ich habe es damals mit großem Interesse gelesen und es ist immer noch aktuell. Danke auch für euer Lob. Bezüglich der Geschichtsstunde: Vermutlich dürfte es solche Sachen in Zukunft immer mal wieder geben, wenn auch nicht in der Ausführlichkeit. Mein Geschichtsstudium hat mir jedoch die Bedeutung von Geschichte in den vergangenen Jahren durchaus treffend nahegebracht.
In Kapitel VI beschäftigen wir uns erstmal etwas weiter mit Kyrill - und seinem Alltag. Danach schwebt mir ein Schwenk zurück zu Accum sowie die Vorstellung einer vierten, aber sehr wichtigen Charakterin vor.
Aber fangen wir mal von vorne an: Eigentlich war ich bis vor dem Sturm ein ganz normaler, 16-jähriger Junge. In der Schule war ich mittelmäßig, hatte meine starken und schwachen Fächer. Die wenigen Freunde, die ich hatte, nannten mich Claud.
Kapitel VI
Wöchentlicher Austausch
Kronprinz. Ein Titel, der gewisse Rechte und Pflichten mit sich brachte. Der wöchentliche Austausch war ein wiederkehrendes Event in Kyrills Wochenplan.
Und er liebte es. Zwar - das musste er zugeben - war er nicht der religiöseste Mensch der Gemeinde, aber der Dialog mit seinen Mitmenschen war eben dieses Faszinierende, das der Religion, der er angehörte, die nötige Farbe verlieh.
Jasol, der breitschultige, glatzköpfige, vor Ort ansässige Diener des Splitterismus, hatte bereits alle Lichter entzündet, die nun die hohe Kirche erhellten, als Kyrill in diese eintrat. Sie gaben dem Ort etwas warmes, etwas, das einen selbst sich wohlfühlen ließ. Kyrill liebte die komplette Atmosphäre, die dieser Ort ausstrahlte.
Er wusste aus Büchern des Splitterismus, insbesondere den Worten der Bewahrung, dass Kirchen zur Alten Zeit Orte waren, die von großer Ruhe geprägt waren. Eine oder mehrere Personen trugen Geschichten vor, man sang in der Gemeinde, aber die eigentlichen Gespräche unter den Kirchenbesuchern waren gedämpft, wenn sie überhaupt stattfanden. Dies geschah anscheinend aus Respekt vor dem “HERRN”, wie es in dem damaligen Glaubensbuch, das man die Bibel nannte, oft hieß.
Das war hier komplett anders. Die Menschen lachten, wenn sie die Kirche betraten, dämpften ihre Empfindungen und Stimmen keineswegs. Je mehr Gemeindemitglieder die Kirche betraten, desto lauter wurde es. Es gab kein verlegenes Murmeln oder dergleichen.
Kyrill mochte es sehr. Ebenso wie die Menschen, die hier einmal in der Woche das Haus besuchten und ihre Gedanken mit den anderen teilten. Es waren Gedanken über so gut wie alles - Kinder, Ängste, Wünsche, zuletzt geschehene Schicksalsschäge und vieles mehr.
Und die Aufgabe des Kronprinzen war es, sich dieser Gedanken anzunehmen. Er hielt gewissermaßen Hof beim wöchentlichen Austausch der Gemeinde. Manche Dinge trug er dann an seinen Vater heran, der als König zugleich Kirchenvorstand war, weil dieser die größte Möglichkeit hatte, etwas zu bewegen. Doch oftmals reichte es den Anwesenden bereits, dass ihnen endlich jemand zuhörte. Und genau das war es, was Kyrill so mochte.
Menschen helfen. Seine Empathie trieb ihn dazu, sich der Angelegenheiten anderer anzunehmen. Er wusste, dass viele niemanden zum Reden hatten: die Familienväter waren als Soldaten im ganzen Reich verstreut, die Mütter arbeiteten in den Färbergassen oder Suppenküchen, verwaiste Kinder lebten von der Hand in den Mund und suchten Zuflucht bei Roms Diebesbanden. Doch viele hielten nicht durch.
Die Aristokratie schuf eine Klassengesellschaft und die, die von ihr nicht profitierten oder auf absehbare Zeit profitieren konnten, kamen hier her.
Er schritt durch den breiten Gang zwischen den hohen Säulen hin zum großen Brunnen, der vor den Bankreihen aus massivem Holz gebaut worden war. Das schwarze Grundwasser Roms war an dessen Grund und das helle Tageslicht spiegelte sich in diesem. Er kniete vor dem Brunnen nieder und murmelte den ersten Glaubenszusatz, der in den ersten Jahren nach Claudius’ Tod entstanden war. Manche behaupteten gar, dass das seine letzten Worte gewesen seien. “Der Käfig entfesselt. Die Kräfte offenbart. Die Bürde lastet auf uns allen. Wir müssen all das schützen, das uns heilig ist.”
Theologen stritten seit jeher darüber, was mit den vier Sätzen gemeint war und jeder bedachte sie mit einer komplett anderen Bedeutung. Kyrill war es gleich, was sie bedeuteten. Aber immer, wenn er sie aussprach, fühlte er sich beschützt. So, als würde ihm nie etwas passieren können.
Er murmelte sie drei Mal und legte beim dritten Mal seine linke Hand auf das Glaubensbuch, das zu seiner Linken vor dem Brunnen lag. So war die Tradition. Danach atmete er ebenfalls drei Mal tief ein und aus, schloss dabei die Augen und erhob sich.
Erst dann durfte er die Augen wieder öffnen und er schritt zu den Tischen rechts von ihm. Dort hatten bereits einige Platz genommen und warteten, während sie miteinander redeten, auf den Beginn des dieswöchigen wöchentlichen Austausches.
Als er den Tischen näher kam, wurden sie leiser und lächelten in an. “Euer Hoheit”, sagten einige und neigten vor Demut ihren Kopf nach unten.
Er mochte es nicht so, dass er höher gestellt war. Oft war ihm das unangenehm, vor allem war es das zu Beginn gewesen, als er vor drei Monaten, kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag, das erste Mal den Vorsitz des Wöchentlichen Austausches inne hatte.
Davor hatte sein Vater diesen Vorsitz immer wahrgenommen, doch ab einem gewissen Alter ging das Recht und auch die gleichzeitige Pflicht an den Kronprinzen über. Er war darauf lange vorbereitet worden. Und nun konnte er dieses erlernte Wissen, das er im Laufe seiner Schulzeit in sich hinein geprügelt hatte, wirklich mal anwenden.
Sein Vater hatte stets betont, wie wichtig es sei, einfühlsam zu sein und ehrliches Interesse zu zeigen. Kyrill versuchte dies nach besten Möglichkeiten und hoffte, dass es ihm auch gelang. Er interessierte sich wirklich für seine Menschen. Er trug die Verantwortung für sie, musste dafür sorgen, dass es ihnen gut ging.
Das war die Pflicht eines Kronprinzen. Sich um das Volk kümmern.
Denn er wusste aus der Geschichte, dass es sehr schnell dazu kommen konnte, dass sich das Volk gegen ihren Herrscher wandte. Und auf einem Scheiterhaufen wollte er nicht enden, dachte er sich, auch wenn er wusste, dass diese Ansicht plump war.
Jasol kam auf ihn zu und verneigte sich ebenfalls. “Euer Gnaden.”
“Jasol”, erwiderte Kyrill und lächelte. “Schön, Euch zu sehen.”
“Die Freude ist wie immer ganz auf meiner Seite, Euer Gnaden. Seid Ihr bereit? Sollen wir beginnen?” Jasol verneigte sich abermals.
“Natürlich.” Kyrill setzte sich an einen der Tische und rutschte an diesen mit seinem Stuhl heran.
Nun wurde es doch still in der Kirche. Die Gespräche verstummten und die Blicke richteten sich auf ihn und Jasol, der neben Kyrill Platz genommen hatte.
“Meine Lieben”, begann Jasol. “Wir haben den siebzehnten Quindiel des Jahres 299 nach Frederico. Dies ist der sechzehnte wöchentliche Austausch der Gemeinde in Rom. Letzte Woche entfiel er aufgrund der Abwesenheit von mir, denn ich war im hohen Norden unterwegs und der Aufenthalt dauerte länger als erwartet. Dafür möchte ich mich bei Euch allen entschuldigen. Deswegen scheut euch nicht, auch schon länger zurückliegende Ereignisse mit uns zu teilen. Es ist nicht schlimm, wenn es heute länger dauern sollte.”
“Das stimmt. Jasol und ich sind heute länger hier als sonst, wenn es länger dauern sollte”, fügte Kyrill noch hinzu und lächelte die rund 20 Personen an, die an den Tischen Platz genommen hatten.
Eine dünne Frau mit eingefallenen Wangen und strohblondem Haar hob ihre Hand. Sie hatte abgenutzte Kleider an, die mit Staub und Mehl bedeckt waren. Vermutlich arbeitete sie in einem der Mahlwerke, die im südlichen Teil der Stadt angesiedelt waren, weil dort der Tiber entlangfloss und mit seiner Strömung die Mühlräder antrieb. “Dürfte ich…?” Ihre Frage blieb unvollendet in der Luft hängen.
Jasol nickte und lächelte. “Natürlich, Yess.”
Sie holte tief Luft und ihre Wangen schienen dabei noch eingefallener zu sein. “Also….” Sie schien sich unsicher zu sein, ob sie es wirklich aussprechen sollte. Alles in ihr schien sich dagegen zu sträuben.
Doch dann schüttelte sie den Kopf, schloss kurz die Augen und holte tief Luft. “M-mein M-mann … er … er hat es nicht … g-geschafft”, stotterte sie. Ihre Sitznachbarin legte mitfühlend eine Hand auf Yess’ Schulter und fragte: “Was hat er nicht geschafft?”
“Die Wunden der Steine zu überleben. Vor knapp zwei Wochen kam er bei der Arbeit zwischen die beiden Mahlsteine unseres Werkes und sein Arm wurde zerquetscht ... zwischen den beiden … Sch… Steinen....” Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie immer noch nicht fassen, was da passiert war.
Kyrill versetzte das einen Stich. Es machte ihm bewusst, wie schnell so ein Menschenleben zu Ende sein konnte. Und unter welchen Bedingungen die Menschen lebten, wenn sie nicht das Glück hatten, Spross einer Adelsfamilie zu sein.
“Sie hatten sich verklemmt und er wollte den Fehler s-selbst suchen und nicht einen u-unserer Angestellten dazu verdonnern”, fuhr Yess fort. “Und a-als er das Metallstück, das die Ursache war, gefunden hatte, hat er gedacht, dass er s-seinen Arm wieder schnell genug wegziehen kann, w-wenn er … wenn er … das M-m-metallstück … l-löst.” Die letzten Worte bekam sie nur schwer über ihre Lippen und in ihren Augen sammelten sich Tränen. “Ich … ich war nicht schnell genug da … um … um die Mahlsteine zu stoppen. Er sah dabei zu, wie sie wieder a-aufeinander prallten und seinen Arm dabei unter ihrem Gewicht … z-zermürbten.”
Nun flossen die Tränen über ihr Gesicht. “Wir haben alles versucht. Den Rest des Arms abzubinden … aber unsere Möglichkeiten sind ja begrenzt … und d-dann hat er so geschrien.” Sie schluchzte auf und Kyrill erhob sich von seinem Stuhl. Es war usus für ihn, sich dann den Menschen ganz persönlich zu widmen. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich rechts von der Frau hin und berührte sie vorsichtig an der Schulter. Sie zuckte kurz zusammen und sah ihn dann erschrocken an. “Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Wie soll ich das Mahlwerk ohne meinen Mann betreiben? Die ganzen Angestellten müssen ausgebildet werden. Das ist mein Ruin.”
“Ich weiß”, sagte Kyrill leise. “Und ich möchte dir etwas sagen: Dein Mann wird immer bei dir bleiben, wenn aucch … anders.” Er suchte nach den richtigen Worten, ab und zu fiel ihm das - trotz seiner Ausbildung - immer noch schwer. “Doch eine Sicherheit kann ich dir geben, wenn du möchtest”, fuhr er fort.
Sie sah ihn durch die mit Tränen gefüllten Augen an. Ihr zittrige Stimme ließ nur ein “Und zwar?” vernehmen. Zu mehr war sie im Moment nicht mehr in der Lage. Sie versuchte, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, doch es kamen immer wieder neue nach. Sie ließ ihre zitternden Hände in den Schoß sinken und sah ihn verzweifelt an.
“Ich kann deine Schmerzen nicht lindern, denn ich bin kein allmächtiges Wesen. Aber ich kann dir das Versprechen geben, dass das nicht dein finanzieller Ruin sein wird.” Er holte einen Zettel aus seiner Jackentasche heraus und einen Stift. Auf diesen Zettel, der mit dem Stempel “17. Quindiel 299” bedruckt war, setzte er seine Unterschrift. Dann schob er diesen mit sanften Nachdruck in Yess’ Richtung. “Solltest du kurz vor dem Ruin stehen, kommst du mit diesem Zettel bitte sofort in das Sekretariat in unserer Festung. Ich vermerke diesen Zettel dort und du bekommst dann, wenn du ihn einlöst, den Betrag von einem halbjährigen Umsatz deines besten Jahres ausgezahlt. Das wird dir dann hoffentlich zumindest in der Hinsicht ein bisschen helfen.”
Yess starrte den Zettel an. “Das … das kann ich nicht annehmen”, sagte sie und schob ihn von sich. “Nein, nein. Das geht nicht.”
Kyrill schob ihn wieder zu ihr. “Doch. Das ist mein Wunsch. Ich weiß. Mit Geld kann man nicht immer helfen, doch manchmal ist es vielleicht gut, zumindest eine der vielen Sorgen vergessen zu können. Das geht damit, das weiß ich. Also bitte. Nimm ihn an.” Er war selbst erstaunt über seinen Einfall. Doch war er gut? Er war sich nicht so ganz sicher.
Yess seufzte erleichtert auf. “D-danke. Danke, Euer Gnaden. Das ist viel zu … gütig.” Ihre Hände begannen, wieder zu zittern.
“Nein”, meinte Kyrill sanft. “Das ist meine Pflicht. Immerhin seid Ihr in meiner Gemeinde und ich bin für Euer Wohlergehen verantwortlich. Da ist das hier” - er deutete auf den Zettel - “das absolut mindeste.” Er lächelte Yess an. “Ich bin für Euren Schutz verantwortlich. Und so kann ich Dich nach diesem Verlust immerhin vor einem kompletten Existenzverlust schützen.”
Er erhob sich langsam von dem Stuhl und kehrte zu seinem vorigen Platz zurück. In den folgenden drei Stunden hörte er sich siebzehn weitere Anliegen an - von Betrug bin hin zu Diebstahl. Alles Dinge, die nicht weiter verfolgt werden würden, da sehr wahrscheinlich niemand die Vorwürfe bezeugen konnte. Und er war nicht verpflichtet, sie zu melden. Das war eins der Statute dieser Form an wöchentlichen Austauschen.
Es hatte gerade der letzte geendet und berichtet, wie im fernen Osten die Arbeitsbedingungen waren, da wurden die Türen plötzlichen aufgestoßen.
Soldaten strömten in die Kirche. Sie trugen das Wappen seiner, Kyrills eigener Familie. “Was ist los?”, wollte er von dem Hauptmann der Truppe erfahren.
“Euer Gnaden…”, schnaufte dieser. “Ihr müsst sofort mit uns kommen.”