Informationen zur Wettbewerbssaison 2012

Wir sammeln alle Infos der Bonusepisode von Pokémon Karmesin und Purpur für euch!

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  • [tabmenu][tab=Information]
    [subtab=Allgemeines]
    Gewinner des 19. Wettbewerbes. - Saison 2012
    Freies Gedicht
    Informationstopic
    Votetopic
    [tab=1. Platz][subtab=Pika!]
    Glückskinder
    Es war einmal, vor langer Zeit:
    In einem Land, von hier nicht weit,
    lebten zwei Findelkinder klein
    im gülden strahlend‘ Sonnenschein.


    Der Vater tot, die Mutter fort,
    kannte ein jeder sie im Ort
    aufgrund geschehener Dinge
    als die Glücklichen Zwillinge.


    Das erste Glück lag auf der Pirsch:
    Begegnung mit dem stolzen Hirsch.
    Der Junge traf mit einem Schuss,
    sehr zu des Altjägers Verdruss.


    Dann, nur im folgenden Frühjahr,
    rettete aus dem Zwillingspaar
    die Schwester dem Königssohne
    mit dem Leben auch die Krone.


    Das Dritte hatte bestanden,
    als sie eine Höhle fanden.
    Und keiner wusste zu sagen,
    warum Goldschätz‘ darin lagen.


    Als Glückliche war’n sie bekannt,
    weil niemand Glück so recht verstand.
    Denn verborgen in beider Herz
    saß schon immer ein tiefer Schmerz.


    Hatten die Eltern verloren
    und waren doch auserkoren,
    dass falsches Glück wanderte mit
    überallhin, bei jedem Schritt.


    Doch obwohl sie mussten leiden,
    gaben sie sich ganz bescheiden.
    Lebten fort in dieser Lage
    bis ans Ende ihrer Tage.


    [tab=2. Platz][subtab=Misana]
    Wenn und Dann
    Wenn ein Blatt die Farbe ändert,
    Dann ändert sich die Welt,
    Dann werden Winde stärker,
    Ein seichter Regen fällt.


    Wenn der Schnee vom Himmel segelt,
    Dann wird alles still und kalt.
    Und unter weißen Decken
    Da schläft der kahle Wald.


    Wenn die ersten Knospen sprießen,
    Dann erwacht das ganze Land,
    Erstrahlt in neuem Leben,
    In grünendem Gewand.


    Wenn die Schmetterlinge fliegen,
    Dann kommt die Farbenpracht;
    Ein Meer aus tausend Sinnen
    Durchströmt die warme Nacht.


    Und immer scheint die Sonne
    Und jeder einz'lne Sonnenstrahl
    Zeugt von ihrer Schönheit,
    Zeugt von ihrer Qual.


    Ein ewig langer Kreislauf,
    Ein ständig Wenn und Dann,
    Ein Netz aus Tod und Leben
    Und das von Anfang an.


    Und immer bricht die Sonne
    Durch die Wolkenwand hervor,
    Erleuchtet Wald und Wiesen
    Und öffnet uns das Tor.


    Sie lässt uns Hoffnung schöpfen,
    Wenn wir sie nur versteh'n,
    Den Horizont erweitern
    Und neue Wege geh'n.


    So dreht das Rad der Zeiten,
    Doch zählt das Jetzt und Hier.
    Entziehen ist unmöglich,
    Doch leben können wir.


    [tab=3. Platz][subtab=Cyndaquil]
    Sterngucker
    Deine Hand will ich spüren;
    In meiner, um dich zu führen,
    Eine Nacht lang durch meine Welt.
    Ich hoffe, dass es dir gefällt.


    Kalt ist die nächtliche Luft,
    Überall dieser vertraute Duft.
    Deine Stimme an meiner Seit’.
    Nein, es ist nicht mehr weit.


    Siehst du die große Wiese dort?
    Dies ist ein ganz besond’rer Ort.
    Hier komm ich her, um die zu sehen,
    Die stumm am Himmel stehen.


    Sie haben uns viel zu erzählen
    Und wir können frei wählen,
    Welchem Stern wir zuerst lauschen,
    Wenn die Bäume im Wind rauschen.


    Ich werde im Gras einschlafen,
    Bei meinem sicheren Hafen,
    Deinen Herzschlag in meinem Ohr,
    Geborgen wie in einem Fort.


    [/tabmenu]

  • [tabmenu]
    [tab=Information]
    [subtab=Allgemeines]
    Gewinner des 20. Wettbewerbes. - Saison 2012
    Freie Kurzgeschichte
    Informationstopic
    Votetopic
    [tab=1.Platz]
    [subtab=Aprikose]


    Das Regenwolkenmädchen


    »… Wünsche gehören den Menschen, sie zeichnen sie aus, definieren sie, halten sie zusammen. Hoffnung ist der Treibstoff der Träume.«
    Ich sah gelangweilt von meinem Buch auf, da gerade zwei Mädchen durch den Eingang die Bibliothek betraten und die sägende Ruhe durchbrachen. »Ich hasse dieses Wetter«, zischte die eine flüsternd zur anderen, als sie ihren vor Nässe völlig durchweichten Anorak auszog und ihn an einen Haken hängte, wo er sich munter daransetzte, den Teppich unter sich zu bewässern. »Ich glaube, es hat seit Semesterbeginn keinen Tag gegeben, an dem es nicht geregnet hat!«
    Die andere nickte ihr zu, verhielt sich allerdings deutlich leiser. Beide waren Kommilitoninnen von mir und als sie mich sahen, winkten sie mir kurz zu, schritten dann aber davon in einen hinteren Teil der Bibliothek. Ich wollte mich wieder meinem gähnenerregenden Buch zuwenden, doch nach ein paar Sätzen öffnete sich die Tür erneut. Beim Aufschauen bemerkte ich, dass die Sitzplätze schon größtenteils besetzt waren und mein Tisch als einziger noch halbwegs leer anmutete, zumindest, wenn man von meiner eigenen hageren Gestalt und meinem bescheidenen einen Buch vor mir absehen konnte. Das Mädchen, das erneut meine Konzentration durchbrochen hatte, verhielt sich sehr ruhig. Sie legte ihre Jacke ab und schlich dann beachtlich leise zwischen den Regalen umher. Nach kurzer Zeit hatte ich sie aus dem Blick verloren. Ihre Gestalt lenkte mich ab, sodass ich mich unbewusst zurücklehnte und in Gedanken versank. Kein Schritt war aus dem Bücherlabyrinth zu vernehmen, sie trug keine nervigen Pumps, sondern weiche, leise Sandaletten. Ihr eleganter, weiter Rock verhinderte ein lautes Schaben, das beispielsweise eine Jeans verursacht.
    Es ist kaum so, dass es mich kümmert, ob jemand in der Bibliothek laut ist oder nicht, auch wenn ich vielleicht einen gegenteiligen Eindruck erwecke. Ich nutzte nur jede Möglichkeit, mich von meinem Buch ablenken zu können. Meiner Erfindung nach sollte das Schreiben langweiliger Bücher oder Geschichten unter Strafe gestellt werden, doch da ich mich gerade offensichtlich selbst als Geschichtenerzählerin versuche, sollte ich den Mund vielleicht nicht so voll nehmen.
    Jedenfalls riss es mich jäh aus meinem unsinnigen Gedankengang, als ich hörte, wie vor mir ein Stuhl verschoben wurde. Ich sah auf und erkannte das nasse, leise Mädchen, wie es sich mit einem schweren Buch zu mir gesellte. Als sie es vor sich ablegte, erwartete ich zunächst einen lauten Knall, doch stattdessen glitt das Buch schweigsam wie eine Muschel auf den Tisch.
    Das Buch wurde aufgeschlagen und es wurde begonnen, darin zu lesen, und ich rede deswegen im Passiv, weil nicht der geringste Laut vom Mädchen ausging, als ob sie gar nicht existiere. Ihre langen, dunklen Haare trieften vor Nässe, fast so, als wäre sie gerade aus der Dusche gestiegen. Teilweise konnte ich ihr auf die Kopfhaut sehen, da ihr Haar sich in Bündeln an ihrem Haupt abseilte und Rock und Tisch fröhlich mit kleinen Wassertropfen bombardierte.
    Aus mir unbekannten Gründen faszinierte mich dieses unscheinbare Wesen so sehr, dass ich meine verhasste Lektüre völlig verdrängte und sie nur noch als Alibi verwendete, um knapp daran vorbei meinen Blick auf diese Wasserprinzessin zu lancieren. Ich geriet schnell zu der Auffassung, dass ich mich als Junge wohl sehr leicht in sie verliebt hätte.
    Nach einer Weile entschloss ich mich, weiter mein Buch zu lesen, doch kurz darauf machte sie sich ohnehin wieder auf den Weg. Ich nahm dies zum Anlass, mein Buch auszutauschen und mir statt der Pflichtlektüre irgendetwas zu Gemüte zu führen, das mich tatsächlich interessierte. Doch direkt als ich aufstand, löste sich ein Magenknurren, das mich vor Peinlichkeit direkt wieder auf meinen Platz zurückversetzte.Blut pumpte durch meinen Körper und ich lief rot an, vermutlich völlig unbegründet, da ich zumindest nicht glaube, dass sich irgendjemand durch ein kurzes Magenknurren gestört fühlte. Dennoch entschied ich mich, die Bibliothek vorerst zu verlassen und etwas zu essen.
    Draußen angelangt erlebte ich eine Überraschung: Die Nymphe saß auf der Bank vor der Bibliothek – mitten im gießenden Regensturm – und ließ sich berieseln. Der Kälte entsprechend zitterte sie ein wenig, saß jedoch unbekümmert mit geschlossenen Augen einfach da und schien den Regen zu genießen. Diese Situation barg für eine heute für mich nicht nachvollziehbare Komik. Von meinem kurzen, unterdrückten Lachen aufgeschreckt sah sie auf und blickte mich an, recht schnell wandte sie aber ihren Blick wieder ab und richtete ihn zu Boden.
    Aha!, dachte ich. Asozial.
    Meine Toleranz nötigte mich, nachvollziehen zu können, was daran so toll sein sollte, im Regen auf einer Bank zu sitzen, und aus der Tatsache, dass sie sich ganz links auf die Bank gesetzt hatte, anstelle sie komplett mittig zu belegen, schloss ich, dass sie nichts dagegen hatte, wenn man sich zu ihr gesellte. Also ließ ich mich neben ihr nieder, bereits völlig belästigt von den schweren Klamotten, die begannen, sich an meine Haut zu kleben. Ein ähnlich unschönes Gefühl hinterließen meine kalten, nassen Haare auf meinen Wangen und in meinem Nacken. Relativ schnell wurde mir bewusst, dass es einfach gar nichts Schönes daran gab, im Regen auf einer Bank zu sitzen. Wirklich nichts.
    Doch es gefiel mir.
    »Wie spät ist es?«, fragte ich, nicht, weil es mich interessierte oder ich es nicht ohnehin schon wusste, sondern einfach, weil mir sonst nichts einfiel. Das Mädchen kramte ein altes Handy hervor und antwortete: »Etwas nach äh … eins.«
    Eine solche Zeitangabe hatte ich noch niemals gehört und ich wusste somit auch wenig damit anzufangen, also streckte ich ihr meine Hand entgegen und stellte mich vor.
    »Avissa«, antwortete sie und lächelte. »Bist du auch Studentin?«, fragte sie mich, ich nickte erfreut darüber, dass sie von alleine Fragen stellte.
    »Wird dir nicht kalt hier draußen?«
    Sie blickte mich mit einem traurigen Lächeln an, das fast wehmütig und wissend erschien und das ich nicht weiter deuten konnte. Eine Antwort erhielt ich darauf nicht. Ich spürte meinen Magen erneut grummeln, das Prasseln der aufmüpfigen Tropfen, die sich todesmutig auf die Erde stürzten, um die trockene Erde revolutionsartig ins Nasse zu bringen, überspielte das Geräusch gekonnt und ich dankte diesen Rebellen insgeheim dafür. Dennoch erinnerte es mich daran, weshalb ich die Bibliothek verlassen hatte.
    »Kommst du mit mir etwas essen, Avissa?«
    Diesen Namen auszusprechen kam mir merkwürdig vor, er wirkte so flüssig, doch ich hatte ihn noch nie zuvor gehört.


    Innerhalb der nächsten Tage traf ich mich noch öfter mit ihr. Wir lernten uns langsam kennen, mir fiel auf, dass sie nicht besonders viele Freunde hatte. Sie lebte alleine und verbrachte außergewöhnlich viel Zeit in der Bibliothek. Oft machte sie Anspielungen auf irgendwelche Bücher, von denen ich noch niemals gehört hatte.
    An einem Sonntag saßen wir vor einem Café neben zwei kleingehaltenen Platanen. Der Herbst zog langsam merklich ein, doch an diesen Bäumen, die ihr Leben lang vergeblich versuchten, sich eine stabile, haltbare Rinde aufzubauen, hatte er noch keine Spuren hinterlassen können. Auch heute platzten Ströme aus dem Himmel und regneten hernieder, nur aufgehalten vom umfassenden, gelben Sonnenschirm, der noch knapp über unsere Köpfe ragte. »Schon wieder dieses Mistwetter«, murmelte ich.
    »Ach was«, lächelte Avissa, aber wieder mit einer sachten Trauer in der Mimik. »Regen ist toll.«
    Ich dachte kurz darüber nach. »Ja, ich mag Regen auch«, antwortete ich ehrlich. Warum hatte ich überhaupt gesagt, dass ich ihn nicht mag? Vielleicht, weil ich erwartet habe, dass ihr das Wetter nicht gefällt?
    »Wenn du ihn magst, dann lass ihn uns genießen!«, lachte sie und stand auf. Sie zog mich an ihrem Arm und brachte mich dazu, ihr hinterherzuhechten. Wir liefen eine Weile durch die Stadt, vorbei an alten und neuen Häusern, vorbei an vielen Menschen und Läden, vorbei an allem, das der Regen mit sich wusch. Schließlich gelangten wir zu einem Park, als mir Bereits meine Unterwäsche vor Nässe eklig an der Haut klebte. Mit jedem Schritt quetschte sich Wasser aus den Socken, die der Regen trotz meiner Stiefel komplett durchgeweicht hatte. Als ich merkte, dass sie ihren Zweck ohnehin verfehlte, nahm ich die Kapuze meiner Regenjacke ab.
    Avissa hatte nie eine Kapuze getragen. In keinem unserer Treffen blieben wir vom Unwetter verschont, auch dann, wenn der Tag für mich morgens wolkenlos begann. Einmal hatte ich einen Regenschirm mitgenommen, doch Avissa weigerte sich konsequent dagegen, unter ihm zu laufen.
    Wir liefen aufs Gras und das Lächeln auf ihrem niedlichen, sommergesprossten Gesicht, dessen blasse Haut den Eindruck erweckte, als würde nie der kleinste Sonnenstrahl darauf scheinen, hätte Eisberge schmelzen können.
    Dann lachte sie einfach los und ließ sich mit einem lauten Platschen ins Gras fallen. Eiskalt zog sie mich dabei mit sich, sodass auch ich spritzend in Grünen versank. Vor Kälte zitterte ich mittlerweile am ganzen Körper, doch davon nahm ich kaum Notiz.
    Stattdessen legte ich mich ruhig auf meinen Rücken und schloss die Augen. Die hellen Wolken blendeten mich ohnehin und ich mochte das Gefühl nicht, wenn mir Tropfen in die Augen fielen.
    Es prasselte und platschte, entfernt hörte man das Rauschen vorbeifahrender Autos und über uns krähten ein paar Raben in den Bäumen und das Gurren einiger Tauben. Es roch so sehr nach Regen, dass ich meine Lungen mit jedem Zug weiter füllen musste, um meine Gier danach zu sättigen.
    Ich lachte. »Sag mal, warum regnet es eigentlich immer, wenn wir uns treffen?«
    Avissa drehte sich zu mir um. Wieder dieser Gesichtsausdruck. Genau der, den eine Babysitterin machen würde, wenn sie den Kindern erlaubt hätte, etwas durch und durch Blödes zu tun, wie beispielsweise Wasserbomben auf das Auto des verhassten Nachbarn zu werfen – eine eindeutige Freude am Geschehen zeichnete sich ab, aber auch eine gewisse Befürchtung oder Schuld.
    »Weißt du was ich glaube?«, antwortete Avissa. »Ich glaube, jeder Mensch hat einen Wunsch frei.«
    Ich verstand nicht richtig, worauf sie hinauswollte, also schwieg ich.
    »Egal was. Der erste Wunsch, den ein Mensch hat, der geht in Erfüllung. Wenn ein Kind das erste Mal eine Süßigkeit mehr haben will, oder so.«
    »Das klingt interessant. Dann frage ich mich, woran ich meinen Wunsch verschwendet habe. Was war denn deiner?«
    »Man sagte mir immer, ich wäre ein sehr bescheidenes Kind gewesen.«
    Ich hörte aus ihrer Stimme heraus, wie zuwider es ihr war, gut von sich selbst zu sprechen. Während der Zeit, in der ich sie kannte, hatte sie das noch nie getan. Ohnehin behielt kaum einer ihrer Sätze ein »Ich« inne.
    »Naja«, fuhr sie fort, »Früher, vor ein paar Jahren, hat mir meine Großmutter gesagt, ich wäre genau wie sie. ›Glaube mir, auch wenn du jetzt alles ablehnst, irgendwann wirst auch du einen Wunsch haben. Siehst du das?‹ Sie zeigte mir dann eine alte Taschenuhr, die in ihrer Hand lag. ›Als junges Mädchen habe ich mir gewünscht, sie niemals zu verlieren.‹ Dann drehte sie ihre Hand um, doch anstelle herunterzufallen, blieb die Uhr mit dem Schlüsselring an ihrer Hand kleben. Ich habe sie gefragt, wie sie das gemacht hat, aber sie hat es mir nicht verraten.«
    Mir gefiel diese Geschichte. Insgeheim suchte ich auch nach einer Möglichkeit, wie Avissas Großmutter dieses Kunststück hatte vollbringen können.
    »Jedenfalls …« Sie hielt kurz inne, so als ob sie sich überlegen musste, ob sie überhaupt fortfahren wollte. »Ich … habe mir gewünscht, dass es niemals aufhört, zu regnen.«
    Diese Worte wirkten ungemein kräftig auf mich, fast so, als würden sich meine Gedanken kurz gespannt zusammenziehen. Diesem merkwürdigen Gefühl folgte ein kurzer Schwindel.
    »Was meinst du?«, fragte ich mit belegter Stimme.
    »Es gibt nichts schöneres auf der Welt als Regen. Deswegen ist er mein ständiger Begleiter.«
    Als ich das Mädchen zum ersten Mal in der Bibliothek gesehen hatte, wäre mir niemals in den Sinn gekommen, dass es sich dabei tatsächlich um eine derart merkwürdige Person handelte. Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken und fragte sie: »Aber … wenn es für dich immer regnet … ist das dann nicht eintönig?«
    Ich zitterte mittlerweile ziemlich stark, sodass auch meine Stimme etwas wackelte. Avissa schüttelte sanft den Kopf.
    »Wirst du es nicht irgendwann … naja, leid?«
    Diesmal schüttelte sie den Kopf nicht. Sie seufzte. »Vielleicht ein bisschen, wenn ihr ehrlich bin. Aber ich bereue es nicht.«
    »Warum trägst du dann keinen Regenschirm? Keine Kapuze? Du wirst dich erkälten.«
    Jetzt lachte sie. »Du bist nicht die erste, die das sagt. Aber das möchte ich nicht. Der Regen ist mein Freund, ich kenne ihn schon gut und lange. Würde ich mich vor ihm schützen … nun ja, das fühlt sich an, als würde ich ihn verraten. Ich habe ihn mir gewünscht, jetzt kann ich ihn nicht abweisen!«
    Ich empfand es als sehr merkwürdig, dass sie die Tatsache, keinen Regenschirm zu verwenden, mit dem Argument der Höflichkeit abwehrte, doch mir blieb kaum etwas anderes übrig, als das hinzunehmen.


    Einige Tage vergingen, ohne dass wir uns sahen, dann trafen wir uns in der Bibliothek. Wieder regnete es und ich wartete, bis sie sich entschied, nach Hause zu gehen. Sie stand von ihrem Schreibtisch auf und winkte mir zum Abschied zu, dann wendete sie sich um und verließ den Raum. Ich lief ihr hinterher und nahm meinen Rucksack mit, ließ meine Jacke allerdings drinnen hängen.
    Kurz bevor sie unter dem Dachvorsprung des Eingangs nach draußen trat, rief ich ihr nach.
    Sie drehte sich um und lächelte.
    »Ich habe ein Geschenk für dich«, grinste ich und schritt auf sie zu. Dann kramte ich aus meinem Rucksack einen zusammenschiebbaren, schwarzen Regenschirm heraus. Ihre Miene veränderte sich nicht, als ich ihn ihr zuhielt.
    Sie schien nicht recht zu wissen, was sie tun sollte, also starrte sie kurz umher. Dabei wirkte sie leicht verwirrt, mit ihren während ihres Bibliotheksaufenthalts getrockneten, strohigen Haaren. »Das kann ich doch gar nicht …«, begann sie, aber ich unterbrach sie mit einem Lachen und einem Kopfschütteln.
    »Das ist ein Geschenk von deiner besten Freundin. Du kannst es gar nicht ablehnen. Und ich habe einen Wunsch: Bitte benutze ihn immer, bevor du zu nass wirst.«
    Avissa seufzte. »Dann gibt es wohl keine andere Möglichkeit …«
    Sie nahm mein Geschenk entgegen und öffnete es. Mit einem Schritt rückwärts trat sie in den Regen und hielt den Schirm zum Schutz über sich.
    Ein breites Lächeln legte sich über ihr Gesicht.
    [tab=2.Platz]
    [subtab=YumiLou]


    Der Kuss des Todes


    Die Stadt endet am Horizont. Ich schaue nach rechts, ich schaue nach links – sie endet überall am Horizont. Ich schaue hinter mich und sehe nichts. Vor mir ist ein Gitter, rechts ist ein Gitter, links ist ein Gitter. Weiße Bänder, die Namen tragen, flattern im Wind – sind an den Drähten befestigt. Namen sind in die Balken des Turmes eingeritzt – auf dass sie niemals verblassen mögen. Ja, es ist wahrlich die Stadt der Liebe, die sich um mich herum erstreckt. Und ich steh auf nichts Geringerem als ihrem eigenen Symbol – ich stehe auf nichts Geringerem als dem Eiffelturm.
    Und die Stadt endet am Horizont.
    Aber mir gefällt es nicht, nein, ich hasse es! Wie ein Vogel im Käfig, so bin ich eingesperrt. Die Gitter sind höher als ich selbst, damit ich nicht springen kann. Damit niemand springen kann. Der Turm duldet keine Toten, er duldet nur Liebende. Der Wind ist kühl, die Menschen heiß von Liebe und Lust. Und ich will einfach nur noch weg von hier – weg von dieser Stadt. Wo sind die Treppen? Da sind sie, und ich setze den ersten Schritt. Und beim ersten Schritt sehe ich einen Mann – einen wundersamen Mann. Er lächelt, als sich unsere Blicke treffen. Ein kurzer Blick, ich lächle zurück und laufe schneller, damit ich mich nicht verliere. Stufe um Stufe, ich laufe, ich schreite, ich renne, ich fliehe! Er ist neben mir, er flieht mit mir. Seine Augen haben keine Farbe, die ich beschreiben könnte, und doch sind sie so wunderschön! So kühl, so warm, so...
    Und die Stadt endet am Horizont.
    Ich laufe, ich schreite, ich renne, ich fliehe! Wieso nur, wieso ist er immer da, wo ich auch bin? Wieso ist der Turm so hoch, dass die Stufen kein Ende nehmen wollen? Jetzt schaut er mich an, er schaut mir ins Gesicht und spricht - Worte, die kein Mensch versteht – ich habe sie verstanden. Waren sie deutsch oder französisch? Waren sie überhaupt? Und ich verstehe sie – verstehe jedes einzelne Wort des Mannes und mir wird klar, dass er nicht das ist, für das Menschen ihn halten. Er ist nicht aus Knochen und im schwarzen Gewand, trägt keine Sense und kein Stundenglas. Und doch ist er es – der Tod. Ja, der Tod spricht zu mir – er ist wunderschön. Augen, die keine Farbe haben.
    Und die Stadt endet am Horizont.
    Woher ich komme, fragt er mich. Tausend Fragen stellt er mir, in der Sprache der Toten die nur Sterbende verstehen. Doch eines fragt er nicht: Er fragt nicht, wie ich heiße. Ich seh' ihn an, er weiß es längst. Ich weiß es auch, doch niemand sonst. Die Sprache, die nur zwei verstehen. Augen, schöner als die Liebe selbst. Liebe, die unsterblich scheint. Doch nur, wenn sie bereits tot ist, kann sie nicht mehr sterben. Ich meine, mich sofort in diese Augen verliebt zu haben, dieses Lächeln, diesen Mann! Denn so ist es doch: Der Tod nimmt einen nicht gewaltsam mit in seine Welt, nein! Man verliebt sich in den Tod und geht ganz von selbst mit ihm. Jeder Mensch sieht eine andere Gestalt – Jeder sieht, was ihn am meisten anzieht. Nur die Augen bleiben gleich, diese wunderschönen Augen! Der Turm scheint endlos, die Stufen enden nicht. Der Tod flieht mit mir vor sich selbst. Und plötzlich bleib ich stehen.
    Und die Stadt endet am Horizont.
    Ich stehe, schaue ihn nur an. Er lächelt und weiß, dass er gewonnen hat. Seine Augen funkeln, sein Blick betastet mich. Dann nimmt er meine Hand. Sein Kuss ist kalt und heiß zugleich, mein Herz schlägt schnell, bis es verstummt. Der Kuss färbt meinen Körper bleich, der Kuss nimmt mir mein Augenlicht. Die Welt wird stumm, die Welt verblasst.
    Und die Stadt endet am Horizont.
    Nun erzählt ein jeder Mensch, der meine Geschichte kennt, von mir und meinem letzten Kuss, vom Tod, vom Turm, vom Lieben. Die Stadt endet am Horizont und dort endet auch mein Leben.
    [tab=3.Platz]
    [subtab=Cáithlyn]


    Feuerwerke


    Ja, ich weiß. Es gibt schon unglaublich viele Vergleiche, wie das Leben denn so ist.
    Manche sagen, es ist wie eine Pflanze, die wächst und dann vergeht.
    Manche sagen, es ist wie einer dieser Wunderbälle, die immer kleiner werden, je länger man sie ihm Mund behält.
    Und manche sagen, es ist wie eine Pralinenschachtel. Okay, ja, nur Forrest Gump sagt, es ist wie eine Pralinenschachtel. War ja auch nur, um klarzumachen was ich damit meinte.


    Ich will nicht sagen, dass ich mit meinen achtundzwanzig Jahren, die ich hier auf der Welt verbracht habe, die Weisheit mit Löffeln gefressen habe. Hab mal gehört, dass sie ziemlich bitter sein soll. Da bevorzuge ich doch eher einen guten Eisbecher.
    Ich bin nicht überall hingereist, habe nicht mit allen Menschen gesprochen, bin weiß Gott kein Genie. Aber ich denke, ich habe genug Erfahrung, um mir selbst ein Urteil über dieses Ding zu bilden, das man Leben nennt.
    Wann immer dich jemand fragt „Und, was machst du so?“ und du antwortest „Ach, eigentlich nichts“, dann lügst du. Vielleicht ja unabsichtlich. Ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass du riechst, siehst, schmeckst und hörst. Solltest du eines dieser Dinge nicht mehr können, dann habe ich trotzdem noch ein paar Aktivitäten, die du mit Sicherheit ausführst. Du atmest, pumpst Blut durch deinen Körper und denkst.
    Im Grunde fassen wir das zusammen… Du lebst.
    Du lebst, wissenschaftlich gesehen, sobald der liebe Herr Doktor mit der Schere kommt und den Strohhalm, der dich neun Monate mit allem, was du so brauchst, versorgt hat, einfach so kappt. Deine Mutter entlässt dich so in die kalte, karge Welt, und Gott, du hast davon keine Ahnung. Hättest du sie, wärst du vermutlich gleich wieder zurückgekrabbelt.
    Ich tendiere dazu, nach reichlichen Überlegungen, die ich so während meiner U-Bahnfahrten anstellte, das Leben mit einem Feuerwerk zu vergleichen.
    Zu Beginn freut sich jeder Mensch auf das schöne Spektakel am Himmel. Jeder will die bunten Lichter dort sehen, treffen sich an einem Ort wo man es gut beobachten kann. Man unterhält sich darüber, spekuliert, wie es denn werden wird…
    Das ist die Zeit vor der Geburt. Alles ist eitel Sonnenschein.
    Bis die ersten Regenwolken kommen und die Freude trüben.
    Die schwangere Mutter in spe bekommt schlechte Laune, lässt sie an ihrem Mann aus. Der fühlt sich ungerecht behandelt und ist wütend auf seine -hoffentlich- Ehefrau. Die beiden bekommen sich in die Haare und kriegen sich wieder ein, alles wegen einem dummen Feuerwerk… Eh, pardon, wegen dem Kind, das da in ihnen heranwächst. Es ist gleichzeitig Fluch und Segen. Es verbindet. Ob das jetzt gut oder schlecht ist, sei mal so dahingestellt.
    Die Regenwolken verziehen sich dann irgendwann, zumindest im Idealfall. Falls sie es nicht tun… Naja, dann kommt es zu Fehlzündungen. Aber auf die komme ich später noch zurück.


    Die erste Zeit des Lebens, Geburt bis hin zum Schulabschluss, könnte man mit dem Flug des Feuerwerkkörpers gleichsetzen. Je höher er steigt, desto größer ist das Raunen. Je mehr du lernst, desto stolzer sind deine Eltern auf dich. Je höher du steigst, desto besser lebst du. Du kämpfst dich also hoch, immer und immer höher, lernst und arbeitest wie verrückt. Und wofür?
    Richtig. Die Blüte des Lebens.
    Der Zeitpunkt, an dem dein Feuerwerkskörper endlich explodiert.
    Manche strahlen heller als andere, manche sind schöner anzusehen und manche sind wundervoll bunt.
    Strahlend sind immer die, die beliebt sind. Man bewundert sie und ihren Glanz, badet öfters mal in ihm, wenn man selbst nicht ganz so hell funkelt. Nur schwindet Beliebtheit spätestens dann, wenn deine Freund vor dir ins Gras beißen. Na Halleluja.
    Die schön Anzusehenden… Na, ich denke, das erklärt sich von allein. Aber nur Schönheit an sich bringt einem im Leben nicht viel. Vielleicht ein wenig Beliebtheit, aber das erwähnte ich ja bereits.
    Die letzten sind die, die wir gemeinhin „merkwürdig“ oder „Paradiesvögel“ nennen. Wir werden niemals so bunt sein wie sie, niemals so besonders. Aber stört uns das? Ich für meinen Teil bin zufrieden, dass ich braunhaarig bin und nicht jede Strähne eine andere Farbe hat. Manchmal ist es vielleicht nicht ganz so schlimm, einfach irgendjemand in der Masse zu sein. Da wird man nicht immer angestarrt als wär man ein Alien.
    Feuerwerke müssen nicht immer besonders sein. Auch die traditionellen haben ihren Reiz. Du musst nicht der Beste sein. Es reicht doch vollkommen, wenn du selbst mit dir zufrieden bist. Aber manche wollen wohl immer mehr. Sie können nicht so sehr strahlen, wie es ihnen eigentlich möglich wäre.
    So oder so, wenn sie explodieren, da raunen die Zuschauer. Jeder Feuerwerkskörper, den sie sehen, bereichert auf eine von tausend Arten ihr Leben, die unterschiedlicher nicht sein können. Zumindest sollte es normalerweise so sein.
    Denn natürlich gibt es auch diejenigen, die ich einfach mal Fehlzündungen oder Blindgänger nenne. Menschen, die ihr Leben entweder selbst ruinieren oder es durch andere ruiniert bekommen. Ja, natürlich gibt es auch solche, die ihre Eltern nicht stolz machen, solche, die andere Leben nicht bereichern, sondern es schlechter machen, auf welche Arten auch immer.
    Manche von ihnen bleiben direkt am Boden und bemühen sich nicht einmal.
    Manche kommen von ihrem Weg ab und fallen auf den Boden, geben die Pracht, die sie beinhalten niemals preis.
    Und manche schaffen es bis ganz nach oben… Und gehen dann zu Grunde.
    Viele Dinge können passieren, die den Flug aufhalten. Regen kann den Funken löschen, Wind kann die Flugbahn verändern, eine falsche Mischung lässt ihn viel zu früh explodieren, ein falscher Abschussort kann alles ruinieren. So ist das nun mal. Manches davon lässt sich vermeiden, wieder richten, aber das Meiste hängt vom Schicksal ab. Oder Zufall. Oder wie auch immer du das nennen willst.
    Und nach der Explosion? Du fragst dich, was danach kommt?
    Du hast deine Schuldigkeit auf dieser Welt getan. Du sinkst wieder dorthin, woher du kamst. Erst ganz langsam. Du gewöhnst dich an deine Freiheit.
    Dann schneller. Die Zeit vergeht, wortwörtlich im Fluge. Zu viel Freizeit vielleicht? Nein, du hast es dir verdient, ist doch klar. Genieße die Zeit, in der du keine Pflichten mehr hast. Sie vergeht doch viel zu schnell.
    Und kurz bevor die Überreste der Explosion auf dem Boden auftreffen, da hat man sie schon vergessen. Es verschwendet doch keiner mehr einen Gedanken an die, die bald weg sind. Zu hell strahlen doch jetzt diejenigen, die in ihrer Blütezeit sind. Aber brauchst du die Aufmerksamkeit noch?
    Nein, eigentlich nicht. Du hattest sie schon.
    Verdienst du denn nicht noch mehr davon?
    Vielleicht. Vielleicht hätte deine Blütezeit länger andauern können. Vielleicht hättest du etwas in deinem Leben anders machen können.
    Aber es ist zu spät. Der Staub rieselt auf die Erde. Vielleicht tut deine Asche das ja auch? Ich weiß ja schließlich nicht, was du für deinen Körper so geplant hast, sobald du nicht mehr da bist. Vermutlich ist das auch gar nicht so wichtig.
    Neue Feuerwerkskörper kommen, neue Farben und Muster, neue Leben entstehen, und neue Asche wird auf deine regnen. Das Leben geht weiter, auch wenn du nicht mehr da bist. Es wird auch dann weiter gehen, wenn niemand, der zu deiner Zeit lebte, mehr auf der Erde herumwandert.
    Die Welt ist ein gigantisches Feuerwerk. Ein endloses Feuerwerk. Ein wundervolles Feuerwerk.
    Genieße es, solange du noch kannst.
    [subtab=sunny aestes]


    Gegen den Wind


    „Du solltest seinen Tod endlich akzeptieren, Marike“, redete sie mir erneut ins Gewissen, doch ihre Worte erreichten mich nicht. Wieder einmal fuhr sich die junge Frau Mitte Zwanzig durch die kurzen, lockigen Haare und seufzte. Ich spürte den Blick ihrer tiefbraunen Augen in meinem Nacken sitzen, doch ich wandte mich nicht zu ihr um. Meine Sicht war durch die Tränen verschleiert, welche unablässig meine Wangen hinab rannen, aber ich wischte sie nicht weg. Meine schmalen, langen Finger klammerten sich um den kleinen, silbernen Ring, in den sein Name vor einigen Jahren in die Innenseite eingraviert worden war: Nick.
    „Er ist nicht tot“, schluchzte ich leise, „Ich weiß es.“
    Der kleine Gegenstand war bereits ganz warm und auch einige Tränen hatten ihn bereits gestreift, sodass er an manchen Stellen ein paar winzige Wasserspuren aufwies. Eine Weile lang herrschte Stille, nur unterbrochen von meinen Schluchzern, doch schließlich seufzte meine Freundin und verließ das Zimmer wieder. Dies verwunderte mich nicht weiter, denn seit dem Morgen schon hatte sie unablässig auf mich eingeredet, ohne, dass es zu irgendeiner Veränderung geführt hätte. Traurig starrte ich in den Spiegel, der an der Tür des hellen Holzschrankes hing. Dunkle Schatten lagen über meinen moosgrünen Augen, darunter tiefe Ringe. Schon lange hatte ich nicht mehr ruhig geschlafen. Auch die Farbe der Kleidung hatte ich bisher nicht gewechselt. Schwarz wie die unendlich tiefe Trauer, in der meine Seele ertrank. Im Hintergrund des Spiegelbildes konnte ich die Einrichtung des Zimmers sehen - seines Zimmers. Es war in einem himmelblau gestrichen und auch die Gegenstände waren hell. Er mochte keine dunklen Farben. Bisher hatte ich nichts an seinem Raum verändert, wartete darauf, dass er zurückkehrte und wieder darin wohnte. Und egal, was alle anderen sagten, ich würde weiter warten.
    Nach einer Weile erhob ich mich und ging langsam hinaus, ich brauchte etwas frische Luft. Die Sonne stand bereits recht tief und erleuchtete die Felder um unser Haus mit ihren Strahlen. Rot- und Goldtöne ergossen sich über unser Haus und die Umgebung. Die wenigen Vögel, die noch nicht die Flucht in den Süden angetreten hatten, unterstützten ihren Kampf gegen die aufkommende Dunkelheit mit ihrem Gesang. Alles schien so friedlich, dass es mir vorkam, als würde ich nicht so richtig ins Bild passen. Mit den schwarze Klamotten, die ich schon seit jenem Tag vor zwei Jahren trug. Meine ganze Erscheinung passte nicht in die harmonische Welt um mich herum. Die Menschen auf den Straßen schienen mich anzustarren, meine Gedanken lesen zu können und heimlich über mich zu tuscheln. Ihre Augen klebten an mir wie die Motten an der Straßenlaterne, doch sobald ich diese erwiderte, drehten sie hastig die Köpfe weg und gingen weiter. Niemand sprach mich an, als hätte ich etwas an mir, was sie auf Abstand hielt. Aber eigentlich war ich froh darüber, ich wollte nicht reden, mit niemandem.
    Das Laub der beinahe kahlen Bäume segelte um mich herum zu Boden, wurde vom Wind aufgewirbelt und schien in der Luft zu tanzen, ehe es schließlich auf dem betonierten Weg landete. Es war bereits trocken und raschelte unter meinen Füßen. Die Luft war kalt und wehte mir heftig ins Gesicht, doch das kümmerte mich nicht. Ich ging immer weiter, aus dem kleinen Dorf hinaus, in dem wir wohnten. Ich und Nick. Schweigsam betrachtete ich die Straße unter mir, setzte einen Fuß vor den anderen, jedoch ohne genau zu wissen, wo ich eigentlich hinwollte. Ich mochte nicht hochsehen in den Himmel, der so widersprüchlich gefärbt war.
    Auf der einen Seite versuchte die leuchtende Feuerkugel, ihren Glanz noch aufrechtzuerhalten und präsentierte den Menschen ein wundervolles Farbenspiel aus warmen Tönen, auf der anderen Seite kroch die klamme Finsternis des nahenden Winters hinter dem Horizont hervor und kämpfte um die Herrschaft über das Firmament.
    Er liebte Sonnenuntergänge, hatte sie jeden Abend stillschweigend auf der Bank vor unserem Haus genossen. Und bald würde er es wieder tun, vielleicht tat er es gerade an einem anderen Ort? Ich hob den Blick und schaute die Straße hinab, als würde er jeden Moment auf einer Seite auftauchen.
    „Wo bist du nur?“ Die gemurmelte Frage richtete ich gegen den kalten Wind, welcher mir die Worte von den Lippen riss und mit sich fort trug, hin zu meinem Liebsten.
    Die Straße machte eine scharfe Biegung nach links, doch geradeaus weiter führte ein schmaler Pfad in einen großen Wald hinein. Wie riesige Wächter standen alte und knochige Bäume an dessen Seiten. Alles war still, nur mein Atem war zu vernehmen.
    Der unebene Weg verlief in leichten Bögen immer tiefer zwischen die hölzernen Riesen, die jeden meiner Schritte zu verfolgen schienen. Mein Herzschlag pochte in meinen Ohren, es wurde immer dunkler und kälter. Auch hier war der Boden übersäht mit braunen, verwelkten Blättern und kleinen Zweigen, die unter meinen Füßen brachen. Dieser Wald verband ihn und mich, wir waren oft zusammen hierhin gegangen, hatten unsere Geheimnisse geteilt. Und hier auch hatte er mir seine Liebe gestanden, vor fünf Jahren. In Gedanken versunken schritt ich weiter in den Wald hinein, während die Schatten immer länger und dunkler wurden.
    Plötzlich stieß ich gegen ein Hindernis mitten auf dem Weg und ehe ich die Situation richtig erfassen konnte, war ich bereits schmerzhaft auf dem harten Boden gelandet, die dünnen, rissigen Blätter hatten meinen Sturz nicht sonderlich abfangen können. Noch ein wenig perplex ließ ich meinen Blick nach oben wandern und sah einen Fremden vor mir stehen. Möglicherweise kam er ebenfalls aus dem Dorf, im letzten Jahr waren viele hierher gezogen.
    „Haben Sie sich verletzt?“ Besorgnis schwang in seiner melancholischen Stimme mit und er reichte mir die Hand, um mich auf die Beine zu ziehen. Immer noch ohne etwas zu sagen, nahm ich das stumme Angebot an und stand einen Moment später wieder auf den Füßen.
    „Entschuldigen Sie, ich habe nicht aufgepasst“, meinte ich schließlich entschuldigend und sah zu ihm hoch, er war gut einen Kopf größer als ich und trug eine schlichte, schwarze Hose sowie eine tiefblaue Regenjacke. Schulterlange, braune Haare fielen ihm offen um das schmale Gesicht. Als ich in seine Augen sah, durchzuckte mich etwas so heftig, dass ich leicht zusammenfuhr. Für einen Moment drehte sich die Welt um mich, bis auf die Seelenspiegel des Mannes vor mir. Mein Körper gehorchte nicht mehr meinem Verstand, der mir einzureden versuchte, weiterzugehen. Ich blieb stehen, konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Seine Augen waren so strahlend blau wie der Frühlingshimmel. Ebenso wie seine strahlten sie Ruhe aus.
    „Nick“, hauchte ich und der Gesichtsausdruck meines Gegenübers nahm verwirrte Züge an.
    Nur noch diese Seelenfenster konnte ich wahrnehmen, die denen meines Verlobten so sehr ähnelten. Erst zaghaft glühte ein kleiner Funke in meinem Inneren auf, wurde größer und wärmte mich. Er vertrieb für einen Moment die kalte Trauer in mir und ließ ein glückliches Lächeln auf meinem Gesicht erscheinen. Doch dies wurde eine Moment später von den Worten des jungen Mannes zerstört: „Wer ist denn Nick? Ich heiße Caleb.“ Beinahe meinte ich hören zu können, wie meine Hoffnung klirrend in Scherben zersprang. In meinen Ohren begann es zu rauschen und nu langsam drang die Stimme des Fremden zu mir durch:
    „Aber warum weinen Sie denn?“ Tatsächlich liefen salzige Wassertropfen in feinen Strömen über meine Wangen. Sie hinterließen dünne Spuren auf meinem ohnehin schon gezeichneten Gesicht und tropften auf die Blätter zu meinen Füßen. Erneut kam sein Name über meine Lippen, die Silben zitterten leicht und ich lehnte mich gegen einen dicken Baum, der sich hinter mir gen Himmel streckte.
    „Wer ist denn dieser Nick?“, fragte der Fremde ruhig weiter, seine blauen Augen klebten auf meinem Gesicht, durchdringend und geduldig.
    „Mein Verlobter“, antwortete ich leise, ohne, dass ich die Worte hätte zurückhalten können. Sie waren einfach aus mir heraus gebrochen. Caleb sagte nichts und ich senkte den Blick gen Boden, betrachtete die braunen Blätter unter uns.
    „Vor fünf Jahren haben wir uns verlobt. Er war so wundervoll. So jemanden wie ihn noch einmal zu finden, ist unmöglich. Ich war so glücklich mit ihm, doch dann…“ Mein Mund formte die Worte stumm weiter, doch ich brachte keinen Ton hervor und erneut flossen Tränen meine Wangen hinab.
    „Dann“, setzte ich erneut mit leicht zitternder Stimme an, „Vor zwei Jahren ist er mit dem Auto verunglückt und das ausgelaufene Benzin ist auch noch in Flammen aufgegangen. Erst Stunden später hat jemand den zerstörten Wagen gefunden. Aber ihn haben sie nicht finden können.“ Ich brach endgültig ab, rutschte an der rauen Rinde zu Boden, vergrub den Kopf in den Händen. Verzweifelte Schluchzer schüttelten meinen erschöpften Körper.
    „Ich verstehe. Ohne ihn leben zu müssen ist wohl nicht leicht“, hörte ich die Worte des Braunhaarigen. Warum nur hatte ich ihm das alles erzählt? Er schien auch nicht anders zu sein als die anderen.
    „Sie verstehen nicht!“, rief ich wütend und riss abrupt den Kopf nach oben, starrte ihn zornig an, doch sein Blick blieb gelassen. „Nick ist nicht tot!“ Ich sprang auf. Niemand kannte die Wahrheit. Alle behaupteten sie, dass mein Nick gestorben wäre, aber das war er nicht! Und ich würde es ihnen beweisen. Sobald er zu mir zurückkam, würden sie ihr Unrecht eingestehen müssen.
    „Nein, er ist nicht tot“, sprach Caleb ruhig und ich wandte mich erstaunt zu ihm um, schaute ihn ungläubig an. Immer noch hatten seine Augen diesen ruhigen Ausdruck, der mich so an Nick erinnerte.
    „Er hat diesen Unfall sicher nicht überlebt“, redete der Mann vor mir weiter. „Aber ihr Verlobter ist erst dann wirklich tot, wenn sie ihn vergessen haben. Sie dürfen sich der Wahrheit nicht länger entgegenstellen, denn sonst kann er keine Ruhe finden. Es wir Zeit, dass sie ihn gehen lassen, sich von ihm verabschieden. Aber das heißt nicht, dass Sie ihn aus ihren Erinnerungen verdrängen sollen. Denn sollten Sie das tun, dann stirbt er ein zweites Mal – und dann für immer. Aber solange Sie leben, wird auch ihr Verlobter immer bei Ihnen sein. Zwar ohne Körper, aber er ist trotzdem da.“ Der Mann streckte den Finger aus und deutete auf meine Brust, auf die Stelle, wo mein Herz beständig pochte.
    „Bis zu Ihrem Tod wird er in Ihren Erinnerungen weiterleben“, wiederholte er noch einmal ruhig. „Vergessen Sie ihn nicht.“
    Dann drehte er sich um und ging an mir vorbei den Weg entlang zum Dorf, den ich gekommen war. Lange stand ich da und schaute ihm hinterher. Immer wieder zogen seine Worte durch mein Gedächtnis. Erst, als seine Konturen zwischen den Bäumen verschwunden waren, registrierte ich langsam wieder meine Umgebung, das leise Pochen meines Herzens, meine Atemzüge, den Geruch nach baldigem Regen, der bereits in der Luft hing. Spürte wieder die kalte Luft auf meiner Haut und bemerkte, dass die Sonne nur noch ein schmaler Streifen am Horizont war. Die ersten Sterne bedeckten blass den Himmel, doch immer noch war es hell genug, um den Weg erkennen zu können.
    Langsam setzte sich mein Körper in Bewegung, meine Beine traten wie von selbst den Heimweg an, während ich über die Worte des Fremden nachdachte. Warum beschäftigten sie mich nur so? Lag es an seiner Ähnlichkeit mit Nick? Denn nicht nur seine blauen Augen, auch seine Denkweise war gleichsam mit der meines Verlobten. Und dennoch, Nick lebte doch noch, oder? Hatte er den Unfall überlebt? Ich wollte dies weiterhin glauben, doch eine leise Stimme in meinem Kopf wiederholte Calebs Worte: Er hat diesen Unfall sicher nicht überlebt.
    Ich versuchte, die Stimme zu vertrieben, doch es gelang nicht.
    Wenn er überlebt hätte, warum war er dann nicht zu mir zurückgekehrt? Weshalb hatte er sich nie gemeldet?
    Immer weiter ging ich, ohne auf den Weg zu achten. Nur aus dem Augenwinkel sah ich die Häuser des Dorfes, doch ich realisierte meine Umgebung kaum. Als hätten meine Füße einen eigenen Willen, steuerten sie zielstrebig auf ein mir unbekanntes Ziel zu, gingen immer weiter ins Dorf hinein.
    Bist du tot, Nick? Oder hast du überlebt?
    Auf meine stummen Fragen erhielt ich jedoch keine Antwort. Ich selbst wusste nicht mehr, was ich glauben wollte. Mein Herz wehrte sich weiterhin gegen seinen Tod, doch inzwischen konnte ich auch die Stimme meines Verstands hören, die mich davon zu überzeugen suchte, dass ich mich nicht weiter gegen die Wahrheit stellen durfte. Ich hatte nicht mehr die Kraft dazu.
    Ein schwarzer, großer Vogel flatterte urplötzlich und so dicht an meinem Kopf vorbei, dass ich erschrocken zusammenfuhr. Vor mir lag das weiße, kleine Gotteshaus. Es hatte bunt verzierte Fenster und war das größte Gebäude des Dorfes. Dahinter lag der angrenzende Friedhof, auf dem auch Nicks Grabstein stand. Bisher hatte ich seine Ruhestätte noch nicht besucht, denn wozu hätte ich jemanden auf dem Friedhof betrauern sollen, der nicht tot war?
    Doch inzwischen war ich mir überhaupt nicht mehr sicher. Eine düstere Atmosphäre hatte sich über Gottes Acker gelegt, die alten, pflanzenüberwucherten Grabsteine wurden vom silbernen Licht des Vollmondes erhellt, das auch mir den Weg wies. Ich ging die Reihen der Gräber entlang, las die Namen, welche manchmal nicht mehr zu entziffern waren. Doch ich suchte auch nach einem der neueren Gräber. Auf den Gedenksteinen wuchsen kleine Blumen, manche waren gepflegt, andere schienen längst in Vergessenheit geraten zu sein.
    Wenn du ihn vergisst, stirbt er ein zweites Mal – und dann für immer.
    Ich fuhr leicht zusammen. Da waren sie wieder, Calebs Worte in meinen Gedanken. Beinahe hätte ich mich umgedreht um zu schauen, ob der Braunhaarige hinter mir stand, so wirklich hatte ich seine Stimme empfunden, doch ich wehrte mich gegen diesen Impuls und ging weiter. An verschiedenen Engelsstatuen und kleinen Laternen vorbei. Schließlich blieb ich vor einem weißen Grabstein in der Mitte einer Reihe stehen. In leichten Schnörkeln stand dort sein Name und darunter ein kurzer Text, den ich nicht bestimmt hatte:



    Nick Neumann


    13.09.1948- 22.06.1988


    In Gedenken an einen wundervollen Menschen,
    der unser Leben mit Freude füllte.
    Ruhe in Frieden.



    Stumm kniete ich mich vor dem Grab auf die Erde, starrte die Wort an, ohne sie wirklich zu lesen. Mein Kopf war leer, die Zeit schien stillzustehen. Nur mein beständig klopfendes Herz erinnerte mich daran, dass sie weiterlief.
    „Du bist tot, Nick.“ Die Worte kamen über meine Lippen, ohne, dass ich sie mir zurechtgelegt oder lange überlegt hätte. Es war eine Tatsache, die ich nicht weiter leugnen konnte. Dabei wurde ich selbst nicht sonderlich überrascht oder verstört. Nun, da ich den Gedanken laut ausgesprochen hatte, spürte ich, dass ich diesen schon länger gehabt hatte. Doch ich hatte es mir nicht eingestehen wollen. Als wäre mein Körper eine Marionette, streckte ich die Hand aus und strich mit dem Zeigefinger vorsichtig über seinen in den Stein eingemeißelten Namen.
    „Du bist tot“, wiederholte ich. „Und du wirst nicht zurückkommen.“ Ich weinte nicht, kein Schluchzer brachte diese Worte ins wanken. Sie klangen gefasst und ruhig.
    Ich fühlte, wie ein Teil meines Herzens mich verließ, es schien aus meinem Körper zu gehen, doch ich ließ das Gefühl zu, hielt das Stück nicht fest.
    „Ich werde dich niemals vergessen“, versprach ich noch leise, ehe ich mich langsam erhob und durch die Dunkelheit zurück zum Tor schritt. Erst, als ich dieses erreicht hatte, fiel mir ein, dass ich Blumen für das Grab hätte mitbringen können. Aber das konnte ich auch morgen nachholen.
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  • Flocon

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