[ Meiner Meinung nach, dass bisher schlechteste Kapitel, weil mir die Arbeit mit Billy schwer gefallen ist. Nevaeh ist im Gegensatz zu Billy wirklich ein offenes Buch, außerdem war es schwer überhaupt einen Anfang für das Kapitel zu finden - "Haltet den Dieb!" wurde dann beim dritten Mal belassen. Nun ja, ich bin ja mal gespannt wie Billy ankommt und ob jemand dieses Kapitel überhaupt mag, da hier eher trocken einige wichtige Informationen verkündet werden. Hrrhrr, dafür bin ich mit der ersten großen Gesprächsszene relativ zufrieden, weil eine "Kaspertypische" Wendung nimmt. Egal, man wird's lesen.
Ansonsten wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen.
Strix. ]
[font='Georgia, Times New Roman, Times, serif']
08.03.2013; zeitgleich mit dem Verhör von Nevaeh | Hafen von Fleetburg | Fleetburg, Shinou
„Haltet den Dieb!“ Augenverdrehend ignorierte Billy die gehetzt klingende Männerstimme. Die Polizisten, die sonst Diebe dingfest machen sollten, wurden hier anscheinend nur zum Schein gebraucht, da selbst unerfahrene, junge Straßenkinder ihnen entkamen – das war Billy sofort nach ihrer Ankunft aufgefallen, da eines dieser Kinder ihr einen leeren Pokéball von dem Gürtel an ihrer Hüfte gerissen hatte. Keiner hatte darauf reagiert, aber es war ihr eigentlich auch egal; sie hatte genug Geld, um sich einen neuen Pokéball zu kaufen, sollte der Junge damit ein besseres Leben beginnen. Und dennoch war Billy seit diesem Moment klar, dass Shinou lächerlich war. Wäre es ihr erlaubt, würde sie sogar wetten, dass Shinou nur eine der Weltmächten war, weil das Land wertvolle Rohstoffe lieferte und nicht wegen militärischer oder wirtschaftlicher Stärke. Anders als Hoenn, das ein hervorragendes Spionagesystem vorzuweisen hatte oder gar Isshu, welches durch fortschrittliche Technologien und Waffenforschung eine der gefürchtetsten Nationen war. Demnächst sollte sie sich einen Auftrag in Isshu besorgen – vielleicht wäre das genauso interessant wie Orre es gewesen war.
Ihre Überlegungen stoppten abrupt, als ein schlanker, junger Mann an ihr vorbeirannte und sie dabei zur Seite stieß. Billy blickte ihm mit unergründlicher Miene nach, bevor sie sich eine vorwitzige Strähne ihrer kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht strich – anscheinend hatte sie soeben einen Dieb beim Flüchten beobachtet. Ihr inneres Lächeln erstarb allerdings sofort, denn eine große Hand packte sie schmerzhaft fest an ihrem Unterarm.
„Hey, Lady! Haben Sie jemanden hier vorbeirennen sehen als wäre ein wildgewordenes Bollterus hinter ihm her? Ein Mann, etwa ein Kopf kleiner als ich, schlank und dunkle Haare; haben Sie oder nicht?“
Mit deutlicher Abneigung blickte sie den etwas älteren Polizisten an – ein wirklich hässliches Exemplar der Spezies Mensch, fand sie. Lichtes, rattikarlbraunes Haar, wässrige, blaue Augen und ein gerötetes Gesicht. Eigentlich würde sie sich solchen Typen nicht einmal nähern, wenn ihr Leben davon abhinge, allerdings schien sie selbst das Licht für diese Art der Motten zu sein. Momentan stellte der Mann aber keine Gefahr dar. Sie standen schließlich mitten auf dem kleinen Marktplatz, der direkt an dem Hafen anschloss – das bedeutete, überall waren Zeugen. Selbst wenn er sie erkennen würde – was Billy arg bezweifelte, schließlich war ihre Akte selbst unter den eigenen Männern unbekannt –, sie könnte einfach schreien, ihn ablenken und abhauen.
„Nein, Sir. Ich habe niemanden gesehen und wenn Sie mich jetzt bitte loslassen würden, würde ich gerne meinen Weg fortsetzen. Suchen Sie sich jemand anderen, den Sie meinen so grob behandeln zu können. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen“, erwiderte Billy kühl und tatsächlich ließ der Polizist überrascht von ihr ab. Innerlich verspottete sie ihn.
„Na, hören Sie mal! Was fällt Ihnen ein, so mit einem Beamten zu reden!“
„Wieso sollte ich mich vernünftig mit Ihnen unterhalten können? Oder noch besser. Wieso sollte ich mich überhaupt mit ihnen unterhalten wollen?“ Damit wandte sie sich ab und ignorierte das finstere Grummeln des Mannes – die Polizei war wirklich unnütz, wenn sie sich so beleidigen ließ. Selbst hier sollte es doch Strafen für Beamtenbeleidigungen geben. Die junge Frau schüttelte lautlos seufzend den Kopf, andere Länder würde sie nie richtig verstehen. Ein neuer Gedanke kam ihr.
Mit zügigen Schritten schlängelte Billy sich durch eine Abteilung von Obstständen und schenkte den Händlern, die laut ihre Waren anpriesen, kein Gehör – sie war darauf konzentriert den Dieb zu finden, der von dem Polizisten verfolgt worden war. Eigentlich ein hoffnungsloses Unterfangen, da sich hier zu viele Menschen tummelten – wenn auch die meisten entweder schon sehr alt waren oder Mütter mit ihren Kindern. Normalerweise würde sie so etwas auch nie tun, sondern sich auf die Aufgabe konzentrieren, die am schnellsten zu erledigen war, aber der Dieb könnte ihr vielleicht von Nutzen sein. Konzentriert suchten ihre bernsteinfarbenen Augen die Umgebung ab. Noch immer brannte die salzige Seeluft in diesen und die kühlen Brisen vom Meer ließen sie frösteln, sodass sie ihre braune Jacke enger um sich schlang. Billy wusste schon immer, dass Hafenstädte nicht ihrem Geschmack entsprachen; sie hasste den Trubel, den Geruch nach Seetang und Gewürzen, die aus aller Welt angeschifft wurden – selbst die ihr fremden Pokémon aus Shinou waren ihr zuwider. Eigentlich hasste sie ganz Shinou – es war ihr zu grau, zu kalt. Ihre Augen blitzten kurz, als sie eine dunkle, männliche Gestalt erblickte; dieselbe, die sie vorhin beinahe umgerannt hätte.
Dieser Dieb war kein Anfänger. Seine Schultern waren entspannt und er ging in einem ruhigen Schlendergang an zwei weiteren Polizisten vorbei – zwar konnte Billy nicht sein Gesicht sehen, aber sie würde ihre Pokémon darauf verwetten, dass er nicht nervös um sich blickte, sondern eine zufrieden wirkende Maske aufgesetzt hatte. Sie grinste innerlich, während ihr Gesicht weiterhin unbewegt blieb.
„Kaum eine Stunde hier und schon den ersten Kontakt gefunden, mein Boss wird echt beeindruckt sein. Und danach wahrscheinlich im Büro angeben, dass er für mich schon nach kurzer Zeit, die ersten Kontaktpersonen rausgesucht hat. Arschloch.“ In etwas gemäßigterem Tempo folgte sie ihrer ausgewählten Zielperson und verschränkte die Arme vor ihrer flachen Brust – eine typische Pose, die anderen den Eindruck vermittelte, sie würde über etwas intensiv nachdenken, was sie diesmal auch ausnahmsweise mal tat. Irgendwie hatte sie ein ungutes Gefühl, obwohl ihr bewusst war, dass sie sich keine Sorgen machen brauchte. Sie war schließlich mehrmals abgesichert. Einmal dadurch, dass der Dieb sie wegen ihrer Identität niemals wagen würde zu verletzen und dadurch, dass Athos und Rava ihr heimlich folgten und einschreiten würden, würde die Situation eskalieren. Dennoch lief sie dem Mann vorsichtig hinterher, als dieser sich seinen Weg durch ein für sie unübersichtliches Netz an Gassen suchte.
Fleetburg war zwar bei weitem nicht so groß wie Jubelstadt und hatte auch nicht so viele Armenviertel, dafür war es aber auch kaum modernisiert, sondern lockte Touristen durch den altmodischen Stil an, der einen direkt in die Zeit versetzte, in der man sich noch vor Piraten fürchtete und in der Pokémon wild lebten oder nur als Nutzvieh gehalten wurden. Erschreckend welch großer Fortschritt zwischen der damaligen Zeit und der Gegenwart lag. Der Dieb vor ihr stoppte, anscheinend hatte er endlich mitbekommen, dass Billy ihn verfolgte. Ein Klacken ertönte, als würde eine Pistole entsichert werden – sie war sich ganz sicher, dass dieser Ton genauso klang, schließlich hatte sie genug Erfahrung darin. Ihre Augen weiteten sich – für einen kurzen Moment war ihr Gesicht ein Ausdruck der Erkenntnis. In einem Wimpernschlag hatte sie ihre Umgebung erfasst. Der Mann hatte sie in eine enge Nebengasse gelockt, die durch den Gestank der umgekippten Mülltonnen und verrotteten Essensresten wahrscheinlich ein beliebter Platz der wilden Pokémon war. Einige Pfützen hatten sich auf dem dreckigen Bordstein gebildet und an den Backsteinmauern hingen zerfetzte, alte Plakate von irgendwelchen Festen. Die einzige mögliche Waffe waren zerbeulte Mülldeckel.
„Wer bist du? Wer schickt dich? Was willst du? Warum verfolgst du mich? Beantworte nur die Fragen und vielleicht bin ich gnädig und versuche keine überlebenswichtigen Stellen zu treffen“, knurrte der Dieb und starrte sie finster an – er war in dem Sekundenbruchteil herumgewirbelt, den seine Verfolgerin dafür genutzt hatte ihren momentanen Standpunkt zu erfassen. Billy schmunzelte trocken und musterte interessiert die silberne Pistole mit der dunklen Walnuss-Griffschale – scheinbar Kaliber neun Millimeter. Der Schlund der Waffe wirkte nicht halb so bedrohlich wie ihr Gegenüber wohl hoffte; an solche Situationen war sie gewöhnt. Angst empfand sie keine, auch wenn der kalte Stahl fast ihre Stirn berührte. Der Fremde würde sie nicht umbringen, dass hätte er sonst längst getan; nur Anfänger ließen einen am Leben, erfahrenere Personen – wie dieser Dieb – hätten sie einfach erschossen und sie anhand ihres Passes identifiziert.
„Pass auf mit dem Ding, Kleiner. Wenn die losgeht, wirst du eine ziemliche Sauerei veranstalten und ich hoffte eigentlich, dass mein Gesicht noch immer komplett ist, wenn ich begraben werd‘“, meinte sie und zog herablassend eine Augenbraue hoch, als ihr Gegenüber missgelaunt das Gesicht verzog. Sie wählte die Taktik der Provokation.
„Beantworte einfach die Fragen, klar?“
„Aye, Captain!“, spottete sie weiter, entschloss sich, sich aber dann doch vorzustellen, als sie kurzzeitig wirklich den Stahl an ihrer Stirn fühlte. Sicher war sicher.
„Wie mein richtiger Name lautet, sollte dir eigentlich egal sein, du wirst mich eh nur als Jean kennen. Mich schickt niemand. Nun ja, eigentlich mein Vorgesetzter, aber da dieser keine Ahnung von seinem Job hat, gilt der nicht. Ich bin hier, um Shinou zu testen. Hoenn traut diesem Land noch immer nicht und will deshalb auf alles vorbereitet sein – heißt, dass ich nur ein paar Informationen über die wichtigen Persönlichkeiten sammle – Politiker, Prominente und die ganzen anderen eben. Und ich verfolge dich, weil ich denke, dass du mir behilflich sein wirst, da du erfahren wirkst. Sag, was hast du gestohlen, Kleiner? Geld, Essen?“
„Pokémon.“
„Ah ja, scheinbar doch ein hoffnungsloser Fall. Wer stiehlt heutzutage noch Pokémon, Pokébälle sind viel leichter zu beschaffen…“ Ihre Mundwinkel zuckten gewollt provozierend und sie beobachtete genauestens die Reaktion des Mannes in Schwarz.
„Du sollst Jean Corsa sein? Ich dachte immer, dass wär irgendein französischer Bengel, der sehr viel Glück bei seinen Aufträgen hatte.“
„Touché.“
Diesmal war es an den Fremden ihr ein schiefes Grinsen zu schenken, langsam steckte er seine Waffe wieder weg und schlang seinen schwarzen Mantel um sich, um diese zumindest teilweise zu verdecken. Diese Handlung kam ihr falsch vor; kein vernünftiger Mensch hätte jetzt seine Waffe weggepackt, dafür war Jean viel zu gefürchtet.
„Du hast Glück, dass dich die Polizisten hier nicht erkannt haben.“
„Wieso das?“
„Irgendjemand scheint herausgefunden zu haben, dass du vorhast heute hierher zu kommen. Diese Information wurde als anonymer Hinweis an die Beamten von Fleetburg weitergereicht, deshalb sind die Sicherheitsmaßnahmen momentan auch sehr verschärft“, erklärte ihr Gegenüber, „Allerdings siehst du ziemlich angeschlagen aus, ich denke nicht, dass die Polizisten nach einem realgewordenen Zombie suchen…“
„Sollte das eine Beleidigung sein? So etwas musst du aber noch üben, Kleiner. Wie heißt du überhaupt, hm?“
Der Mann grinste wieder und kramte in seinen weiten Manteltaschen, um kurz darauf eine Zigarettenpackung hervorzuholen. Ohne zu antworten bot er Billy eine Zigarette an und nahm sich dann selbst auch eine. Die Trainerin fischte aus ihrer eigenen Tasche ein Feuerzeug und gab sich und ihm Feuer. Normalerweise rauchte sie nicht, da es ihr während des Trainings verboten war, doch da man sie nicht bei Aufträgen kontrollieren konnte, nahm sie diese Gelegenheit gerne wahr. Außerdem war es praktisch immer ein Feuerzeug dabeizuhaben; es konnte in vielen Situationen nützlich sein.
„Ich habe viele Namen, doch hier werde ich Kasper genannt und ich arbeite für LoSt – eine Art wissenschaftlicher Organisation. Für diese stehle ich auch trainierte Pokémon und nicht nur leere Pokébälle…“ Bevor er sprach, hatte er einen tiefen Zug von seiner Zigarette genommen und den Rauch mit einem halben Seufzen in die Luft geblasen. Auch Billy ließ feine Rauchkringel beim Ausatmen erscheinen.
„Auf welche Weise erforscht diese Organisation denn die gestohlenen Pokémon? Und welche Art Pokémon brauchen sie denn?“
„Wie sie die Pokémon erforschen? Keine Ahnung. Ich weiß nur… Nichts eigentlich. Aber ihnen sind die stärksten Pokémon am liebsten, obwohl sie sich bisher auch nur mit welchen von mittelmäßigen Trainern zufrieden geben…“ Kasper legte den Kopf schief und seine Aufmerksamkeit richtete sich auf ihre Hüfte. Sie wusste genau, dass er ihre Pokébälle suchte und ein leiser Pfiff ihrerseits ließ ihn zusammenzucken.
„Ich bin keine erfolgreiche Trainern, Kleiner. Lass es lieber sein.“ Ihr durchdringender Blick schien ihn zu verunsichern und er nickte kurz, wenn auch zweifelnd. Diese Reaktion ließ Billy misstrauisch werden – es wirkte falsch.
„Wo sind überhaupt deine Pokémon?“ Eine scheinheilige Frage seinerseits.
„In einer Box.“
„Wirklich?“
„Natürlich. Hast du noch nicht von dieser neuen Erfindung aus Shinou gehört? Diese tragbaren Boxen, mit denen kann man alle seine Pokémon bei sich haben kann? Sie funktionieren eigentlich genauso wie die PCs im Pokémon Center…“ Leiser Spott schwang in ihrer Stimme mit – für Shinou war diese Erfindung nämlich die beste seit drei Jahren gewesen. Kasper schüttelte den Kopf und strich sich mit der freien Hand durch sein schwarzes Haar – Billy fielen sofort die abgenutzten Lederhandschuhe auf, die irgendwie falsch wirkten. So etwas bemerkte sie meist sofort, da man anhand solcher kleinen Details eigentlich fast alles analysieren konnte – fast. Sie überlegte, scheinbar lebte Kasper ziemlich abgekoppelt von der Außenwelt, denn diese Erfindung wurde sogar schon in Hoenn über Arceus gelobt. Pokémondieb, Handschuhträger, noch relativ jung und trotzdem schon so fern der wirklichen Realität – an was für eine Sekte war der Bursche wohl geraten.
„Sind diese Boxen nicht ziemlich teuer?“, fragte er und erinnerte sie daran, dass sie gerade ein Gespräch führte.
„Ja, aber dafür kann man jederzeit seine Pokémon wechseln, was – besonders für erfahrenere Trainer – ein Vorteil ist, da man ja so nicht immer zum Center laufen muss, wenn man ein spezielles Pokémon braucht.“
„Es ist lächerlich, dass ich dir vorhin damit gedroht habe dich zu erschießen und wir jetzt über die neueste Erfindung Shinous reden, während wir rauchen.“
Jean lachte leise und nahm noch einen Zug von ihrer Zigarette, um dann fasziniert zu beobachten wie sich der graue Rauch dem Himmel entgegen kringelte. Er hatte recht, doch zugeben würde sie das nicht.
„Du hast danach gefragt. Ich denke, ich sollte jetzt weiter gehen. Ich bin noch verabredet.“ Lüge. Mit einem Schnipsen landete die nur halb heruntergebrannte Zigarette in einer nahegelegenen Pfütze. Kurz hob Billy eine Hand, wie zum Gruß, dann wandte sie sich ab.
„Ich hätte einen Vorschlag für dich.“
Sie erstarrte mitten in ihrem Tun. Scheinbar rückte er jetzt endlich mit seinen wahren Motiven raus, die ihn dazu getrieben hatten mit ihr Smalltalk zu treiben und ihre Zeit zu verschwenden. Ihre Informationen hatte sie schließlich schon – LoSt klang interessant.
„Welchen?“ Misstrauisch und mit zusammengekniffenen Augen musterte sie Kasper – dieser Mann war ihr zu falsch.
„Die Organisation, für die ich arbeite, kann noch einige Unterstützer brauchen. Wenn du mitmachst, würdest du sowohl mit Kontakten im Untergrund versorgt werden, als auch wertvolle Informationen zu den höheren Persönlichkeiten erhalten, wenn du dich denn entschließt deren Pokémon zu stehlen. Allerdings bezweifle ich, dass ein Mädchen zu so etwas fähig ist…“, grinste er scheinbar gelangweilt und schenkte ihr einen herausfordernden Blick. Billy lächelte innerlich; sie liebte Herausforderungen. Dann aber besann sie sich und verschränkt die Arme vor der Brust. Nachdenklich wog sie ab, ob sie das Angebot annehmen sollte; eigentlich sprach nichts dagegen, sie würde genau das erreichen, wozu sie hergekommen war. Doch es war zu perfekt.
„Wo liegt der Haken?“
„Solange du nicht versagst, wird dir nichts passieren.“
„Das ist alles?“
„Sonst nur das Übliche: Keine Beziehungen, kein Verrat, alles auf eigene Gefahr. Jeder ist dort für seine eigene Sicherheit verantwortlich, erwarte also keine Hilfe. Wenn du stirbst, werden deine Pokémon übrigens auch für Forschungszwecke verwendet und dein Leichnam wird liegen gelassen. Bist du dabei?“
„Aye, Captain. Das klingt nach einer Menge Spaß.“
„Gut. Deine Kontaktperson wird in Ewigenau an der alten Statue auf dich warten. Du hast drei Tage und vierzehn Stunden von jetzt. Zehn Uhr und keine Sekunde Verspätung, ansonsten hast du deine Chance verpasst.“
„Es war das Ziel deines heutigen Tages mich anzuheuern, stimmt’s?“
„Es war schön mit dir Geschäfte zu machen, Kleine“, antwortete Kasper nur, schnipste seine Zigarette in dieselbe Pfütze neben ihnen und wandte sich ab. Billy blickte ihm nachdenklich und mit gerunzelter Stirn hinterher, bis er schließlich um die Ecke bog und ihr Blickfeld verließ. Scheinbar würde ihr Aufenthalt in Shinou doch spannender werden, als sie geahnt hatte.
Dankend strich Billy durch Ravas dunkles Fell. Die Wölfin schüttelte sich kurz und brummte zufrieden. Athos kletterte derweil stumm an Billys Arm hoch und verkrallte seine langen Klauen in ihren Haaren. Ein unwilliges Knurren kam dabei von Ravas Seite – die beiden Pokémon konnten einander nicht leiden und zeigten dies auch offen. Billy unterdrückte ein Schmunzeln. Athos – ein äußerst gerissenes Zobiris – und Rava – ein meist miesgelauntes Magnayen – hatten schon von Anfang an ihre Differenzen gehabt, trotzdem waren sie gemeinsam ein fast unschlagbares Team.
„Gut gemacht, Rava. Und du auch, Athos. Jetzt wird’s Zeit, dass ich Fjord treffe. Rava, du hältst in den umliegenden Gassen Wache; jaule einfach, wenn dir etwas Sonderbares auffällt. Athos, du kommst mit mir; du warnst mich, wenn etwas in der Bar geschieht. Ich will keine Überraschungen…“, wies sie ihre Pokémon an. Die Jahre, die sie nun schon für das Militär in Hoenn arbeitete, und auch die Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit gemacht hatte, hatten Billy vorsichtig gemacht. All ihre Pokémon waren darauf trainiert ihre Befehle zu verstehen und in Notsituationen alleine zu überleben und zu kämpfen – dabei gab es nur eine Regel: Unschuldige werden verschont. Sowohl vor dem Tod, als auch davor, in Billys Angelegenheiten hineingezogen zu werden. Rava knurrte kurz, spannte ihre Muskeln an und ließ den Blick aus eisigen, blauen Augen schweifen – der Wölfin würde nichts entgehen, das wusste Billy. Athos zog einmal an ihren Haaren; ein Zeichen für sie endlich loszugehen. Ohne zu zögern wandte sich die junge Frau ab und ging um die Ecke der Gasse, in welcher sie vor kurzer Zeit erst mit Kasper gesprochen hatte. Einige Straßen weiter würde sie auf die Bar Segelstahl stoßen und dort einen ihrer Kontaktmänner aus dem Untergrund treffen – ein alter Freund, der ursprünglich sogar aus Shinou stammte, allerdings als Kind nach Hoenn zog und ihr auf See begegnete. Vorsichtig, aber mit zügigen Schritten, durchquerte Billy das dichte Netz an Gassen, welches Fleetburg zu bieten hatte. Für sie sah alles gleich aus. Überall dieselben steinernen Hausmauern, dreckigen Mülltonnen, halb verrosteten Feuerleitern und verschieden großen Pfützen – nur wenige Geräusche drangen bis hier hin vor. Leises Meeresrauschen vom Hafen, die Laute der Pokémon, die hier auf den Straßen lebten und sich erschrocken vor Billy versteckten – mehr nicht.
Athos fauchte, als er das alte, hölzerne Schild mit geschwungener, goldener Schrift entdeckte. In großen Lettern war der Name der Bar dort eingraviert und das Logo – der Kopf eines Bollterus. Mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen stieß Billy die hölzernen, schweren Bartüren auf und betrat den stickigen, abgedunkelten Raum. Die Luft war durch Qualm vieler Zigaretten vernebelt und nur wenige Kerzen, welche an mittelalterlichen Halterungen an den Wänden befestigt waren, spendeten Licht. Eine Gruppe bulliger Seemänner rauchte in einer Ecke und einige lachten betrunken, während sie die dunkelhaarige Kellnerin mit ihren lüsternen Blicken fast auszogen. Athos brummte – er klang angeekelt – und sprang von Billys Kopf an die hölzerne, zerkratzte Wand. Seine Klauen fanden schnell Halt und seine diamantenen Augen blitzten sie ernst an; er warnte sie vorsichtig zu sein. Billy nickte ihrem Partner zu und suchte dann die Bar nach dem bekannten roten Schopf ab, welchen sie schon bald an der Theke beim Besitzer der Bar entdeckte. Fjord war ein stämmiger, hellhäutiger Mann mit lockigen, relativ kurzen Haaren und einem Seemannsbart, weshalb Billy ihn anfangs immer Redbeart genannt hatte.
„Priviet, Fjord.“ Ihr Kontaktmann bedachte sie nur mit einem Nicken, als sie sich neben ihn auf einem der ledernen Barhocker niederließ und ihn grüßte. Der recht stark beharrte Seemann war schon immer eine schweigsame Person gewesen; aufmerksam und zuverlässig, aber selbst für Billy war es kein leichtes gewesen ihn zu überzeugen ihr zu helfen.
„Priviet, Jean. Du hast das Geld, ich die benötigten Informationen. Gleicher Handel wie immer, kein Wort zu irgendwem – du weißt nicht, wer ich bin und ich nicht, wer du bist.“ Fjord blickte sie nun direkt an und musterte die relativ junge Soldatin gründlich. Das halbe Jahr hatte sie verändert; sie war hager geworden, noch immer recht klein und ihre ausländischen Züge verstärkten ihre Aura der Fremde und Gefahr. Die grüne Augenklappe aber hatte sie heute abgelegt und man konnte bei näherem Hinsehen erkennen, dass ihr linkes Auge milchig schimmerte, während das rechte ihn direkt anblickte. Dieser ungewöhnliche Bernsteinton war es, was ihn damals fasziniert und dazu gebracht hatte, ihr zu helfen. Als Jean nickte und ihm einen dunklen Beutel zuschob, nahm der treue Informant einen Schluck aus seinem Bierglas, welches er schon die ganze Zeit mit beiden Händen umfasst hielt.
„Was willst du zuerst hören?“
„Erzähl mir was über LoSt.“
„Eine Art Sekte – meist als wissenschaftliche Organisation mit fragwürdigen Zielen beschrieben. Mitglieder sind darauf spezialisiert Pokémon aller Art zu stehlen und die hohen Tiere dort untersuchen diese, was genau mit den gefangenen Wesen passiert weiß allerdings kaum jemand. Man munkelt davon, dass einige der gestohlenen Pokémon einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Andere behaupten aber, dass die Pokémon dem Teufel geopferten werden und wieder andere sind der Meinung, dass die Mitglieder, die Organe der Pokémon auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Allerdings sind das nur Gerüchte und wahrscheinlich entspricht nur die Hälfte davon der Wahrheit, da jedes Mitglied, das spricht, sofort verschwindet und nie wieder auftaucht – ihre Auftragskiller sind sehr diskret.“
„Hat diese Organisation Feinde?“ Nachdenklich zog Billy die Augenbrauen zusammen. Selbst diese wenigen Informationen gefielen ihr nicht.
„Mir ist nur einer bekannt. Lucifer – oder auch Lichtbringer. Keiner weiß, wer er ist – noch nicht mal, ob Lucifer männlich oder weiblich ist, ist bekannt. Der Lichtbringer tauchte vor einem halben Jahr auf und scheint viele finanzielle Mittel zu haben – er unterstützt sowohl kleinere, als auch größere kriminelle Gruppierungen und wird von einigen als Engel bezeichnet, der von Arceus geschickt wurde. Außerdem stellt Lichtbringer verschiedenen Organisationen sehr starke, oftmals auch gestohlene Pokémon für viel Geld zur Verfügung und bisher hat er sich noch nie gezeigt und immer nur Boten geschickt. Momentan beherrscht Lucifer die Drogen- und Schmugglerszene – besonders durch seine zuverlässigen und bisher einzigartigen Dienste –, allerdings fordert er auch oft Gefallen und lässt andere an seiner Stelle die Wege von LoSt kreuzen, um deren geplanten Aktionen zu vereiteln – erfolgreich.“
„Gut.“
„Willst du noch etwas wissen?“
„Kennst du einen Kasper?“ Die Informationen verarbeitend starrte Jean auf das abgenutzte Holz der Theke.
„Kasper? Kasper… Nein, der Name sagt mir nichts.“ Fjord nahm einen weiteren Schluck von seinem Bier und schien in seinen Gedanken zu versinken. Dann stand er auf und legte eine Hand auf Jeans schmaler Schulter, um sich näher zu ihr zu beugen und seine dicken Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
„Warum auch immer du so viel über die dunkelsten Bereiche des Untergrundes wissen willst; pass auf dich auf, Kleine. Wenn du ein Problem hast, komm zu mir. Du weißt, wo du mich findest.“ Er wuschelte kurz durch die mittellangen, kastanienroten Haare der jungen Frau, was sie die Augenbrauen zusammenziehen ließ, und entfernte sich von ihr. Mit einem Seufzen zog er die braune Lederjacke enger um sich und versenkte seine Hände dann in den Taschen seiner großen Jeans – Fjord hatte das ungute Gefühl, dass dies das letzte Mal für eine sehr lange Zeit sein würde, dass er Jean sehen würde.
„Athos, gib gut auf sie Acht…“, murmelte er zur Decke und registrierte das leise Knurren – das Zobiris hatte mit Fjords Art nie etwas anfangen können, aber es würde immer gut auf seine Trainerin aufpassen. Fjord nickte, als würde er sich selbst beruhigen, und verließ langsam die Bar. Ein letzter Blick zurück zeigte ihm, dass Jean noch immer an der Theke saß und sich nun selbst ein Glas bestellt hatte – ihre Bernsteinaugen waren verhärtet und ihre Züge kühl, starr.
Er seufzte. Hoffentlich wusste sie, worauf sie sich einließ.