Das Psiana Miure stand links von seinem Trainer und fixierte ihre drei Gegner. Mit entblößten Zähnen, gesträubtem Fell und einem leichten Buckel versuchte er so bedrohlich wie möglich auszusehen. Doch in Wahrheit war er der Eingeschüchterte. Sein Herz schlug fast so schnell wie die Projektile zuvor auf den Schutzschild geprallt waren. Selbst jetzt hallten die Einschläge noch durch seine Ohren und er roch verbranntes Schießpulver, auch wenn der Gestank langsam vom steten Wind über dieser Ebene verweht wurde.
Inzwischen war die Sonne deutlich höher gestiegen. Der Kater fühlte ihre angenehme Wärme in seinem Pelz, obwohl er sie im Moment überhaupt nicht genießen konnte. Zu angespannt war er vor dem bevorstehenden Kampf, zu verängstigt von der gerade abgewandten Gefahr ... und der Folgenden, von der er wusste, dass sie kommen würde.
Und dennoch: Als Seths Pfiff erschallte, stürzte er sofort los. Er musste stark sein, er wollte stark sein! So wie seine Freunde auch.
Miure rannte links am Wagen vorbei, auf den Fahrer zu, der sich bereits etwas vom Fahrzeug entfernt hatte. Der Mann griff in seine Tasche und zog einen Pokéball heraus, worauf der Psychokater mit rutschenden Pfoten abbremste. Noch bevor er richtig zum Stehen kam, flammte ein Lichtblitz auf und ein kleines Pokémon materialisierte sich in der Luft vor dem Fahrer. Miure sah es nur kurz - insekten-artiger Körper mit gelb-schwarzem Panzer, große durchsichtige Flügel, vier lange, dünne Beine - da war es auch schon wieder weg.
Plötzlicher erfüllte ein gräßliches, hohes Summen die Luft. Dem Psiana blieb fast das Herz stehen, dann schlug es noch schneller als vorher. Angst stieg in ihm hoch und blockierte seine Gedanken, ebenso wie seine Glieder. Trotz der hohen Temperaturen lief ihm kalter Schweiß den Rücken hinunter und lies ihn erzittern.
Das Sonnen-Pokémon zuckte zusammen als ein spitzer Schrei die Luft zerriss, bevor es ein heftiger Hieb in die Seite traf. Miure konnte sich gerade so auf den Beinen halten, doch bevor er wieder einen festen Stand hatte, traf ihn schon der nächste Schlag in die andere Seite. Und so ging es weiter. Die Attacken kamen so schnell, dass das Psiana kaum Zeit hatte, Luft zu holen. Ein einzelner Schlag war schwach, doch sie kamen in überwältigender Zahl, immer begleitet von hohem Kreischen. Der Angreifer selbst blieb dabei fast unsichtbar - er war so schnell, dass kein Auge ihm folgen konnte.
Jetzt wusste Miure, dass er Recht hatte. Er hatte bei diesem Job von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt. Ob es eine echte Weissagung oder reine Intuition war, wusste er nicht. Er wusste nur, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch er hatte es seinen Kameraden nicht gesagt – es wäre auch nicht das erste Mal, dass er überreagierte. Und so stand er nun hier, und kassierte einen Hieb nach dem anderen.
Schmerzen betäubten ihm die Sinne, dennoch roch er Blut – sein eigenes. Ihm wurde schwindelig und er wusste nicht ob es von den Attacken, dem Summen oder seiner eigenen Panik kam.
Alte Zweifel überfluteten seine Gedanken - wie sollte er das schaffen? Käufer gegen Psycho! Ein Gegner, dessen bloßer Anblick ihm den Atem raubte. Flügelsummen, das seine Ohren betäubte. Scharfe Klauen, die sein Fleisch zerschnitten. Giftige Stacheln, die seine Muskeln lähmten.
Ein besonders heftiger Schlag in die Seite stieß Miure schließlich um. Verzweifelt versuchte er wieder auf die Beine zu kommen, doch er fand kein Gleichgewicht mehr und der Käfer schlug ihn immer wieder zu Boden. Am Ende rollte er nur noch auf der harten Erde herum und trat unkoordiniert mit den Pfoten in die Luft, wie eine Schildkröte die auf dem Rücken lag.
Dann plötzlich: Ein Knall, ein erstickender Schrei und das Summen entfernte sich. Hastig blickte das Psiana nach links und sah seinen Gegner - ein Ninjask - unkontrolliert davonfliegen, wie eine Papierkugel im Wind. "Was ist denn das passiert?", fragte sich Miure, erleichtert über die Pause. Er bemerkte bläuliches Schimmern um sich herum. Kleine Steinchen und Staub wirbelten durch die Luft, wie in einem Mini-Tornado. Nach einigen Augenblicken verschwand das Energiefeld und der Wind legte sich.
"War ich das?" Hatte er versehentlich seine Kräfte eingesetzt? Egal! Miure erkannte seine Chance und sprang auf die Beine. Noch immer zitterte er am ganzen Körper und sein Herz schlug so schnell, dass er das Gefühl hatte, es würde seine Brust sprengen. Plötzlich näherte sich das laute Summen der Käferflügel wieder und der nächste Hieb traf das Psiana. Doch es bemerkte sofort, dass etwas anders war. Der Angriff war schwächer und langsamer als vorher. So langsam, dass Miure den Gegner gerade noch sehen konnte. Und als der nächste Angriff kam schlug ihm der Psychokater mit krallenbesetzten Pfoten entgegen. Das Ninjask wich aus, musste jedoch seine eigene Attacke abbrechen und wieder wegfliegen. Miure hatte jetzt Zeit zum Nachdenken. Sein Gegner war verlangsamt, doch noch immer viel zu schnell für einen gezielten Treffer. Ein Rundumschlag war nötig. Keine von Miures Psychoattacken erfüllte diese Voraussetzung, doch er kannte noch andere Techniken. Seine Stirnperle funkelte rosafarben, während er Energy sammelte und sie durch seinen ganzen Körper strömen ließ. "Hoffentlich merkt er das nicht."
Der Kater wartete, bis er den Gegner wieder auf sich zu fliegen hörte - dann ließ er die Kraft frei. Eine Explosion aus Licht ließ seinen Körper erstrahlen, um ein vielfaches heller als die Sonne, und doch so kalt wie der Mond. Und wieder hörte Miure das Ninjask schreien, doch diesmal vor Schmerz. Als das Licht des Zauberscheins abklang erblickte Miure die Zikade vor sich in der Luft schwebend. Der Käfer rieb sich die geblendeten Augen.
Jetzt war Miure an der Reihe. Seine Angst war völlig vergessen, als ob er nie eine Käferphobie gehabt hätte. Er holte tief Luft und schoss einen regenbogenfarbenen Psystrahl auf den Gegner, bevor der sich wieder erholen konnte. Volltreffer! Die Attacke verursachte keine sichtbaren Wunden, dennoch war ihre Wirkung fatal. Die Zikade fiel zu Boden und begann orientierungslos zu zucken. Mit einem schnellen Sprung, stürzte sich Miure auf den Käfer, packte ihn mit den Vorderpfoten und biss ihm in den Bauch. Die Fangzähne des Psychokaters drangen kaum durch den Chitinpanzer, dennoch schmeckte er Blut. Sein Gegner wehrte sich noch einige Sekunden, dann wurde er ruhig.
Miure legte sein Opfer ab und starrte es eine Zeit lang an. Für einen kurzen Moment empfand er Mitleid mit der blutenden und bewusstlosen Kreatur, doch am Ende übernahm sein Ekel die Oberhand. Er erschauderte heftig, trat ein paar Schritte zurück und spuckte mehrmals, um diesen grässlichen Geschmack loszuwerden.
Schließlich wurden Miure auch seine eigenen Verletzungen wieder bewusst. Er hatte eine Vielzahl von Kratzern an beiden Seiten, von denen einige auch bluteten. Außerdem hatte er bei seiner Rutschpartie am Boden Sand in die Wunden bekommen, die nun immer stärker zu brennen begannen.
Miure wollte sich schon seine Wunden lecken, da sah er in den Augenwinkeln etwas aufblitzen. Reflexartig sprang der Psychokater beiseite, als eine scharfe Klinge an seiner Kehle vorbeiraste - So knapp, dass er den Luftzug spürte. Das Psiana landete auf der Seite und schrie, als sich der Schmerz seiner Wunden vervielfachte. Dennoch rappelte es sich hoch und wandte sich auf wackeligen Beinen dem Angreifer zu. Miure hatte den Fahrer vollkommen vergessen. Der stand ihm nun mit einem langen Feldmesser in der Hand gegenüber.
Das Psiana fauchte und duckte sich leicht, während es seinen neuen Gegner beäugte. Pochende Pein zu beiden Seiten raubte ihm die Konzentration, doch er zwang sich seine Sinne auf den Fahrer zu richten. Als der wie ein Raubtier vorwärts sprang, konnte Miure nur mit Mühe ausweichen, doch bei der Landung drehte er sich sofort um und schoss eine Konfusion auf den Fahrer ab. Die schwache Psychoattacke ließ den Gegner nur erschaudern, gleichzeitig lockerte er jedoch seinen Griff. Miure konzentrierte sich auf das Messer in seiner Hand. Wie zuvor bei dem Gewehr, wurde die Waffe von einem bläulichen Schimmer umhüllt, um dann aus der Hand ihres Besitzers gerissen zu werden und einige Meter weit weg zu fliegen. Der Fahrer fluchte laut und wollte sich nun mit bloßen Händen auf das Psiana stürzen. Miure feuerte sofort einen Psystrahl ab, der den Gegner mitten ins Gesicht traf und ihn ausknockte. Als der schwere Körper weiter auf Miure zuflog sammelte er seine Kräfte für eine weitere Psychokinese, die den Menschen augenblicklich zu Boden drückte, wo er regungslos liegen blieb.
Zur selben Zeit stürzten sich auch Seth und Mafed auf die anderen beiden Schmuggler. Der mit der Ballschachtel zog sich sofort zurück und ließ dem ehemaligen Gewehrschützen den Vortritt. Mafed sprang ihn an und landete so heftig auf seinem Oberkörper, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Der Unlichtkater begann mit Zähnen und Krallen auf den Kopf des Mannes einzuschlagen, der sich wiederum mit seinen Fäusten werte. Schließlich ließ sich der Kerl nach vorne fallen, in einem Versuch das Nachtara zu erdrücken, doch dieses sprang von ihm weg, nur um sich sofort wieder auf seinen am Boden liegenden Gegner zu stürzen. Die beiden verfielen in einen Ringkampf und rollten fauchend und schreinernd über den Boden.
Der Kerl mit der Beute hatte inzwischen Reißaus genommen. Wie ein Elezard flitze er über den kargen Boden, gefolgt von Seth, der nur mit Mühe mithalten konnte. Seine Platauschuhe bremsten ihn ab, auch wenn sie seine Füße vor Verbrennungen bewahrten. Doch er wusste, dass der Schmuggler dieses Tempo nicht lange durchhalten konnte – und das hatte er auch gar nicht vor.
Der Mann blieb schlagartig stehen, drehte sich noch im Rutschen um und warf den goldenen Pokéball. Seth blieb ebenfalls stehen und beobachtete, wie sich das Pokémon materialisierte. Ein Lächeln trat ihm ins Gesicht – da war ihre Beute. Ein länglicher Körper aus hartem Metall, dessen Form entfernt an eine Hantel erinnerte, schwebte unruhig in der Luft. Der kugelförmige Kopf enthielt ein einziges rotes Auge und drei gelbe Krallen ragen aus der Rückseite. Manche erkannten diese Kreatur vielleicht als den Arm eines Metang oder das Bein eines Metagross. Tatsächlich handelte es sich um ein Tanhel – und zwar ein ganz besonderes. Normalerweise waren diese Pokémon von dunkelblauer Farbe (gelegentlich auch etwas heller), doch dieses hier glänzte in einem silbernen Farbton – ein schillerndes Pokémon.
Der Schmuggler zeigte auf Seth und rief: "Los Tanhel, Bodycheck!" Das Eisenkugel-Pokémon zögerte kurz, doch dann schoss es wie eine Gewehrkugel auf Seth zu. Der bückte sich leicht nach vorne, um kurz vor dem Aufprall nach links zu springen. Das Tanhel schoss an ihm vorbei und flog eine 180 Grad Kurve um Seth von hinten anzugreifen. Letzterer drehte sich um und griff in die rechte Tasche seines Mantels. Als das Pokémon wieder auf seinen Oberkörper zuschoss, duckte er sich nach rechts, doch diesmal streckte er die linke Hand aus und packte das vorbeifliegende Tanhel an seinem Kugel-Kopf. Der Schwung des schweren Metallblocks riss ihn mit und Seth musste sich mit aller Kraft festhalten, während er über den staubigen Boden gezogen wurde. Das Zusatzgewicht bremste das schillernde Tanhel ab, doch noch während des Flugs zog der Teenager ein kleines Gerät aus der Manteltasche. Es hatte eine Antenne wie ein Handfunkgerät, jedoch fehlten Lautsprecher und Mikrofon. Seth legte einen Schalter um, worauf er und das Eisenkugel-Pokémon augenblicklich zu Boden gingen. Letzteres fiel in den Sand und blieb regungslos liegen, während sein eines Auge wie wild zuckte.
Seth erhob sich und wandte sich wieder dem Schmuggler zu. Der starrte ihn verblüfft an und fragte "Hey, was soll der Scheiß? Wie hast du Das gemacht?" Seth antwortete mit einem Tonfall, als ob er aus einem Buch vorlesen würde: „Tanhel, Eisenkugel-Pokémon. Um mit seinen Artgenossen zu kommunizieren, setzt es Magnetwellen ein. In seinem Körper sind alle Zellen magnetisch.“ Mit normaler Stimme fügte er hinzu: „Sie können elektromagnetische Wellen fühlen, weil dadurch sprechen. Wenn sie aber zu nah an einen Störsenders geraten …“ Er hielt das Gerät in seiner Hand hoch. „… werden ihre Sinne überlastet. Sie verlieren die Orientierung und werden völlig wehrlos.“ Während er das sagte erschienen seine beiden Pokémon zu seinen Seiten. Beide sahen etwas lädiert aus, schienen aber wohlauf zu sein. Mit einem Lächeln auf den Lippen gab er ihnen ein Zeichen und deutete auf den Schmuggler. Beide Evolitionen luden ihre Attacken auf und feuerten. Ein vielfarbiger Psystrahl und eine hellblaue Kraftreserve trafen den Mann direkt in die Brust. Er fiel nach hinten um und blieb regungslos liegen.
Seth sah sich noch einmal um, um zu wissen, was mit den anderen beiden Männern geschehen war. Beide lagen bewusstlos am Boden, außerdem lag ein ausgeknocktes Ninjask neben dem Fahrer. Er schob sich die Wüstenbrille zurück in die Haare und offenbarte einen zufriedenen Blick. Schließlich beugte er sich zu den beiden Katern hinunter und streichelte ihnen über die Köpfe "Gut gemacht" Beide Pokémon schnurrten leise und kniffen zufrieden die Augen zusammen. Während er die Kuschelbedürfnisse seiner Partner befriedigte, begutachtete Seth auch deren Verletzungen. Mafed hatte nur eine gezerrte Schulter, aber Miure hatte ein paar üble Kratzer an den Seiten abbekommen. Diese Wunden mussten unbedingt versorgt werden. Doch als er die Verletzungen nur etwas zu lange betrachtete, fauchte das Psiana und warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu: "Später."
Der Trainer nickte, auch wenn er sich dabei nicht wohl fühlte. Miure und seine Verletzungen, seine Ängste und Schwächen waren immer so eine Sache ... Eine komplizierte Sache.
Resignierend blickte er sein Psiana an, dann flüsterter er den Beiden etwas in die Ohren: "Okay, ihr wisst was ihr zu tun habt." Beide nickten und wandten sich um.
Miure und Mafed begaben sich zu dem Schmuggler, den sie gerade ausgeknockt hatten. Dabei bemerkte Miure, dass Mafed leicht hinkte. "Bist du verletzt?", fragte er seinen Bruder. Ohne auf eine Antwort zu warten beugte er sich hinüber und schnupperte an der Schulter des Nachtara. Ein Muskel war leicht geschwollen, und heiß.
"Der Kerl hat mir fast das Bein ausgerissenen. Aber es geht schon", antwortete Mafed.
Da war Miure anderer Meinung. So eine Verletzung sollte man kühlen und das entsprechende Körperteil auf keinen Fall belasten. Miure deutete ihm stehen zubleiben. Das Nachtara tat wie geheißen, allerdings warf es dem Psiana einen eindringlichen Blick zu.
Es war direkt unheimlich. Obwohl Mafed keine Gedanken lesen konnte, schienen seine Augen das Psiana zu durchbohren. Als er sprach war seine Stimme völlig ruhig und er strahlte eine geradezu furchteinflössende Ernsthaftigkeit aus: "Mir geht’s gut. Seth wird sich darum kümmern und wir werden die nächsten paar Stunden im Motorrad verbringen. Danach ist meine Schulter längst wieder heil." Sorgenvoll fügte er hinzu: "Aber was ist mit dir? Diese Kratzer sehen schlimm aus."
Miure fühlte einen Stich in seiner Brust. Ärger durchflutete ihn und verdrängte die Sorgen um seinen Bruder fast vollkommen. Missmutig wandte er den Kopf zu seinen eigenen Wunden. Die waren beileibe nicht so schlimm wie es den Anschein hatte. Zumindest redete er sich das ein, während er den brennenden Schmerz ausblenden versuchte.
Mafed war da offensichtlich anderer Meinung. "Diese Wunden sind dreckig und voller Sand. Das kann sich entzünden." Das Nachtara wollte die Kratzer näher betrachten, doch Miure zuckte weg. "Schon okay!", erwiderte er etwas zu scharf als er gewollte hatte.
Das Psiana ging weiter, schneller als vorher, als wollte es vor dem Nachtara davonlaufen. Tatsächlich hatte er keine Lust dieses Gespräch fortzusetzen. Warum machten sich immer alle solche Sorgen um ihn? Ja, er war verletzlich; ja, er war leicht zu verunsichern; ja, er hatte eine Käferphobie ... Aber warum bei aller Freundschaft mussten Seth und Mafed ihn ständig bemuttern? Vor allem weil sich die Drei sonst so gut verstanden. Sie waren ein Team, eine Familie und sie vertrauten einander - aber warum nicht jetzt?
In Gedanken versunken wäre Miure fast über den Schmuggler gestolpert, auf den sie zugelaufen waren. Mafed war direkt hinter ihm. Zum Glück sparrte er sich weitere Kommentare, auch wenn er seinen Bruder scharf beäugte.
Die beiden taten nun etwas, das für sie schon fast zur Routine geworden war. Mafed stellte sich hinter den Kopf des Mannes und drehte ihn mit den Vorderpfoten, sodass der Bewusstlose nach oben schaute. Dann stütze er sich auf der Stirn des Mannes ab, um ihm mit den Krallen vorsichtig die Augenlider hochzuziehen. Miure sprang dem Schmuggler auf die Brust und richtete seinen Blick auf dessen bewegungslose Augen. Er beugte sich tief vor und konzentrierte sich – die Perle in seiner Stirn leuchtete leicht auf und ein bläulicher Schimmer trat in seine Augen.
Die Umgebung schien sich aufzulösen. Sein Blickfeld verschwamm, er hörte und roch fast nichts mehr. Seine physischen Sinne wurden heruntergefahren, um Hirn-Ressourcen für eine völlig andere Form der Wahrnehmung freizumachen.
Bewegte Bilder durchströmten den Verstand des Psycho-Pokémons. Erinnerungen, die nicht die Seinen waren.
Das Psiana sah Seth vor sich stehen, allerdings aus völlig ungewohnter Perspektive - Er blickte auf seinen Trainer herab und der schaute mit höhnischem Lächeln zurück.
Der Kater war besorgt (obwohl er wusste, dass Seth nichts passiert war), doch seine eigenen Gefühle wurden überstrahl von dem was der Schmuggler in diesem Moment empfunden hatte. Miure spürte seine Wut über auf dieses Fast-noch-Kind, dass ihn und seine Kumpanen völlig überrumpelt hatte. Dazu kamen Staunen und Entsetzen, nachdem selbst ein Sturmgewehr den Bengel nicht aufhalten konnte.
Miure schritt in der Erinnerung voran und erlebte den Kampf zwischen Seth und dem Tanhel aus der Gegnerperspektive. Er sah wie geschickt sich der Trainer wehrte und die vorher abgesprochene Strategie in die Tat umsetzte. Da konnte sich so manches Pokémon ein Beispiel nehmen. Selbst der Schmuggler war beeindruckt. Vor allem war er jedoch entsetzt, als das schillernde Pokémon außer Gefecht gesetzte wurde. Dann machte sich der Räuber auch noch über sie lustig, indem er seinen Trick verriet.
Schließlich sah Miure sich selbst und Mafed an Seths Seite erscheinen. Dann wurde die Erinnerung verschwommen, lückenhaft, bevor sie schlagartig endete. Es blieb nur ein Hauch von Freude. Das Psychopokémon hielt inne. "Freude? Worüber denn?" Er sah sich das Gefühl näher an. Die Emotion führte ihn zu einer weiteren Erinnerung, die schon ein paar Tage alt war.
"Scheiße!" rief Miure, immer noch in der imaginären Welt des Geistes. "Wie konnte das passieren? Das muss ich Seth sagen!" Hastig begab er sich zurück zur Erinnerung an den Kampf. Eigentlich dürfte ihn all das nicht überraschen. Er hatte ja vorhergesehen, dass etwas schief laufen würde. Aber das hatte er auch nicht erwartet. Er erreichte wieder den Ort, in dem die jüngsten Erinnerungen abgelegt waren. Der Teil des Kurzzeitgedächtnisses, der noch nicht fest gespeichert war. Der Teil, den er noch mit einfachen Mitteln bearbeiten konnte. „Die letzte Viertelstunde – vergiss sie!“ Mit diesen Worten schoss das Psiana eine Welle ab, die sich nach allen Seiten ausbreitete. Die Erinnerungen um es herum lösten sich auf, wie Papier im Wasser. Nur kleine Fetzen blieben übrig, aber die würden auch bald verschwinden. Schließlich löste Miure die Verbindung und ehe er sich versah, fand er sich in der physischen Welt wieder.
Während Miure und Mafed Zeugen beseitigten, begutachtete Seth ihre Beute. Er beugte sich zu dem Tanhel hinunter, das immer noch regungslos am Boden lag und strich mit einer Hand über das kalte Metall. Diese Pokémon waren in der Wildnis sehr selten. So selten, dass sie unter Artenschutz standen. Man durfte sie nicht fangen oder Handel mit ihnen betreiben, außer man hatte eine behördliche Genehmigung. Aber dieses Trio hatte sicher keine.
Durch ihre Rarität und die strikte Regulierung hatten Tanhel einen enormen Schwarzmarktwert. Beim richtigen Abnehmer konnte man dafür 5 Riesen bekommen. Und ein schillerndes Exemplar würde mindestens das zwanzigfache einbringen. Leider würde Seth nicht viel von dem Geld sehen. Das meiste davon ging an jemand anders. "Das Team Krall. Die bekannteste Verbrecherbande von ganz Orre - aber leider auch die dämlichste." Beim Gedanken an sein Team blitzte Zorn in ihm auf. "Ein Haufen unprofessioneller Möchtegern-Gangster mit mehr Haaren als Hirn."
Seth richtete sich auf, blickte jedoch weiter auf das Shiny-Tanhel. Er war das einzige Teammitglied, dass solche Ware krallen konnte. Die anderen waren zusehr damit beschäftigt, zehnjährige Trainer oder Pokésenioren auszurauben. Wütend wandte er den Blick ab und schaute zu seinen Katzen, die gerade die Erinnerungen seines Gegners löschten. Die anderen Team-Krall-Mitglieder machten sich über ihn lustig, weil er auf solche Maßnahmen bestand. Sie hielten nichts von Diskretion. "Grad' dass sie ihre Coups nicht filmen und die Videos auf Facebook posten." Beim diesem Gedanken könnte man schmunzeln, wenn es nicht todernst wäre. "Wie bei dem Kerl, der sich in der Wüstenbar besoffen und dabei mit seinem letzten Überfall geprallt hat. Und er hat nicht gemerkt, dass zwei Highway-Cops gleich hinter ihm saßen."
Allein die Vorstellung das er mit solchen Leuten in einem Atemzug genannt wurde, ließ Seths Blutdruck steigen. Doch das war nicht das Schlimmste. Bei weitem nicht. Der Teenager wurde rot im Gesicht und ballte die Hände zu Fäusten. Nichts kam an die Demütigung heran, die er von einigen Wochen erfahren musste und an die er jeden Tag aufs neue erinnert wurde. Die Sache mit der Krallmaschine ...
Ein lautes Mauzen riss ihn aus seinen Gedanken. Miure kam angelaufen, dicht gefolgt von Mafed. Das Psiana stellte sich neben das Tanhel und begann eindringlich auf Seth einzureden. Er verstand natürlich kein Wort – für ihn waren Miures Laute nur eine Mischung aus Miauen, Fauchen und den Silben von Psiana. Allerdings war es nicht schwer zu verstehen, dass das Pokémon sauer war.
Plötzlich begann Miure, seine Krallen über die silberne Haut des Tanhel zu ziehen. Entsetzt stieß Seth sein Psiana beiseite, doch der Schaden war schon angerichtet. Miure hatte doch tatsächlich Kratzer hinterlassen! Für einen unendlich kurzen Moment wollte Seth seinem Pokémon an den Hals gehen, doch dann setzte sein Verstand wieder ein. "Moment … Kratzer?" Er begutachtete noch einmal das Eisenkugel-Pokémon. Die Furchen waren dunkelblau – die normale Farbe eines Tanhel. Ohne nachzudenken ritzte er mit den Fingernägeln in Miures Kratzspur weiter. Das Silber verschwand und weiteres Blau kam zum Vorschein. Er hob die Hand und stellte fest, dass er nun silberne Streifen unter den Fingernägeln hatte. Da dämmerte es ihm.
"LACK!" schrie er wie ein Irren, während er aufsprang. "Das scheiß Vieh ist lackiert worden!" Rasend vor Wut trat er gegen das gefärbte Tanhel, doch dieses bewegte sich kaum; Dafür brach sich Seth fast die Zehen. Er biss die Zähne zusammen und wandte sich zu seinen Katzenpokémon "Los, wir sehen zu, dass wir wegkommen!"
[tabmenu][tab=Hintergrund]Die Ereignisse in diesem Kapitel sind frei erfunden. Nichts davon kommt in Pokémon Coloseum vor. Tatsächlich gibt es im Spiel nur weinige Fakten über Seths Vergangenheit und seine Arbeit beim Team Krall.
Man erfährt nicht weshalb er dem Team beigetreten ist oder wie sein Leben bei der Gruppe ausgesehen hat. Fakt ist allerdings, dass er ein sehr erfolgreiches Mitglied war ("...die beste Kralle im ganzen Team Krall..."), obwohl er anscheinend keinen besonders hohen Rang hatte.
In diesem Kapitel versuche ich einen Teil der oben genannten Lücken zu schließen, indem ich einen typischen Raubzug von Seth beschreibe. Im Gegensatz zu diesem Beispiel hier, dürften die meisten seiner Beutezüge jedoch erfolgreich gewesen sein.
Bei der Auswahl der Beute für diesen Überfall bin ich schon ziemlich früh auf ein Shiny gekommen, ganz einfach weil es etwas besonderes sein sollte. Tanhel habe ich gewählt, weil diese Pokémon sowieso schon schwer zu finden sind. In den Spielen sind sie extrem selten, oft bekommt man sie nur über besondere Ereignisse (zum Beispiel als Geschenk, beim In-Game-Tausch oder im Traumradar). Wenn sie fangbar sind haben sie dieselbe Fangrate wie legendäre Pokémon. Das alles dürfte ein schillerndes Tanhel unglaublich wertvoll machen - wenn es doch nur so wäre. Denn tatsächlich ist die Beute ein normales Tanhel, das einfach nur in seinen Shiny-Farben lackiert wurde.
Der goldene Pokéball in dem das gefälschte Tanhel steckt sollte eine Anspielung auf die Folgen "An Bord der M.S. Anne" und "Das Schiffswrack" des Pokémon-Anime sein. In ersterer Episode lässt sich James von Team Rocket unter wahnwitzigen Versprechungen ein Karpador andrehen, dass ebenfalls in einem goldenen Pokéball steckt.
Leider ist mir an dieser Stelle ein Fehler unterlaufen. Ich meinte mich zu erinnern, dass James ein gefälschtes Shiny-Karpador gekauft hat. Tatsächlich war es jedoch ein völlig normales Karpador, ohne gefälschte Farbe. Wahrscheinlich ist mir das passiert, weil der Karpador-Händler tatsächlich einmal mit einem schillernden Exemplar zutun hatte, allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang. Das kommt davon, wenn man seine Fakten nicht ordentlich recherchiert. ;D
[tab=Titel]
Der Titel "grand theft pocket monster" ist natürlich eine Anspielung auf die Videospielreihe "grand theft auto" (oft abgekürzt als GTA) von Rockstar North. "grand theft auto" heißt übersetzt soviel wie Schwerer Autodiebstahl oder Schwerer Kraftfahrzeugdiebstahl. Dieses Kapitel heißt somit Schwerer Pokémondiebstahl. Dabei habe ich die englische Bezeichnung pocket monster verwendet, weil sie besser zum englischen grand theft passt (obwohl man selbst im englischen Sprachraum Pokémon sagt).
Die Gemeinsamkeit zwischen GTA und Pokémon Colosseum besteht darin, dass man in beiden Spielen in die Rolle eines mehr oder weniger kriminellen Charakters schlüpft. In Colosseum muss man ständig Pokémon anderer Trainer krallen (=stehlen) und die Spielfigur war schon vor der Handlung des Spiels ein erfolgreicher Dieb. Allerdings begeht man in GTA mitunter Verbrechen von ganz anderem Kaliber - Autodiebstahl ist da garnicht erwähnenswert.
[tab=Seth]
Character
Wie bei allen Pokémon-Spielen verfügt die Spielfigur von Pokémon Colosseum über keinerlei eigene Persönlichkeit. Der Character von Seth ist daher mehr oder weniger frei erfunden.
Soweit ich weis, gibt es einen Manga zu Pokémon Colosseum, in dem Seth bzw. Wes natürlich über eine echte Persönlichkeit verfügt. Leider habe ich bisher erfolglos nach diesem Manga gesucht.
Im Spiel gibt es allerdings einige subtile Elemente, die Hinweise auf Seths Character liefern könnten. Da wäre zum einen seine Mimik, die man während des Einführungsvideos beobachten kann. Auf mich wirkte er dabei sehr selbstsicher, geradezu arrogant. Im Spiel selbst, sowie auf offiziellen Artworks hat er immer einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt, was in starken Kontrast zu den meist zufrieden dreinschauenden NPCs steht. Ich stelle mir deshalb vor, dass er die meiste Zeit ein eher unnahbares und introvertiertes Auftreten an den Tag legt. Wenn er aber kämpft und sich seiner Sache sicher ist, kann sein Verhalten zu Arroganz umschlagen. Mehr findet man im Spiel leider nicht - zumindest habe ich es nicht gefunden.
Letztendlich werde ich mir den Großteil von Seths Character wohl selbst ausdenken müssen. :S
Seths Motorrad
Im Spiel besitzt Seth ein sehr futuristisches "Schwebemotorrad". Ich habe mich entschieden, diese Maschine nicht in meine Fanfiktion aufzunehmen und Seth stattdessen ein normales Motorrad zu geben. Passend dazu werde ich auch andere Schwebefahrzeuge aus dem Spiel durch normale, bodenberührende Fahrzeuge ersetzen.
Ein Grund für diese Änderung besteht darin, dass diese Fahrzeuge meiner Ansicht nach nicht in den Kontext der Pokémon-Welt passen. In allen anderen Spielen, sowie im Anime von Pokémon kommen fast ausschließlich normale Fahrzeuge vor (sofern man die verrückten Maschinen von Team Rocket im Anime nicht mitzählt). Abgesehen davon halte ich Schwebefahrzeuge selbst bei den technischen Möglichkeiten der Pokémon-Welt für unrealistisch.
[tab=Miure und Mafed]
Die Spielfigur von Pokémon Colosseum besitzt ein Nachtara und ein Psiana als Starter-Pokémon. Abgesehen davon, spielen die beiden keine besondere Rolle. In dieser Fanfiction werde den beiden allerdings eine wichtigere Position geben. Wie in diesem Kapitel werde ich die Geschichte zeitweise aus ihrer Sicht erzählen.
Im Spiel wird angedeutet, dass Seth schon sehr lange mit seinem Nachtara und Psiana zusammen ist. So findet sich im Bericht-Bildschirm beider Pokémon die Anmerkung "Mit Seth gut befreundet". Ferner haben die Beiden auch einen Ehrenplatz am Startbildschirm.
Ich habe dem Psiana Miure eine Angst vor Insekten bzw. Käfer-Pokémon (Akarophobie) gegeben. Natürlich ist es nachvollziehbar, dass ein Psycho-Pokémon eine gewisse Abneigung gegen solche Kreaturen empfindet. Bei ihm wird es allerdings krankhafte Züge annehmen.
[/tabmenu]