Weißes Licht erfüllte die Nacht. Der Vollmond stand hoch oben am wolkenlosen Himmel; er hatte sich zu den kleinen, viel weiter entfernten Sternen gesellt. Die Sommernacht war erfrischend kühl im Vergleich zu der sengenden Tageshitze.
Oliver saß auf seinem Balkon, hatte seinen nackten Fuß auf einem anderen Stuhl hochgelegt. Er war noch leicht geschwollen, doch er konnte wieder gehen. Der Kyklop hatte ihn zwar verletzt, doch sein Tenku hatte ihn gut geflickt, wie Doktor Devon vorausgesagt hatte. Sie hatte ihn nach Hause bringen wollen, doch Oliver war nicht geheuer bei dem Gedanken gewesen in einem Auto mit der Wissenschaftlerin zu sein. Er kannte sie nicht gut genug. Sicherlich, sie hatte ihm und Alexander geholfen, doch war sie mysteriös, geheimnisvoll und verschlossen.
Oliver lehnte sich zurück und genoss den Vollmond. „Ob es wohl Werwölfe gibt?“, fragte er sich laut. Nein, bisher hatte er nicht an Werwölfe geglaubt, aber nachdem sich Kyklopen als sehr lebendig erwiesen haben, hielt er die Existenz von sich an Vollmond in Wölfe verwandelnden Menschen für absolut nicht abwegig. Schließlich hatte er sich selbst in gewisser Weise verwandelt. Er hob seine Hand ein wenig, öffnete sie schalenförmig und konzentrierte sich auf die Luft. Er versuchte sie mit seinem Blick in die geöffnete Hand zu lenken, doch es gelang ihm nicht. Oliver hatte es bereits einige Male diesen Abend probiert, doch ohne Erfolg.
Ein vibrierendes Geräusch drang in seine Ohren und sein Blick fiel sofort auf sein Handy auf dem Tisch. Jasmin rief ihn an.
„Hallo Jasmin“, meldete sich Oliver, als er das Telefon an sein Ohr hielt.
„Oliver! Wie geht es dir?“ Jasmins vertraute, beruhigende Stimme tat Olivers Ohren gut. Wie ein Fels in der Brandung strahlte sie eine gewisse Sicherheit aus, die Oliver in den letzten Tagen verloren geglaubt hatte. Er antwortete ihr und schnell fand Jasmin das Thema, weswegen sie angerufen hatte. „Wie ist euer Gespräch verlaufen? Mit Alexander?“
„Oh“, setzte Oliver an, um sich selbst eine kurze Denkpause zu geben. Er konnte ihr nicht erzählen, dass er einen Kyklopen bekämpft hatte, nicht weil das unglaubwürdig schien, sondern weil Jasmin jede Form der Gewalt strikt ablehnte. Aber das Gespräch, das er mit Alexander geführt hatte, war ziemlich erfolgreich gewesen, wie Oliver fand. „Wir haben uns ausgesprochen. Er ist eigentlich gar nicht so furchtbar.“
„Natürlich nicht. Menschen sind nie furchtbar“, erwiderte Jasmin mit einem leicht tadelnden Unterton in ihrer sonst sanften Stimme.
„Außer Mike, ich weiß“, antwortete Oliver mit rollenden Augen.
„Ach, fang nicht mit dem an. Er ist mittlerweile fest davon überzeugt, dass ich Interesse an ihm habe.“ Oliver hatte das ziemlich sichere Gefühl, dass diesmal Jasmins Augen gerollt haben. „Er wird mich morgen furchtbar belagern.“
„Halt dich einfach an Malte. Den wird Mike nicht mal dir zu liebe ertragen“, sagte Oliver mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er mochte Malte, doch die Fußballer fanden ihn furchtbar und zeigten ihm das auch des Öfteren. Doch Mike war Oliver von allen Fußballern am sympathischsten. Er war nicht gemein wie Alexander und der Rest der Mannschaft, insbesondere in Jasmins Anwesenheit nicht.
„Und dich werde ich auch brauchen“, ergänzte Jasmin. „Aber es ist spät. Wir reden morgen weiter, okay? Dann schlaf gut, Oliver!“
Oliver schüttelte grinsend den Kopf. Jasmin war wirklich die beste Freundin die man sich wünschen konnte.
Stunden später war der helle Mond von der gleißenden Sonne ersetzt worden. Der Morgen begann so wolkenlos wie die Nacht aufgehört hatte und die Frische war schnell vergangen. Langsam füllte sich der Hof hinter dem alten Schloss, in dem die Schule hauste, mit den Schülern. Manche, hauptsächlich die Älteren, ätzten unter der Hitze, doch die jüngeren Schüler spielten vergnügt.
Oliver wurde fast von zwei Fünftklässlern umgerannt, als er mit Jasmin den Schulhof erreichte. Sie waren spät dran, gleich würde der Unterricht beginnen, aber natürlich würde kein Schüler vor dem Läuten daran denken, den Klassenraum aufzusuchen. Die beiden Freunde nahmen eine Treppe nach unten, gesäumt von bunten, blütentragenden Büschen und verschwanden im schwülen Schatten. Von hier führte die Tür zum Kunsttrakt im Keller des Schulgebäudes, aber auch ihr Raum für ihren Englischunterricht befand sich hier. Als Oberstufenschüler genossen Oliver und Jasmin das Privileg, sich auch außerhalb der Unterrichtszeiten im Schulgebäude aufhalten zu dürfen.
Sie gingen durch den alten Flur. Im Innern hatte die Schule nicht sehr viel von einem Schloss. Der Boden war mit blauem Linoleum ausgelegt, die Wände weiß verputzt und mit Kunstwerken der Schüler dekoriert. Eine der Halogenlampen an der Decke flackerte nervtötend.
Vor dem Raum standen bereits einige Schüler. Oliver erkannte Mike, der etwas abseits stand, und auf dessen gebräuntem Gesicht sich ein Lächeln ausbreitete, als er Jasmin erkannte. Alexander hingegen fand Oliver nicht sofort. Für einen Moment dachte er, Alexander sei noch draußen an den Tischtennisplatten, doch er sah die Jungs, mit denen er die Schulzeit verbrachte. Nicht alle waren in seiner Fußballmannschaft, doch sie alle waren groß gewachsen und sportlich. Oliver ließ Jasmin zurück — eine Gelegenheit, die Mike sofort am Schopfe packte — und näherte sich der Sportlertraube. Er hörte das Gejohle, das Gelächter.
Der dickere Junge mit den roten Haaren und dem blauen Superman-T-Shirt, war von Alexanders Gruppe umkreist und musste ihren Spott ertragen. Oliver stellte zu seinem Bedauern fest, dass Alexander auch zu denen gehörte, die lachten. Ihm war klar, wer den Spruch, der für diese Paviane so erheiternd war, gebracht hatte.
„Na, Queipo, wieder dabei anderen Menschen den Tag zu versauen?“, fragte Oliver mit einer Portion Selbstbewusstsein, die ihn selbst überraschte. Oliver war zwar ein ängstlicher Mensch, aber keinesfalls ein Feigling. Er hatte von Jasmin die Abscheu gegenüber Mobbing, Ausgrenzung und systematischen Gemeinheiten übernommen, doch heute war es ihm danach, Fernando Queipo nicht nur zu verabscheuen, sondern auch mal etwas Richtiges zu tun.
„Olli, gefiel es dir etwa, eine Faust im Gesicht zu spüren?“, erwiderte der große, schwarzhaarige Junge. Er war deutlich größer als Oliver und sah mit voller Arroganz zu seinem Herausforderer hinunter.
Oliver bereute für einen Moment, den Held spielen zu wollen. Er wusste nicht wie es kam, möglicherweise lag es an seinem Sieg gegenüber den Kyklopen, aber das war mehr Glück als Können. Und er wollte Fernando ganz gewiss nicht wehtun. „Lasst einfach Malte in Ruhe“, versuchte Oliver zu deeskalieren. Er suchte für einen Moment den Blick zu Alex, der ihn aber nicht erwiderte und wandte sich dann Malte zu. „Komm, Jasmin steht hinten und muss vor Mike gerettet werden.“
Malte ließ sich das nicht zweimal sagen, eilte an Fernando und den anderen vorbei und stellte sich zu Oliver, ohne ein Wort zu sagen.
Oliver wollte sich umdrehen und zurück zu Jasmin, doch Queipo hatte ihn an der Schulter gepackt. Olivers braune Augen trafen auf die noch brauneren Augen Queipos und für einen Moment fürchtete er die Eskalation.
„Ich lass mir von dir Prinzessin nicht in meine Morgenbeschäftigung hineinpfuschen“, machte Fernando Queipo deutlich, als er Oliver zu sich gezogen und seinen Arm bedrohlich um seine Schulter gelegt hatte.
Oliver überlegte, was er erwidern konnte, doch es fiel ihm nichts ein. Glücklicherweise war das auch nicht notwendig.
„Lass ihn los!“ Alexander hatte Queipos breiten Arm von Olivers Schulter geworfen. „Ich habe keine Lust auf noch mehr Ärger wegen ihm“, rechtfertigte Alexander seine Handlung vor dem größeren Jungen. Oliver entging nicht der abschätzige Ton, mit dem Alexander „ihm“ gesagt hatte, doch er glaubte zu verstehen, was Alex’ Vorhaben war. Er wollte sein Gesicht wahren und zugleich Oliver helfen.
„Na schön, Alex, wie du meinst“, gab Queipo schließlich nach.
Oliver entfernte sich von Alexander, Fernando und den anderen Jungs und folgte Malte zu Jasmin. „Solche Idioten“, sagte Oliver kopfschüttelnd und an Mike gewidmet.
„Sie spielen nur“, verteidigte Mike seine Freunde, mied aber den Blick auf Malte.
„Spielen? Sie ärgern Menschen, die mir was bedeuten. Das ist abartig“, machte Jasmin sehr deutlich. Ihr Gesicht hatte sich verzogen, so als hätte sie einen ekelhaften Geruch aufgeschnappt.
„Ich werde mal mit ihnen reden“, gab Mike schließlich nach und verließ Olivers Gruppe um in seine zurückzukehren.
„Danke“, sagte Malte schließlich. „Ohne dich wäre ich da nicht rausgekommen, Olli.“
„Das war wirklich mutig“, stimmte Jasmin zu, auch wenn sie nicht alles mitbekommen hatte. „Aber auch gefährlich. Gerade erst hat Alexander dich schließlich geschlagen!“
Oliver zuckte die Achseln. „Das war nichts“, spielte er seine Leistung herunter. Ehe er etwas Weiteres hinzufügen konnte, schloss Frau Bärenknecht das Klassenzimmer auf und beendete so das Gespräch.
Der Raum hatte sich verändert. Die pastellgelben Wände waren weiß gestrichen, die Bilder waren entfernt worden. Das Eichenholzmobiliar hatte sie durch moderne Möbel ersetzen lassen. Das Büro der Schulsozialarbeiterin hatte seine Wärme verloren und wirkte nun klinisch und wenig einladend.
Alex saß auf einer ledernen Couch, hatte sich zurückgelehnt und wartete darauf, dass Doktor Devon ihnen erzählte, warum sie ihn und Oliver her zitiert hatte. Die Doktorin schenkte gerade mit zittrigen Händen heißes Wasser in schwarze Tassen. Sie wirkte als Gastgeberin deutlich weniger souverän denn als Monsterforscherin, dachte Alexander.
„Nun, ich freue mich, dass ihr gekommen seid. Hier, bitte“, sagte Veronika Devon, als sie Oliver eine Tasse Tee reichte. „Ich schätze, Kira wird meiner Einladung nicht entsprechen, deshalb lohnt es nicht, zu warten.“ Die Wissenschaftlerin reichte nun auch Alex eine Tasse, nahm dann auf ihrem großen Sessel Platz.
„Ich denke kaum, dass Kira was mit uns zu tun haben will“, erwiderte Oliver, der seine Tasse auf einem Tischchen neben ihm abgestellt hatte.
„Das Gefühl hatte ich auch“, antwortete Doktor Devon. Sie wirkte müde. Ihre Augen waren von dunklen Schatten unterstrichen. „Aber dennoch wäre es besser, wenn wir Kontakt aufbauen würden. Auch sie braucht meinen Schutz. Und sie kann euch viel besser lehren, eure Tenku zu nutzen.“
„Als ob sie Schutz braucht“, schnaubte Alex. Es war das erste Mal, dass er was sagte, seitdem er das Büro betreten hatte. Er musste daran denken, wie hilflos er war, während das Mädchen riesige Monster besiegte. Und sogar Oliver, ein Schwächling, konnte sich wehren, während Alex nur tatenlos zusehen konnte.
„Oh, verteidigen kann sie sich sehr wohl, das ist mir bewusst. Aber vor Ungeheuern kann ich euch ohnehin nicht schützen. Nur vor der Öffentlichkeit“, antwortete Doktor Devon. Sie nippte vorsichtig an ihrer Tasse.
Daran hatte Alexander bisher nicht gedacht. Natürlich war ihm klar, dass er seinem Vater nicht einfach erzählen konnte, dass er von Kyklopen bedroht wurde. Doch dass so gut wie kein Mensch was davon mitkriegen durfte, das war ihm bisher nicht wirklich bewusst gewesen.
„Und wie?“, fragte Oliver kritisch.
„Ich habe meine Mittel. Aber das spielt auch keine Rolle“, wechselte Doktor Devon das Thema. „Wie ihr ja wisst, suche und studiere ich Tenku. Nun sind die Tenku keine Allerweltsgegenstände, die man überall und jederzeit trifft. Deshalb hat es mich gestern Abend so überrascht, als meine Geräte eine höhere Präsenz an Tenku-Energie registrierten.“ Die müden Augen funkelten wie die eines Kindes, das gerade ein Geschenk auspackte.
„Noch ein Tenku?“, fragte Oliver. Er wirkte misstrauisch, fand Alex. Bisher hatte er den Eindruck gemacht, die ganze Angelegenheit wenig zu hinterfragen, doch dieses Bild hatte Alex mittlerweile nicht mehr.
„Nun, die Energie, die ich beobachte, schwankt immer. Während eures Kampfes gegen die Kyklopen war natürlich viel mehr dieser mysteriösen Tenku-Energie wahrzunehmen. Doch gestern stieg sie ungewöhnlich hoch. Es gibt eigentlich nur die eine Erklärung: ein vierter Tenku muss sich in der Nähe befinden.“ Die Augen der Doktorin funkelten nun wie frisch geschliffene Diamanten.
„Wie viele Tenku gibt es überhaupt?“, fragte Alexander. Wenn es allein in Rothfurt schon vier gab, dann müssten es insgesamt unzählige sein.
„Das kann ich nicht sicher sagen. Ich habe die Anzahl der Tenku auf der Erde früher auf ein bis zwei Dutzend geschätzt, doch seitdem ich meine Geräte verbessert habe, musste ich meine Schätzung nach oben korrigieren. Es sind viel mehr als ich lange Zeit dachte“, antwortete Doktor Devon. Sie hatte sich erhoben und den Sessel umkreist, lehnte nun mit den Ellbogen auf der Lehne.
„Und jetzt wollen Sie den vierten Tenku suchen, nehme ich an?“ Oliver setzte mit seinen Lippen an der Tasse an, doch der Tee war ihm wohl noch zu heiß, denn er stellte die Tasse schnell wieder ab.
„Sicherlich. Der Tenku war vorher nicht hier, möglicherweise wird er von euch dreien angezogen“, sagte die Wissenschaftlerin mit einem raschen Blick auf ihre Uhr.
„Es sind doch Steine?!“, warf Alex ein. Er dachte an das Bild, das Devon ihnen auf ihrem Tablet gezeigt hatte.
„Ja. Wahrscheinlich ist es ein Tenkukai“, verbesserte Veronika Devon sich. „Nun denn, ich werde mich heute Abend auf die Suche machen. Alex, für dich habe ich folgende Aufgabe …“
„Ich habe schon genug zu tun“, erwiderte Alex genervt. Er hatte keine Lust auf weitere Hausaufgaben.
„Ich möchte, dass du lernst deinen Tenku zu benutzen. Setz dich in eine Badewanne, spring in einen See oder tanz im Regen, aber komm mit Wasser in Kontakt“, befahl Doktor Devon.
„Nun, da habe ich es ja doch etwas einfacher“, sagte Oliver grinsend, doch verstummte sofort wieder, als er den bösen Blick bemerkte, den Alex ihm zuwarf.
„Für dich habe ich auch eine andere Aufgabe: nimm Kontakt zu Kira auf.“
Und plötzlich freute Alex sich über seine Aufgabe. Er sollte sich in diesem heißen Sommer einfach nur abkühlen. Oliver hingegen war dazu verdammt, sich die Finger zu verbrennen.
erstmal Entschuldigung dafür, dass ich auf deinen ersten Kommentar nicht reagiert habe. Ich bin mir zwar sicher, dazu irgendwas geschrieben zu haben, aber scheinbar ist das verloren gegangen. Wie dem auch sei...
Danke für deine beiden Kommentare. Das Topic hier war tatsächlich eingeschlafen und erst durch dich wurde ich aufmerksam darauf, dass die Titelgrafik Probleme machte. Das habe ich verbessert und deine Kritik zum Startpost hoffentlich ordentlich umgesetzt.
Da hast du vollkommen Recht und ich habe es bereits in meiner Arbeitsdatei verbessert. Die Kapitel hier im Bisaboard werde ich natürlich auch noch aktualisieren. Solche Tempusfehler sind immer blöd, kommen mir aber beim Plusquamperfekt öfter mal vor. Die in deinem zweiten Kommentar genannten Fehler werde ich natürlich auch noch angehen.
Ansonsten: Danke noch mal für deinen Kommentar, der mich doch wieder motiviert hat.