Als das kleine Hefel erwachte, erfüllten wohlige Gerüche das ganze Haus. Neugierig schnüffelte es in der Luft, ehe es aufgeregt aufsprang und wie von einem Bibor gestochen vom Wohnzimmer in die Küche flitzte. Es war wieder so weit! Diesen Geruch kannte Hefel, und er kam nur zu einer bestimmten Zeit jedes Jahr: Wenn seine Trainerin diese seltsamen kleinen Dinge buk, die mal rund waren, mal verschiedene Formen aufwiesen, mal schlicht einfarbig waren, und mal mit süßlich riechenden Verzierungen versehen waren. Wie nannte seine Trainerin diese Dinger noch gleich? Weinachzpatzchen oder so. Es schien irgendetwas zu sein, das man essen konnte, jedenfalls konnten Menschen das. Hefel durfte diese Patzchen jedoch nicht essen, das sagte jedenfalls seine Trainerin. Sie gab ihm dafür immer etwas ähnlich aussehendes, das aber sehr anders roch.
Auch diesmal hatte die Trainerin wieder einen Napf voll davon vorbereitet. Als Hefel in die Küche rannte, lachte sie heiter. „Da ist aber jemand wild heute! Keine Sorge, ich hab dieses Jahr eine ganz große Packung Pokékekse gekauft.“
Sie stellte den Napf vor Hefel auf den Boden, welches sich sofort darüber her machte. Dabei bemerkte es nur am Rande, wie sein großer Bruder, Backel, in einer Ecke der Küche lümmelte und nur kurz träge den Kopf hob, als Hefel erschien. Beide Pokémon hielten sich oft in der Küche auf, wenn ihre Trainerin etwas buk, um die feinen Düfte zu genießen, die vom warmen Backofen kamen.
Die Trainerin nahm gerade ein Blech mit fertigen Patzchen aus besagtem Ofen und schüttete sie auf einen Teller auf dem Tisch, ehe sie sogleich das nächste Blech in den Ofen schob. Sie rieb sich mit fröhlicher Miene die Hände und sah sich in der Küche um. „So, Plätzchen sind erledigt… als nächstes kommt der Stollen.“
Sie machte sich sogleich an die Arbeit. Stolän… das Wort sagte Hefel etwas. Noch so ein Ding, das die Trainerin zu dieser Zeit oft buk. Aber anders als die Patzchen. Es roch anders und war größer. Hefel hatte den Napf nun geleert und sah neugierig zu seiner Trainerin auf, die konzentriert die Zutaten für den Stolän vorbereitete. Auf einmal schwand jedoch das Lächeln aus ihrem Gesicht.
„Oh nein“, seufzte sie. „Hab wohl zu viele Plätzchen gemacht. Es ist nicht mehr genug Mehl übrig… und das ausgerechnet an einem Sonntag.“
Sie rieb sich die Schläfen und schien nachzudenken. Hefel verstand zwar nicht genau, was das Problem war, aber irgendetwas schien zu fehlen. Meel oder so? Hefel wimmerte und lief mehrmals um die Füße seiner Trainerin herum. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, sie traurig zu sehen. Zum Glück lächelte sie jetzt wieder, als sie auf das kleine Pokémon hinunter sah.
„Keine Sorge, Hefel, es ist alles in Ordnung“, beteuerte die Trainerin, während sie ihr Pokémon kurz hinter den Ohren kraulte. Dann wusch sie sich die Hände und verließ die Küche, wobei sie leise vor sich hin murmelte. Nicht leise genug jedoch, dass es Hefels feine Ohren nicht aufnahmen. „Hm… schätze, ich kann meine Nachbarn fragen, ob sie etwas Mehl für mich haben.“
Als Hefel bemerkte, dass sie ihre Schuhe anzog und nach ihrer grünen Jacke griff, flitzte es erneut durchs halbe Wohnzimmer und schließlich durch den Flur zur Haustür, wo es einmal kurz bellte und dann zu seiner Trainerin rannte, und wieder zur Tür, und wieder zur Trainerin. Raus! Raus! Hefel liebte dieses Wort. Seine Trainerin hatte es zwar diesmal nicht ausgesprochen, aber das Pokémon wusste genau, was es mit den Schuhen und der Jacke auf sich hatte. Draußen war momentan alles weiß! Das war so toll! So ungewöhnlich! Hefel wollte ins Weiß, bevor es irgendwann wieder weg war.
„Oh, willst du mich begleiten?“ Hefel bellte zustimmend, auch wenn es nicht hundertprozentig verstand, was seine Trainerin sagte. „Na gut, aber bleib dicht bei mir, okay?“
Damit öffnete sie die Tür, und kaum war der Spalt groß genug, rauschte Hefel auch schon nach draußen in das kalte, weiße Puder, das in den letzten Tagen immerzu vom Himmel geregnet war. Die Trainerin sah eine Zeit lang zu, wie das Pokémon im Schnee spielte, ehe sie ihm mit einem Pfiff zu verstehen gab, ihr zu folgen. Hefel gehorchte widerwillig und lief neben ihr her, während sie zum nächsten Haus ging, um dort zu klingeln. Während sie darauf wartete, dass der Nachbar öffnete, wehte der winterlich kalte Wind einen seltsamen Geruch herüber, den Hefel noch nie gerochen hatte… eine Note von Kohle wie im Kamin, an dem es sich manchmal wärmte, aber gemischt mit etwas metallischem und einem Hauch frischen Harzes. Verwundert schnüffelte es in der Luft, ehe es sich wie von selbst in Bewegung setzte, getrieben von seiner angeborenen Neugier, um den Ursprung dieses eigentümlichen Duftes zu finden.
Ohne es zu bemerken, führten seine tapsenden Schritte es am Nachbarshaus vorbei, dem Wald entgegen, der sich hinter den Häusern hier am Rand des Dorfes erstreckte. Im Sommer steckte dieser Wald voller Leben, tausende verschiedenster Gerüche und Laute mischten sich dort, doch nun schienen alle Geräusche und Düfte unter der dämpfenden Schneedecke erstickt zu sein. Alle, bis auf den einen, dem es folgte. Hefel war so vertieft in diese instinktive Jagd nach der Quelle dieser ungewöhnlichen Fährte, dass es nicht bemerkte, dass seine Trainerin nicht mit ihm ging und es auch nicht zurückpfiff – denn die Trainerin war gerade in dem Moment, in dem Hefel sich in Bewegung gesetzt hatte, vom Nachbarn abgelenkt worden, als jener die Tür geöffnet und sie nach dem Grund ihres Klingelns gefragt hatte.
Derart allein begab Hefel sich also tiefer und tiefer in den Wald hinein, der durch den dichten Bewuchs düster und abweisend wirkte. Schließlich gelangte es auf eine schmale Lichtung, wo das Sonnenlicht die Schneedecke tausendfach zum Glitzern brachte. Fasziniert von diesem Anblick, hielt Hefel inne und vergaß für einen Moment sogar den seltsamen Geruch. Vom spielerischen Impuls ergriffen, hüpfte es über die Lichtung und wühlte im Schnee. Auf einmal regte sich etwas in der Nähe. Überrascht hielt Hefel inne. Ein Buckel erschien im tiefen Weiß, ehe die Schneedecke auf einmal von einem Pokémon durchbrochen wurde, das wohl darunter geschlafen hatte.
Erschrocken sprang Hefel nach hinten, doch das fremde Pokémon starrte es nur verwundert an. Es handelte sich um ein längliches Pokémon mit hellbraunem Fell, das entlang seines Körpers von dunkelbraunen Streifen durchzogen war. Es war deutlich größer als Hefel, schien dem Hunde-Pokémon gegenüber jedoch sehr vorsichtig.
„Wies?“ Das Pokémon legte den Kopf schief. „Wiesenior?“
„Hef! Hef!“, kläffte Hefel, woraufhin das andere Pokémon überrascht zurückwich und letztlich wohl entschied, dass Hefel den Ärger nicht wert war. Ohne einen weiteren Laut floh es von der Lichtung… jedenfalls musste es von außen so aussehen, als wäre Hefel für die Flucht verantwortlich. Kaum war das andere Pokémon jedoch fort, bemerkte Hefel wieder diesen seltsamen Geruch… nur dass diesmal noch etwas anderes darin mitschwang. Es war mehr ein Gefühl als eine konkrete Duftnote. Etwas an diesem Geruch machte Hefel Angst, fühlte sich falsch an. Wimmernd kauerte es sich in den Schnee. Wo war seine Trainerin? Verwundert sah es sich auf der Lichtung um. Aus welcher Richtung war es gekommen? Wo lag das warme Haus?
Nun endlich wurde Hefel klar, dass es sich zu weit von zuhause entfernt hatte. Seine Trainerin war nirgendwo zu sehen, und die wohligen Düfte, zu denen es aufgewacht war, schienen nur in ferner Erinnerung zu existieren. Stattdessen war dort nur diese Düsternis, die nun von allen Seiten auf es zuzukriechen schien. Hefel wimmerte erneut und rannte davon, wobei es eine zufällige Richtung einschlug.
Der Wald schien sich endlos vor ihm zu erstrecken. Wie weit es auch rannte, da waren nur mehr Bäume, mehr Sträucher, mehr Wurzeln, über die es immer wieder stolperte. Zu dem sinistren Geruch und der üblen Vorahnung gesellten sich nun auch noch schaurige Geräusche, fernes Krachen und Knarzen, als wäre der Wald selbst zum Leben erwacht. Abgesehen davon lag Totenstille über dem Wald – als halte das Leben selbst den Atem an. Selbst im Winter sollte es nicht derart still sein.
Hefel sah eine Mulde unter dem Wurzelwerk eines Baumes und beschloss, sich darin zu verstecken. Es hechtete geradezu in das Loch und sackte dort hechelnd in sich zusammen. Leider blieb ihm keine lange Verschnaufpause, denn wie sich herausstellte, war die Mulde bereits besetzt. Ein schwarzes Pokémon mit gelben Augen, auf dessen Körper blaue Ringe bedrohlich aufleuchteten, fauchte Hefel an und vertrieb es dadurch aus seinem Bau. Das kleine Hündchen musste sich einmal mehr durch den Schnee schleppen, wobei es sich hektisch nach einem neuen Versteck umsah. Was auch immer den seltsamen Geruch absonderte, war nun ganz nahe – auch die krachenden Geräusche wurden nun immer lauter. Hefel schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich in ein dichtes Gestrüpp neben dem mächtigen Stamm einer alten, hohen Eiche zu kauern, ehe nicht weit von ihm eine ganze Reihe an Bäume mit lautem Donnern zerbarst, als ein großes Pokémon mit brachialer Gewalt durch diese hindurch brach, ein anderes, ebenso großes Pokémon vor sich her treibend.
Die beiden Pokémon brüllten sich gegenseitig an, ehe das erste blutrote Schwingen entfaltete und sich mit mehreren Flügelschlägen, deren schiere Kraft einen kleinen Schneesturm auszulösen schien, in die Luft erhob. Die Schwingen bildeten eine Sichel wie von einem dunklen, blutigen Mond, und der zornige Schrei des Pokémon erschütterte die Umgebung wie Donner. Hefels Wimmern ging in dem Geräusch unter. Wo steckte nur seine Trainerin? Es hatte solche Angst!
Das andere Pokémon indes schien völlig ungerührt von der Machtdemonstration seines Gegners. Sein weißer, länglicher Körper verschmolz geradezu mit dem Weiß des klaren Schnees, der die Bäume und den Boden zuckerte, doch Hefels Blick wurde vor allem von den beiden unheimlich langen Zähnen angezogen, die aus seinem Maul ragten und in spitze Eiszapfen auszulaufen schienen. Der hasserfüllte Blick in den Augen des Eiszahns brachte Hefel zum erzittern.
Auf einmal türmte sich der Schnee um Eiszahn herum auf und schien ein Eigenleben zu entwickeln. Er wandelte sich, festigte sich, wurde zu spitzen Eisstacheln, die dann klirrend auf das Mondflügel-Pokémon zu schnellten. Dieses öffnete sein mit mörderisch scharfen Zähnen bewehrtes Maul, aus welchem daraufhin ein Schwall glühend heißer Flammen wogte. Eis und Feuer trafen sich mitten in der Luft, woraufhin ersteres mit einem hörbaren Zischen schmolz. Wasserdampf breitete sich über die vom Kampf der Giganten stark in Mitleidenschaft gezogene Umgebung aus, aber die schlechte Sicht tat der tobenden Konfrontation keinen Abbruch.
Mondflügel fegte den Dampf mit einem kräftigen Schlag seiner Flügel hinweg und stürzte sich dann auf seinen Gegner, sobald dieser zum Vorschein kam. Eiszahn versuchte, nach links hin auszuweichen, aber war zu langsam. Ein schmerzerfülltes Fauchen entrang sich ihm, als sich Mondflügels Krallen in seine Seite schlugen, doch ungeachtet des Schmerzes schnappte Eiszahn nach einem der runden Flügel, sodass seine beiden speerartigen Zähne ihn durchbohrten.
Das brachte Mondflügel dazu, wieder von seinem Gegner zurückzuweichen, der keinen Moment zögerte, diese Gelegenheit zu nutzen. Ein Strahl reiner Finsternis schoss von Eiszahn ausgehend auf Mondflügel zu, welches direkt in der Körpermitte getroffen und durch die Wucht des Angriffs meterweit zurückgeschleudert wurde. Mehrere Bäume brachen und barsten unter seinem Gewicht, sodass Holzsplitter in alle Richtungen schossen und Teile der Umgebung unter vereisten Baumkronen begraben wurden. Hefel zuckte zusammen, als einer der derart zu Fall gebrachten Bäume direkt neben ihm in den Boden schlug.
Mit einem erneuten, wütenden Brüllen erhob sich Mondflügel, nur um sich einer wahren Lawine an Eis und Schnee gegenüber zu sehen, in deren Mitte Eiszahn auf es zuschoss und nun seinerseits seine Krallen im Fleisch seines Gegner grub. Was zuerst nach einem geglückten Angriff aussah, entpuppte sich schnell als gravierender Fehler, als Mondflügel einmal mehr lodernde Flammen aus seinem Maul feuerte, die Eiszahn aus nächster Nähe trafen und gnadenlos einhüllten. Jaulend sprang Eiszahn zurück und wälzte sich im Schnee, um das Feuer zu ersticken. Dadurch erhielt Mondflügel endlich die Gelegenheit, sich wieder in die Luft hinauf zu schwingen.
Unerbittlich drangen die beiden machtvollen Pokémon aufeinander ein. Finsternis, Feuer und Eis wurden kreuz und quer durch die Luft geschleudert und zerstörten weite Teil des Waldes. Doch zu Hefels unendlichem Glück bewegte sich der Kampf zunehmend fort von der alten Eiche, in deren Schatten es Schutz gesucht hatte und die die brachiale Konfrontation wie durch ein Wunder nahezu unbeschadet überstanden hatte. Bald schon waren die Kampfgeräusche nur noch in der Ferne zu hören, ehe sie mit einem letzten fernen Brüllen, aus dem Wut und Verzweiflung klangen, zum erliegen kamen. Wer gewonnen hatte, das vermochte Hefel nicht zu sagen, aber es war ihm auch egal. Es wollte einfach nur noch zurück zu seiner Trainerin.
Schwach und zitternd setzte es sich in Bewegung, fort vom zerstörten Teil des Waldes, fort von der dunklen Aura, die hier noch immer überall in der Luft hing. Bis es auf einmal den Klang einer vertrauten Stimme vernahm – die Stimme seiner Trainerin, die nach ihm rief, begleitet von Backels besorgtem Bellen. Als die beiden zwischen den Bäumen erschienen, kläffte Hefel erleichtert und rannte auf sie zu, um an seiner Trainerin hochzuspringen, die die Arme um es schloss und es fest drückte.
„Da bist du ja, Hefel!“ Sie klang so unendlich erleichtert, wie Hefel sich fühlte. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht… du warst auf einmal weg, und… oh, ich hätte nicht so unachtsam sein dürfen. Es tut mir so leid. Zum Glück hat dein Bruder deine Fährte aufnehmen können.“
Hefel verstand mal wieder nicht einmal die Hälfte der komischen Laute, die Menschen immerzu von sich gaben, aber es stieß trotzdem ein glückliches Bellen aus, wie um auf die Worte seiner Trainerin zu antworten.
„Lass uns nach Hause gehen“, schlug die Trainerin vor, und so machten sich die beiden Hunde-Pokémon mit ihr gemeinsam auf den Weg zurück in die warme Stube mit all den Patzchen und dem Stolän ohne Meel.
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Ein paar Tage später kam ein ganzer Haufen an Menschen zu Besuch. Hefel flitzte neugierig durchs Haus, als mehr und mehr Zweibeiner, die ähnlich rochen wie seine Trainerin, am Eingang in Empfang genommen wurden und sich schließlich am großen Esstisch im Wohnzimmer niederließen, wo sie eine ausführliche, wundervoll duftende Mahlzeit genossen, während Hefel und Backel jeweils einen Napf voll Pokékeksen bekamen.
Danach versammelten sich alle um den kleinen Baum mit all den farbigen Kugeln, den die Trainerin vor kurzem aufgestellt hatte, und öffneten nacheinander all die bunten Päckchen, die darunter aufgestapelt waren. Hefel schnupperte neugierig an den verschiedenen Dingen, die aus diesen Päckchen zutage gefördert wurden, und genoss dabei die Streicheleinheiten, die ihm die verschiedenen Menschen gaben. Schließlich sprang es jedoch auf den Schoß seiner Trainerin, die auf dem Sofa saß und sofort begann, es auf gedankenverlorene Weise hinter den Ohren zu kraulen, während sie ihrer Familie beim Auspacken der Geschenke zusah.
Hefel war zuhause, und alles war gut. Sein Abenteuer im dunklen Wald würde es so schnell nicht vergessen, aber in diesem Augenblick war es glücklich und zufrieden und dachte nicht mehr an die beiden unheimlichen Pokémon, die es an jenem Tag erblickt hatte.