Dritter Abschnitt: Zwischen Herzen
„Das Wichtigste bei einer Patrouille ist, immer aufmerksam zu sein!“
– Cousin
Die Vertraute der Prinzessin führte den Helden tiefer in die Schlossbibliothek. Um sie herum wurden die Bücher in den Regalen allmählich älter, ihr Inhalt geheimnisvoller, ihre Oberflächen staubiger. Aufgebwirbelt von den Bewegungen der Besucher, trieb etwas davon in Links Nase und ließ ihn lautstark niesen. Der Hylianer schniefte und wischte sich die Tränen aus den Augen, die ihm die Sicht nahmen. Nicht sonderlich erpicht darauf, noch weiterzugehen, lief er Impa weit weniger enthusiastisch hinterher wie zuvor auf dem Weg durch die Palastkorridore. Seine Empfindlichkeit gegen diesen Staub war nur ein weiterer Grund, warum er es nicht lange in geschlossenen Räumen aushielt. Lediglich in Höhlen oder altertümlichen Verliesen überkamen ihn keine dieser negativen psychischen oder physischen Symptome. Zu sehr war sein Geist dann eingenommen von der Spannung der Rätsel und seines Kampfes ums Überleben. Und der Staub dort war auch irgendwie anders als in bewohnten Gebäuden wie hier.
„Bestimmt begegnest du auf deinen Reisen oft alten Menschen“, meinte Impa nach einem neuerlichen Niesen hinter ihr.
„Wie dir?“, fragte Link verschnupft und rieb sich die Nase.
Amüsiert lächelte Impa, ohne sich zu dem Grüngewandeten umzudrehen. Er konnte es einfach nicht bleiben lassen, möglicherweise beleidigende Gedanken zu äußern, weil er diese Tatsache einfach nicht verstand. Nie nahm er ein Blatt vor den Mund, nie sprach er doppeldeutig, nie katzbuckelte er vor ihr oder der Prinzessin, wie es andere Menschen stets taten. Genau wie sein gelegentliches unaufmerksames Desinteresse waren auch seine nach gesitteten Maßstäben unhöflichen Anmerkungen nur Auswirkungen seiner reinherzigen Ehrlichkeit. Und genau die war es, die Zelda so sehr an ihrem Helden wertschätzte. Auch dessen war er sich nicht bewusst – wobei das ein allgemeines Syndrom der Vertreter seines Geschlechts war.
„Vielleicht nicht gar so alt“, räumte Impa ein. „Manche von ihnen haben das Ende der Goldenen Ära noch erlebt, als die Magie in Hyrule zwar bereits schwächer zu werden begann, aber noch sehr verbreitet war. Wenn das Triforce wiedervereint ist, werden ihre direkten Kenntnisse noch wertvoller sein als die ganze Schlossbibliothek.“ Mit weit fassender Geste deutete sie auf die niedergeschriebene Geschichte, die sie umgab. Link musste wieder niesen. „Dennoch wird dieses wenige versprengte Wissen nicht ausreichen, Hyrule wieder zu altem Glanz zu verhelfen …“ Zu beiden Seiten öffneten sich nun die Bücherregale, und die Bibliothek endete abrupt in einer Ziegelwand. „Schau hier hindurch“, forderte Impa ihren Begleiter auf und reichte ihm etwas.
Neugierig nahm Link den dargebotenen Gegenstand entgegen. Eine große, gläserne Linse, auf beiden Seiten mit einer dämonisch anmutenden, schlitzförmigen Pupille bemalt, war eingefasst in einen kreisrunden, violetten Metallrahmen. Am oberen Ende mit drei spitzen Dornen verziert, am unteren mit einem Griff versehen, war sie ganz ähnlich zu halten wie eine Vergrößerungslupe. Der Grüngewandete spähte hindurch, doch was dahinter lag, wurde nicht wie erwartet lustig in andere Größendimensionen verzerrt. Wo die massive Backsteinmauer hätte sein müssen, erblickte er nun eine schlichte Holztür, die eigentlich völlig unsichtbar darin eingelassen war.
Hätten Persönlichkeiten wie Pietro gewusst, wie wertvoll das war, was hinter dieser Tür lag, sie hätten die hier eingehaltene Sicherheitsstufe als vollkommen unzureichend erachtet. Es war das bestgehütete Geheimnis der Königsfamilie; außer ihrer Vertrauten wusste kein ihr nicht Anverwandter davon, und außer Link sollte auch nie jemand davon erfahren. Genau das machte die unscheinbare, hinter einfacher Illusionsmagie versteckte Holztür sicherer als jedes pompöse, von Soldaten bewachte und von mächtigen Zaubern versiegelte Tor.
„Um wiederaufblühen zu können, braucht Hyrule unbedingt das vollständige Triforce“, erklärte Impa, während sie den Schlüssel hervorholte, den sie an einer Kette um den Hals trug, sicher verborgen unter ihren Gewändern. „Und das Triforce braucht jemanden, der seine Macht recht zu nutzen weiß. Jemand, der schon gelebt hat, als es noch im Ganzen im Besitz der Königsfamilie war. Aus dieser Zeit gibt es nur noch eine Person mit royalem Blut …“ Anders als Link benötigte die Rotäugige kein Hilfsmittel, um die falsche Wand zu durchschauen. Der Held begann bereits wieder, ungeduldig herumzutänzeln, und hätte die unsichtbare Tür demnächst noch eingetreten, als Impa endlich den gusseisernen Schlüssel ins Schloss gleiten ließ und sie entriegelte.
Noch vor der alten Dame schlüpfte der Hylianer hindurch, als die Tür gerade weit genug offen war, und atmete das kühle, felsige Aroma toten Staubes, das seiner gereizten Nase sogleich Linderung verschaffte. Der Raum, der sich vor ihm auftat, war überraschend groß, für die Verhältnisse des Schlosses jedoch wohl bestenfalls eine Hinterkammer. Der quadratische Grundriss hätte ausgereicht, eines der Bücherregale aus der Bibliothek diagonal darin zu verstauen, mehr aber auch nicht. Dafür lag die Decke umso höher; zwar wiesen die Wände keine Fenstern auf, doch rieselte durch verborgene Luftschächte vergehender Sonnenschein von oben herab. Dazu kam ein schwacher, warmgelber Schimmer, der gegenüber der Tür den hinteren Bereich des Zimmers erfüllte. Seine Quelle waren zwei aus scheinbar massivem Gold bestehende, aber schwerelos über je einer hüfthohen Marmorsäule schwebende Dreiecke – die Triforce-Elemente der Kraft und der Weisheit. Rechts der beiden belegten Säulen stand eine dritte, die allerdings leer war.
In der Mitte der Geheimkammer kehrte ein bläuliches Glühen den goldenen Schein des Triforce in die Neutralität um. Es umgab den oberen Teil einer steinernen Bahre, die vor den Podesten aufgestellt war. Interessiert trat Link näher, bis er innerhalb des kalten Lichts liegend eine zierliche Frauengestalt in einem langen, rosenfarbenen Kleid erkannte. Die Hände auf der Brust gefaltet, die Augen geschlossen, schien sie friedlich zu schlummern. In der Blüte ihrer Jahre, unterschied sie sich bis auf ihre rostroten Locken, die ihren Kopf umflossen wie gesponnenes Kupfer, kaum von einer gewissen anderen jungen Frau.
„Zelda!“, entfuhr es Link überrascht.
Auch Impa war nun in den winzigen Raum eingetreten und verschloss die Tür. Als habe er es mit einem besonders spannenden Rätsel tu tun, vergaß Link völlig, Panik vor der Enge zu schieben. „Das ist ihr Name“, bestätigte die Alte leise, als fürchte sie, die Schlafende zu wecken, „aber sie ist nicht die Prinzessin, die du kennst. Sie ist ihre Großtante, die Tochter König Akiras.“
Mit großen Augen musterte Link erst die Frau auf der Bahre, dann die neben ihm stehende und fragte sich, ob sie beide diesem geheimnisvoll langlebigen Volk angehörten.
Die Dame mit den roten Augen fuhr fort: „Sie ist eigentlich diejenige, der König Akira kurz vor seinem Ableben die sieben Kristalle und die Karte vermacht hat. Aus Angst vor Intrigen bei Hofe weihte sie auch mich ein – was zu tun völlig legitim war, wie sich später zeigen sollte.“
Link hielt es nicht mehr länger an einer Stelle, also schritt er nun um die Bahre herum, um die schlafende Prinzessin von allen Seiten betrachten zu können. Das jetzt unnütze Auge der Wahrheit gebrauchte er derweil wie eine klanglose Flöte.
„Vor sieben Jahrzehnten versuchte ein Berater ihres Bruders, der nach ihres Vaters Tod alsbald zum König gekrönt werden sollte, über den Prinzen an Zeldas Geheimnis um das Triforce des Mutes zu gelangen. Ihr geschwisterlicher Zusammenhalt war es schließlich, der den Verräter scheitern ließ. Aus Zorn sprach er einen Todesfluch über den Prinzen, doch seine Schwester bewahrte ihn davor, indem sie sich für ihn aufopferte.“
Während er mit halbem Ohr zuhörte, bestaunte Link die wahrhaft verblüffende Ähnlichkeit zwischen der Aufgebahrten und ihrer Großnichte – aber auch die Unterschiede: Während das engelsgleiche Gesicht der jüngeren Zelda lieblich anzuschauen war, war die andere, auch wenn sie um keinen Tag älter wirkte, von asketischer, geradezu erhabener Schönheit. Fast schon andächtig legte der Hylianer eine Hand auf den Glassarg, in dem ihre ebenso zerbrechlich wirkende Erscheinung eingeschlossen war. Geformt wie ein riesiger Kristall, wirkten seine Wände so hauchdünn, als hätten sie keine Masse – doch fühlten sie sich hart an wie Stein. Das bläuliche Glühen ging von ihrem substanzlosen Material aus; wo Link es berührte, schimmerte es heller auf und erlosch rasch wieder. Fasziniert fuhr der Held mit den Fingern über den Sarg und beobachtete die Spuren, die er darauf hinterließ.
„Die Prinzessinnen der Hylianischen Königsfamilie Zelda zu nennen, ist zwar schon lange Tradition“, schloss Impa und lächelte versonnen, „aber der Vater unserer heutigen Prinzessin hat klargemacht, dass er seine Tochter zu Ehren seiner Tante benannt hat, wie es der Wunsch seines Vaters war, den sie einst vor dem Tode bewahrte.“
Mittlerweile hatte Link die Prinzessin mehr als einmal umrundet und blieb Impa gegenüber zwischen Säulen und Bahre stehen. Spielerisch ließ er verschiedene Muster und Formen auf der Kristallhülle entstehen. „Was ist das?“, fragte er, ohne sein Tun zu unterbrechen.
Die Dame antwortete: „Das ist ein Zauber, den Zelda kurz, bevor sie das Bewusstsein verlor, selbst gewirkt hat. Er schützt ihren Körper vor Alterung und zeitlichem Verfall, aber vor allem verhindert er, dass der niederträchtige Fluch seine ganze tödliche Wirkung entfalten kann. Auch wenn der intrigante Magier gleich nach seiner Untat an den Thronerben verfolgt und getötet wurde, hat sie das nicht erwecken können.“
Als Link merkte, dass er wie zuvor im Thronsaal auf seiner Hand in einem Zug das Triforce-Symbol nachzuzeichnen begann, ließ er es hastig bleiben. Stattdessen betrachtete er die Prinzessin, deren Brust sich weder hob noch senkte, als habe ihr der Fluch doch das Leben entrissen. Ihre Haut schien in dem bläulichen Schimmer aschfahl. In Link regte sich sein frühkindliches Trauma, und es verlangte ihn danach, diese Haut zu berühren, nach einem Puls zu tasten. Zu prüfen, ob sie warm und weich war, wie sie es sein musste, oder kalt und steif, wie er es fürchtete – es hasste.
Traurig musterte Impa ihre kristallisierte ehemalige Herrin. „Unsere Prinzessin heute hat das Unglück, über ein Hyrule zu regieren, das einen stärkeren Regenten braucht als jemals zuvor“, sprach sie leise, „stärker, als sie je einer sein könnte. Leider hat ihren Vater der Tod ereilt, bevor er sie auf ihre spätere Rolle hatte vorbereiten können. Mit ihrer Großtante verhält sich das anders. König Akira hat beide seine Kinder frühzeitig zu seinen Nachfolgern erzogen.“ Die Vertraute beider Prinzessinnen deutete hinter Link, wo die goldenen Dreiecke schwebten. „Wenn das Triforce wiedervereint ist, wird es sicher den Fluch des Magiers brechen und Zelda wiedererwecken, sodass sie die Regierungsgeschäfte ihrer Nachkommin übernehmen kann. Dass sie in diesen todesgleichen Schlaf gefallen ist, war seinerzeit ein Desaster – für das heutige Hyrule jedoch ist es eine neue Hoffnung, die allein in deinen Händen liegt.“
Mit dem Auge der Wahrheit schien Link einem unsichtbaren Orchester einen neuen Takt zu dirigieren. Seine andere Hand griff hinter sich, wo er für gewöhnlich die Gürteltasche angeschnallt trug, die sich zurzeit aber in der Obhut der Palastwachen befand. Ebenso ihr Inhalt, zu dem auch das Beutelchen mit den Süßwurzeln zählte. Unbedingt brauchte Link eine zum Kauen, so aufgeregt war er bei der Aussicht dieses neuen Abenteuers. Unruhig hüpfte er wieder vom einen Fuß auf den anderen und jonglierte mit der magischen Lupe, ohne dabei hinzusehen. Das blaue, ätherische Glühen des Sarges betonte die natürliche Farbe seiner Augen, die auf die schlafende Prinzessin gerichtet waren, und ließ sie leuchten wie der Sommerhimmel.
Erneut dachte Impa an ihr erstes Treffen zurück, diesmal mehr daran, was es für den Jungen von damals bedeutet hatte. Schon seit jenem Tag hegte sie den Verdacht, dass Ganon das Ritterdorf und seine Einwohner hatte auslöschen lassen, weil er gefürchtet hatte, ihre über Generationen weitergereichten hylianischen Waffenkünste könnten ihm gefährlich werden – zurecht, wie sich Jahre später durch Link herausgestellt hatte. Stimmte diese Vermutung, hätte der Moblinkönig dadurch ironischerweise nur seinen eigenen Untergang herangezogen. Denn Link, bei seinem Sieg über ihn wie die Prinzessin noch kaum dem Kindesalter entwachsen, war gezwungen gewesen, eine ganz eigene Art der geistigen Reife zu entwickeln, wo jeder andere völlig den Verstand verloren hätte. Ganz allein hatte er das verlassene Dorf und die selbstgehobenen Gräber seiner Familie vor Plünderung und Schändung bewahrt, und das jahrelang – zum Zeitpunkt, als er Impa und ihre Eskorte gerettet hatte, wahrscheinlich schon sein halbes Leben. Impas Queste hatte er damals nur angenommen, weil sie und ihr Geleit ihm versprochen hatten, sich um den Schutz seines Heimatdorfes zu kümmern; als sich nach der Entführung der Prinzessin die Lage im Schloss etwas beruhigt hatte, waren zusätzlich Soldaten dafür abbestellt worden.
Mit der Gewissheit, dass sein Friedhof auch ohne ihn verteidigt wurde, war Link ausgezogen, hatte das Triforce der Weisheit zusammengesetzt, Ganon damit vernichtet und Prinzessin Zelda befreit. Diese hatte das Versprechen ihrer Vertrauten an den Helden sogleich erneuert und alles in die Wege geleitet, damit das Dorf der Toten auch weiterhin beschützt wurde. Ein Vermögen aus der Staatskasse hatte sie ausgegeben für Material, Handwerker, sowie Personenschutz und Verpflegung aller Arbeitskräfte, auf dass eine Mauer um Links heiligste Stätte gezogen wurde. Auch jetzt noch waren dort Soldaten in wechselnden Schichten stationiert, und ein Gärtner versorgte die Bepflanzung der Gräber. All das fraß Unsummen an Rubinen und Waffenkraft, die dringend für den Schutz Lebender benötigt wurden.
Und das nur, weil die Prinzessin unter allen Umständen und ungeachtet der Kosten das Versprechen halten wollte, das Impa und sie Link gegeben hatten. Weil ihr Retter außer Impa die einzige Person in ganz Hyrule war, der Zelda ihr Leben anvertraut hätte. Selbst wenn das göttliche Mal auf seiner Hand es als eindeutiger Indikator nicht gezeigt hätte, und egal aus welcher Perspektive man seine Erwählung betrachtete: Link war der einzig Richtige für die Aufgabe, die vor ihm lag.
Schon von Weitem kündigte ein Niesen ihre Rückkehr an, bevor Held und Vertraute endlich wieder in den weniger staubigen Bibliotheksbereich kamen, in dem Zelda auf sie gewartet hatte.
„Und? Was denkst du?“, fragte die Prinzessin den Grüngewandeten, als dieser mit Impa hinter dem letzten Regal erschien.
Ehrlich, wie er nunmal war, verkündete Link fröhlich: „Sie ist hübsch. Fast wie du!“
Das unerwartete und angesichts der Situation völlig unangebrachte Kompliment warf Zelda aus der Bahn. Wieder lief ihr Gesicht hochrot an, als sie stockend hervorbrachte: „Nein, das … Ich meinte …“
„Was sie wissen will, ist eher, ob du deine Auserwählung anerkennst und die Mission annimmst“, übernahm Impa. Dankbar nickte die Prinzessin ihrer Vertrauten zu, fasste sich wieder und wandte sich an Link.
Der Hylianer zögerte, kratzte sich dabei den gebrandmarkten Handrücken. Noch immer konnte er sich mit der Vorstellung nicht anfreunden, der Auserwählte fremder Götter zu sein, die nach allem, was er wusste, nicht existieren konnten. Viel lieber wäre es ihm gewesen, sein eigener Gott, dessen wachsamer Blick schon sein ganzes Leben auf ihm ruhte, hätte ihm ein Zeichen gesandt. Die Ehre zuteilwerden lassen, in Seinem unbekannten Namen das Königreich im Kampf ums Dasein zu diesem wichtigen Schritt zu verhelfen. Aber im Grunde genommen hatten ihn Zelda und ihr Urgroßvater darum gebeten – so gesehen konnte er die falschen Götter also auch ganz außer Acht lassen. Wenn ein König es so wollte und Link Hyrule dadurch unterstützen konnte, waren auch dem Monotheisten in ihm jede daran beteiligten höheren Mächte gleichgültig.
Soeben setzte Link wie zu erwarten zu einem bekräftigenden Nicken an, als Zelda ihn doch noch unterbrach. „Bevor du zusagst … Es gibt noch eine wichtige Sache, die du wissen musst.“
An der vorgesehenen Bewegung gehindert, baute Link die dafür angesammelte Energie ab, indem er den Kopf schieflegte und die Nackenwirbel knacken ließ. Auch ohne Süßholzwurzel führten seine Kiefermuskeln nun Kaubewegungen durch, während er darauf wartete, dass Zelda zum Punkt kam. Was war denn jetzt noch?
„Ich kann es ihm auch sagen, wenn du möchtest“, bot Impa ihrem zaudernden Schützling an.
„Nein“, lehnte die Prinzessin entschieden ab. „Ich muss das selbst machen.“ Zu Links Frustration auch weiterhin schweigend, wandte sich Zelda ab und trat ans Fenster. Gegen das Dämmerlicht schien die Prinzessinnenkrone in ihrem langen, goldblonden Haar zu verschwinden. Eine Hand auf den steinernen Sims gelegt, blickte die Regentin über ihr Königreich, das ihr von hier aus schon immer viel zu groß, viel zu weiträumig erschienen war. Die grasbewachsene Ebene, die sich vor ihr erstreckte, lief im Norden in ein karstiges Gebirge aus. Rechts ihres Blickfeldes ragte ein besonders hoher Gipfel auffällig sichtbar über all seine kleineren Geschwister. In früheren Zeiten war er angeblich ein aktiver Vulkan gewesen, wovon noch immer ein Dunstring zeugte, der seine himmelhohe Spitze umkreiste. Auch ohne das Abendrot, das die Gebirgshänge erglühen ließ, war dieser Ring stets rötlich gefärbt. Es hieß von ihm, in Friedenszeiten sei er aus reinweißen Wolken, aber bis auf Impa lebte niemand mehr, der das tatsächlich noch gesehen haben mochte.
Näher am Schloss erblickte Zelda nun eine Bewegung und blinzelte gegen das Zwielicht. Es schien ein Reh zu sein, das von einigen menschlich anmutenden, wolfsköpfigen Monstern über die Steppe verfolgt wurde. Weit und breit waren alle Wälder abgeholzt worden; wie die Prinzessin aus Berichten von Soldaten und Wanderern wusste, trieben diese Kreaturen Tiere nur zum grausamen Spaß aus ihren natürlichen Habitaten. Manchmal über Tage hinweg, bis das unglückselige Geschöpf vor körperlicher und geistiger Erschöpfung zusammenbrach, und die Monster es mit ihren schartigen Dolchen bei lebendigem Leibe zerrissen. Schaudernd wandte die machtlose Zuschauerin den Blick ab.
Sie sah zu Link hinüber, der sie so auffordernd und erwartungsvoll musterte, dass ihr Herzschlag für einen Moment aussetzte, um danach schneller weiterzuschlagen. Die kindische Naivität, die Links Ungeduld bisher innegewohnt hatte, wich allmählich etwas zutiefst Selbstzerstörerischem. Hier so lange an Ort und Stelle zu verbleiben, war für den Grüngewandeten wie die Hetzjagd für das Reh. Er hatte vorhin bereits kurz vor einem Anfall gestanden. Zelda durfte es ihm nicht antun, ihn noch weiter festzusetzen. Aber diese eine letzte Angelegenheit – die für sie wichtigste, die seine Mission betraf – musste er jetzt einfach noch ertragen.
„Die Menschen Hyrules glauben, wir Hylianer könnten mit unseren spitzen Ohren die Stimmen der –“, eröffnete Zelda, unterbrach sich rasch und korrigierte: „ … die Stimme Gottes vernehmen. Dieser Mythos gibt ihnen die Hoffnung, uns und gerade der Königsfamilie flüstere er ein, was das Richtige zu tun ist. Aber wir beide wissen, dass die Wahrheit nicht so romantisch ist.“ Auf diese Worte presste Link die Lippen zusammen und biss die Zähne aufeinander, sodass Zelda hastig fortfuhr: „Trotzdem – oder gerade deswegen – ist es unsere Pflicht, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“
Tief atmete sie durch. „Sag: Was ist dir auf dieser Welt am wichtigsten? Wem gilt dein Herzblut?“
Darüber musste Link keine Sekunde überlegen. Stetig kreisten seine Gedanken um lichte Grasebenen und dunkle Wälder, verschneite Gebirge und schattendurchflutete Täler, rauschende Flüsse und stille Seen. Um unberührte Natur ebenso wie verwilderte Felder und Weiden. Alles, das unter den weiten Himmeln lag, ebenso wie alles, das nie vom Licht der Gestirne berührt worden war. Um das Abenteuer, nach eigenem Gewissen all diese Gebiete zu durchstreifen, und die damit verbundene Gefahr. Die schützenswerte Ehrlichkeit guter Menschen und vor allem das Gefühl, von ihnen gebraucht zu werden.
So gab Link die ihm einzig mögliche Antwort: „Hyrule.“ In diesem einen Wort lag seine ganze Liebe zu dem Land, das Heimat seiner Seele und seines Wesens war.
Zelda, die nicht so recht wusste, ob sie dies erhofft oder befürchtet hatte, lächelte schwach und sah wieder zum Fenster raus. „Mir geht es genauso“, vertraute sie ihm an. „Trotz allem ist Hyrule ein schönes Land mit wunderbaren Menschen und Lebewesen. Gerade in diesen schwierigen Zeiten verdient es alle Unterstützung, die es kriegen kann. Deswegen … Wenn das Triforce wieder … Auch ich muss …“ Ihre Rede geriet immer mehr ins Stolpern, bis sie schließlich ganz abbrach.
Das einzige Geräusch, das für einige Augenblicke in der Bibliothek zu hören war, war das Pochen, mit dem Link die Fersen auf den Boden klopfen ließ. Im Kopf ging er bereits die ersten Schritte seiner Reise durch: Wie er herausfand, welches Klima dort herrschte, wo der zum Schloss nächste Palast lag, und welche Ausrüstung dafür wohl am besten geeignet war. Überhaupt musste er erst seine sehr dürftigen Lesekenntnisse anstrengen, um den Anmerkungen auf der Karte eine Bedeutung abzuringen. Wenn man ihn nur endlich gehen ließe!
Leise wie ein Schatten trat Impa zu Zelda heran und legte eine Hand auf die ihre. „Zelda, soll ich den Raum verlassen?“, fragte sie fürsorglich.
„Nein!“, entfuhr es der Prinzessin instinktiv, bevor sie genauer darüber nachdachte. „Doch“, verbesserte sie sich schließlich. „Danke, Impa.“
Die alte Dame lächelte mütterlich, drückte ihrem Schützling kurz die Hand und entfernte sich. Am liebsten wäre Link ihr gefolgt, schaffte es aber, diesen Reflex in eine ganze Drehung um die eigene Achse umzuwandeln, sodass er wieder Richtung Fenster blickte.
Dort stand Zelda noch immer, eine goldene Silhouette gegen das Abendrot. Sie hatte die Reifenkrone abgenommen und betrachtete sie melancholisch. Die anwachsende Stille, die Link wohl kaum brechen würde, wirkte zunehmend erstickend auf ihn. Er ertappte sich bei dem Gedanken, sogar aus dem Fenster zu springen, wenn es nur bedeutete, dieser Enge zu entfliehen. Schnell zwang er sich, von der trügerisch lockenden Freiheit wegzuschauen. Auf dem Schreibtisch neben der Schatulle entdeckte er den Stift von vorhin und liebäugelte damit, während seine Finger sehnsüchtig zu zucken begannen.
Mit schwerem, metallischem Klicken legte Prinzessin Zelda die Krone auf das Fenstersims. Schweigend, ohne Link anzuschauen, wandte sie sich ihm zu und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf sie. Wieder nahm sie seine Hände, die stark und schwielig waren, wie sein ganzer Körper und seine Psyche an ein hartes, entbehrungsreiches Leben angepasst, das ein nur allzu ungnädiges Schicksal über ihn verhängt hatte. All diese Fähigkeiten, die anzuwenden er sich entschieden hatte, diese zerrüttete Welt zu einem besseren Ort zu machen, hatte er sich während seiner unvorstellbar schrecklichen und einsamen Kindheit angeeignet – während Zelda fern dieser Realität behütet und geliebt im Schloss aufgewachsen war. Welches Recht hatte sie schon, sich zu beklagen, und das auch noch ausgerechnet bei ihm?
So leise, dass Link sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen, fragte Zelda: „Wenn dein Herz so voll von Hyrule ist … hast du darin noch irgendwie Platz für seine Prinzessin?“ Sie sah zu ihm auf, ihre aquamarinblauen Augen voll bittersten Schmerzes, den ihr Held nicht verstand. Was meinte sie damit?
Plötzlich zog sie sich zu ihm heran, und wie von allein fanden ihre Lippen die seinen. Link, der nicht zum ersten Mal an diesem Tage von einem Mädchen geküsst wurde, regte sich nicht, da er keine Ahnung hatte, was er tun sollte. Zugleich aber suchte er auch nicht nach einer Lösung für seine Ratlosigkeit, und seine Sorgen darüber verstummten. Seine ruhelosen Hände zuckten immer weniger, bis sie ganz still hielten, seine stets angespannten Schultern sanken herab, und seine Beine knickten unter ihm ein. Als er zu stürzen drohte, taumelte er rückwärts. Um nicht von Link getrennt zu werden, krallte sich Zelda in seiner Tunika fest, nach einem Halt suchend, den er ihr nicht bieten konnte.
Schließlich stieß er gegen den Tisch, den er hinter sich wusste, wobei der Stift von der Platte rollte. Sowie sich der Hylianer auf die rettende Kante setzte, hatte er die Anwesenheit des Möbelstücks bereits vergessen, und das Schreibutensil hörte er schon gar nicht mehr fallen. Ihm schwand die Sehschärfe, die Augenlider schlossen sich halb. Seine Wahrnehmung sackte in sich zusammen, bremste seine Gedanken aus und brachte sie zum absoluten Stillstand. Atmung und Pulsfrequenz gingen auf ein Minimum zurück.
Bei Zelda hingegen rief der Kuss eine völlig gegenteilige Reaktion hervor: Sie kostete ihn bewusst so lange und intensiv wie nur irgend möglich aus, bebend vor verzweifelter Leidenschaft, die geboren war aus dem unbedingten Wunsch, zumindest was das Küssen betraf nicht jungfräulich zu sterben.
Nach einigen Herzschlägen ließ Zelda los und wandte sich rasch von Link ab. Ihre Stimme zitterte, als sie fast tonlos sagte: „Du solltest jetzt besser gehen. Bestimmt musst du dich noch vorbereiten. Vorräte kaufen, dich ausruhen …“
Ja, vorbereiten.
Auf seine Reise.
Er brauchte ein paar Dinge.
Besonders einen Schild. Seinen anderen hatte er auf der Ebene zurücklassen müssen.
Zweifelsohne hatten die Monster den Schild mitgenommen, daher musste er in Hyrule-Stadt einen neuen kaufen. Dann musste er die Karte verstehen lernen, herausfinden, in welchem Gebiet des Landes der erste Palast lag, und sich entsprechend darauf vorbereiten. Möglicherweise reichte seine Barschaft dafür nicht aus, also wäre er darauf angewiesen, auf seiner Reise Rubine oder zum Verkauf geeignete Schätze zu finden.
Nach und nach kehrten sich Links Sinne wieder nach außen, dutzende erkaltete Gedanken entzündeten sich neu, bis in seinem Geist das gewohnte lodernde Chaos tobte. Doch auch nachdem er wieder bei vollem Bewusstsein war, konnte er die Bedeutung dessen, was soeben zwischen ihm und Zelda geschehen war, nicht zur Gänze erfassen.
Der Hylianer bog den gekrümmten Rücken wieder gerade. Mit noch hektischeren Bewegungen als zuvor übten seine Hände die Griffe, die nötig waren, sich seine Ausrüstung umzuschnallen, sobald er sie von den Soldaten zurückerhielt. Ohne ein weiteres Wort an die Prinzessin verließ er summend die Schlossbibliothek, erleichtert und froh, der stickigen Enge zu entfliehen. Das leichte Stechen seiner Kampfverletzungen war verflogen, und es kam Link auch nicht so vor, als ob es wiederkehren würde. Viel stärker als üblich hatte er das Bedürfnis, zu laufen, sich zu bewegen, und fühlte sich leicht wie eine Frühlingsbrise.
Impa, die vor der Bibliothekstür darauf wartete, wieder reingebeten zu werden, blickte ihm erstaunt hinterher, als Link sie im Vorbeilaufen heiter anstrahlte. Wie ein Blumenkind im Schlossgarten hüpfte er den Gang hinab, summte eine Melodie und spielte in Ermangelung eines echten Instruments eine imaginäre Flöte.
Als die Vertraute wieder beim Schreibtisch war, fand sie von ihrer Prinzessin nur die Krone vor, die vergessen auf dem Sims lag. Ein leises Geräusch führte die Dame in jenen hinteren Teil der Bibliothek, den sie Link zuvor gezeigt hatte. Neben der unsichtbaren Tür, gegen die Wand gelehnt saß Zelda im abendlichen Halbdunkel. Sie hatte die Beine angezogen, die Knie mit den Armen umschlungen und das Gesicht in dem so entstehenden Schutzwall vergraben.
Und sie weinte.
Unter altersbedingten Gliederschmerzen setzte sich Impa neben ihren Schützling auf den kalten, verwitterten Fliesenboden. Zelda lehnte sich an sie, ließ sich in eine tröstliche Umarmung nehmen. Fürsorglich streichelte Impa ihr den Kopf.
Als nach einer schweigsamen Weile die Nacht Einzug in Hyrule gehalten hatte, merkte Impa an, was sie bei Links ausgelassenem Auftreten sofort durchschaut hatte: „Du hast es ihm nicht gesagt.“
„Wie hätte ich können!“, schluchzte Zelda und floh tiefer in die Umarmung. „Oh, Impa! Und wenn er nun um meinetwillen das Schicksal Hyrules zurückgestellt hätte? Ich kann doch nicht zulassen, dass er im entscheidenden Moment zögert!“
Bevor ich zu den Anmerkungen zum Kapitel komme, möchte ich erst Werbung in eigener Sache machen. Und zwar für meine auch im Startpost verlinkte CreepyPasta:
Gamer, Glitches und das Gesicht der Grimmigen Gottheit
Eine fünfkapitelige (also harmlos kurze) Fanstory zum besten Zelda-Teil out there – Majora’s Mask 3D – und mein erstes echtes Fan-Schreibwerk zur TLoZ-Reihe. Kommenden Dienstag wird sie ein Jahr alt, und da Halloween mal wieder vor der Tür steht, will ich sie ein bisschen unter Nasen reiben ^^
Die Katze lässt das Mausern nicht, und Pika! lässt nicht die viel zu langen Kapitel, auch wenn sie sich was anderes vornimmt xP Schon wieder sieben Word-Seiten bei 11pt Schriftgröße << Das wird noch bunter, wenn man bedenkt, dass die Themen des zweiten und dritten Kapis ursprünglich nur ein Kapitel waren. Dann kamen aber so viele Kleinigkeiten hinzu, dass ich sie auftrennen musste, da ich dem zweiten Kapitel mit dem vielen Rumgelabere nicht zu viel Gewicht in meiner Story geben wollte. Normalerweise trenne ich die Kapis nach Thematik, weniger nach Länge, aber ich denke, der Cut sitzt auch jetzt ganz gut.
Noch eine Anmerkung, die ich in der Trivia von Kap2 vergessen habe:
- Im Spiel sind es eigentlich nur sechs Kristalle, die Link von Impa erhält, denn im Großen Palast, dem letzten Dungeon, ist überhaupt keiner nötig. Das musste ich hier ein bisschen anpassen wegen meines Plots. @Rusalka , ich bin ein bisschen enttäuscht, dass du das nicht angemerkt hast o0
Anmerkungen zum aktuellen Abschnitt:
- Kurzauftritt des Auges der Wahrheit! War lange nicht eingeplant, hab ich erst beim Schreiben entwickelt, als ich diese sonst so nixsagende Tür iwie besonders machen musste. Ebenfalls aus OoT lässt hier der Todesberg mit seinem Dunstring grüßen. Die drei Säulen, auf denen das Triforce gelagert ist, entsprechen denen, die man am Anfang der Oracle-Spiele kurz sehen kann.
- Die schlafende Prinzessin Zelda zu retten, ist im Spiel eigentlich der Hauptgrund, das Triforce des Mutes zu ergattern. Hier ist das eher eine zwangsläufige Folge, und andere Dinge sind wichtiger.
- Hat noch jemand außer mir das Gefühl, Impas Grübelei, warum Ganon Links Heimatdorf zerstört hat, passt an diese Stelle nicht so ganz rein? Das könnte nämlich daran liegen, dass das so zuerst gar nicht geplant war. Die Idee ist mir tatsächlich erst gekommen, nachdem das zweite Kapi, wo sie gewiss besser gepasst hätte, bereits online war. Der Gedanke war aber so interessant, dass ich ihn einfach einbauen musste, und wie mein Vati beim Puzzeln immer sagt: „Was nicht passt, wird passend gemacht!“ xP
- Hiermit ist also wieder ein Teil von Links Vorgeschichte offenbart. Sie soll natürlich tragisch sein, aber auch ein klein wenig satirisch, denn was kann Link in den meisten Spielen besonders gut nach Pötte smashen, Hühner verkloppen, von Hühnern verkloppt werden und Herzteile sammeln? Genau, Gräber plündern!