1. Kapitel
„Sieh nicht, was du sehen willst, sondern schärfe deine Sinne.“
Ich hatte schlecht geträumt. Es war immer so, dass mir die Bilder des Traumes Stück für Stück entglitten, sobald ich die Augen öffnete. Dennoch blieb das mulmige Gefühl im Magen und ließ mir die einzige Gewissheit, dass ich einen unruhigen Schlaf hinter mir gehabt hatte.
Behutsam rappelte ich mich auf. Es war noch dunkel.
„Sira, wach auf. Akita – oh, sehr gut, du bist schon wach.“ Die Stimme meiner Mutter durchbrach die Stille, als sie mit prüfendem Blick von Sira zu mir schritt. Ich betrachtete ihr zotteliges, langes Fell für einen Moment und fragte mich, ob ich auch so aussehen würde, wenn ich mich entwickelte.
„Ist es schon so weit, Mama?“, hörte ich meine Schwester verschlafen murmeln, bevor auch diese aufstand und sich zu uns gesellte.
Meine Mutter nickte knapp und setzte sich in Bewegung. „Kommt, wir gehen. Und seht zu, dass ihr keines der Riolus weckt.“
„Ja, Mamaaa“, quengelte Sira, wobei sie das letzte „a“ absichtlich in die Länge zog. Ich warf ihr einen Seitenblick zu, woraufhin wir beide kichern mussten.
Der Weg über den Dausing-Hof stellte sich als besonders beschwerlich heraus, vor allem, nachdem Mama einst ein Voltilamm der Menschen gerissen hatte. Das war ein echter Aufruhr gewesen! Mama hatte ihnen gerade noch entkommen können – um Haaresbreite. So gut schmeckten Voltilamms eigentlich auch nicht (es war eine Qual, die elektrische Wolle abzuziehen), aber immerhin besser als nasse Entons.
Seitdem hielten die Menschen jedoch Artgenossen von uns auf ihrem Hof: Terribarks und ein Bissbark, die draußen schliefen und auf die Voltilamms aufpassten. Sie duldeten keinerlei Diskussion und sobald man nur einen Fuß auf ihre Wiese setzte, wurde man zähnefletschend verjagt.
Ich fragte mich oft, warum sie das taten und nicht einfach davonliefen oder sich selbst eines der Lämmer schnappten. Vielleicht besaßen die Menschen aber auch kinetische Kräfte, mit denen sie die Gedanken der Pokemon steuern konnten. Oder sie brachen anderweitig ihren Willen.
Wieder überkam mich ein Schaudern.
Es war kein sicherer Ort mehr, seit die Menschen sich hier niedergelassen hatten. Das wusste jetzt auch ich.
„Langsam, Sira. Leise.“ Mama schob meine Schwester energisch hinter sich. Sira war immer schon die tollkühnere und witzigere von uns gewesen. Gleichzeitig hatte meine Mutter alle Pfoten voll damit zu tun, ihr Disziplin beizubringen.
Ich nickte Sira mit ernstem Blick zu. „Du weißt doch, dass die alte Bissbark-Dame eine sehr gute Wächterin ist und… und sie ist auch stärker als wir.“ – „Blablabla, die schläft sicher noch! Können wir nicht schneller gehen? Oder uns das kleine Voltilamm dort drüben mitnehmen? Ich hab Hungeeeer…“
„Sira!“, knurrte Mama wütend, ohne sich nach uns umzusehen. „Sei endlich still!“
Beleidigt schloss meine Schwester zu ihr auf, während ich mich beeilte, nicht zurückzubleiben. Mamas Knurren war immer noch zu hören; sie musste sich wohl wirklich über Siras Kommentare ärgern…
Da erstarrte ich. Das Knurren kam nicht von vorne! Ich wusste, dass dies einer der Momente war, in denen man losrennen sollte, vor allem, wenn man noch schwach war und sich nicht zu helfen wissen würde. Aber meine Füße waren wie festgeklebt, als hätte ein Unratütox seine Säure verschmiert.
Ich hörte entsetzt, wie meine Mutter aufkeuchte und sich mit einem Satz schützend vor mich und Sira stellte.
Das knurrende Bissbark-Weibchen der Menschen kam näher. „Ihr habt hier nichts zu suchen. Wie oft soll ich es euch wilder Bande noch sagen?“
Vor Angst begann ich zu zittern, während Sira neben mir immer noch ganz überrascht das Geschehen beobachtete. Ich hatte doch Recht gehabt: Bissbark hatte einen sehr leichten Schlaf, besonders, wenn ihr alarmierende Gerüche in die Nase stiegen.
Mama senkte demütig den Kopf und zog den Schwanz ein. „Wir wollen den Voltilamms nichts tun… Bitte, wir sind nur auf der Durchreise. Wir werden diesen Ort ein für alle mal verlassen.“
Noch nie hatte ich meine Mutter betteln hören. Mit großen Augen lugte ich hinter ihrem bauschigen Fell hervor und erhaschte einen Blick auf Bissbark, welche die Zähne weiterhin fletschte.
Bedrohlich machte das alte Pokemon einen Schritt auf uns zu und als hätte es uns über die kurze Distanz berührt, wichen wir allesamt zurück.
Das unsichere Verhalten meiner Mutter ließ keinen Zweifel mehr zu: Sie wusste, dass sie keine Chance gegen Bissbark hatte. Im Grunde waren wir also schutzlos.
„Bitte, Bissbark, bitte tu uns nichts…“, winselte ich, als mich diese trübe Erkenntnis packte.
„Akita, sei still!“, zischte Mama und warf mir kurz einen scharfen Blick zu. Währenddessen konnte ich Bissbarks Augen auf mir spüren; täuschte ich mich oder war da ein Zucken in ihrer grimmigen Miene zu sehen gewesen? Vielleicht hatte sie ja doch Gnade mit uns – Immerhin hatte sie keinen von uns bis jetzt angegriffen…
Durch den Lärm aufgeweckt blökten jetzt auch noch die Voltilamms, diese nervösen Vierbeiner.
Da schallten plötzlich zwei weitere Stimmen zu uns hinüber, dieses Mal jedoch menschliche, die mir durch Mark und Bein gingen. „Terra! Ben! Kai! Was ist hier los? Was ist mit den Voltilamms?“
Im Bruchteil einer Sekunde veränderte sich alles; Bissbark veränderte sich: Mit einem lauten Knurren stürzte das alte Weibchen sich auf meine Mutter und hielt sie mit den Pfoten eisern am Boden fest, die Zähne nur knapp über ihrer Kehle.
„Mama!“, schrien Sira und ich im Chor, während die Menschen, ein weiblicher oder Frau, wie man sie nannten, und ein männlicher bzw. Mann rasch näher kamen und uns mit ihren hellen Lichtkegeln blendeten.
„Terra! Das hast du gut gemacht! Wer weiß, was passiert wäre, wenn du nicht so perfekt gewacht hättest“, sagte der Mann und streichelte Bissbark über den Kopf, als würde sie nicht gerade meine Mama niederringen.
„Ganz im Gegenteil zu euch Schlafmützen, Ben und Kai!“, rief einstweilen die Frau nach hinten, von wo ein paar fröhliche Beller zurückkamen. „Sorry, Boss!“ – „Hatte gestern einen anstrengenden Tag!“
Ich sah mich hektisch um, als könnte ich so eine Möglichkeit finden, Mama zu befreien und dann zu dritt ganz schnell wegzulaufen. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust; die altbekannte Angst durchströmte mich wie Eiswasser.
Bevor ich es in meiner Furcht realisieren konnte, sprang Sira mit einem Mal vor und schrie Bissbark und die Menschen an. „Lasst meine Mama in Ruhe! Wir wollten doch gar nicht eure blöden Voltilamms, wir wollten einfach von hier verschwinden! Und genau deswegen! Weil ihr, weil ihr – so gemeine Dinge macht-“
„Sira!“, piepste ich erschrocken und versuchte sie mit der Schnauze am Fell zu packen. „Hör auf damit…“
Aber es war zu spät. Längst hatte der Mann seinen Lichtkegel auf sie gerichtet. „Oh, was haben wir denn da?“
Ich sah, wie Mama sich gegen Bissbark sträubte, jedoch nur eine weitere lautstarke Drohung erhielt.
Der andere Mensch interessierte sich nun auch für Sira und mich. „Ein lautes Kerlchen, nicht wahr?“
„Und noch ziemlich jung, vielleicht vier Monate oder so.“
Sira hörte endlich auf, zu schreien und zitterte nur noch, genau wie ich.
„Deswegen hat es das Weibchen immer wieder versucht, Taku!“ Die Frau stieß den Mann an. „Sie hat zwei Kinder, die sie versorgen muss.“
„Ja, du hast Recht. Ich frag mich, wo der Vater steckt.“ – „Ach, die Tierväter machen sich doch fast immer aus dem Staub.“ Menschliches Gelächter.
Sira und ich tauschten einen verzweifelten Blick. Wir mussten hier raus. Weg. Sonst würden wir noch wie Papa enden. Ich sah Bissbark flehend an. „Bitte, lass unsere Mama los… Du weißt doch, dass wir nichts Böses im Schilde führen…“
Bissbark knurrte zurück, selbst wenn ihre Stimme weniger schroff klang. „Meine Menschen haben mir den Befehl gegeben, zu wachen und deswegen muss ich deine Mutter bewachen. Das Blut unseres kleinsten Voltilamms klebt an ihr, nach all diesen Tagen. Ich werde erst weichen, wenn mir meine Menschen einen anderen Befehl geben.“
Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. „Warum sagst du dauernd ‚meine Menschen‘? Sie versklaven dich doch nur!“ Ich erschrak selbst über meinen Trotz, doch Sira, die neben mir stand, nickte bekräftigend. Selbst wenn wir beide vor Angst fast gelähmt waren.
Dieses Mal bellte Bissbark lautstark. „Sie versklaven mich nicht! Ich gehorche ihnen gerne, verstanden?!“
„Ruhig, ruhig, Terra“, mischte sich die Männerstimme wieder ein und der Mensch strich Bissbark ein weiteres Mal über den Kopf. Augenblicklich entspannte sich das alte Weibchen. „Glaubst du, die reden miteinander?“, fragte die Frau. Ihr Lichtkegel schwenkte von Bissbark und Mama hinüber zu Sira und mir.
Ich konnte nur den Kopf schütteln über die seltsamen Worte der Menschen. Wir Pokemon verstanden ihre Sprache, aber warum verstanden sie die unsrige nicht?
„Akita, Sira… lauft.“ Entsetzt wandte ich mich zu Mama um, die uns nur eindringlich ansah. „Nein, nein, wir lassen dich nicht im Stich..“, begann ich; der Klumpen in meiner Kehle machte es mir schwer zu sprechen. Sira stieß mich zitternd mit der Pfote an. „Akita, komm…“ – „Nein!“ Ich schüttelte energisch den Kopf. Wir hatten doch schon Papa verloren – sie konnten uns nicht auch noch Mama nehmen!
„Terra, lass das Terribark mal los“, sagte da einer der Menschen, es klang nach der Frau. Ich atmete erleichtert auf, als Mama endlich frei kam. Sie schüttelte sich einmal, bevor sie, nach einem eindeutigen Blick auf uns, losrannte.
Sira und ich verstanden sofort.
„Das hatte ich befürchtet!“, rief der Mann hinter uns; mein Puls raste. Schneller, schneller laufen, so schnell, wie mich meine kurzen Beine tragen konnten. Mama hatte leicht abgebremst und bildete nun das Schlusslicht; sie wollte uns sicher schützen, sie wollte uns immer schützen und dann - Dann passierte es. Ich drehte mich eben im Laufen nach Mama um, als ein Ball auf sie zuflog, direkt auf ihren Rücken.
Rotes Licht erhellte die Dunkelheit, verschluckte das braun-gräuliche Fell mit einem hörbaren Zischen.
„Taku, was machst du denn!“, ertönte irgendwo in der Ferne eine Stimme, prompt gefolgt von einer weiteren. „Naja, Akane hat doch bald Geburtstag und sie wünscht sich schon seit Ewigkeiten ein Pokemon…“ „Mach dich doch nicht lächerlich! Erstens, was soll sie mit einem wilden Terribark, das ihr ohnehin nicht gehorchen würde und zweitens hat das Pokemon Familie, wie du gesehen hast!“
Weit weg. Unsagbar weit weg. Ich blieb so abrupt stehen, dass ich mit den Füßen eine Weile im Gras schlitterte. Sira bemerkte erst später, dass ich Halt gemacht hatte.
„Mama!“ Mit einem Schrei stürzte ich mich auf die Stelle, an der ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Stattdessen lag nun ein Ball auf dem Boden, der sich heftig bewegte. Schreckliche Bilder schossen mir durch den Kopf, Bilder von meinem Vater, der von dem roten Licht absorbiert worden war, so wie ich es mir nach den Erzählungen meiner Mutter vorgestellt hatte.
War es in Wirklichkeit so abgelaufen? So schnell, von einem Moment auf den anderen. Eben noch da und dann verschwunden. Stille. Keine Spur von Mama. War sie für immer weg? Gefangen in diesem kleinen runden Ding? Würden wir sie nie wiedersehen?
Ich stieß ein langgezogenes Jaulen aus, als plötzlich ein Geräusch unter mir ertönte. Wieder blendete mich rotes Licht, doch nachdem ich blinzelnd die Augen geöffnet hatte, stand Mama vor mir. „MAMA!“ Erleichterung erfüllte jede Faser meines Körpers. Auf der Miene meiner Mutter zeichnete sich jedoch nur Schock ab. „Weiter“, keuchte sie und schob mich mit dem Kopf in Bewegung.
Und wir rannten wieder. Irgendwann verhallten die Bellaute Bissbarks, sowie das Rascheln des Grases. Ich bildete mir ein, dass die Menschen uns gefolgt waren, aber unsere Flucht hatte das Gras genauso gut niedergedrückt. Egal. Jedenfalls umgab uns nun Stille, abgesehen von unserem erschöpften Keuchen.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo wir waren oder wie lange wir gelaufen waren. Auch das hatte im Moment keine Bedeutung.
Während wir uns auf den kühlen Erdboden unter uns fallen ließen, ging langsam die Sonne auf. Die hellen Strahlen, die sie der Welt sandte, hatten etwas Tröstliches an sich.
Ich atmete nach wie vor etwas flach, als ich den Kopf hob, um Mama und Sira ins Visier zu nehmen. Sira rollte sich auf den Rücken, alle Viere von sich gestreckt. „Mann-oh-Meter, das war Aufregung pur! Nie wieder möchte ich in der Nähe eines Menschenhofes leben! Die sind ja neidischer auf ihre Schafe, als ich auf meine Knochen!“
Dem Gequatsche meiner Schwester konnte ich nur ein müdes Lächeln abgewinnen, doch ich war mir sicher, dass ich später darüber lachen würde. Wenn ich mich besser fühlte.
Ein Stöhnen seitens unserer Mutter ließ sowohl mich, als auch Sira aufhorchen. „Mama?“, fragte ich vorsichtig. Sie leckte sich über ihre rechte Vorderpfote.
Die nächsten Worte blieben mir im Hals stecken. Da sickerte Blut aus ihrer Wunde! Anscheinend war Bissbark daran schuld. Das schwindelerregende Angstgefühl von vorhin kehrte zurück. Ich war sofort an Mamas Seite und schmiegte mich an ihren wuscheligen Hals. Sira drückte sich ebenfalls an sie.
„Mama, wirst du okay sein?“, winselte meine Schwester, so wie man es selten von ihr hörte.
Unsere Mutter schüttelte leicht den Kopf. „Keine Sorge…“ Sie brach mitten im Satz ab, die Ohren gespitzt.
„Mama?“, fragte ich wieder hilflos. Was war denn nun los? Doch nicht wieder ein Feind? Ich schluckte. Dann entwich ein Knurren Mamas Maul. „Verschwinde, wenn dir dein Leben lieb ist.“
Sira und ich zuckten vor Schreck zusammen. Hatte sie uns gerade gedroht, uns zu töten? Unsere Mama? Aber das Missverständnis klärte sich schnell von allein, als sich unsere Mutter mühsam aufrappelte, den Blick auf etwas hinter uns gerichtet.
Ich wirbelte herum und sah ein Toxiped in der Nähe, das uns mit neugierigen Augen begaffte. Bei Mamas Worten, die es eindeutig gehört und verstanden hatte, wurden selbige Augen jedoch schmal. „Du kannst mich nicht aus meinem Revier vertreiben, Hund. Verschwinde lieber du.“ Die Stimme des Toxipeds klang schneidend, auch irgendwie heiser, wie ich fand. Zwar hatten sich auf den Dausing-Hof bisher nur wenige seiner Art verirrt, aber ich wusste, dass die Käfer eigentlich harmlos waren. Und angeblich schmeckten sie ganz und gar nicht gut. Mama hatte uns streng eingetrichtert, sie niemals ins Maul zu nehmen.
Die unterschwellige Drohung, die in der Antwort des Toxipeds lag, nahm mir also eher die Angst, als dass sie sie schürte. Wenn es nicht aufpasste, machte Mama gleich einen Bodycheck und es würde plattliegen. Ein Blick auf meine Schwester bestätigte mir, dass auch Sira keine Gefahr sah.
Die Einzige, die weiterhin knurrte, war Mama. Sie hatte schlechte Laune, dachte ich mir. Nach dem alles andere als gemütlich verlaufenden Umzug kein Wunder.
Was im nächsten Moment passierte, würde meine Meinung über Toxipeds für immer verändern. Meinen naiven Glauben splittern lassen, in tausend Einzelteile, die niemand mehr zusammensetzen konnte. An diesem Tag war ich nicht nur zwei Menschen begegnet, sondern lernte auch, dass mit Gift-Pokemon nicht zu spaßen war.
Denn genau das entschied sich dieses Toxiped, zu tun. Als Abschreckung, als Rache, was auch immer.
Es setzte Giftstachel ein. Und die Stacheln trafen meine Mutter direkt an der rechten Flanke, wo sich das zähe Gift mit ihrem Blut vermischte.
Ein Jaulen erfüllte die Morgenluft. Ich jaulte. Oder es war Sira. Oder Mama. Oder alle gleichzeitig.