Ich saß auf dem Bett und schrieb mit Liam, der gerade beim Dreh seiner neuen YouTube-Single war. Echt fame, der kleine Kerl.
„Hier ist es echt voll“, schrieb er gerade, während Plusle auf meinen Schultern herumturnte und dabei fast rücklings aufs Bett fiel.
„Überall sind Leute. Und irgendwie stehe ich total im Mittelpunkt.“
„Dann ist es ja genau das, was du magst“, schrieb ich zurück und grinste.
„Haha“, kam die trockene Antwort, allerdings mit einem lachenden Smiley dahinter.
Irgendwann verabschiedete ich mich von ihm, schaltete mein Handy aus und ging nach draußen, um etwas zu trainieren.
„Komm schon, Plusle!“
Seit wir gemeinsame Wege gingen, war jetzt gerade einmal eine Woche vergangen, aber uns kam es vor, als kannten wir uns schon ewig. Es fühlte sich an, als gäbe es gar nichts anderes, als dass wir beieinander waren.
„Oh, Paul“, riss mich Susans Stimme aus meinen Gedanken, als ich ins Wohnzimmer kam.
„Wie gut, dass du hier bist. Könntest du mir vielleicht etwas Butter kaufen? Mir fehlen ein paar hundert Gramm, um den Kuchen hier fertig zu machen.“ Sie hob eine gigantische Blechbackform hinter dem Ofen hervor und schien unter dem Gewicht fast umzufallen.
„Äh“, sagte ich wenig begeistert, „eigentlich wollte ich…“
„Ja ja, das kannst du sicher auch später noch machen. Bitte Paul, ich brauch die Butter wirklich dringend. Nachher kommt Besuch, und Liam, Oscar und Hailey sind alle nicht da.“ Warum auch immer sie nicht selbst gehen konnte.
„Na schön“, seufzte ich widerwillig und nahm die paar Dollar entgegen, die sie mir strahlend in die Hand drückte. Plusle kratzte sich am Hinterkopf.
„Und beeil dich“, rief Susan mir noch hinterher, als ich zur Tür hinausging.
„Ja“, rief ich zurück.
Es war ein sonniger Tag, und so hatte ich eigentlich keine Schwierigkeiten damit, mich draußen aufzuhalten. Ich hätte zwar lieber mit Plusle trainiert, aber gut, sei’s drum.
Als ich gerade um die Ecke in die Einkaufsstraße am äußersten Saum der City bog, stolperte mir ein Junge mit einer blauen Cap entgegen, auf der „Yolo“ stand.
„Wow, Vorsicht“, rief ich.
„Uuups, tut mir echt leid“, sagte er, wirkte dabei aber, als meinte er die Entschuldigung nicht wirklich ernst.
„Oh, Wahnsinn! Ist das da etwa ein Plusle? Dann bist du ein Pokemontrainer?“
„Äh, ja“, antwortete ich. Dieser Kerl war mir ein wenig zu hektisch.
„Oh, Wahnsinn!“, rief er erneut. „Ich bin übrigens Drake. Drake Williams.“ Ah. Interessant. Worauf lief das hier bloß hinaus?
„Weißt du, ich hätte so gern selber ein Pokemon“, sagte Drake, lüftete die Cap und offenbarte einen Schopf kastanienbraunen Haares, das ihm in wilden Strähnen ins Gesicht fiel.
„Dann fang dir eins“, sagte ich kurz angebunden und wollte mich an ihm vorbeidrängen.
„Ich kann nicht“, sagte er und sprang mir in den Weg.
„Aha. Und wieso nicht?“
„Tja, ich bin… ich bin allergisch.“ Ich schüttelte genervt den Kopf.
„Was für ein Pech. Na, wenn du allergisch auf Pokemon reagierst… Dann wird es wohl auch schwer, dir eins zu halten, meinst du nicht auch?“
„Nein, du verstehst nicht.“ Achso. Und was genau verstand ich nicht? Meine Laune verschlechterte sich von Sekunde zu Sekunde.
„Ich bin allergisch gegen WILDE Pokemon.“ Ich starrte ihn an.
„Wilde… Pokemon.“
„Genau. Wenn sie erst einmal in einem Ball sind, ist alles super.“ Was für ein Blödsinn.
„Wie kann sowas denn vorkommen?“, fragte ich mit gespielter Überraschung und versuchte von neuem, mich an ihm vorbeizudrängen.
„Keine Ahnung, aber deswegen kann ich keins fangen. Und naja, da wollte ich halt… naja, ich bin eben auf der Suche, der mir eins fangen würde.“
„Und wieso kaufst du nicht einfach eins?“
„Das ist nicht dasselbe, wie wenn man es selbst fängt“, antwortete Drake sofort.
„Du würdest es doch sowieso nicht selbst fangen“, widersprach ich.
„Außerdem habe ich gar nicht genug Geld dazu.“ Ich seufzte.
„Das heißt, ich soll dir jetzt dabei helfen, ein Pokemon zu fangen?“ Ich sah ihn an, und er sah unverwandt aus großen braunen Augen zurück. Ich seufzte abermals.
„Na schön“, sagte ich schließlich und fragte mich innerlich, wieso ich mich auf so etwas überhaupt einließ.
„Was für ein Pokemon möchtest du denn?“ Er zuckte die Achseln.
„Ganz egal!“, antwortete er dann fröhlich. Gut, das vereinfachte die Sache natürlich. Wenigstens etwas. Dann müsste ich bloß das nächste Pokemon fangen, das mir begegnete. Ich bedeutete Drake, mir zu folgen.
„Hier in der Nähe ist der Park“, sagte ich. „Da findet sich bestimmt das ein oder andere Pokemon.“
„Okay“, erwiderte Drake und pfiff ein Lied, das ich nicht kannte.
Kaum waren wir im Park angekommen, stürmte Drake Hals über Kopf los.
„Warte!“, rief ich genervt. Er benahm sich wirklich wie ein Zehnjähriger. Sogar Liam war reifer als der Typ hier.
„Keine Chance. Komm rüber! Beeil dich, hier ist ein…“ Es folgte ein Schrei. Oh nein…
Ich stürmte durch die Büsche, durch die Drake eben verschwunden war – und erstarrte.
Bestimmt zehn oder elf Bibor schwebten vor uns, surrten mit den Flügeln und klickerten mit den gefährlich geifernden Kiefern. Aggressive rote Augen funkelten von den gedrungenen Köpfen zu uns herüber und sprühten Funken.
„Vorsicht“, rief ich, „ganz offenbar sind die durch irgendetwas aufgebracht.“ Kaum hatte ich ausgesprochen, schoss ein Bibor vor und auf uns zu. Drake rief mir etwas zu, aber das laute Summen der Bienenpokemon übertönte es.
„Plusle, Donnerschock!“ Ich spürte eine Bewegung auf meinem Kopf und sah, wie Plusle über mir einen Stoß elektrischer Energie auf das Bibor feuerte, das zurückwich und umso zorniger mit den Kiefern knackte.
„Pass bloß auf, die sind hochgiftig“, rief ich Drake zu, und schon wurden wir von einem Hagel von Giftstacheln eingedeckt. Schützend hielt ich mir die Hände über den Kopf. Trotzdem erwischte ein Pfeil meinen Arm. Mit einem Aufschrei riss ich mir den Stachel aus der Wunde und betrachtete, wie Blut meinen Unterarm hinabrann.
„Das sieht nicht gut aus“, meinte Drake, der neben mich gehechtet war.
„Hast recht“, zischte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und spürte aus irgendeinem Grund, wie mein ganzer Körper erlahmte. Ich wurde mit einem Mal ganz benommen, so müde… Aber ich zwang mich, stehenzubleiben.
„Hey, aufpassen!“, rief Drake, während mir alles vor Augen verschwamm. Er schien mir irgendetwas zuzurufen, aber ich hörte es schon gar nicht mehr. Ich versank in einem angenehmen dämmrigen Halbschlaf…
„Plusle“, rief Drake. „Warte ab, bis…“ Ein Bibor kanonierte die Jungen erneut mit einem Hagel von Giftstacheln.
„Jetzt – Donnerschock! Lade die Stacheln auf, komm schon!“ Plusle gehorchte Drake ohne Umschweife und tat, wie ihm geheißen.
„Gut gemacht, und jetzt setz Rutenschlag ein, los!“ Plusle sprang in die Luft und wedelte wie verrückt mit seinem Schwanz, sodass die vor Strom brutzelnden Giftstacheln wie von einem Fächer zurückgeweht wurden – und zwar mit von der Elektrizität beschleunigtem Tempo. Zehn oder elf gefährliche Bibor, von jetzt auf gleich alle am Boden.
„Oh, Wahnsinn!“, jubelte Drake und tätschelte Plusle den Kopf, das aufgeregt zu dem anderen Jungen sprang. Inzwischen kam der sogar wieder einigermaßen zu sich.
„Was ist passiert?“, fragte ich benommen und presste mir die Hände gegen den dröhnenden Schädel.
„Später“, rief Drake eilig, „gib mir schnell einen Pokeball, bitte!“ Ich sah ihn verwirrt an. Wieso wollte er…
„Mach schon!“ Na gut, wenn er denn unbedingt wollte… vielleicht musste ich es ja auch nicht verstehen… ich kramte einen Pokeball aus meiner Tasche hervor und warf ihn Drake zu.
„Danke!“, sagte er, wandte sich um und warf ihn ins hohe Gras. War er jetzt komplett bescheuert? Ich hörte ein leises Knistern, wie der Ball im Gras wackelte, dann ein Piepen. Hatte er tatsächlich gerade ein Pokemon gefangen? Ich rappelte mich auf und blinzelte überrascht. Die Bibor lagen – alle besiegt – da, völlig regungslos.
„Ich hab eins gefangen!“, rief Drake freudig und drehte sich zu mir. „Vielen Dank! Geht’s dir wieder besser? – Ja, eindeutig. Na gut, dann mach ich mich mal wieder auf den Weg. Vielen Dank noch einmal. Dein Plusle ist großartig! Oh, übrigens… wie heißt du überhaupt?“
„Paul…“, stammelte ich, ganz benebelt von der Flut von Worten.
„Na dann“, rief Drake, setzte sich die Yolo-Cap auf den Kopf und hob den Ball mit dem Bibor darin an, „vielen Dank, Paul. Wir sehen uns sicher nochmal wieder!“ Mit diesen Worten ließ er mich, verdutzt und noch etwas schwächelnd, auf der Lichtung stehen und verschwand durch die Büsche, durch die wir hierhergekommen waren.
„Ja, ganz sicher“, murmelte ich ihm hinterher.
Zwei Stunden später kam ich zurück. Ich war inzwischen einkaufen gewesen, aber es ging mir dreckig. Ich fühlte mich, als hätte ich Fieber. Mir stand kalter Schweiß auf der glühenden Stirn und alle Glieder taten mir weh. Als Susan die Tür öffnete, stieß sie einen kurzen Schrei aus.
„Oh Gott, Paul, was ist dir denn zugestoßen?“ Ich brachte kaum ein Wort heraus. Meine Zunge fühlte sich ganz dick und pelzig an.
„Park… Junge… Helfen, fangen… Bibor…“, stotterte ich irgendwie und komplett zusammenhangslos, in der Hoffnung, dass irgendetwas davon annähernd verständlich war. Susan sah mich fragend an, aber sie nickte, als hätte sie mich verstanden.
„Ah ja. Natürlich. Eine Vergiftung, wie unschön. Komm rein, mein Guter, ich hab Medikamente dagegen da.“ Ich taumelte in den Flur und setzte mich auf die Treppe, während Susan irgendwohin stürmte, um wohl die Medikamente zu holen. Plusle zupfte mir am Bein und gab besorgte Laute von sich.
„Hey, alles ist gut“, sagte ich und eine Welle brennenden Schmerzes flutete meinen Schädel.
„So, da bin ich wieder. Hier, trink das.“ Sie reichte mir ein Glas mit einer leicht grünlichen Flüssigkeit darin.
„Susan – was ist das?“, fragte ich schwach, kippte es aber ohne weiter zu widersprechen hinunter. Es schmeckte scheußlich.
„Es wird helfen, ganz egal wie es schmeckt“, sagte sie vergnügt, als sie mein zu einer Grimasse verzogenes Gesicht sah.
„Ja…“
„Und jetzt geh nach oben. Ruh dich nur etwas aus. In ein, zwei Stunden wirst du wieder ganz der Alte sein.“ Und das war das Ende dieses Tages. Ich schleppte mich in mein Zimmer, ließ mich aufs Bett fallen und schlief sofort erschöpft ein. Anschließend wurde ich von wilden Träumen heimgesucht… ich sah Drake, der in einem Büro stand. Die Wände waren ganz aus Glas… war wohl eine dieser modernen Glasbauten. Typisch amerikanisch – total protzig. In dem Moment, als er sich zum Gehen wandte, erschien ein in Sekundenschnelle größer werdender Punkt am Himmel. Nach wenigen Herzschlägen erkannte ich es. Es war ein Flugzeug, und es raste mit Höchstgeschwindigkeit auf das Gebäude zu. Ich wollte nicht mehr. Oder wollte ich eins doch, und zwar schleunigst aufwachen. Ich wollte nicht sehen, wie -
WUMM.