Nun hatte es also begonnen. Ihre ganz eigene, erste Reise verlief von Anfang an erstaunlich gut. Jinya war nicht unbedingt die Geschickteste und schaffte es häufiger, sich in Schwierigkeiten zu bringen, die sich dieses Mal jedoch nur dadurch gezeigt hatten, dass sie mit dem Pokéradar irgendwie noch nicht richtig umgehen konnte. Sie mochte das Geschenk sehr, aber die Funktionsweise war ihr noch etwas schleierhaft. In der Hoffnung, ein Pokémon zu fangen, hatte sie den Weg von Dukatia City aus zu Fuß auf sich genommen, um zum Fest des Lebens zu gelangen. Doch sie ließ sich nicht entmutigen - gut Ding wollte bekanntlich Weile haben. Also genoss sie die wilden Taubsi, an die sie nicht herankam und die Schönheit der Landschaft, während sie die Routen entlangschlenderte, um schließlich in der Zielstadt anzukommen: Teak City. Bereits jetzt war alles wunderschön geschmückt und Jinya spürte unglaubliche Aufregung. Auf der Toilette des Pokémon-Centers zog sie sich den Kimono an, den sie extra mitgebracht hatte - ein schönes, weißes Stück mit einem roten Vogel unten am linken Bein. Sie wollte echt wirken und in dieses Fest passen, deshalb hatte sie das edle Kleidungsstück extra mitgenommen, welches sie vor einigen Jahren zum Geburtstag bekommen hatte.
Mit ein wenig nett hochgestecktem Haar schlenderte Jinya dann über das Fest. Die vielen Stände luden dazu ein, das Taschengeld auszugeben, das sie dabei hatte, aber Jinya war sparsam erzogen worden und wollte nicht pleite wieder nach Hause zurückkehren. Sie nutzte die Zeit, um etwas zu essen (sie konnte immer essen, auch, wenn sie nicht danach aussah) und begeistert die vielen Pokémon zu beobachten, die sich auf dem Fest tummelten. So dicht war sie so vielen Pokémon noch nie gewesen - abgesehen von den zwei Miltank ihrer Nachbarin, die Jinya im Vorbeigehen manchmal mit Gras fütterte.
Als die Sonne sich dem Horizont zuneigte, begann auch die Show der Kimono-Girls, die Jinya schon sehnlichst erwartet hatte. Es war ein wunderbares Schauspiel, die Aufführung im Halbdunkeln und im Schatten der Turmruine zu sehen, die einen traurigen, aber auch geschichtsträchtigen Charme hatte, wie Jinya fand. Die Vorstellung, dass zwei legendäre Vögel hier einst gelebt hatten, war fantastisch und wurde von dem Tanz der Frauen untermalt. So zufrieden war Jinya schon lange nicht mehr gewesen. Sie war glücklich, hier sein zu dürfen und hoffte schon jetzt, nächstes Jahr zurückkehren zu können.
Aber das Fest war offenbar nicht vorbei. Bald näherte sich der Arenaleiter von Teak City dem Podest - man kannte ihn aus dem Fernsehen - und mit ihm kamen auch zwei alte Leute mit einem Camerupt auf die Bühne. Jinya erkannte die beiden als die Pensionsleiter Dukatias, ihrer Heimatstadt. Es war keine persönliche Bekanntschaft, man sah sich nur regelmäßig beim Einkaufen oder anderswo. Nach der Erlaubnis ihrer Mutter hatte Jinya darüber nachgedacht, die beiden nach einem Pokémon zu fragen, sich aber nicht getraut.
Ahja, Jens hieß er also, der Arenaleiter. Etwas ganz Besonderes war vorbereitet worden. Gespannt beobachtete Jinya, wie andächtig kleine Podeste, Kissen und schließlich bemalte Pokémon-Eier platziert wurden. Anfangs hielt Jinya es für die Ausstellung kleiner Künstler, wurde aber rasch hellhörig, als man weitersprach. Man wollte die Eier zugunsten des 150. Festes an diejenigen verschenken, die noch kein Pokémon hatten. Das war sie! Am liebsten hätte sie den Arm in die Luft gerissen und "Hier, hier!" gerufen, aber das traute sie sich natürlich nicht. Vielmehr musste sie sich treten und brauchte minutenlang, um auch endlich aufzustehen, als so viele Jugendliche und junge Erwachsene nach vorn strömten. Mist, wenn sie jetzt nicht reagierte, würde sie wieder leer ausgehen.
Nach langem Lippennagen schob sie sich durch die Menge, hinauf auf die Tribüne, wo man sie sogleich aufgeregt aufforderte, ein Ei auszusuchen. Es waren nicht mehr allzu viele frei, aber eines stach ihr direkt ins Auge - es war feuerrot bemalt und zeigte blaue Punkte. Die Farbenmischung war ein wenig merkwürdig, aber sie war ja auch nicht normal. Also stellte sie sich zu dem Ei und errötete mindestens so feuerrot wie das Ei selbst, als sie sah, dass sie mit dem Ei und den anderen Jugendlichen auf dem Präsentierteller stand. Sie hasste, im Mittelpunkt zu sein und wäre am liebsten im Boden versunken, so sehr schämte sie sich. Aber das Ei erweckte bald wieder ihre Aufmerksamkeit und sie legte ihre Hand auf die Schale, die warm war und Bewegungen verlauten ließ. Plötzlich schlug Jinya das Herz bis zum Hals. Die Rede der beiden Pensionsleiter und des Arenaleiters machten es auch nicht besser - sie sollte mit dem Ei sprechen und sehen, ob es schlüpfen wollte, um sie kennenzulernen.
Ein Tief versuchte nach Jinya zu greifen. Sie war nun wirklich nicht derart spannend, dass sie damit ein Pokémon zum Schlupf animieren konnte. Wahrscheinlich würde das Baby darin nur noch tiefer einschlafen, wenn es von ihr hörte! Wie gemein. Allmählig ging ein Raunen durch die Massen, nachdem der Applaus bereits verklungen war (den Jinya vor lauter Selbstzweifel kaum mitbekam) und sie wusste, dass sie keine Chance hatte, wenn sie es nicht versuchte. Trotzdem war sie immer noch knallrot, als sie das Ei zaghaft in ihre Hände nahm und dicht zu sich führte, um möglichst lautlos sprechen zu können.
"Ich bin Jinya", sagte sie leise und kam sich trotzdem ungemein dämlich vor, "Ich bin nicht besonders aufregend. Und wahrscheinlich auch kein super Trainer, weil ich bisher noch nie groß mit Pokémon zutun hatte..."
Das Ei rührte sich nicht, aber irgendwie hatte Jinya das Gefühl, dass man ihr zuhörte.
"Aber ich habe mir schon immer einen Pokémon-Freund gewünscht, einen Partner, mit dem ich reisen kann und Eis essen und spielen. Einfach einen Freund, der an meinem Leben teilhat. Ich würde mein Allerbestes geben, damit du dich immer wohlfühlst."
Sie hätte niemals damit gerechnet, doch deutliche Tritte schlugen gegen die Schale. Vor Schreck ließ Jinya das Ei auf den Podest zurücksinken, auf dem es wackelte. Die Schale zerbrach, die Seitenwände fielen zu Boden und ein flammender Schweif wurde sichtbar. Das Pokémon saß noch auf dem Boden des Eis, die obere Hälfte der Schale bedeckte seinen Kopf. Bald hob die kleine, orangefarbene Hand die Schale ein Stück nach oben, um schüchtern und vorsichtig aus großen, blauen Augen zu ihr aufzusehen.
"Glu", sagte das kleine Wesen vorsichtig und schien genauso schüchtern zu sein wie Jinya. Diese kämpfte einen Augenblick mit den Tränen, ehe sie das Glumanda vorsichtig vom Podest auf ihren Arm hob.
"Ich danke dir", sagte Jinya leise und da polterte bereits das Feuerwerk über den Nachthimmel und spiegelte sich in Glumandas Augen. Jinya konnte nicht glauben, dass es diese Augen waren, die sie von jetzt an jeden Tag sehen würde - weil das dort ihr Freund war, der, der sie ausgewählt hatte. Oder auch sie - denn Jinya erschien das Glumanda eher weiblich als männlich.
Aber noch bevor Jinya sich loseisen und sich umdrehen konnte, schien etwas zu passieren. Ein greller Lichtblitz durchzuckte den Nachthimmel und obwohl Jinya ihm den Rücken zuwandte, wurde sie geblendet. Glumanda verbarg sein Gesicht an ihrem Schlüsselbein, die kleinen Hände vor die Augen geworfen und Jinya krümmte sich kurz zusammen. Für einen Moment war es, als verliere sie den Boden unter den Füßen, ihr war schwindelig, sie sah schwarze Sterne. Als sie die Augen dann wieder öffnete, hatte sich alles verändert.
Plötzlich rannten rufende, panische Menschen durch die Umgebung, der Himmel flimmerte rötlich. Erschrocken und Glumanda noch immer bei sich haltend, fuhr Jinya herum und erblickte zwei strahlende, anmutende Lichter, aus reinem Gold, aus reinem Silber - und aus ihnen erhoben sich riesige Wesen, die sobald hinter dem Horizont verschwanden. Mit offenem Mund sah Jinya den lichterloh in Flammen stehenden Turm, doch konnte nicht so schnell schalten, zu bemerken, dass die Menschen, die Tribüne verschwunden waren und auch der Turm nicht mehr stehen dürfte. Vielmehr hörte sie die Aufforderung einer anderen Person, zu helfen, da schon viele Menschen mit Wassereimern das Schlimmste zu verindern versuchten.
Es passierte einfach vor ihren Augen und es war unwirklich für Jinya - fast wie ein Traum lief alles ab. Sie beschloss sofort, zu helfen, wenngleich ihr das verängstigte Glumanda in ihrem Armen große Sorgen bereitete. Sie folgte der Gruppe, zu der auch sie gehörte, und sie wurden um Hilfe gebeten und schließlich eingelassen in die lodernden Überreste des Bronzeturms. Wände stürzten ein und beim Betreten des Gebäudes schlug Jinya ein beißender, brennender Qualm entgegen, der sie dazu trieb, sich kurz den Arm über die Augen zu werfen. Sie hustete, bemerkte aber erleichtert, dass ihrem Feuerpokémon das Feuer nichts auszumachen schien. Viel mehr fürchtete es sich vor der Lautstärke und den einstürzenden Balken.
Ein eingeklemmtes Mädchen erhielt Hilfe, weshalb Jinya zu den vier Priestern eilte, die eingesperrt waren. Es war ein irreführender, trauriger Anblick, wie so viele kleine Babypokémon versuchten, die Männer zu befreien, doch den Schutt kaum beseitigt bekamen. Es war ein Kraftakt für sie alle, und viel länger würde man dem gefährlichen Rauch kaum standhalten. So kniete Jinya hinunter, setzte Glumanda ab und sah ihm fest in die Augen.
"Wir müssen helfen", sagte Jinya leise.
"Glu...", murmelte Glumanda eingekrümmt und angstvoll.
"Schau dir die mutigen Babypokémon an", fügte Jinya hinzu, "Wir müssen auch mutig sein. Die Männer brauchen unsere Hilfe. Schau dir an, was die Babys machen - sie rammen den Schutt weg, damit er aus dem Weg verschwindet. Bitte, du musst auch helfen. Das kannst du doch, oder?"
Einen elendig langen Moment sah Glumanda zu den Pokémon herüber und schien sich einfach nicht zu trauen, auch aufstehen - aber irgendwann rappelte sich auf, suchte mit einem weiteren Blick Mut bei seiner Trainerin und ließ sie schließlich zu den anderen Pokémon führen. Eine Sekunde dachte es krampfhaft nach, blickte traurig auf seine Krallen. Dann verwarf es die Idee und benutzte seine Schulter, um unbeholfen, aber doch hoffentlich ein wenig wirksam den anderen Mitstreitern zu helfen.
(Ein herzliches Hallo an alle :))