Toka war erst seit einer Woche Trainerin, wusste aber schon genau, wo der Hase langlief - oder eher der Pinguin, den sie von Professor Eibe bekommen hatte. Den kleinen Racker musste man ganz schön im Auge behalten. Ein Teil von ihr würde ihn am liebsten der Einfachheit halber in seinem Pokéball belassen, aber das brachte sie nicht über das Herz. Da wäre er sicher genauso einsam wie sie. Man lief auf seiner Reise zwar jeden Tag so vielen Menschen über den Weg, dass man sich selbst an den kleineren Waldwegen beobachtet fühlte, aber viel interagieren taten sie kaum.
Toka blieb lieber unter sich, was den anderen auch ganz recht zu sein schien. Sie war kein Mensch vieler Worte und hatte noch weniger für belanglosen Smalltalk übrig. Nur mit ihrem Plinfa unterhielt sie sich manchmal (sie war dazu übergegangen, es Lin zu rufen. Nicht nur, weil der Name kürzer war, sondern vor allem, weil sie kurz darüber nachgedacht hatte, dass diese Art statistisch gesehen jedem dritten Trainer zu Beginn seiner Reise in die Hand gedrückt wurde und sie nicht wollte, dass alle davon ihr beim Ruf ihres Namens hinterherdackelten. Toka hatte auch so schon zweimal fast das falsche Plinfa aus dem Center mitgehen lassen. Die sahen aber auch alle gleich aus…).
Also nicht im eigentlichen Sinne von unterhalten, denn sie war ja nicht so verrückt wie die Leute, die ganze Gespräche mit ihren Pokémon führten, als würden diese sie wirklich verstehen. Eher so, dass sie laut dachte und Plinfa dabei ganz neugierig den Kopf zu ihr wandte, weil es ihre Stimme auffasste - nur um dann nicht auf sie zu hören und munter auf die nächste Klippe zuzulaufen, während Toka im Schweiße ihres Angesichts hinter dem Wesen herhechtete.
Genau diesen Salat hatte sie jetzt wieder, als Lin von der Anhöhe gesprungen und Toka so im Sprint war, dass sie nicht schnell genug hatte bremsen können. Zum Glück hatte sich herausgestellt, dass es sich lediglich um einen Hügel handelte - und zum Pech, dass der Pinguin sehr viel glücklicher darüber war, in einem kniehohen Fluss gelandet zu sein, als seine Trainerin.
Toka machte einen Schritt zur Seite, um nicht von dem Spritzwasser des fröhlich plantschenden Wasserpokémon getroffen zu werden. Stattdessen watete sie vorsichtigen Schrittes Richtung Ufer, während sie krampfhaft versuchte, nicht an all die Dinge in ihrem Reiserucksack zu denken, die ein Ausrutscher unrettbar ruinieren würde.
Was sie am Flussrand sah, ließ sie innehalten. Wieder einmal erkennend, dass sie vor ihrer Reise doch ein Lexikon hätte fressen sollen, starrte sie das Pokémon ebenso dümmlich an wie dieses sie. Zwar war der Ausdruck, in den Abyss zu starren, nur sprichwörtlich gemeint, doch Toka spürte förmlich, wie all ihre Gedanken ins bodenlose Nichts stürzten, während sie in die schwarzen Augen der Kreatur vor sich starrte. Als würde sich die Leere, die sie in dessen Kopf vermutete, in ihrem eigenen ausbreiten.
Der lange, breite Schnabel und die Schwimmhaut-ähnlichen Finger und Zehen ließen vermuten, dass es sich trotz der uncharakteristisch gelben Farbe um ein Wasserpokémon handelte. Dafür war sein Körper von einer dünnen Schicht Flaum überzogen, was allemal besser als Schuppen war, und ihre Finger juckten bereits, darüberzufahren. Natürlich würde Toka jederzeit beteuern, dass das Stofftier in ihrem Rucksack nur einen symbolischen Charakter hatte und sie sehr wohl ohne es einschlafen konnte, aber es war bestimmt ein menschlicher Reflex, von allem Flauschigen nicht genug bekommen zu können. Bei Plinfa hatte sie dahingehend leider kein Glück gehabt, aber für ein Pokémon, das eisige Gebiete seine Heimat nannte, war das wasserabweisende, leicht ölige Gefieder vermutlich gar nicht so verkehrt.
Toka legte den Kopf schief und musterte den Neuankömmling ganz genau. Sie hatte erst ein Pokémon, was bedeutete, dass sie nach nur einer unglücklichen Begegnung flugs wieder ins Pokémon-Center zurückkehren durfte, um ihr es durchchecken zu lassen. Ihre erträumte Reiseart - nämlich jede Widrigkeit, ob wilde Pokémon, widerspenstiges Terrain oder rauflustigen Trainer auf ihrem Weg zu Kleinholz zu verarbeiten - hatte sich dadurch als sehr ermüdend und somit nicht praktikabel herausgestellt. Ein zweites Pokémon würde ihre Distanz da schon verdoppeln. Zum Glück hatte sie sich während ihrer Reise genug Geld erarbeitet, um sich einen eigenen Pokéball leisten zu können (10-Jährige in Tierkämpfen um ihr mickriges Taschengeld zu bekriegen, könnte man objektiv als moralisch zweifelhaft ansehen, aber Toka hatte sich bereits vor dem Start ihrer Reise entschieden, diesen Aspekt nicht näher zu hinterfragen).
Und selbst wenn sich der Neuzugang als die größte Enttäuschung seit Menschengedenken herausstellen sollte, musste das ihr Gegenüber ja nicht wissen, wenn er sein eigenes Pokémon dagegen eintauschte. Süß aussehen konnte es ja schon mal und für manche Menschen würde das sicher ein ausreichendes Kriterium sein.
“Okay, Lin, zeig, was du draufhast”, rief Toka und zeigte animierend auf das gelbe Pokémon.
Plinfa tat wie befohlen - nur dass es seine Schwimmkünste unter Beweis stellte, während es freudig Kreise um die Beine seiner Training zog, aber nicht im Mindesten daran zu denken schien, sich die Flossen schmutzig zu machen. Toka räusperte sich und erkannte erst dann, dass Wasser den Schall ihrer wortlosen Drohung nicht im Mindesten so gut übertrug, wie sie sich das gewünscht hatte. Also trat sie einen Schritt zur Seite, was den fröhlich schwimmenden Pinguin mit ihren Beinen kollidieren ließ. Verwirrt über das plötzliche Hindernis hielt dieser inne und blicke auf, woraufhin er von seiner Trainerin gleich aus dem Fluss gefischt und am Ufer abgestellt wurde.
“Okay, noch mal. Lin, wichtige Aufgabe, Konzentration bitte. Das gelbe Pokémon dort drüben will ich in meinem Team, also gib dein Bestes, um es weit genug zu schwächen, damit ich es fangen kann, okay?” Toka wusste nicht, ob sie sich wünschte, dass es extra schwach war, um es leichter zu fangen, weil sehr viel mehr Arbeit im Training bedeuten würde, aber es war allemal besser, als dass Plinfa sich den Schnabel ausbiss und die Zwei dann aus Angst vor Gegenwehr die Beine in die Hand nehmen mussten.
Lin blickte zu seinem Gegner - und dann wieder zu seinem Trainer, ebenso ratlos mit der Welt wie die Ente zuvor. Toka war auf dem besten Weg, ihm einen Vorwurf zu machen, musste diesen allerdings wieder wegstecken, denn die Anweisung war tatsächlich unklar. Inzwischen war ein weiteres gelb-orangenes Pokémon aufgetaucht. Es lief ebenfalls auf zwei Beinen und hatte einen bojenförmigen Kopf, an dessen Seiten sich zwei große Augen befanden. Toka kam nicht umhin, sich zu fragen, ob dieses Pokémon ein Kleidungsstück zweckentfremdet hatte oder dies zu seinem natürlichen Erscheinungsbild gehörte, aber das hosenähnliche Stück um seine Beine passte ihm ebenso gut wie ihrem Bruder, als dieser als Grundschüler unbedingt mal die Hose seines Vaters hatte anprobieren wollen. Kein Wunder, dass es diese auch mit beiden Händen festhalten musste. Hätte Toka einen Gürtel getragen, hätte sie ihm diesen sogleich aus Mitleid vermacht. Diese ulkige Aussehen war genau nach ihrem Geschmack.
“Okay, Plinfa, dann gibt es heute zwei zum Preis von - ach verdammt”, fluchte sie, den Kopf in den Nacken gelegt und ihre eigene Misere betrauernd. Besagter Preis war doch überhaupt der Grund, warum sie sich nur einen Pokéball hatte leisten können. Warum hatte der Pokémarkt nicht auch so eine Aktion gehabt?
Allerdings stand es jetzt fest: Es konnte nur einen geben, den sie mit Plinfa haben konnte - und sie hatte beim besten Willen keinen Schimmer, für welches Pokémon sie sich entscheiden sollte.