Okay, dann weiter im Text.
Die Legende der Giganten, Teil 3
„Die eine Ruine ist wie gesagt in der Nähe des Dorfes“, sagte Margaret. „Ich weiß von damals noch, wo sie genau ist. Ich schlage vor, dass wir dort als Erstes nachsehen.“
Laurie nickte. „Ja, sie dürfte auch nahe genug liegen, dass wir kein Nachtlager aufschlagen, sondern wieder hierhin zurückkommen könnten, oder?“
„Das stimmt“, bestätigte Margaret. „Wir könnten dort heute nachsehen und uns dann morgen auf den Weg zu einer der anderen Ruinen machen. Ich würde dann heute kurz meinen Freunden hier im Dorf durchgeben, was wir brauchen, dann sollte alles morgen bereit sein, dass wir früh aufbrechen können.“
„Das ist gut“, sagte Laurie und lächelte dankbar. „Die Kosten dafür kann ich übernehmen.“
„Das hoffe ich doch“, sagte Margaret ernst. „Ich bin ziemlich blank. Es dürfte aber reichen, wenn Sie das vor Ihrer Abreise von erledigen.“
„In Ordnung.“
Margaret verließ die Hütte, um alles für morgen zu organisieren. Laurie durfte so lange in der Hütte bleiben. Es war ihr auch erlaubt worden, Glacey aus ihrem Pokéball zu holen, und so saßen die beiden zusammen auf dem Sofa, während Laurie sanft über Glaceys Fell strich. Das Glaziola döste schließlich ein.
Plötzlich kam Laurie ein Gedanke. Sie setzte sich kerzengerade auf, so ruckartig, dass Glacey aufwachte.
„Was weiß ich eigentlich über diese Margaret?“, sprach Laurie ihren Gedanken laut aus.
Glacey sah sie mit einem Ausdruck schläfriger Überraschung an.
„Überleg mal, Glacey“, fuhr Laurie fort. „Sie erzählt mir das alles, mit Mom und den Leuten von damals – aber wer sagt mir, dass das alles stimmt?“
Laurie wollte sich fast dafür ohrfeigen, dass ihr das nicht früher eingefallen war. Gestern Abend hatte sie noch das Sofa hochkant vor ihre Tür gestellt und Löffelmobiles an den Fenstern aufgehangen und heute? Sie vertraute der erstbesten Person, mit der sie sich länger als zwei Minuten unterhielt.
Mit einem Mal hatte sie Angst. Wenn diese Frau sich hier auskannte, konnte sie Laurie problemlos in einen Schneesturm führen und zurücklassen. Alleine würde Laurie wohl kaum nach Hause finden, auch nicht mit Glaceys Hilfe, die zumindest mit Schneestürmen ganz gut zurecht kam.
Laurie ging in der Hütte umher und sah sich genauer um. Sie schaute hinter das Gemälde mit der bergigen Schneelandschaft an der Wand, hob die Matratze des Bettes an, durchsuchte die kleinen Küchenschränke, sah unter das Sofa und untersuchte die Bücherregale mitsamt der Bücher darin, peinlich darauf bedacht, am Ende alles wieder so herzurichten, wie es vorher war.
Als sie gerade ein Buch durchblätterte, hörte sie die Tür hinter sich und Margaret kam herein. Laurie erstarrte, und das nicht nur von der Kälte, die mit der offenen Tür hereindrang.
„Alles erledigt“, meldete Margaret. „Morgen können wir aufbrechen … Nanu? Was machen Sie da?“
Laurie drehte sich um, das Buch noch in ihren Händen. „Ach“, sagte sie so locker wie möglich, „ich habe nur was zum Lesen gesucht. Mir … mir war ein wenig langweilig.“
„Ah, ja“, machte Margaret. „Verstehe.“
Laurie versuchte, ruhig zu wirken und stellte das Buch wieder weg. Für einen Moment hatte sie geglaubt, Misstrauen in Margarets Mienenspiel zu erkennen, doch nun war davon schon nichts mehr zu sehen.
„Wie gesagt, es ist alles erledigt“, erwiderte Margaret. „Wir könnten dann eigentlich auch gleich zu der Ruine aufbrechen, wenn Sie möchten – oder haben Sie vorher noch etwas zu erledigen?“
„Nein“, antwortete Laurie. „Ich habe auch alles dabei, was ich brauche, und meine Kleidung sollte ja warm genug sein.“
„Ja, sollte sie“, erwiderte Margaret. „Nun, dann wollen wir mal.“
Es dauerte tatsächlich nicht allzu lange, bis sie bei der Ruine waren. Laurie schätzte den Hinweg später insgesamt auf etwa anderthalb Stunden, auch wenn es zurück vielleicht länger dauern würde. Das Bett des Giganten, in dem die Ruine lag, war quasi eine große Senke, sodass es auf dem Hinweg bergab ging. Der Rückweg bergauf würde wohl ein wenig anstrengender werden.
Nachdem sie Freezedale verlassen hatten, ging es zunächst durch ein Schneegebiet, in dem sich offenbar diverse Eis-Pokémon ebenso wohl fühlten wie Glacey, die nebenher lief und sich gelegentlich in einem Schneehaufen wälzte. Laurie sah Shnebedeck und Rexblisar, die zwischen kleinen Baumgruppen kaum auffielen, am Boden entlang kriechende Snomnom und hier und da ein Sniebel, das verschlagen hinter einem zugeschneiten Felsen oder Busch hervorlugte.
Nach einiger Zeit wurde der Schnee am Boden lichter, und der Weg führte nun über eine Grasebene, die stellenweise von Felsen durchsetzt war. Zwar fiel leichter Schnee, doch er blieb nicht liegen.
„Es ist jetzt nicht mehr so weit“, sagte Margaret.
„Gut“, erwiderte Laurie. Sie hatten auf dem bisherigen Weg nicht viel geredet, und allmählich fand Laurie das Schweigen ein wenig drückend. „Sie sagten, Sie sind hier geboren?“, fragte sie.
„Ja“, erwiderte Margaret. „Meine Mutter war eine kleine Handwerkerin, die immer gerufen wurde, wenn irgendwo im Dorf irgendwas kaputt war. Mein Vater wiederum hat Gemüse angebaut, wie so viele andere. Beide sind vor etwa zehn Jahren weggezogen, nach Turffield, weil es dort wärmer und die Luft trotzdem rein ist. Meine Mutter starb dann vor fünf, mein Vater vor drei Jahren.“
„Das tut mir leid“, sagte Laurie.
„Sie waren alt“, erwiderte Margaret. „Ist nun einmal der Lauf der Dinge.“
„Und Sie sind die ganze Zeit hiergeblieben?“
„Nicht die ganze Zeit. Ich bin in meinen Zwanzigern ein bisschen durch die Region gezogen – neue Landschaften erkunden. Aber am Ende bin ich wieder hierhin zurückgekommen. Gefällt mir hier besser, und ich kenne mich hier aus, anders als da draußen. Und hier sind ja auch die meisten meiner Freunde.“
Margaret kickte im Laufen einen kleinen Stein weg. „Was ist mit Ihnen? Was treiben Sie so?“
„Ich studiere“, antwortete Laurie. „Geschichte.“
„Passend.“
„Nun, nicht so alte Geschichte. Eher das letzte Jahrhundert, mit Schwerpunkt Technik- und Umweltgeschichte. Ich war nie wirklich in dieser ganzen Mythen- und Legendenforschung drin.“
„Und doch sind Sie jetzt hier.“
„Schätze schon.“
„Leben Sie alleine oder mit jemandem zusammen?“
„Alleine. Nur Glacey ist bei mir.“
Glacey drehte im Gehen den Kopf zu Laurie, wahrscheinlich weil sie ihren Namen gehört hatte.
„Sie haben also keine weiteren Verwandten? Das hört sich ehrlich gesagt ein wenig einsam an.“
„Nun, ich habe Freunde. Besonders … Also besonders meine beste Freundin. Sie ist immer da, wenn ich sie brauche.“
„Schön“, sagte Margaret. „Wissen Sie, auch wenn das Leben in so einem kleinen Dorf einsam wirken mag, ist es das für mich eigentlich nicht. Und ich habe gemerkt, dass es doch wichtig ist, ein paar gute Freunde zu haben, auf die man sich verlassen kann. Es ist gut zu hören, dass das bei Ihnen auch so ist.“
„Ja, das ist es wohl“, erwiderte Laurie und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie Myra schon verdächtigt hatte, etwas mit den Paladinen zu tun zu haben.
Sie redeten nicht mehr, als sich allmählich mehr große Felsen in die Grasebene mischten. Margaret änderte ein wenig die Richtung, sodass es, wenn Laurie sich nicht täuschte, wohl etwas nach Westen ging.
Schließlich bogen sie um einen größeren Felsen und Laurie wusste sofort, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Noch in einiger Entfernung, doch gut erkennbar, war eine Ruine in eine große Felswand eingelassen. Sie war aus gräulichem Stein und stand auf einer Art dreistufigem Sockel, den eine Treppe mit kleineren Stufen hinaufführte. Oberhalb der Treppe war ein Vordach, das von vier Säulen getragen wurde. Auf diesem Vordach war ein Muster aus sieben Punkten zu sehen, mit drei Punkten auf jeder Seite, die insgesamt eine Art Ring bildeten, in dessen Mitte sich der siebte Punkt befand. Über dem Vordach erhob sich die Ruine weiter – es schien, als wären in die Wand des oberen Raumes kleine Scharten eingelassen, damit Licht in den Raum dahinter fallen konnte.
Laurie und Margaret gingen auf die große Ruine zu und erkannten, dass sie offenbar zu spät gekommen waren.
„Die Tür“, sagte Margaret, doch es war eigentlich überflüssig, dass sie etwas sagte. Sie hatte Laurie bereits erzählt, dass die Tür der Ruine eigentlich geschlossen hätte sein sollen. Nun klaffte allerdings dort, wo die Tür hätte sein sollen, ein großes rechteckiges Loch.
„Sie waren vor uns hier“, sagte Laurie grimmig, „und sind auch schon in die Ruine eingedrungen. Sie müssen herausgefunden haben, wie man hineinkommt.“
„Wie ich Ihnen schon erzählt habe“, sagte Margaret, „da waren Symbole auf der Tür, wie sie auch in den Aufzeichnungen ihrer Mutter stehen.“ Laurie sah zu Margaret, die sich die Schläfe rieb. Ihr Blick war finster.
„Sie meinen, wenn diese Leute da hineingekommen sind, haben sie diese Symbole ebenfalls entschlüsselt?“, fragte Laurie.
Margaret nickte.
„Tja, so sieht es aus“, seufzte Laurie und ging die Stufen zur Ruine hoch. Margaret folgte ihr „Ich will aber wenigstens nachsehen, ob irgendetwas oder irgendjemand noch drin ist.“
„Wir sollten vorsichtig sein“, warnte Margaret. „Diese Ruine ist alt – es könnte gefährlich sein.“
„Gut möglich“, sagte Laurie. Sie atmete einmal tief durch und trat dann durch den Ruineneingang. Es war dunkel in der Ruine, und so suchte sie in der Tasche ihres warmen Anoraks nach einer Taschenlampe, die sie wohlweislich eingesteckt hatte. Im überraschend hellen Licht der Lampe erkannte sie, dass vor ihr eine kleine Treppe lag, an die sich offenbar oben ein weiterer Raum anschloss. Laurie stieg vorsichtig mit Margaret hinter ihr die Treppenstufen hinauf, jederzeit mit irgendeiner Art von Falle rechnend, die sie durch einen Tritt auf ein loses Stück im Boden oder etwas in der Art auslösen würde.
Als sie den oberen Raum der Ruine erreicht hatten, konnte Laurie ihre Taschenlampe ausstellen, denn durch die Scharten, die sie von außen gesehen hatten, fiel genug Licht in den Raum.
„So etwas habe ich noch nicht gesehen“, murmelte Margaret.
Der Raum war eigentlich nicht besonders aufregend – das einzig besondere schien eine große Statue zu sein, die gegenüber dem Eingang in einer Nische stand, die in die schräg abgestufte Wand eingelassen war. Die Statue ähnelte ungefähr einem groben humanoiden Oberkörper, mit einem kreisrunden Kopf, der nahtlos in einen ebenfalls runden, bulligen Torso überging. Zwei Arme, bei denen man es sich nicht die Mühe gemacht hatte, Hände und Finger herauszuarbeiten, waren vor dem Oberkörper der Statue gekreuzt. Da, wo bei einem Menschen das Gesicht hätte sein sollen, war nur ein Punktmuster – das gleiche Punktmuster, das Laurie draußen auf dem Vordach der Ruine gesehen hatte. Weitere sechs punktähnliche Vertiefungen fanden sich unterhalb der gekreuzten Arme, teilweise davon verdeckt.
Laurie war so eingenommen von der Statue, dass es eine kurze Zeit brauchte, bis sie Glacey wahrnahm. Das Glaziola kroch an einer Stelle auf dem Boden herum und schnüffelte. Laurie sah nach, was Glacey so beschäftigte und stellte fest, dass sie mit ihrer Pfote an der Oberfläche einer in den Boden eingelassenen kreisförmigen Platte rieb. Laurie sah sich noch einmal genauer im Raum um und stellte fest, dass noch mehr dieser Platten im Raum waren. Schnell wurde Laurie klar, dass auch die Anordnung dieser kreisförmigen Platten dem Muster des Vordachs entsprach.
Margaret war währenddessen an die Statue herangetreten. „Massiver Stein“, sagte sie. Sie steckte probehalber Finger in die punktförmigen Vertiefungen in der Statue, doch nichts geschah.
„Diese Punkte im Gesicht der Statue“, sagte Laurie, als sie an Margaret herantrat, „sehen genau so aus wie das Muster draußen auf der Ruine. Und die Bodenplatten“, sie zeigte im Raum umher, „entsprechen ebenfalls diesem Muster.“
„Dürfte also wichtig sein“, meinte Margaret.
„Ja, allerdings“, erwiderte Laurie. Sie zog ein kleines Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Tasche ihres Anoraks, in der sie auch die Taschenlampe gehabt hatte und machte sich daran, die Statue abzuzeichnen. Sie machte auch ein paar Notizen über die Bodenplatten und das Vordach mit Verweis auf das Muster.
Als sie fertig war, stellte sie fest, dass Margaret sie schmunzelnd ansah.
„Was ist?“, fragte Laurie.
„Nichts Besonderes“, sagte Margaret. „Sie haben mich nur gerade sehr an Ihre Mutter erinnert.“
Laurie wurde ein wenig rot und steckte das Notizbuch weg, um sich weiter die Statue anzusehen. Sie konnte an ihr nichts Besonderes entdecken. Sie klang nicht hohl, wenn man draufklopfte, und nirgendwo war ein versteckter Mechanismus zu finden.
„Ich fürchte wirklich, wir sind zu spät gekommen“, sagte Laurie schließlich resigniert. „Was immer hier drin war, ich glaube, es ist bereits mitgenommen worden.“
„Wenn das so ist“, erwiderte Margaret, „sollten wir uns vielleicht schnell zu der nächsten Ruine aufmachen. Das wird dann aber wohl erst morgen gehen, heute müssten wir noch einmal ins Dorf zurück.“
„Ich weiß“, sagte Laurie und biss sich auf die Lippe. Sie hasste es, dass sie nicht schneller losziehen konnten. Aber alles, was sie für eine vielleicht tagelange Expedition durch die Kronen-Schneeladen brauchten, würden sie wohl erst morgen bekommen.
Laurie schluckte ihren Frust runter und machte sich daran, die Treppe hinunterzusteigen, wozu sie wieder ihre Taschenlampe einschaltete. Glacey sprang neben ihr ein paar Stufen auf einmal hinunter und fiepte dabei glücklich. Plötzlich ertönte ein lautes Scharren. Laurie schaute die Treppe hinunter und sah mit Schrecken, wie das rechteckige Loch vor ihnen, durch das Licht hindurchströmte, immer kleiner wurde. Panisch rannte sie die letzten Stufen, doch es war zu spät. Die Tür hatte sich geschlossen, und sie waren eingesperrt.