Ich erwachte schweißgebadet. Wieder schmerzten alle Glieder, als ich mich mit einem Ruck aufsetzte. Noch hatte mich dieser schreckliche Traum fest im Griff, ließ mich nicht los. Erst nach und nach begann mein Bewusstsein zu verstehen, dass ich in Sicherheit war. Dass es… nur ein Traum war.
Ich seufzte und sank zurück in die Kissen. Das war… furchtbar. Plusle öffnete ein Auge zur Hälfte und warf mir einen besorgten Blick zu.
„Alles in Ordnung“, flüsterte ich mit trockener Kehle und streichelte ihm den Kopf. Das Pokemon rollte sich zusammen (wer hätte gedacht, dass Plusle das könnten), schlief wieder ein und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
Was war das gewesen? Es hatte sich so, so… real angefühlt. So, als würde es wirklich passieren. Als wäre das, was ich gesehen hatte, eben nicht nur ein Traum. Mein Herz pochte mir bis zum Hals. Ich musste mich beruhigen. Langsam atmen, ein und aus…
Jetzt würde ich sowieso nichts tun können. Nicht um… wie spät war es? Ich drehte langsam den Kopf und warf einen Blick auf die Leuchtziffern des Funkweckers. Sieben Minuten nach sechs. Ich wandte den Kopf zur anderen Seite. Durch das Fenster fiel gedämpftes Dämmerlicht herein. Allmählich ging mein Puls wieder langsamer, ein Glück, und auch meine Gedanken waren jetzt klarer.
Was sollte ich tun? Zur Polizei gehen? Wegen eines Traums? Lächerlich. Aber es hatte so echt gewirkt…
Ich lag da und dachte nach, und während ich eben so dalag, wurden meine Lider schwer und ich fiel wieder zurück in denselben unruhigen Schlaf – diesmal aber glücklicherweise traumlos.
Es war fast elf, als ich wieder erwachte. Es klopfte wild an meiner Zimmertür.
Ich murmelte ein schlaftrunkenes „Herein“ und sofort kam Liam in den Raum gestürmt, aber als er sah, dass ich noch im Bett lag, hielt er abrupt inne.
„Oh“, sagte er verlegen, „entschuldige. Wusste nicht, dass du noch geschlafen hast.“
„Nicht schlimm“, antwortete ich. „Hätte sowieso irgendwann demnächst aufstehen müssen. Sonst hätte mich deine Mom hochgejagt.“ Ich kniff mir ein Lachen ab und schwang mich auf die Bettkante.
„Was wolltest du eigentlich?“, fragte ich. Liam kaute auf seiner Unterlippe herum.
„Äh, naja“, sagte er dann und druckste herum. „Also, um ehrlich zu sein, wollte ich dich etwas fragen.“
„Immer raus damit“, sagte ich und schlüpfte in meine Jeans.
„Ich hab mich gefragt“, begann Liam und tänzelte auf der Stelle, „ob du mir bei etwas helfen könntest.“ Ich sah auf.
„Worum geht’s?“
„Also, äh…“
„Liam, komm schon“, sagte ich und verpasste ihm einen freundschaftlichen Stoß gegen die Schulter.
„Da ist so ein Kerl“, sagte er -
„Was?!“, unterbrach ich ihn. „Da ist so ein Kerl? Liam – da draußen sind ungefähr drei Millionen Mädchen, die ihr gesamtes bisheriges Leben aufgeben würden, um mit dir zusammen zu sein. Du willst mir gerade nicht ehrlich erzählen – dann auch noch mit gerade mal zwölf Jahren – dass du… dass du auf Jungs stehst?“
„Was?“, rief Liam, und sein Gesichtsausdruck wechselte von Überraschung über pures Entsetzen hin zu einem breiten Grinsen.
„Paul, du Arschloch, das meinte ich gar nicht.“ Ich lachte.
„Nein, ich meinte… er will mit mir kämpfen.“
„Und?“, fragte ich perplex. „Das ist jetzt auch nichts… so Außergewöhnliches, findest du nicht auch?“
„Nein. Aber… ich bin eben nicht besonders gut im Kampf, weißt du.“ Ich ahnte langsam, was er von mir wollte.
„Naja, und er ist halt echt beliebt bei mir in der Klasse, davon hängt also viel ab, und da habe ich mir gedacht, könntest du vielleicht -“
„Liam“, unterbrach ich ihn und sah ihn ernst an, „du bist – bei weitem – beliebter als dieser Typ, glaub mir. Ganz egal, wer das ist… Mach dir darum keine Sorgen und scheiß einfach drauf, ob du gewinnst oder nicht.“ Er verharrte einen Moment.
„Aber Paul…“
„Ich weiß schon, du willst, dass ich mit dir trainiere. Dann sag’s doch einfach.“ Ich grinste ihn blöd an und zerzauste ihm das Haar – wogegen er sich kräftig wehrte.
„Ja, verdammt“, lachte er. „Danke, Paul.“ Mit diesen Worten verschwand er, und statt seiner stand plötzlich Susan im Türrahmen.
„Oh, wie ich sehe, geht es dir wieder besser“, sagte sie gut gelaunt.
„Ja. Danke“, antwortete ich. „Dieses Zeug hat echt geholfen. Wie ein Wundermittel.“
„Tja“, sagte Susan geheimnisvoll lächelnd. „Möchtest du übrigens etwas essen?“ Ich überlegte kurz.
„Danke, nein. Ich hab Liam versprochen, mit ihm zu trainieren.“
„Oh, na dann“, sagte Susan und öffnete das Fenster. Milde Luft strömte herein. „Lass dich nur nicht aufhalten. Geht ruhig. Aber seid zum Mittagessen zurück, hast du gehört?“
Wir waren unten am See, standen im sonnenbeschienenen Sand und spürten, wie das Leben unsere Adern durchfloss. Mein Traum war längst vergessen.
„Froxy“, rief Liam, „Blubbstrahl!“ Der kleine Frosch sprang in die Höhe und schleuderte Schaumblasen aus seiner Halskrause auf Plusle, das allerdings jeder geschickt auswich.
„Deine Angriffe müssen präziser sein“, riet ich. Er sah mich verwirrt an.
„Und wie soll ich das anstellen?“
„Das richtige Timing ist wichtig“, antwortete ich. „Sonst verfehlen deine Angriffe immer ihr Ziel.“
„Okay“, sagte er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Pokemon.
„Dann greif jetzt an Froxy, setz Blubbstrahl ein!“ Schon wieder? Er ging es genauso an wie eben.
„Nein nein“, begann ich, aber er hörte mich gar nicht.
„Aquawelle – jetzt!“ Ich hatte ihn unterschätzt. Der Angriff traf Plusle mit aller Kraft, und das Pokemon taumelte benommen einige Schritte rückwärts.
Doch noch bevor ich der Attacke etwas entgegensetzen konnte, wurden wir unterbrochen. Eine völlig aufgelöste Susan erschien hinter dem Steilhang, an dem der See lag. Sie kam keuchend und japsend auf uns zugelaufen.
„Mom!“, rief Liam und rannte ihr entgegen. „Was ist los?“ Sie kam ganz außer Atem vor uns zum Stehen.
„Ihr müsst mitkommen, ins Haus“, presste sie hervor und schnappte nach Luft.
„Warum – was ist passiert?“
„Es ist unglaublich“, bekam sie heraus, „in der Stadt sind drei Autobomben hochgegangen.“ Liam zuckte erschrocken zusammen.
„Hier in Spokane City?“, fragte er nach.
„Ja, hier, aber das ist noch nicht alles. Ein Flugzeug ist in einen Büroturm gejagt…“
Mir blieb beinahe das Herz stehen, als die Bilder aus meinem Traum wieder vor meinen Augen aufflackerten.
„Oh mein Gott“, murmelte ich fassungslos.
„Schrecklich, ja, ich weiß“, sagte sie und nahm Liam bei der Hand.
„Kommt bitte mit, ich hab Angst, euch draußen zu lassen.“
Sie zerrte uns zurück zum Haus und erklärte uns auf dem Weg, dass es gerade in den Nachrichten gezeigt worden war. Noch stünde nicht fest, wie viele Menschen gestorben waren und wie viele verletzt waren, und ob es sich um eine terroristische Aktion handelte. Allerdings gingen viele davon aus, denn wenn gleichzeitig Autobomben explodieren und ein Flugzeug in ein Bürogebäude fliegen, dann wäre es sehr unwahrscheinlich, dass die Maschine einfach durch einen technischen Fehler missgeleitet wurde. Liam war ganz still. Er tat mir leid. Zwar wirkte er immer sehr weit für sein Alter – er hatte ohne Probleme alle Teile von Saw gesehen und sogar schon eine erste, richtige Beziehung mit einem Mädchen gehabt – aber das hier schien ihn doch sehr mitzunehmen.
„Was tun wir jetzt?“, fragte ich.
„Daniel muss sofort nach Hause kommen. Ich will nicht, dass er unter diesen Umständen weiter in der Stadt bleibt.“
Aber Daniel ging nicht ans Telefon. Sie riefen ihn an, ein Mal, drei, fünf, zehn Mal, aber er nahm nicht ab. Susan war ganz bleich vor Sorge.
„Sei unbesorgt“, sagte ich besänftigend, „er wird schon in Ordnung sein. Sicher steckt er nur mittendrin in dem ganzen Tumult und geht deswegen nicht ans Handy. Oder vielleicht ist es einfach zufällig leer.“ Hailey pflichtete mir bei, aber Susan schwieg. Offenbar überzeugte sie das ganz und gar nicht – und zwar, wie sich bald herausstellte, zu recht. Denn als es sieben Uhr war, eine Stunde nach Daniels Dienstschluss, war er noch nicht zuhause. Allmählich wurde auch Hailey unruhig, und sogar in meinem Magen begann es ungemütlich zu rumoren.
„Und er geht immer noch nicht ran“, klagte Susan, die, den Kopf in den Händen vergraben, auf der Couch saß. Liam und Oscar saßen neben ihr, Hailey stand am Fenster und sah nach draußen und ich lief im Raum im Kreis herum.
„Lasst uns doch den Fernseher anmachen“, schlug ich vor. Aber das wollte Susan nicht. Sie hatte Angst davor, das in den Nachrichten zu sehen, wovor sie sich die ganze Zeit über fürchtete. Schlussendlich verschwand sie in ihr Schlafzimmer und ich griff doch zur Fernbedienung.
Das Bild, das sich uns bot, war der reine Schrecken. Überall lagen Trümmer. Kleine Trümmer, große Trümmer, Schutt und Asche. Und mittendrin lagen Menschen. Übel zugerichtete Menschen. Eine Frau wurde gezeigt, der die eine Gesichtshälfte weggesprengt wurde. Einem Mann war der ganze Unterkörper genommen worden. Andere waren blutüberströmt, Sehnenfasern und Knochen stachen ihnen aus gewaltigen Fleischwunden, ihre Gesichter zu hässlichen, unmenschlichen Grimassen verzerrt vor lauter Angst und Schmerz.
Ich hätte behaupten können, ich hätte eilig umgeschaltet, weil ich nicht wollte, dass Liam das hier sah. Denn selbst Saw war etwas ganz anderes als das. Aber das war es nicht einmal. Eigentlich wechselte ich den Sender, weil ich selbst es kaum aushielt. Mein Magen protestierte lautstark, und ich musste aufpassen, mich nicht zu übergeben.
Doch auch die anderen Kanäle zeigten alle dasselbe. Erst nach bestimmt zwei Minuten fanden wir einen Sender, bei dem ein Nachrichtensprecher die Situation erklärte. Und es war das zweite Mal an diesem Tag, dass mir fast das Herz stehenblieb.
… Beginn eines furchtbaren, unvermeidbaren Krieges … könnte gewaltige Ausmaße annehmen … dies ist wohl der Beginn des lange vorhergesehenen dritten Weltkriegs.
Im Raum herrschte Stille.
„Ich hatte gesagt, ihr sollt den Fernseher nicht anschalten“, hallte eine müde Stimme durch unser entsetztes Schweigen. Susan lehnte hinter uns am Türrahmen des Wohnzimmers. Sie seufzte tief.
„Ich wollte nicht, dass ihr das seht. Aber jetzt kann ich euch nichts mehr vormachen. Jetzt wisst ihr es ja.“ Es dauerte lange, bis ich wieder einen Gefühl für meinen Körper bekam. Alles in mir war taub und kalt geworden, ich hatte nichts mehr gefühlt bis auf meine pochenden Schläfen. Der dritte Weltkrieg. Das klang so … so unfassbar. So ungreifbar. Sicher, wir hatten alle gewusst, dass irgendwo auf der Welt immer Krieg herrschte. Aber hatten wir uns doch immer sicher gefühlt. Wir hatten geglaubt, diese Kriege würden uns nie erreichen. Wir würden in Sicherheit sein. Nie in meinem Leben hatte ich mich so sehr getäuscht.
Ich dachte daran, zuhause anzurufen. Ich wollte unbedingt wissen, was dort gerade geschah. Aber etwas in mir wehrte sich dagegen, und so ließ ich es doch bleiben.
Immer wieder dachte ich an meinen Traum. Woher hatte ich das wissen können? Oder war es etwa nur ein Zufall gewesen, dass ich so unmittelbar genau das geträumt hatte, was tatsächlich geschehen war? Noch am selben Tag? Ich machte mir jedenfalls schreckliche Sorgen um Drake. Ich hatte ihn in meinem Traum in dem Bürogebäude gesehen, das jetzt nur noch ein Haufen Stahlträger und Schutt war. Ob er wirklich dort drin gewesen war? Hätte ich ihn doch bloß nach seiner Nummer gefragt. Ich hätte ihn jetzt anrufen und fragen können, ob alles okay sei. Aber so blieb ich in Ungewissheit.
„Hey“, sagte Hailey plötzlich. „Was ist das?“ Ich wandte mich zu ihr um. Sie stand immer noch am Fenster und starrte hinaus. Langsam trat ich neben sie und folgte ihrem Blick.
Inzwischen war der Himmel wolkenverzogen und weiß und grau. So konnte man nur noch besser sehen, was sie eben entdeckt hatte. Es waren für mich zunächst nur schwarze Punkte, die sich sehr schnell bewegten. Aber etwas war merkwürdig daran. Denn es war eine ganze Reihe schwarzer Punkte, und irgendwie flogen sie in einer Art Formation, die aussah wie ein V. Und da verstand ich. Es waren Flugzeuge. Kampfflugzeuge. In mir zog sich alles zusammen. Es stimmte also wirklich. Der dritte Weltkrieg hatte begonnen.