Kapitel 16 - Der weiße Baum
Es waren bereits zwei Tage vergangen,
seid Vincent in in die Stadt zurückgekehrt war. Er war erschöpft
und voller Asche und Blut in Orania angekommen. Die Menschen, die die
zurückkehrenden Jäger als Helden bejubeln wollten, schwiegen, als
sie ihn die große Straße entlanghumpeln sahen. Gestern hatte der
Sohn des verstorbenen Königs seinen Platz eingenommen. Seitdem waren
alle in der Stadt mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Doch Vincent
spürte, das die gefahr noch nicht gebannt war. Die Dämonen würden
erneut angreifen. Doch Vincent war der letzte der Jäger. Er fragte
sich, warum Ben gerade ihn am Leben gelassen hat. Vincent verließ
das haus, in dem er übernachtet hatte und ging langsam durch mehrere
Gassen. Überall lagen Steine, Dachpfannen und Hölzer. In einer
Seitengasse versuchte gerade jemand eine eingestürzte Wand mit einer
Spitzhacke zu durchbrechen, um den Weg freizuräumen. Auf mehreren
Dächern wurden die großen Löcher, die von den Trümmerteilen
gerissen wurden, mit Holzbrettern geflickt, damit es nicht
hineinregnete. Überall herrschte reges Treiben, doh auf dem Hügel
lag immer noch ein riesiger Trümmerhaufen. Dort hatte noch niemand
zu arbeiten begonnen. Nach ein paar Minuten lief ihm ein Bote über
den Weg.
"Ihre Majestät wünscht euch zu sehen",
verkündete er mit lauter Stimme. "Verstehe", murmelte
Vincent. "Soll ich euch dorthin geleiten?" "Na schön,
aber seid bitte still." Genervt lief Vincent dem Boten
hinterher. Dieser schien seine Aufgabe sehr ernst zu nehmen und ging
mit hoch erhobenem Kopf voran.
"Macht Platz", fuhr er
mehrere Bürger an, die gerade Steine von der Straße räumten. "Der
Herr hat es eilig." Mehrere Personen warfen ihm böse Blicke
hinterher. Vincent hätte gerne etwas darauf erwiedert, doch er hatte
keine Lust auf Streitigkeiten, also schwieg er. Sie erreichten ein
Haus, vor dessen Tür zwei Wachen standen. "Ich bringe den
letzten der Jäger", verkündete der Bote, "der König
wünscht ihn zu sprechen." Die Wachen traten zur Seite und
öffneten die Tür. Vincent folgte dem Boten ins Innere. Dort stand
der König an einem Tisch. Bei ihm waren die Grafen von Azura und
Mamorna, sowie seine Generäle. Auf dem Tisch lag eine Karte der
bekannten Welt. Sie waren gerade in eine Diskussion vertieft, von der
Vincent nur Teile mitbekam.
"Die Dämonen sind nicht das Problem
der Armee, wenn Johto uns angreift..."
"Was ist mit dem
Orden?"
"Wir brauchen mehr Soldaten in Azura."
"Mamorna braucht dringender Unterstützung, wir liegen an Johtos
Grenze. Uns werden sie zuerst angreifen." "Wer sagt, das
sie überhaupt angreifen?"
"Jetzt, wo Orania geschwächt
ist..." Der König hob die Hand. "Genug", rief er,
"ist er das, Bote?"
"Ja, Mylord."
"Sehr gut,
lasst uns allein."
Der Bote verneigte sich und verließ zusammen
mit den gräfen und Generälen das Haus.
"Ihr seid also der
letzte der Jäger. Der, der überlebt hat." Der König umrundete
den Tisch und musterte ihn. "Was meint ihr, was wir tun
sollten?" "Ich weiß nicht, Mylord." "Dämonen
töten meinen Vater und zerstörten unseren Palast, sowie diese
großartige Stadt. Noch dazu wurden meine Jäger von einer Gruppe
Dämonen vernichtet. Wenn ihr nicht wisst, was zu tun ist, habt ihr
dann wenigstens eine Erklärung, wie das passieren konnte?"
"Nein, Mylord. Ich fürchte, die Dämonen haben uns überrascht."
"Überrascht? Ich hörte, ihr habt einen der ihren aus dem
Gefängnis geholt und in eurer Mitte aufgenommen."
"Das war
ein Fehler, Mylord." "Ein Fehler?" Plötzlich lag Zorn
in der Stimme des Königs. "Ich würde eher sagen, ihr habt auf
ganzer Linie versagt! Ich würde euch einsperren, doch leider seit
ihr der letzte, der sich mit dem Kampf gegen Dämonen auskennt. Die
meisten Priester sind tot und die in der Kapelle haben uns gestern
verlassen, um den Orden zu benachrichtigen."
"Gibt es in
Azura und Mamorna noch nicht noch welche, Mylord?"
"Nein,
sie sind ebenfalls gegangen."
"Warum?" "Das
werden wir hoffentlich bald erfahren. Aber das betrifft euch nicht.
Geht zur Festung von Azura und unterstützt die dort stationierten
Soldaten. Sie sollen die Dämonen entgültig vernichten."
"Warum
kamen die Soldaten nicht früher zum Einsatz, Mylord?" "Weil
der Orden der Ansicht war, das es ein Haufen Jäger ausreichen würde,
um die Dämonen zu vernichten. Außerdem schützen uns die Soldaten
vor Angriffen aus Johto." "Verstehe, Mylord. Ich mache mich
sofort auf den Weg."
Vincent verließ das Haus und bestieg ein
Pampross. Dann wartete er geduldig auf den Grafen von Azurna und
seinen zwei Generälen. Gemeinsam mit einem Dutzend Soldaten ritten
sie die große Straße entlang und verließen schließlich die Stadt.
Vor ihnen, hinter mehreren Feldern lag der verbrannte Wald. Wie eine
schwarze Schneise zog er sich durch die Landschaft. Überall lagen
verbrannte Äste und Baumstümpfe.
Viele Bäume lagen auf dem Weg,
doch das machte den Dämonen nichts aus. Der Boden bewegte sich und
wie von Zauberhand rollten die Baumstämme zur Seite.
"Was eine
Magie", sagte ein Soldat erstaunt. "Was könnt ihr uns über
die Dämonen sagen Geisterjäger", fragte der Graf. "Man
sollte sie nie unterschätzen", antwortete Vincent, "und
offenbar können sie sogar Menschen manipulieren." Er seufzte.
"Wie das", fragte der Graf verwundert. "Ich weiß es
nicht. Aber wir wurden von zwei Menschen angegriffen. Einer davon hat
sogar zweimal einen Feuerdämon in die Stadt gebracht."
"Ich
habe davon gehört. Eine tragische Geschichte." "Ja, ich
ärgere mich immer noch darüber." Die Asche knisterte unter den
Füßen der Pampross. Mancherorts stieg noch etwas Rauch auf. Es roch
nach Verbranntem. "So viele sind in den Flammen umgekommen",
dachte Vincent, "sie werden dafür bezahlen!" Nach einer
Weile verließen sie den verbrannten Teil des Waldes. Ein paar Bäume
waren leicht angekokelt, aufgrund der Hitze und mancherorts lag etwas
Asche, doch ansonsten war hier alles grün. "Wer auch immer
diese Schneise gezogen hat, hat ganze Arbeit geleistet", stellte
der Graf fest.
"Wann erreichen wir Azurna", fragte Ben. "In
etwa einer Stunde." "Gut, ich kann diesen Wald schon jetzt
nicht mehr sehen. Ich wünschte, wir hätten ihn auch abgebrannt."
"Ich würde davon abraten, schließlich brauchen wir Holz für
alles mögliche."
"Natürlich, das war nur ein Gedanke."
Viele Seemeilen entfernt von Kanto lag
ein Königreich, das reicher war, als alle anderen Reiche. Der König
dieses Reiches lebte im Überfluss. Und dennoch war er nicht bereit,
seinen Reichtum mit den anderen Königreichen zu teilen. Alles was er
verkaufte war so teuer, das es sich kaum jemand leisten konnte. So
blickten viele voller Neid und Hass auf diesen König. Selbst wenn
ihre Völker in Dürrezeiten oder im Winter Hunger litten, hatte sein
Volk immer genug zu essen.
Das Geheimnis des Wohlstandes lag im
Zentrum des Reiches. Inmitten des großen Palastgartens stand ein
Baum, der so weiß war wie die marmornen Säulen, die ihn umgaben.
Der Baum trug keine Blätter. Dennoch schien er vor Energie nur so zu
strahlen. Ein Geflecht aus Wurzeln umgab den Stamm. Ein paar Meter
entfernt verschwanden sie im Boden. Rund herum waren Blumenbeete
angelegt, dessen Blüten in allen möglichen Farben leuchteten.
In
diesem Garten wuchsen die unterschiedlichsten Pflanzen. Selbst
tropische Gewächse, welche hier eigentlich nicht wachsen konnten,
gediehen prächtig. Der Baum schien soviel Lebensenergie
auszustrahlen, das nie auch nur eine einzige Blüte verwelkte. Je
weiter man sich vom Garten entfernte, desto weniger prächtig blühten
die Pflanzen. Tropische Pflanzen fand man hier nicht. Doch die
Menschen hatten herausgefunden, wie sie den Energiestrom des Baumes
steuern konnten.
So verliefen lange metallene Seile unter der Erde
bis zu den Feldern. Die schier endlose Energie des Baumes ging von
den Seilen auf die Pflanzen über und bescherte den Menschen jedes
Jahr eine gute Ernte. Inmitten des Blumenmeers stand Mai vor einer
Leinwand und versuchte eines der kleinen weißen Dämonen zu
zeichnen, welche von Blüte zu Blüte sprangen.
"Es hat sich
schon wieder weggesprungen", seufzte sie. Es war schwierig die
Wesen im Auge zu behalten, da sie sich ständig bewegten. Doch zum
Glück waren heute recht viele von ihnen unterwegs. Dämonen wurden
hier zwar auch gejagt, jedoch nur jene, die sich als nützlich
erwiesen, oder als gefährlich herausstellten.
Diese kleinen Flabebe
genannten Dämonen waren allerdings harmlos. Selbst der König besaß
eins. Nach einer weile vollendete Mai ihre Zeichnung von einem
Flabebe, welches in der Blüte einer roten Blume saß. In der Nähe
spielten ein paar Kinder und machten Lärm. Mai sog tief die kühle
Nachmittagsluft ein und genoss den angenehmen Duft der Blumen. Dieser
Ort schien wahrlich ein Paradies auf Erden zu sein. Mai nahm ihr
fertiges Bild und ging an den spielenden Kindern vorbei. Es waren
noch einige andere Besucher hier. Diese große Parkanlage war zwar
für jeden betretbar, jedoch durfte sich niemand dem weißen Baum
nähern.
Zäune standen auf den Wegen, welche dorthinführten.
Außerdem patroullierten überall Wachen. Schon mehrfach hatten
Feinde versucht den Baum zu zerstören. Doch bislang war es der
Schattenwache, immer gelungen, die Zerstörung des Baumes zu
verhindern. Mai verließ den Garten durch ein großes Tor und trat
auf die Straße.
Im Gegensatz zu anderen Königreichen waren die
Straßen hier sauber und es gab auch keine Bettler. Jeder hier schien
von der Energie des weißen Baumes zu profitieren. Auf dem Markt
waren mehrere Stände aufgebaut, wo Händler Lebensmittel und Stoffe
anboten. Am Marktplatz lag auch ihr Atelier. Mai betrat das Haus und
stellte fest, das die Tür wieder geölt werden musste, da sie
Geräusche verursachte. Sie ging die Treppe nach oben und stellte das
Bild zu mehreren anderen in ihr Lager. Dort standen die Bilder, bis
sie zum Verkauf angeboten wurden. Mai ging wieder nach unten und
betrat ihre Galerie.
Hier waren mehrere Bilder von verschiedenen
Häusern, etwa einer Bäckerei und eines Bauernhofes. Außerdem
standen hier noch ein großes Bild vom Palast und mehrere alte
Potraits. Sie verließ den Raum wieder und ging in den Keller, in dem
vor allem Vorräte gelagert waren. Mai zog an einer Fackel an der
Wand, woraufhin sich ein Geheimgang öffnete. Sie folgte dem engen
Gang, bis sie einen beißenden Geruch bemerkte. Ab hier begann die
Kanalisation.
Doch sobald man rechts abbog und durch die Tür am Ende
des Ganges trat, war der Geruch wieder weg. Sie stand nun in einem
Raum, von dem aus mehrere Türen abgingen. Mai wusste, das sie alle
abgeschlossen sein würden und probierte deshalb gar nicht erst, eine
von ihnen zu öffnen. Die Gänge hinter den Türen endeten alle
irgendwo in der Kanalisation, wie ihrer. Im Raum befand sich nichts
weiter als ein kleiner runder Holztisch.
Darauf lag ein Blatt Papier,
welches Werbung für die Kunstauktion heute Abend machte. Geschrieben
wurde der Zettel von einem Mitglied der Schattenwache, der auch Mai
angehörte. Sie waren der Geheimdienst des Königs. Das auf dem
Zettel die Kunstauktion zu sehen war, bedeutete, das sie den nächsten
Auftrag bekommen würde.
Die anderen Agenten hatten eigene Zettel.
Das nur ein Zettel hier lag konnte bedeuten, das die anderen ihren
Auftrag schon abgeholt hatten, oder das nur sie heute einen bekam.
Dieses System hatten sie eingeführt, damit niemand, der zufällig
hier eindringt Informationen über die Existenz des Geheimdienstes
bekam.
Außerdem durfte jeder Agent nur zu einer bestimmten Tageszeit
hierher kommen, wodurch sie einander nicht kannten. So sollten
Unterwanderungen ausgeschlossen werden.
Auf der Rückseite des
Zettels hatte jemand mehrere Zahlen gekritzelt: 68256 Die ersten vier
Ziffern mussten zusammengezählt werden und die letzte Ziffer sagte
etwas über die Art des Auftrages aus: 21 6 Die erste Zahl stand für
das Ziel. In Mais Fall würde das Ziel während der Auktion auf Bild
21 zu sehen sein.
Die 6 hieß, das jemand sterben musste. Wer immer
auf Bild 21 zu sehen sein würde, es war ihre Aufgabe ihn zu töten.
Mai steckte den Zettel ein und verließ das Gewölbe. Am Abend machte
sie sich schick und ging zum Auktionshaus. Es war ein sehr großes
protziges Gebäude. Die Wände waren weiß und reichlich verziert.
Die meisten Gäste waren Adlige. Aber auch viele Künstler waren
gekommen, um für ihre Bilder zu werben. Als Künstlerin hatte sie
eine spezielle Einladungskarte, die es ihr ermöglichte, jede der
Auktionen zu besuchen. Mai hatte ebenfalls ein paar kleine Bilder
dabei, welche sich gut unter den Arm klemmen ließen. Sie würde wie
alle anderen Künstler Sammler ansprechen und ihnen ihre Bilder
zeigen. Manche ließen sich sogar zu einem Kauf überreden.
Im
Inneren des Hauses waren die weißen Wände golden verziehrt.
Dazwischen hingen viele Bilder von berühmten Malern, die allerdings
nicht zum Verkauf standen. Während irgendwo ein Klavier spielte,
tauschten sich die Gäste über alles mögliche aus. Ein paar Adligen
konnte Mai ihre mitgebrachten Bilder zeigen, ehe ein Gong ertönte
und alle Anwesenden gebeten wurden in den Auktionsraum gebeten
wurden. Nach einigen Minuten wurde das erste Bild gezeigt.
Darauf war
ein See zu sehen und im Hintergrund der Königspalast. Es dauerte
eine Stunde, bis Bild 21 an der Reihe war. Es handelte sich nicht um
ein Potrait, wie Mai vermutet hatte, sondern um eine Karikatur.
Während alle Anwesenden lachten, musste Mai sich einen entsetzten
Blick verkneifen, als sie erkannte, wer darauf zu sehen war. Es war
das Gesicht eines Königs.