Unleashed - Entfesselt
Buch 1: Großstadtdschungel
Vorwort
Hallo und herzlich Willkommen zu meiner ersten Fanfiction. Zuerst soll gesagt sein, dass ich mich freue, dass ihr hierher gefunden habt. Die Idee zu meiner Fanficition kam mir als ich sozusagen meinen Hauptprodagonisten gezeichnet habe. Wobei ich dieses Bild bearbeiten werde oder eventuell einfach ein Neues erstelle, weil es mir leider nicht mehr gefällt. Die ganze Geschichte ist Großteil aus der Ich-Perspektive geschrieben und beinhaltet hin und wieder Passagen die nichts für schwache Nerven sind. Sie handelt von einem Jungen der in einer Großstadt aufgewachsen ist und dort lebt. Er hat schon viele Dinge erlebt, Alkohol und Drogen gehören zu seinem Alltag. Mit Pokemon hat und will er nichts am Hut haben, diese sind etwas für reiche Leute. Jene die mit seinesgleichen nichts zu tun haben wollen. Aber in dieser einen schicksalhaften Nacht, änderte sich sein Leben schlagartig und er wird ein Teil von dem was er vorher sein Leben lang verabscheut hatte.
Ich wünsche euch noch viel Spaß und über Feedbacks und Kommis würde ich mich riesig freuen.
[Das geistige Eigentum an Pokémon und an der fiktiven Welt, in der diese Geschichte spielt, gehört Gamefreak. Die Bilder sind stellenweise von mir selbst und stehen unter meinem Copyright, alle anderen werden und sind mit einer Quelle versehen. Ideen, die Handlung und Charakter sind ebenfalls mein geistiges Eigentum.
- noch keine Benachrichtigungen
Wie schon im Vorwort, diese Geschichte ist nichts für schwache Nerven, deshalb gebe ich ihr eine Altersbeschränkung von 16 Jahren! Es wird Blut fließen, wobei ich darauf achten werde es nicht zu übertreiben. Es kann durchaus vorkommen das Personen sterben, auch Pokemon sind in meiner Geschichte sterblich. Wie schon erwähnt werden auch Drogen und Alkohol vorkommen und deren Wirkung wird auch umschrieben, jedoch muss ich mich hierzu äußern, Finger weg von Drogen! Das hier soll keine Verherrlichung sein!
Prolog
Meine Gliedmaßen fühlten sich so schwer an, als ob mich jemand mit Klamotten unter Wasser drücken würde. Selbst das Atmen fiel mir nicht leicht, mit tiefen schweren Zügen nahm ich die dicke Luft wahr. Jede Zelle meines Körpers weigerte sich, sich zu bewegen. Er füllte mich mit Wärme, er kribbelte durch meinen ganzen Körper und war die Ursache meiner Bewegungsunfähigkeit. Alkohol. Welches Lied lief gerade? Egal wie sehr ich mich anstrengte es heraus zu finden, es funktionierte einfach nicht. Fast leblos saß ich in der Ecke meiner Stammkneipe. Zwischen meinem Zeige- und Mittelfinger balancierte ich eine Zigarette, welche schon zur Hälfte heruntergebrannt war. Ich musste wohl kurz eingenickt sein. Mit großer Mühe raffte ich meinen Körper auf, neben mir auf der Sitzbank hatte sich seitdem ich eingenickt war nichts verändert. Ich nahm den letzten Zug meiner Zigarette und drückte sie im Aschenbecher, der vor mir auf dem Tisch stand, aus. Ich hob mein Glas und gönnte mir den letzten Schluck des dunklen Getränkes, das mir die Kehle hinunterbrannte. Ein flaues Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit und ich wusste genau, woran das lag, deshalb wollte ich mich so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Ich knallte mein Geld auf den Tisch, stand auf und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
„Hey, wo willst du hin?“, hörte ich einen meiner Freunde hinter mir herrufen. Ohne zu antworten winkte ich ihnen noch einmal zu und bahnte mir einen Weg aus der Kneipe.
Die frische Luft erschlug mich regelrecht und bestärkte das ungute Gefühl, ich würde nicht mehr weit kommen. Zwei Schritte neben dem Gebäude senkte ich meinen Kopf und übergab meinen gesamten Mageninhalt direkt neben Müllcontainern und Umzugskartons. Außer meinem krampfhaften Würgen waren in der Ferne nur Fußschritte und Gelächter zu hören. Nachdem mein Magen endgültig leer war hob ich meinen Kopf, sammelte die letzten Reste in meiner Mundhöhle und spuckte ihn zu dem Rest. Die Nächte in Stratos City wurden immer kälter, nicht mehr lange und der erste Schnee würde fallen. Ich zog meine Jacke enger zusammen und atmete warme, dampfende Luft aus, die unter der Straßenlaterne gut sichtbar war. Ich sollte lieber nach Hause gehen, bevor wilde Rattfratz kommen und sich über meine Hinterlassenschaft her machen würden. Widerliche Viecher. Mit benebeltem Kopf und schweren Beinen machte ich mich auf den Weg nach Hause. Zwischen den kleinen Gassen schwankend zündete ich mir eine weitere Zigarette an. Mit etwas Glück würde ich es ohne weitere Zwischenfälle erreichen…
Kapitel 1 - Ian
Passanten mussten gestern meinen Weg gekreuzt haben, denn zwischen den Kopfschmerzen machten sich immer wieder dieselben Worte breit. „Lauft einfach weiter, bevor er uns anspricht“. Es war die Stimme einer Frau. „Das sowas bei uns in dieser Stadt herumlaufen darf“. Obwohl es fremde Stimmen waren, kamen mir diese Worte nur allzu bekannt vor. Abschaum, Gesindel. Als wäre Armut eine Krankheit, mit der man sich anstecken konnte. Aber das war nun mal so, wenn man an der West-Side von Stratos City lebte, hier war das Pflaster etwas härter als auf der Promenade, auf der sich die Reichen und Schönen tummelten. So war es schon immer und ich habe mich damit abgefunden. Die Sonntage waren bei mir Zuhause immer besonders friedlich, denn jeder schlief bis in den späten Nachmittag oder stahl sich noch vor allen anderen aus dem Haus. Noch bevor es Stress gab, wenn man etwas Dummes angestellt hatte und das passierte mir doch recht häufig. Zufälligerweise passte keine von den beiden Varianten zum heutigen Sonntag.
Durch die immer stärker werdenden Kopfschmerzen war langes Ausschlafen nicht drin, vorher würde mir der Schädel explodieren. Selbst meine Zunge klebte mir am Gaumen fest, so dehydriert war ich schon lange nicht mehr. Außerdem kam ein Duft von Frühstück durch mein Zimmer, keiner würde das Frühstück verpassen. Seitdem ich mich gestern von meinem Essen unfreiwillig verabschiedet hatte, fühlte sich mein Magen doch sehr leer an. Aus Angst im nächsten Augenblick zu erblinden, öffnete ich meine Augen nur langsam. Doch ich hatte Glück, nur sehr leicht schien das Licht durch die Schlitze der Rollläden und durchflutete das Zimmer gerade so, dass man alles erkennen konnte. Ich stellte fest, dass ich ganz alleine im Zimmer war, das Bett meines um ein Jahr jüngeren Bruders Luca, mit dem ich dieses Zimmer teilte, war verlassen. Keiner würde mich wecken, selbst wenn es ein Frühstück am Sonntag gab, denn hier in diesem Haus galten besondere Regeln. Regel Nr. 1: Solange kein Blut floss oder offene Brüche zu sehen waren, wurde niemand geweckt.
Mit einem Ruck und ein paar Ausgleichungsschwankungen hievte ich mich aus meinem Bett und machte mich auf den Weg nach unten, um meinen wahnsinnigen Hunger zu stillen. Kaum hatte ich die Küche erreicht, die aus einer Küchenzeile bestand und in der Mitte des Raumes einen großen Esstisch besaß, kam aus allen Richtungen ein „Guten Morgen“ oder irgendein unverständliches Murmeln, welches man halbwegs als ein „Morgen“ durchgehen lassen konnte.
„Welche Bäckerei habt ihr diesmal überfallen?“, fragte ich als erstes, als ich den ungewöhnlich überfüllten Tisch sah.
„Die Familie Graham die vor ein paar Wochen zwei Blocks weiter eingezogen ist, ist gerade im Urlaub“, antwortete meine kleine Schwester Anni beiläufig.
„Und?“
Sie verdrehte die Augen. „Sie haben einen automatischen Lieferservice, der ihnen jeden Morgen die Brötchen bringt. Naja sie scheinen vergessen zu haben, ihn abzustellen, jetzt haben wir eine Woche lang Gratisfrühstück“, verkündete sie erfreut. „Sehr gut gemacht“, lobte ich sie und zerzauste ihre Haare. „Du wirst so langsam zu einer richtigen Bannett“
Mit einer frisch aufgebrühten Tasse Kaffee und einer Zigarette, mein tägliches Ritual, setzte ich mich zu meiner Familie an den Küchentisch. In meinem Leben gab es nichts Wichtigeres, als meine Familie, wir gaben uns gegenseitig Halt und Kraft, man sollte meinen, das ist normal, verständlich. Aber nein, hier in dieser Gegend gingen viele Ehen in die Brüche, es war also keine Seltenheit, dass die meisten Kinder getrennt in verschiedenen Patchworkfamilien aufwuchsen. So etwas würde ich nie zulassen, wir waren eine Einheit, wie ein eingespieltes Team. Wir hatten zwar nicht alle denselben Vater, jedoch eine Mutter, die uns alle miteinander verband. Mein kleinster Bruder Paul, war mit neun Jahren wohl noch der harmloseste in unserem Wurf, bis auf ein paar Schlägereien auf dem Schulhof hatte er noch nichts angestellt. Die jüngste von uns und so klein wie sie auch war, Anni hingegen hatte es faustdick hinter den Ohren, wenn sie gerade nicht dabei war, die Nachbarschaft aufeinander zu hetzen, klaute sie deren Zeitungen, Pakete und sonstige Sachen, welche sie achtlos im Garten rumliegen ließen. Hin und wieder war auch mal etwas Nützliches dabei. Die beiden jüngsten kamen rein optisch meiner Mutter noch am nächsten, mit ihrem Haselnussbraunen Haar und den noch rundlichen Gesichtern. Mein zweiter Bruder hingegen Luca, mit dem ich das Zimmer teilte, war wie ein Maschock, jede freie Minute nutzte er zum Trainieren seine Arbeiten als Mauere auf einer Baustelle unterstützen das Ganze noch. Außer, dass er blonde Haare hatte und das komplette Gegenteil von uns allen war, gab es nicht sehr viel über hin zu sagen. Er war sehr ruhig und sprach generell nicht sonderlich viel.
Dann war da noch meine ältere Schwester Leila, sie lebte hier schon lange nicht mehr, nachdem sie den größten Deppen dieser Stadt geheiratet hatte, war sie ausgezogen, aber sie besucht uns gelegentlich. Mit anderen Worten meine Familie.
Ich schnappte mir das Schokobrötchen und biss einmal ordentlich hinein.
„Ian! Das war meins, verdammt!“
„Da stand aber nicht dein Name drauf, Paul“
„Ich hab es schon vorher abgeleckt“, ein verzweifelter Versuch mich davon abzuhalten.
Lachend nahm ich genüsslich einen weiteren, großen Bissen. Er beobachtet mich völlig entrüstet als ich sein Schokobrötchen verspreiste.
„Was gibt’s sonst Neues?“, erkundigte ich mich in der Runde.
„Rechnungen“, war die knappe Antwort meines blonden Bruders.
„Also wir haben letzte Woche in der Schule ein Quaxo seziert, das war ziemlich cool“, das Schokobrötchen hatte er längst vergessen.
„Rechnungen, hey, hört sich gar nicht gut an, zeig mal her.“
„Stromrechnung“, er warf mir den blauen Briefumschlag direkt vor die Brust. Im Fenster des Briefes stand die Firma Elevoltekwerk GbR und darunter war feinsäuberlich unsere Adresse und der Name unserer Mutter gedruckt. Mist, das konnten wir uns zurzeit überhaupt nicht leisten. Aber was sollten wir tun, wir brauchten den Strom, wir waren zwar arm, aber wir mussten trotzdem unsere Wäsche waschen und auch hin und wieder etwas zu Essen kochen.
„Wo ist sie?“, fragte ich.
„Sie ist oben, sie schläft noch, hat eine Nachtschicht beim Pokémon-Markt eingelegt. Muss wohl daran liegen, dass in letzter Zeit viele Trainer hier in der Stadt unterwegs sind.“ Meine Schwester Anni war mal wieder bestens informiert. Der Pokémon-Markt hatte immer, egal ob zu Weihnachten, Silvester, Ostern, anderen Feiertagen und sogar, wenn die Welt untergehen würde, genau 24 Stunden offen.
„Viele Trainer, sagtest du?“
„Ja, sie kommen von überall her. Soweit ich es mitbekommen habe, findet auf dem Marktplatz heute Mittag eine Parade statt.“
Wie konnte mir das nur entgehen? Jedes Jahr veranstaltete die Stadt eine große Feier, beziehungsweise eine Parade. Gesponsert wurde das Ganze durch die Stadt, die Veranstalter waren die Arenaleiter und die Besucher eben die Pokémontrainer, welche von den abgelegensten Winkeln dieser Erde kamen, um an diesem großen Spectaculum teilzunehmen. Wenn ihr mich fragt, feierten sie sich alle nur selbst. So eine Zeit- und Geldverschwendung, normalerweise mied ich solche Orte, aber heute kam es mir wie ein gefundenes Fressen vor.
„Ich weiß wie ich an Geld komme, ich brauche aber einen zweiten Mann dafür.“
Ich wusste, es würde ein schwieriges Unterfangen werden, dort überhaupt aufzukreuzen.
„Ich würde es machen“, meldete sich Paul freiwillig und diesmal mit voller Begeisterung.
„Nein, ich brauche dafür jemanden der das schon gemacht hat“, das konnte ich nicht zulassen, die Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden wenn man es nicht geschickt anstellte war zu groß.
„Hat sich Mike schon gemeldet?“, erkundigte ich mich. Da wir sonntags immer für die Schule lernten, wusste ich, dass er heute hier auftauchen würde. Um es richtig zu stellen: Er lernte und ich half ihm dabei.
„Er hat vor einer halben Stunde angerufen und nach dir gefragt, ich denke, er wird schon auf dem Weg hierher sein“, erklärte mir Anni, während sie das Geschirr vom Tisch abräumte.
„Ok, danke dir, du brauchst heute nicht den Abwasch zu machen, das übernehme ich. Bitte und das gilt für alle, macht eure Hausaufgaben und räumt hinterher eure Zimmer auf, wir sind zwar arm, aber hier muss es nicht gleich danach aussehen.“ Ein allgemeines Raunen und Stöhnen ging durch die Küche. „Das ganze bitte sofort und etwas leiser“, setzte ich lachend nach.
Ich wusste, keiner hatte wirklich Lust auf Schule und in dieser Hinsicht war ich garantiert nicht das beste Beispiel, aber ich wusste auch, sie würden es erledigen. Ich nahm alle Teller und Tassen, stapelte das Geschirr im Spülbecken und ließ heißes Wasser darüber laufen. Solche Tätigkeiten machte ich unverständlicherweise gerne, Gehirn ausschalten und einfach gedankenlos vor sich hinarbeiten, die alltäglichen Sorgen einfach einmal fallen lassen. Außerdem hatte der Geschirrspüler seit einigen Tagen wieder den Geist aufgegeben. Das war nicht immer so, aber wenn unsere Mutter nicht hier war oder einfach nicht die Verantwortung über ihre fünf Kinder übernehmen wollte, musste ich eben einspringen und die anfallenden Hausarbeiten erledigen und das brachte eine Menge Arbeit und Sorgen mit sich.
Das Geräusch der Haustür riss mich aus meinen Gedanken, in der Ferne hörte ich, wie sie geöffnet wurde und jemand hinter sich wieder zuzog. Es brauchte eine Weile, bis Mike an der Küchentürschwelle auftauchte. Ich wusste, dass er es war, nicht jeder kennt unser Schlüsselversteck, der da war falls die Kleinen sich mach aussperrten.
„Was war gestern los mit dir?“, fragte er gleich nach. „Du bist so plötzlich, wie von einem Tentantel gestochen, verschwunden.“ Mit verschränkten Armen lehnte er sich lässig in den Türrahmen und wartete erwartungsvoll auf eine Antwort.
„Ich habe mir mein Essen ein zweites Mal durch den Kopf gehen lassen, nichts Wildes, ich wollte sowieso nach Hause“, erklärte ich ihm kurz und bündig.
„Ian, warum sagst du mir nichts?“
„Was? Dass ich kotzen muss und du mir meine Haare heben sollst, damit sie nichts abbekommen?“, entgegnete ich ihm leicht genervt. Nicht das ich lange Haare hätte, ganz im Gegenteil. Wenn ich schon mal über den Durst trank, brauchte ich sicherlich kein Kindermädchen, das auf mich aufpasste.
„Du weißt, dass ich das nicht meinte“, redete er sanft auf mich ein, damit ich mich wieder beruhigte.
„Was willst du dann?“
„Ich will, dass du nicht alleine nach Hause läufst!“, jetzt war er derjenige der lauter wurde.
„Und warum nicht, sehe ich aus wie deine Freundin, hast du Angst, dass ich vergewaltigt werde?“
„Nein, das wäre mir ziemlich egal, ich will nur nicht, dass dich wieder irgendwelche Leute windelweich prügeln, nur weil du deine Klappe nicht halten kannst“.
"Quatsch, das ist doch bis jetzt nur einmal...", ich musste kurz überlegen. "Sechs- oder siebenmal passiert."
Jetzt da ich darüber nachdachte, musste ich eingestehen, dass er doch Recht hatte. Ich mochte nicht, dass er Recht hatte, vor allem nicht auf mich bezogen. Aber nur weil es stimmte, hieß es noch lange nicht, dass ich in irgendeiner Form Personenschutz brauchte.
Dadurch, dass er seine Arme vor der Brust verschränkte, machte er deutlich, dass er wusste, dass ich wusste, dass er Recht hatte. Geschlagen ließ ich den Kopf hängen und konzentrierte mich weiter auf den Abwasch. Es war wohl doch mehr Geschirr angefallen, dachte ich mir, um mich ein wenig abzulenken. Doch das Ende war schon langsam in Sicht. Selbst nachdem ich die letzte Tasse in den Schrank geräumt hatte, hatte er kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt. In der Zwischenzeit hatte sich Mike sogar an den Küchentisch gesetzt und war gerade dabei, seine kompletten Bücher und anderen Schulkram darauf auszubreiten. Den Rucksack, den er vorher über der Schulter trug, schmiss er rücksichtslos in die nächstbeste Ecke. Ich beobachtete ihn sogar dabei, wie er schon anfing in dem ein oder anderen Buch nachzuschlagen. Das Schulsystem hier in Einall war sehr einfach gestrickt. Mit sechs Jahren wurde man bekanntlich in die sogenannte Vorschule geschickt, die man dann, wenn es gut lief, vier Jahre besuchte. Danach ging es weitere vier Jahre in die Mittelstufe, bis man diese (normalerweise) mit vierzehn Jahre verlässt, um Pokémontrainer zu werden, wenn man reiche Eltern hatte und das nötige Kleingeld besaß. Und dann gab es wiederum in meinem Fall, wenn man das wollte, die Oberstufe, welche keine Pflicht war, aber man trotzdem besuchte, wenn man etwas aus sich machen wollte. Mich hatte es dort hin verschlagen, da ich eine dumme Wette gegen meine Mutter verloren hatte. Dazu ein andermal mehr.
Nicht, dass ich Mike gerne vom Lernen abhalten wollte, aber es gab jetzt einfach Wichtigeres zu tun.
"Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne erst heute Abend mit dir lernen, ich habe leider noch etwas vor", unterbrach ich sein Vorbereitungs-Ritual, welches er immer vollzog, wenn ein neuer Unterricht begann. Ich schwang das Küchentuch zum Trocknen auf den Stuhl direkt vor mir. Der Abwasch war getan.
"Was?! Und das sagst du mir erst, nachdem ich alles ausgepackt habe?", genervt lehnte er sich auf seinen Stuhl zurück.
"Außerdem hast du mir versprochen, dass wir heute lernen, was kann denn so viel wichtiger sein?" Ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten setzte er fort. "Dir ist schon bewusst, dass es nur noch ein paar Wochen bis zu den Weihnachtsferien sind und jeder verdammte Lehrer an unserer Schule noch Arbeiten schreiben möchte?" Er legte wieder eine Pause ein, strich sich gestresst durch seine dunkelblonden Haare und hinterließ sie völlig zerzaust. Er tat mir schon ein wenig leid, mit der jetzigen Frisur sah er ein wenig so aus wie ein Irrer kurz vor seinem Nervenzusammenbruch. Warum machte er sich immer nur so verrückt, die Arbeiten liefen doch nicht weg.
"Beruhig dich einfach, der Tag ist noch lang und ich sagte ja, ich helfe dir später", war meine knappe Antwort auf sein ewiglanges Gezetere. "Außerdem brauche ich dich noch für mein Vorhaben", setzte ich noch ganz selbstverständlich hinzu. Auf eine Reaktion seitens Mike musste ich nicht lange warten. Mittlerweile saß er gerade auf seinem Stuhl und verschränkte seine Arme vor der Brust, wie er es immer tat, wenn es um ernste Themen ging. Sein bereits finsterer Blick begegnete meinem und versuchte verzweifelnd herauszufinden, was ich im Schilde führte. Jedoch anscheinend mit wenig Erfolg. „Was hast du vor?" fragte er mit fester Stimme.
Jetzt lag es an mir, es ihm so schonend wie möglich beizubringen. Wenn ich sofort damit herausrückte, würde er möglicherweise direkt nein sagen.
"Erinnerst du dich noch...", ich versuchte zwischen meiner Erklärung Pausen zu lassen, damit ich ihn nicht gleich überforderte, ich wusste wie schnell seine Launen änderten, es war schon fast wie bei einem kleinen Kind.
"...an die Sache vor vier Jahren, auf dem Weihnachtsmarkt, als wir..."
"NEIN!"
"Ich war doch noch gar nicht fertig", brachte ich empört hervor.
"Ist mir egal, ich mach es nicht, wir machen es nicht, erinnerst du dich noch, dass wir geschworen haben, wir würden es nie wieder versuchen?!", erwiderte er aufgebracht und benutzte dabei meine eigenen Worte. Nun saß er schon längst nicht mehr, sondern schnappte völlig aufgebracht nach seiner Tasche und war gerade dabei seine gesamten Bücher wieder einzupacken. Verdammt, das war vielleicht doch zu schnell, dabei habe ich mir solche Mühe gegeben vorsichtig an die Sache ran zu gehen. Irgendwas musste ich unternehmen um ihn davon abzuhalten, abzuhauen. Eventuell schaffte ich das mit den richtigen Worten.
"Ich habe aber sonst niemanden, den ich fragen könnte."
"Was ist mit deinem Bruder Luca?", fragte er beiläufig, als würde jeder Mensch dafür in Frage kommen. Er hatte den größten Teil seiner Sachen schon vom Küchentisch geräumt, bald würde er sich aus dem Staub machen, dabei brauchte ich ihn, er war mein bester Freund. Schon seit der Vorschule, wo wir uns kennen gelernt hatten, war auch ich sein bester Freund. Wir teilten uns eine lange und verrückte Kindheit, wer kam da sonst in Frage? Nicht mal er selbst kannte seine guten Seiten und seine komischen Macken so sehr wie ich, wenn es hart auf hart kam, konnten wir uns aufeinander verlassen, wir konnten uns vertrauen. Genau das war es. Vertrauen.
"Ich brauche aber jemanden, dem ich blind vertrauen kann", ich sprach die volle Wahrheit aus meiner tiefsten Seele und anscheinend zeigte das bei ihm Wirkung, denn er hielt für einen Moment inne.
Jawohl, der Fisch hat angebissen, jetzt muss ich ihn nur noch vorsichtig an Land ziehen.
"Das wird bestimmt lustig", versuchte ich es weiter.
Zunächst dachte ich, er würde direkt zustimmen, aber dadurch, dass er von einem Fuß auf den anderen hin und her wippte, konnte ich erkennen, dass er tatsächlich über mein Vorhaben nachdachte. Er ließ sich wieder energielos auf den Stuhl zurückfallen, als hätte er den längsten Marathon hinter sich.
"Für was brauchst du das Geld?“, fragte er interessiert.
Noch hatte er mir nicht eingewilligt zu helfen, trotzdem kamen wir der Sache näher.
Ich nickte Richtung Küchentisch, auf dem der blaue Briefumschlag noch ungeöffnet lag.
"Stromrechnung", machte ich Luca nach.
"Der Brief ist ja noch gar nicht auf", bemerkte Mike, als er meinem Nicken folgte. Noch bevor ich den Tisch erreichte, um den Brief an mich zu nehmen, kam Mike mir zuvor und setzte mein Vorhaben in die Tat um. Ich lehnte mich über ihn, um alles mitlesen zu können. Ich hasste Rechnungen, warum wollten die immer nur Alle Geld von einem.
Da wir den Strom nur einmal im Jahr bezahlten, rechnete ich schon mit dem Schlimmsten. Mike faltete das Stück Papier bereits auseinander.
"Um Himmelswillen, Ian!", brachte Mike entsetzt hervor.
Was war los, sah er etwas, was ich nicht sah? Auf der ersten Seite konnte ich zumindest noch keine Summe feststellen.
"Was ist los?“, fragte ich verwirrt.
Angewidert zog er seinen Pullover über die untere Hälfte seines Gesichtes, "Verdammt, wann warst du das letzte Mal duschen? Du stinkst ja echt brutal."
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
„Kann nicht jeder so gut duften wie du“, war meine Antwort darauf.
Wen interessierte hier gerade mein natürlicher Körpergeruch, verdammt. Ich wollte die Summe der Rechnung auf der Stelle wissen, nicht, wann ich das letzte Mal geduscht hatte. Ich riss ihm das Stück Papier aus der Hand, da er anscheinend viel zu sehr damit beschäftigt war, seinen Pulli über der Nase zu halten.
Kaum hatte ich es in der Hand, drehte ich die Rechnung auch schon um und in fetter Schrift schrie mich die belastende Zahl auch schon an.
"Was zur Hölle, sechstausend Pokédollar! Wer zahlt hier denn so viel für Strom, ich glaube, die haben sie nicht mehr alle", schrie ich fast. Wie konnten die es wagen, überhaupt so viel zu verlangen, soweit ich wusste, wurde dieser Strom von Pokémon produziert und schließlich mussten die Anbieter im Prinzip nur den Unterhalt jener Pokémon bezahlen. Dass sich das Ganze auf so eine unverschämt hohe Summe verlief, gab mir fast den Rest. Die Chancen standen echt schlecht, solch eine Summe in der, wie ich dem Zahlungsziel direkt darunter entnahm, vorgegeben Zeit von vier Tagen zusammenzutreiben. Selbst wenn unser Vorhaben gut lief, wer wusste schon wie viel wir überhaupt zusammenkriegen konnten. Vielleicht konnte ich auch noch ein paar Leute anschwatzen, die mir sicherlich ein wenig Geld leihen würden. Einen Kredit bei der Bank würde ich auf keinen Fall bekommen, dass die dort nicht schon ein Hausverbot oder Steckbrief mit meinem Gesicht aufgehängt hatten, war auch schon alles. Verdammt, ich wollte mir gar nicht ausmalen, wenn wir es nicht rechtzeitig schafften, die Rechnung zu bezahlen. Ohne Strom da zu sitzen und das an Weihnachten. Mein Mund wurde ganz trocken. Instinktiv griff ich nach der Schachtel Zigaretten und zündete mir eine an.
"Muss das jetzt sein?" Ich gab Mike darauf keine Antwort und zog ein weiteres Mal demonstrativ an der Zigarette. Er war Nichtraucher und hasste es, wenn Leute in seiner Nähe eine qualmten, normalerweise versuchte ich auf sowas Rücksicht zu nehmen, aber ich hatte gerade keine Lust darauf. Zu sehr störte mich der Gedanke, dass wieder mal alles an mir hängen blieb. Dass meine Mutter oben lag und wieder von nichts wusste. Selbst wenn ich sie weckte, würde das überhaupt nichts bringen. Sie hatte das Geld genau so wenig wie ich und das Traurige dabei war, dass ich das zu einhundert Prozent wusste. Viel zu schnell geraucht, drückte ich den Rest mit einer routinierten Handbewegung im Aschenbecher aus. Sie hatte mich keineswegs in irgendeiner Form beruhigt. Das Problem war genauso da, wie vorher auch. Jetzt kam ich mir ein wenig lächerlich vor, der Gedanke daran, wie ich vorhin versucht hatte, Mike in die ganze Sache mit einzubeziehen. Ich schämte mich schon fast. Dabei wusste ich, dass ich das nicht brauchte, schließlich kannte er mich nicht anders. Trotzdem entwickelte das Ganze sich gerade zu einer für mich peinlichen Situation. Wie konnte ich auch nur so etwas von ihm verlangen? Ich strich mir meine ungewaschenen schwarzen Haare von der Stirn.
Fast schon zu laut für die Stille, die in der Zwischenzeit eingetreten war, äußerte sich Mike als erster. "Eine ordentliche Summe, hä?" Erwartete er wirklich eine Antwort von mir? Wollte er, dass ich ihm die Rechnung unter die Nase rieb?
Aber keines von beidem musste ich tun, denn seine nächsten Worte brauchten keine Antwort.
"Ich helfe dir." Ich wagte es nicht, drauf etwas zu sagen.
"Aber nur, unter einer Bedingung", sagte er.
Egal was es war, ich würde sowieso darauf eingehen. Schon alleine der Gedanke daran, dass er mir doch helfen wollte, entflammte in mir erneut meine Euphorie.
"Welche?" ächzte ich. Ich hatte schon fast meine Stimme verloren.
"Du gehst vorher duschen, sonst riechen dich die Fukanos meilenweit gegen den Wind", sagte er mit einem Grinsen im Gesicht. Und schon fiel die komplette Anspannung, die ich die ganze Zeit aufgebaut hatte, in wenigen Sekunden. Mein ganzer Körper lockerte sich und selbst ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich wollte es nur noch durchziehen und diese vier Wände, zumindest für eine Weile, hinter mir lassen.
"Gib mir fünf Minuten", sagte ich erfreut und war schon dabei die Treppen nach oben zu sprinten.
"Ich geb dir auch gerne zehn! Arceus sei Dank, dass ihr wenigstens die Wasserrechnung bezahlt habt!", rief er mir noch hinauf.
Nicht mehr lange und wir würden Kopf und Kragen riskieren, um an das Geld zu kommen. Aber komischerweise hatte ich ein gutes Gefühl dabei.
Kapitel 2 - Ian
Fast schwerelos bewegt man sich mit der Hochbahn, mit den Gleisen, die durch die gesamte Stadt verlaufen. Verglichen mit der Vorherigen, die vor circa zwei Jahren durch diese neue, hochmoderne, ersetzt worden war, kommt man in Windeseile von einem Stadtteil zum anderen. Die Alten besaßen diese klassischen Holzbänke mit rotem Schaumstoffbezug, dadurch hatte es eine warme, gemütliche Atmosphäre, auch der Rest der Innenausstattung hatte eine Verkleidung aus Holz. Der jetzige, neue Zug wirkte hingegen kalt und steril, da alles in Weiß gehalten worden war, auch die dünnen, dunkelvioletten Stoffpolsterungen, die ohnehin nicht sehr bequem aussahen, machten es nicht besser. Zum Glück waren wir nicht lange genug unterwegs, um es herauszufinden. Dennoch ein guter Vorteil, wenn man in einer Großstadt wie Stratos-City lebte. Zumal man als Schüler die Züge umsonst nutzen durfte, sogar am Wochenende, außerhalb der Schulzeiten.
Von der West-Side bis zur Stadtmitte, wo die Parade stattfand, brauchten Mike und ich maximal eine halbe Stunde. In dieser Zeit hielt der Zug an genau fünf Stationen, bevor er schließlich im Zentrum seine Fahrt beendete. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto mehr Menschen und auch Pokémon-Trainer tummelten sich in unserem Bereich des Wagons. Irrsinnigerweise konnte man schon anhand der Leute die einstiegen erkennen, in welchem Stadtring wir uns befanden. Zu Beginn der Fahrt, kamen die meisten von ihnen aus meiner Gegend und trugen schlechte Kleidung, das hieß mit vielen Löchern. Und dreckig waren sie auch. Nicht jedem passte seine Kleidung, da sie bestimmt einfach nur günstig in einem Outlet erstanden worden war und gar nicht so sehr darauf geachtet wurde, welche Größe die Kleider hatten. Einige von ihnen waren bereits am Mittag mit Bierflaschen unterwegs oder bereits völlig alkoholisiert auf dem Weg nach Hause. Hier grüßte sich auch niemand, aus Angst, im nächsten Moment eins auf die Schnauze zu bekommen. Ganz anders bei der nächsten Station, hier war man schon ordentlicher gekleidet und hin und wieder wurde ein Gespräch geführt. Aus dieser Gegend stammte Mike, nicht weit weg von hier befand sich sogar sein Elternhaus. Nach jeder Station wechselte das Szenario, bis ausnahmslos nur noch Menschen mit Anzügen neben uns Platz nahmen, diese jedoch jeglichen Kontakt zu uns mieden, als wären wir hochgiftig. Die Ausnahme heute waren jedoch die Trainer, die ebenfalls unterwegs waren, um sich die Parade mit eigenen Augen anzusehen. Wahrscheinlich hatten sie extra für diesen Anlass Hotelzimmer in der ganzen Stadt gebucht. Aus diesem Grund prangte an jeder Ecke und jeder Tür ein Schild, auf dem ein durchgestrichener Pokéball abgebildet war, welcher symbolisierte, dass sämtliche Pokémon in ihren Bällen bleiben sollten. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was für ein Chaos hier herrschen würde, wenn alle Trainer ihre Pokémon frei rumlaufen ließen. Mit diesem Verbot beabsichtigte die Stadtverwaltung, dass keine Kämpfe in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, aus diesem Grund war ich auch heilfroh über diese Schilder. Unsere Abteilung des Zugs platzte schon schier aus allen Nähten, selbst die Stehplätze waren komplett belegt. Mike saß mir in unserer Vierernische direkt gegenüber, hin und wieder tauschten wir vielsagende Blicke aus. Er wirkte nervös: Je mehr Leute hinzustiegen, umso schlimmer wurde es. Er rieb sich seine schwitzigen Hände an seiner dunkelblauen Stoffhose trocken. Er griff kurz in seine Jackentasche und zog seine Brille heraus, welche er sich direkt auf die Nase setzte und mit dem Zeigefinger richtig positionierte. Durch seine Brillengläser huschte wieder ein nervöser Blick in meine Richtung.
"Wir ziehen das jetzt durch", sagte ich zu ihm und hakte das Thema mit einer wischenden Handbewegung ab.
Der Zug verlor an Geschwindigkeit, als wir uns dem Hauptbahnhof näherten. Die Fahrgäste konnten es kaum abwarten und erhoben sich langsam von ihren Plätzen. Am Ausgang tummelten sich schon die meisten von ihnen, um die Ersten zu sein, als hätten sie einen wichtigen Termin. Wir hingegen blieben sitzen und warteten, damit wir in Ruhe den Wagen verlassen konnten.
Am Hauptbahnhof von Stratos City herrschte das reinste Chaos. Die Verbotsschilder, die wir auf dem Weg hierher gesehen hatten, wurden regelrecht und auf das Schlimmste missachtet. An fast jeder Ecke standen Trainer mit ihren Pokémon oder trugen sie wie Kuscheltiere vor sich her. Kleinere, die nicht auf dem Arm herumgetragen wurden, hatten Probleme, mit ihren Meistern Schritt zu halten. In der Nähe des Ausgangs, welcher Richtung Stadtmitte führte, wurde ein Pokémon-Kampf ausgetragen und blockierte den Gästen wie uns, die gerade ankamen, den Weg zum Ausgang des Bahnhofs. Die Polizei versuchte schon verzweifelt, den Kampf zu beenden und den Streit, der zwischen den Trainern lag, zu schlichten. Bei dieser Menschenmenge und dem Lärm war es mir unmöglich, die weiteren Durchsagen des Zugpersonals zu verstehen. Alles verschwand hinter einer enormen Geräuschkulisse. Mike, der hinter mir endlich aus dem Zug stieg, erstarrte bei diesem Anblick und so wie es aussah, wollte er direkt wieder in den Zug steigen. Ich packte ihn noch rechtzeitig an der Kapuze seiner grauen Winterjacke, die im Inneren mit weißem Stoff gefüttert war, und zerrte ihn wieder heraus. Schnell legte ich meinen Arm um seine Schultern, sodass er nicht mehr flüchten konnte und deutete mit meiner freien Hand in die Menge.
„Das ist doch perfekt“, ich strahlte über beide Ohren und freute mich über das Durcheinander. Genau in diesem Moment flog ein gigantisches Flug-Pokémon wenige Zentimeter über unsere Köpfe hinweg. Unwillkürlich zuckte ich bei diesem Anblick zusammen. Das Ungetüm ohne Federn schwebte über der Station, auf ihm ein Trainer, der nach einem geeigneten Landeplatz suchte. Die dunkelbraunen, ledrigen Flügel schlugen ein paar Mal auf und ab, um die Höhe beizubehalten. Als ich meinen Blick lösen konnte, bemerkte ich, dass ich nicht der Einzige war, der dem Spektakel mit offenem Mund hinterher gestarrt hatte. Die Polizei, die den Kampf beenden konnte, beschwerte sich nun lautstark über den Trainer mit dem mir unbekannten Pokémon. Die Tatsache, dass sich hier die ganze Zeit Pokémon außerhalb ihrer Bälle befanden, machte mich leicht nervös und flößte mir ein wenig Angst ein. Ich wusste nicht, woher diese Angst kam, aber ich mochte es einfach nicht oder konnte es nicht glauben, dass so riesige, furchteinflößende Viecher auf so einen hilflosen kleinen Menschen hörten.
„Komm, lass uns ein Schließfach für deine Tasche finden“ sagte ich zu Mike, als wir begannen, uns auf den Weg machen. Er folgte mir unauffällig. Zu unserem Glück leerte vor uns eine Schulgruppe eine Handvoll der Fächer, sodass wir uns gleich eines für uns reservieren konnten. Als ich Mike sah, wie er seinen Rucksack lieblos in das Fach pfefferte, packte ich ihn am Arm. Er wich verwirrt zurück und schaute mich an. „Ich werde es übernehmen, sorg einfach für die Ablenkung, du kannst eh besser mit anderen Menschen umgehen, wir packen das schon“, sagte ich zu ihm, um ihn ein wenig aufzubauen. „Wenn wir erwischt werden sollten, nehme ich alle Schuld auf mich, aber soweit werde ich es nicht kommen lassen“, fügte ich augenzwinkernd hinzu.
„Wie du meinst“ antwortete er mir. Es lagen immer noch Sorgen in seinen grünen Augen, kein Wunder, wenn ich an das letzte Mal dachte. Wir waren noch sehr jung, als wir das erste Mal Geldbeutel klauten. Unser Ziel damals war der Weihnachtsmarkt, der üblicherweise immer mehrere Wochen dauerte. Die ersten Versuche klappten mehr als gut und schnell wurden wir dadurch übermütig. Wir wussten damals nicht, dass die Polizei uns schon längst auf die Schliche gekommen war. Sie sperrten uns zu allen Seiten den Weg ab und warteten auf einen Zeitpunkt, um uns zu stellen. Dieser ließ nicht lange auf sich warten, als ich voller Stolz den geklauten Geldbeutel einer unachtsamen, alten Dame Mike präsentierte. Das Ganze wurde dann mit einer sehr kurzen Verfolgungsjagd beendet. Dabei wurde ich zu meinem Glück von einem jungen, noch in Ausbildung steckenden Fukano gebissen, bis heute trug ich eine Narbe davon. Aber dadurch waren wir mit einer Verwarnung davongekommen, die Sozialstunden waren auch sehr schnell abgeleistet. Das Schlimmste an dem Ganzen waren jedoch Mikes Eltern, die ihn auf der Polizeiwache abholten. Sie waren fuchsteufelswild und gaben an dem ganzen Dilemma mir die Schuld. Ich hätte ihn dazu angestiftet, ihn überredet mitzumachen. Ich widersprach ihnen nicht, da sie zum Teil recht hatten, doch ich hatte Mike niemals dazu gezwungen, mitzumachen, wenn er „nein“ gesagt hätte, dann hätte er es auch nicht machen müssen. Er wiederum brach sofort in Tränen aus. Für sehr lange Zeit war ich in seinem Elternhaus nicht willkommen. Sie hofften, dass unsere Freundschaft dadurch kaputt gehen würde. Doch sie machten es nur noch schlimmer, da sich Mike die meiste Zeit bei mir Zuhause aufhielt und kaum noch nach Hause kam, weshalb sie das „Besuchsverbot“ wieder aufhoben. Meine Mutter schimpfte bloß mit mir und gab mir Hausarrest, eigentlich eher eine milde Strafe für mein Vergehen. Ich glaube, wenn meine Mutter bei jedem Fehler den wir begangen hatten so ausrasten würde, würde sie heute noch kein Wort mehr mit mir reden und den Rest meines Lebens ins Zimmer sperren. Wie dem auch sei. Ab diesem Zeitpunkt hatten Mike und ich uns geschworen, es nicht noch einmal zu versuchen, nun ja, bis heute. Denn heute standen wir wieder vor dem gleichen Marktplatz, wie vor sechs Jahren. Die Schultasche war verstaut und unsere Aufgaben klar verteilt. Jeden Augenblick würde die Parade beginnen. Wir waren bereit.
Abermals stieg Begeisterung in mir auf. Die ganzen Trainer waren viel zu sehr damit beschäftigt, die Parade zu verfolgen, als auf ihr Hab und Gut zu achten. Mike und ich liefen getrennt voneinander durch die Menge, er war jedoch immer in der Nähe und wartete auf mein Zeichen, auf den Augenkontakt, der ihm das nächste Ziel verriet. Für mich war es ein Kinderspiel, mich durch die Menschenmasse zu bewegen, mich den Bewegungen anzupassen, wann ich langsamer und dann wieder schneller laufen musste, um niemanden anzurempeln oder aufzufallen. Wie ein Schatten. Mit meiner Kleidung, meiner dunklen Jacke und der schlichten Jeans fiel ich gar nicht auf. Die Kapuze bedeckte zur Hälfte mein Gesicht. Gerade so, damit mich niemand gleich erkennen konnte, falls ich doch erwischt wurde, aber noch so weit offen, damit ich genug sah. Bei vielen musste ich zu meinem Vergnügen feststellen, war es nur ein kleiner Handgriff, ein kleiner Rempler und eine kurze, flüchtige Entschuldigung und schon hatte ich deren Geldbörse in der Hand. Sobald ich eine hatte, klappte ich diese schnell auf und entnahm den Inhalt, stopfte ihn schnell in meine Jackentasche und warf sie gleich wieder weg. Falls der Besitzer sie jemals wieder finden sollte, konnte er wenigstens davon ausgehen, dass er sie im Tumult verloren hatte. So verbrachten Mike und ich den ganzen Mittag auf dem Marktplatz, immer ausschauhaltend nach günstigen Gelegenheiten. Hin und wieder sprach Mike jemanden an, um denjenigen abzulenken. Er fragte simple Sachen, wie zum Beispiel nach der Uhrzeit oder nach einer Wegbeschreibung, doch genau dieser kleine Moment der Ablenkung reichte mir aus, um zuzuschlagen. Nur gelegentlich schaute ich rüber zur Parade, nur um festzustellen, wie viel Zeit uns noch blieb. Die ganze Parade wurde sehr groß und pompös aufgezogen, hier wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Die überfüllt dekorierten Wagen, welche alle jeweils verschiedene Themen präsentierten, zogen hin und wieder einen riesigen Ballon mit sich. Die meisten von ihnen hatten die Form eines Pokémons. Viel Konfetti und andere Süßigkeiten wurden in die jubelnde Menge geworfen. Die Kinder freuten sich darüber am meisten und sammelten die Leckereien vom Boden auf. Es erinnerte mich an meine Kindheit, damals, als ich noch selbst auf den Knien herumrutschte, um alles aufzusammeln. Früher waren wir nur zu dritt, meine Mom, meine ältere Schwester und ich. Zu dieser Zeit konnten wir uns öfter solche Ausflüge leisten, Schwimmbad- und Kinobesuche waren in unseren Wochenendplanungen gang und gäbe. Heute waren wir zu viele Banetts und das Geld immer knapp, sonst würde ich jetzt nicht hier stehen. So halb in Gedanken versunken, bemerkte ich, dass die Sonne doch schon sehr tief stand. Ich mochte die kalten Nächte, die schnell anbrachen. Mike stieß mich von der Seite an und riss mich aus meinen Gedanken.
„Alles Ok bei dir?“, fragte er.
Ich nickte. Es war schon sehr spät geworden. Meine Taschen waren voller Geld, welches darauf wartete, gezählt zu werden. Ich hoffte, dass wir einigermaßen die Summe zusammenbekommen würden, die wir brauchten. Selbst wenn nicht, war es mit Sicherheit ein guter Anfang.
„Ich glaub wir sollten langsam aufbrechen, schau, die Parade endet da hinten auch schon.“
Nicht nur mir fiel auf, dass es gleich vorbei war, einige, die sich schon die Füße platt gestanden hatten, machten sich allmählich auch auf den Weg nach Hause. Als wir uns umdrehten und gerade aufbrechen wollten, fiel mir eine Gruppe Teenager auf, die nur ein paar Schritte von uns entfernt standen. Drei Jungs und Zwei Mädchen, sie fielen mir deshalb auf, weil sie sich bewegten wie wir. Geduckt und davonschleichend, als hätten sie etwas zu verbergen. Vor allem das Mädchen mit langen, blonden, gelockten Haaren, das hinter ihnen herlief, weckte mein Interesse. Sie war sehr hübsch, aber nicht nur dass, ihr Rucksack, den sie trug, war zur Hälfte offen und ein Umschlag schaute heraus. Dieser Anblick schrie förmlich nach „komm her und klau mich“. Es kribbelte schon in meinen Fingerspitzen.
„Was ist jetzt schon wieder los?“, fragte mich Mike, als er merkte, dass ich wieder stehengeblieben war.
„Wollten wir nicht nach Hause?“
„Ja schon.“
„Wie, ja schon?“, äffte er mich nach und schaute mich verdutzt an.
„Siehst du die Gruppe da vorne?“, ich wollte gerade sein Gesicht packen und in die Richtung der Gruppe drehen, als er mir die Hand wegschlug.
„Fass mich nicht an, zeig es mir doch einfach!“, forderte er mich genervt auf. Ich wusste nicht, woher seine Stimmungsschwankungen kamen, aber ich vermutete, dass er einfach nur müde war und nur noch nach Hause wollte.
„Nur noch diesen einen Umschlag“, schwor ich und nickte zur Gruppe. Mein Gefühl sagte mir, dass in diesem Umschlag bestimmt etwas Wertvolles steckte, zumindest etwas Wichtiges. Warum sonst sollte man etwas in einen Umschlag tun? Und außerdem enttäuschten mich meine Intuitionen nur selten. Mein Freund schaute angestrengt zwischen mir und den Teenagern hin und her.
„Na gut, aber danach verschwinden wir sofort!“
Mike setzte sich in Bewegung, sein Ziel, das blonde, hübsche Mädchen. Ich war immer wieder erstaunt, wie leicht er sich überreden ließ.
Wir mussten uns beeilen, da sich unser Ziel in Bewegung setzte, doch nicht weit von ihnen entfernt sah ich Mike, der sich langsam der Gruppe näherte. Er ließ sich Zeit, ich blieb auf Abstand. Es musste ihm gelingen, sie von den anderen zu trennen, ohne, dass es auffiel, andernfalls wäre es zu riskant. Wenn sie alle stehen bleiben würden, hätte ich keine Chance, an den Umschlag zu kommen. Also lag jetzt alles an meinem Freund. Er versuchte näher zu kommen, wurde aber stellenweise von anderen Leuten angerempelt und dadurch zurückgeworfen. Das ging eine ganze Weile so, bis Mike sie fast eingeholt hatte und dann kehrt machte, um genau auf das blonde Mädchen zulaufen zu können. Mike schaute in alle Richtungen und tat so, als würde er jemanden suchen. Das war brillant. Dadurch, dass er sie jetzt angerempelt hatte, war sie so perplex, dass sie stehen blieb und ihre Leute sich weiter durch die Menge kämpften, ohne zu bemerken, dass sie fehlte. Ich sah wie sich Mikes Mund bewegte, er war in ein Gespräch mit ihr verwickelt. Das war mein Moment. Mit schnellen Schritten kam ich den beiden näher. Ich streckte meinen Arm aus, um nach dem Umschlag zu greifen, dabei versuchte ich so viel Abstand wie möglich zwischen mir und das Mädchen zu bringen. Ich hatte meine Finger schon an dem Papier und zog den Brief langsam heraus. So, als würde ich gerade eine Bombe entschärfen. So fühlte ich mich auch dabei. Unter meiner Jacke herrschte eine enorme Hitze, die bei jeder Bewegung am Kragen entwich. Den Brief hatte ich sicher in der Hand, als ich nun zum ersten Mal zu Mike hochschaute, der immer noch vor ihr stand. Unser kurzer Blickkontakt war ein fataler Fehler, denn das Mädchen, dem wir gerade den Brief klauen wollten, drehte sich um. Mein Herz machte einen Aussetzer, um dann in rasender Geschwindigkeit mein Blut und Adrenalin im Körper zu verteilen. Jetzt würde sie uns erwischen, meine Gedanken überschlugen sich, für mich kam dieser Moment wie eine halbe Ewigkeit vor. Ganz instinktiv und so schnell ich konnte versteckte ich den Umschlag hinter meinem Rücken. Sie hatte es mit Sicherheit gesehen. Alles um mich herum schien sich langsamer zu bewegen. Selbst mit ihrem entsetzten Gesichtsausdruck sah sie sehr hübsch aus. Sie hatte eine hellgrüne, dick gefütterte Jacke an, um ihren Hals war ein roter Schal gewickelt, der farblich zu ihrem Lippenstift passte. Weiße Handschuhe sowie ihre schwarzen Lackstiefel schützten sie vor der Kälte. Ihre enge Jeans betonte ihre Figur. Sie starrte mich mit ihren haselnussbraunen Augen an. Mike hinter ihr wurde ganz blass im Gesicht und wartete auf eine Reaktion meinerseits. Ich wiederum wartete auf eine Reaktion ihrerseits. Und so blieben wir für den ersten Moment stumm. Als sie ihren Mund öffnete, spannte ich meine Beinmuskeln an, um jeden Augenblick davonrennen zu können.
„Hallo, ich glaube, dein Freund hier sucht dich“, sagte sie zu mir, mit einem französischen Akzent, der mir verriet, dass sie aus der Kalos-Region stammte. Völlig perplex stand ich mit offenem Mund vor ihr. Hatte sie gar nichts gemerkt? Als sie über meinen Gesichtsausdruck kicherte, musste ich davon ausgehen, dass sie von all dem nichts mitbekommen hatte. Zu unserem Glück. Als mir diese Tatsache bewusstwurde, beruhigte sich mein Herzschlag allmählich und ich konnte meine Muskeln entspannen. Ich wusste immer noch nicht, wie ich auf sie reagieren sollte. Doch Mike konnte sich sammeln und übernahm das Wort.
„Da bist du ja, ich habe dich schon überall gesucht“, log er. Er kam zu mir rüber und stellte sich direkt neben mich.
„´Tschuldigung, ich habe dich wohl in der Menge verloren“, sagte ich verlegen und rieb mir mit der freien Hand den Hinterkopf, während ich mit der anderen immer noch den Umschlag hinter meinem Rücken versteckte.
„Seid ihr von hier?“, wollte sie von uns wissen.
„Ja“
„Nein“
Wie aus einem Mund kamen unsere zwei verschiedenen Antworten. Sie schaute uns zunächst verwirrt an, doch ihr Gesichtsausdruck änderte sich. Sie war verärgert. Oh man, wenn das so weiter ging, würde sie noch auf den Trichter kommen, dass hier etwas oberfaul war. Deswegen übernahm ich schnell das Wort.
„Was wir meinten ist, dass wir schon von hier sind, nur, dass wir etwas außerhalb wohnen, ich bin übrigens Ian und das hier ist Mike, es freut uns, dich kennen zu lernen, wie heißt du?“, stellte ich uns vor und streckte ihr meine freie Hand hin.
„Nennt mich Rose.“ Sie nahm lächelnd meine Hand und schüttelte sie, während sie dabei einen kleinen Knicks machte. Plötzlich griff ihr jemand an die Schulter.
„Was tust du da? Wir müssen los, komm schon“.
Es war ein Junge aus ihrer Gruppe, der anscheinend den Verlust seiner Kameradin bemerkt hatte. Wie ich besaß er pechschwarzes Haar und war von oben bis unten in Schwarz gekleidet.
„Ich komme sofort“, sagte sie zu ihm und wandte sich wieder mir zu.
„Du bist echt süß, falls ihr noch nichts geplant habt, wir sind noch etwas länger hier und möchten nächste Woche Samstag im Wailiquide feiern gehen, vielleicht sieht man sich dort. Au revoir.“ Das waren ihre letzten Worte, bevor sie sich eilig umdrehte und mit dem Jungen verschwand. Die Bemerkung, dass ich süß war ließ mich leicht erröten. Und das von so einem hübschen Mädchen. Ich hatte ihr genau zugehört, ich wollte sie unbedingt wiedersehen. Die Hand die den Umschlag hielt, war schon ganz schwitzig und klebte schon leicht an dem Papier. Das Ganze hätte schnell nach hinten losgehen können. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, wir waren doch schon so gut wie fertig. „Du willst aber nicht ernsthaft dorthin?“, stellte er mir die Frage, als hätte er meine Gedanken gelesen.
„Warum nicht, wird bestimmt lustig.“
„Nur, weil ein Mädchen dich mal süß findet, musst du ihr nicht gleich hinterherrennen. Außerdem, wenn sie herausfindet, dass wir sie beklaut haben, wird sie dich ganz sicher nicht mehr süß finden“.
Aus irgendeinem Grund war er sauer auf mich.
„Was ist bloß los mit dir, gönn mir doch auch mal was, du hast schließlich eine Freundin. Lass mir doch auch mal meinen Spaß.“
Währenden wir diskutierten stiegen wir in den Zug ein. Mike´s Tasche hatten wir vorher noch aus dem Schließfach geholt. Den Umschlag hatte ich ebenfalls in meine Jackentasche zu den Geldscheinen gestopft. Wir mussten durch den halben Zug gehen, bis wir endlich einen Sitzplatz für uns fanden.
Kaum war der Zug abgefahren, ging die Diskussion auch schon weiter.
„Außerdem wird sie nicht herausfinden, dass wir es waren, wie auch? Der Umschlag hing ihr eh schon halb aus der Tasche.“
„Trotzdem kein Grund, dort hinzugehen.“ Seine Argumente ließen nach.
„Wenn es dich glücklicher macht, kannst du ja gerne Chloe mitnehmen, quasi ein Doppeldate.“
Er verzog das Gesicht.
„So langsam glaube ich, dass du eifersüchtig bist“, sagte ich.
„I... Ich, nein... ich bin nicht eifersüchtig“, stotterte er vor sich hin. Jetzt hatte ich ihn erwischt.
„Du kannst mir sowas ruhig sagen“, witzelte ich und stieß ihn leicht mit dem Ellenbogen in seine Rippen.
„Nein! Ich bin wirklich nicht eifersüchtig!“, sagte er diesmal ernst.
„Ich weiß nur nicht, was ich davon halten soll, dass wir uns mit jemandem treffen, den wir zuvor noch bestohlen haben, das ist alles“, versicherte er mir. Ich hatte ihm schon gar nicht mehr richtig zugehört. Ich konnte jetzt nicht mehr ernst bleiben.
„Gib´s zu, du findest sie auch hübsch“, sagte ich und grinste dabei wie ein Trottel.
„Nein… sie ist absolut nicht mein Typ.“ Genervt verschränkte er seine Arme vor der Brust. Für ihn war das Thema vorerst beendet. Immer noch darüber amüsiert wandte ich meinen Blick zum Fenster, es würde wohl noch eine Weile dauern, bis wir aussteigen konnten. Es wurde draußen immer dunkler, vom Sonnenuntergang bekam man hier in der Großstadt leider nicht sehr viel mit. Was für ein Tag, normalerweise verbrachte ich Sonntage im Bett oder ganz faul vor dem Fernseher. Von dem ganzen Adrenalin fühlte ich mich noch immer großartig, merkte aber schon, wie mein Körper müde wurde. Auch meine Augen wurden langsam schwerer.
Doch Mike riss mich schnell wieder aus meinem Halbschlaf.
„Ich frage mich immer noch, warum du unsere richtigen Namen verwendet hast. Waren wir uns nicht einig, welche zu erfinden?“ Er rieb sich genervt die Augen, dabei schob er seine Brille bis an die Stirn hoch. Als er fertig war, setzte er sie ab und schob sie zurück in seine Jackentasche. Ich wollte darauf nicht antworten. Er war gedanklich wohl immer noch bei diesem Zwischenfall.
„Lernen wir heute noch?“ fragte ich Mike. Ich wollte versuchen, ihn auf andere Gedanken zu bringen.
„Hm, nein, ist mir zu spät“, sagte er, zog sein Handy aus seiner Hosentasche hervor und begann darauf herum zu tippen.
„Chloe wartet schon zu Hause auf mich, wenn du willst, werde ich sie fragen, ob sie mit möchte“, sagte Mike zu mir.
„Einverstanden.“
Der Zug wurde langsamer, wir waren an der Station angekommen, an der Mike aussteigen musste.
„Ich gebe dir morgen in der Schule Bescheid“, sagte er, während er Aufstieg und zur Schiebetür lief.
„Bis morgen“, rief ich ihm nach. Die Tür öffnete sich, er stieg aus und sie schloss sich direkt hinter ihm wieder.
Kapitel 3 - Mike
Leise schloss ich die Haustür hinter mir zu. Die Schuhe streifte ich mir von den Füßen ab und ließ sie auf dem Teppich zurück, um keinen Schmutz im Haus zu verteilen. Meine Jacke hängte ich sorgfältig über einen Kleiderbügel in der Garderobe. Im Vergleich zu draußen, war es hier drin sehr warm. Ich ging vom Flur direkt in die Küche. Ich war nicht sonderlich überrascht, als ich hier meine Eltern vorfand. Sie waren gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten. Wir hatten eine sehr große Küche mit weißen Fronten an den Schränken und eine dunkelbraune Arbeitsfläche, in der Mitte gab es eine Insel, an dem drei Barhocker standen. Diese trennte den Küchenbereich von dem Esszimmer. Chloe saß auf einem dieser Hocker. Sie bemerkte mich als erstes.
„Hi Mike, da bist du ja.“ Sie kam zu mir herüber, drückte mich kurz und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Meine Eltern drehten sich erstaunt zu mir um und grüßten mich ebenfalls. Chloe hatte einen langen Rock an, der ihr bis zu den Knien ging, darunter trug sie schwarze Strümpfe, die gut zu ihrem grob gestrickten, hellgrauen Oberteil passten.
„Du siehst hübsch aus“. Mein Kompliment ließ sie erröten.
„Danke. Wo warst du heute?“, fragte sie mich. Ich schaute kurz auf, um zu prüfen, ob meine Eltern mir zuhörten. Sie schauten mich an und warteten auf eine Antwort.
„Ich war bei Ian lernen, das weißt du doch“, log ich. Meine Freundin brauchte einen Moment, bis sie verstand, dass ich die Wahrheit nicht vor meinen Eltern sagen konnte, sie hatte mich nämlich sofort durchschaut.
„Ach so, ja stimmt, das hatte ich ganz vergessen.“ Sie spielte mit und mimte die Ahnungslose. Ich war ihr dankbar dafür, meine Eltern bemerkten meine Lüge zum Glück nicht, ganz im Gegenteil, sie freuten sich, dass ich wieder da war und ich etwas für die Schule getan hatte. Kurz darauf drückte mir meine Mutter vier Teller in die Hand.
„Spatz, das Essen ist gleich fertig, magst du schnell den Tisch decken?“
Sie fragte nur aus Höflichkeit, denn ich wusste, dass das eher ein Befehl war. Ich nickte kurz und trug die Teller rüber zum Esszimmertisch. Chloe blieb nicht verschont, mit Besteck bewaffnet folgte sie mir. Als wir fertig waren, beugte sie sich über den Tisch zu mir rüber.
„Wo warst du wirklich?“, flüsterte sie, darauf bedacht, dass nur ich sie hörte.
„Sag ich dir später“, flüsterte ich zurück. In diesem Augenblick kam meine Mutter mit einer großen Schüssel voll dampfendem Nudelauflauf. Ich war verdammt hungrig, stellte ich fest, als mein Magen sich mit einem lauten Grummeln meldete.
Mit Bauchschmerzen schleppte ich mich hoch in mein Zimmer. Chloe versprach mir, dass sie gleich nachkäme, sobald sie mit dem Abwasch geholfen hatte, den sie an meiner Stelle machte. Mein Zimmer war so ordentlich wie immer, links in der Ecke stand mein Bett, welches man nur von einer Seite besteigen konnte, da die andere direkt an der Wand stand. Gleich daneben befand sich mein Nachtschränkchen mit einer kleinen Leselampe. Zwischen dem Bett und dem Schrank, der ganz hinten rechts in der Ecke stand, gab es ein Fenster. Gegenüber vom Fenster, an der Wand, stand mein Schreibtisch, auf dem meine Hausaufgaben für morgen lagen, die ich jetzt noch schnell einpackte. Danach legte ich mich auf mein Bett und schaltete den Fernseher ein, den ich letztes Jahr von meinen Eltern zum Geburtstag bekommen hatte. Meist lief eh nur langweiliges Zeug das mich nicht interessierte, deshalb zappte ich so lange durch, bis ich schließlich beim Sportkanal hängen blieb. Fußball. Ich mochte Fußball, als Kind war ich in einem Verein Mitglied, aber das war schon ein paar Jahre her. Ian und ich kickten bei Gelegenheit auf dem Industriehof, welchen wir immer aufsuchten, um ungestört zu sein. Der Industriehof hatte vor vielen, vielen Jahren zugemacht und mit der Zeit verfiel das ganze Gebäude, da sich niemand mehr darum kümmerte. Das Gelände war umzäunt, doch wir fanden eine Stelle zwischen zurückgelassenen Paletten, an der wir reinschlüpfen konnten ohne gesehen zu werden. Es war ein idealer Ort, um abzuhängen. Beim Sportkanal zeigten sie nur die Endergebnisse der dieswöchigen Spiele und deren Highlights. Mein Team, die Stratos Tohaido´s hatten leider zwei zu null verloren.
Enttäuscht rieb ich mir das Gesicht. Ich schaute auf meinen Wecker, der mir neun Uhr anzeigte, eigentlich noch keine Zeit, um ins Bett zu gehen, doch ich war Hunduster-Müde. Deshalb stand ich auf, zog ein frisches T-Shirt aus meinem Schrank und ging ins Bad, dort ging ich schnell duschen, putzte mir die Zähne und zog mir frische Sachen an. Als ich zurück in mein Zimmer kam, stand Chloe mitten im Raum und zog sich um, sie hatte einen süßen Pyjama mit Pichu´s drauf.
„Ist das Bad frei?“ Ich nickte als Antwort. Sie verschwand kurz und tauchte erst wieder auf, als ich schon im Bett lag. Sie zog die Bettdecke zurück, legte sich neben mich und zog sie dann wieder hoch bis zum Kinn. Den Fernseher hatte ich zuvor schon ausgeschalten, meine Nachttischlampe war nun die einzige Lichtquelle in meinem Zimmer und spendete genug Licht, um noch alles zu erkennen.
„Mir ist kalt“, sagte sie zu mir.
„Dann komm her, ich drück dich warm“, bot ich ihr an und hob ein wenig die Decke hoch.
„Ist das auch in Ordnung für dich?“ Sie machte sich immer viel zu viele Sorgen.
„Na klar! Ich bin doch schließlich dein Freund“, sagte ich zu ihr und musste schmunzeln. Daraufhin kuschelte sie sich an mich, legte ihren Kopf auf meine Brust und drückte ihre eiskalten Hände und Füße an mich. Vor der Kälte war ich nicht gewappnet und schreckte lachend zurück.
„Du bist ja eiskalt.“
„Ich hab´s dir doch gesagt.“ Sie fing ebenfalls an zu lachen. Wir hatten selten solche Momente. Wir hatten keine körperliche Beziehung, sondern eher eine praktische, wie ich sie gerne nannte. Sie schlief nicht sehr oft bei mir oder ich bei ihr, da sie meistens um diese Uhrzeit noch kellnerte, um damit ihr Studium zu finanzieren. Heute hatte sie ausnahmsweise mal frei, da sie eine Schicht mit ihrer Kollegin getauscht hatte.
„Wo warst du heute den ganzen Tag?“ Kurz musste ich überlegen, ob ich ihr die Wahrheit sagen konnte, entschied mich aber, es doch zu tun.
„Ich war heute bei der Parade mit Ian“, antwortete ich ihr wahrheitsgemäß. Wenn Chloe und ich uns mal sahen, versuchten wir immer, uns alles zu erzählen, was wir gemacht hatten, was uns Spaß gemacht hatte oder was uns auch mal auf die Palme brachte. Sie war ein mehr als angenehmer Ausgleich zu Ian. Denn bei ihm konnte alles nicht schnell genug gehen, in dieser Hinsicht war er doch ein sehr sprunghafter, aber immer stets gutgelaunter Mensch und genau das mochte ich so sehr an ihm. Mein Leben wäre sonst nur halb so interessant, wenn ich nicht stets irgendeinen Mist mit ihm baute. Durch die Erinnerungen, die gerade in mir wachgerufen wurden, musste ich grinsen.
„Ich will auch mit lachen“, meldete sich Chloe amüsiert zu Wort, die mich offensichtlich die ganze Zeit beobachtet hatte.
„Nichts Wichtiges, ich habe nur an Ian gedacht.“ Sie drehte sich auf ihren Bauch und stützte ihren Kopf mit beiden Händen, um mich besser sehen zu können.
„Was habt ihr auf der Parade gemacht? Ich dachte, Ian mag solche Veranstaltungen nicht?“, fragte sich mich und wartete meine Reaktion ab. Ich lehnte mich ein wenig zu ihr rüber.
„Ich sag es dir, aber du darfst es niemandem sagen, einverstanden?“, flüsterte ich.
Sie nickte, zum Zeichen, dass sie es verstanden hatte.
„Kannst du dich an die Geschichte erinnern, die vom Weihnachtsmarkt, die ich dir mal erzählt habe, die, die erklärt, warum meine Eltern Ian nicht so sonderlich mögen?“, fragte ich sie. Sie nickte wieder, sie verstand jedoch noch nicht, vorauf ich hinauswollte.
„Nun ja, das haben wir heute wieder gemacht, auf der Parade, wir wollten…“.
„Ihr habt WAS?!“, schrie sie mich an. Ich legte schnell meine Hand auf ihren Mund.
„Schhhh…, Willst du, dass meine Eltern dich hören?“ Mein Herz schlug auf einmal schneller, leichte Panik stieg in mir auf. Ich wollte mir nicht ausmalen was passierte, wenn meine Eltern ins Zimmer kamen und fragten, was los sei und Chloe ihnen dann alles erzählte.
„Du darfst es ihnen nicht sagen, du hast es mir gerade noch versprochen“, erinnerte ich sie.
Ich nahm langsam meine Hand zurück, bereit, sie wieder drauf zu legen, falls sie nochmal so schreien würde. Doch sie blieb ruhig.
„Bitte, es darf wirklich niemand wissen“, flehte ich sie an. Sie sah mich scharf musternd an, als überlegte sie noch, was sie antworten sollte.
„Ok, ich verspreche es. Aber was habt ihr euch nur dabei gedacht? Ihr hättet erwischt werden können, stell dir mal vor, was passiert wäre.“ Sie war immer noch ein wenig aufgebracht. Das verstand ich, die gleichen Befürchtungen hatte ich auch, bevor ich Ian heute Morgen noch zustimmte. Bei einer Verwarnung wäre es dieses Mal garantiert nicht geblieben.
„Keine Ahnung, ich wollte ihm nur helfen.“
Chloe schüttelte verständnislos ihren Kopf, ich konnte es ihr noch nicht einmal verübeln.
„Für was habt ihr das Geld gebraucht?“
„Für eine Stromrechnung, du weißt, sie haben nicht so viel Geld.“ Seine Rabenmutter kümmerte sich ja nicht um solche Sachen. Beinahe wäre mir dieser Satz auch noch herausgerutscht. In dieser Hinsicht tat Ian mir leid, dass er so einen verantwortungslosen Elternteil hatte, und dass er schon jetzt so viel Verantwortung übernehmen musste, wahrscheinlich schon sein ganzes Leben lang. Aber ich hatte auch schließlich nicht das Recht dazu, hinter ihrem Rücken zu Urteilen.
„Es ist ja nichts passiert“, versicherte ich ihr.
„Es hätte aber was passieren können.“
„Ist es aber nicht.“
„Hat es sich wenigstens gelohnt?“ fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern.
„Du weißt gar nicht, wie viel?“ fragte sie entsetzt. Ich zuckte wieder mit den Schultern, mir war es relativ egal, wieviel es war, ich wusste, Ian würde es mir morgen schon sagen, wenn nicht, würde ich ihn fragen. Das Wichtigste für mich war, dass ich ihm helfen konnte, das Geld spielte hierbei keine Rolle, für mich zumindest.
„Du hast ihn wirklich sehr gern, hm?“, fragte sie nun sanft. Über dieses Thema wollte ich nun wirklich nicht mit ihr reden, das ging sie auch nichts an. Ich fragte sie auch nicht nach Mazen, in den sie verknallt war und sich nicht traute, ihn anzusprechen. Ich atmete tief ein und wieder aus.
„Ich bin müde, lass uns schlafen“, sagte ich schroffer, als ich wollte und knipste die Nachttischlampe aus. Kaum war das Licht aus, verflüchtigte sich meine Müdigkeit und ich lag hellwach in meinem Bett. Chloe war die Einzige, die davon wusste, welche Gefühle ich für Ian hatte.
„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich bei ihr wegen meiner schroffen Art, ich wusste, dass sie es nur gut meinte.
„Kein Problem, ich wünsche dir eine gute Nacht“, sagte sie verständnisvoll.
„Danke, wünsche ich dir auch.“
Es brauchte eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Mit der Zeit wurde es aber immer besser, sie gewöhnten sich an die Straßenlaterne, die jede Nacht in mein Zimmer schien. Das Licht störte mich nicht, ganz im Gegenteil, es beruhigte mich, da ich selbst in später Nacht alles in meinem Zimmer erkennen konnte. Nicht, dass ich direkt Angst im Dunklen hatte, aber als angenehm empfand ich es auch nicht. Ian hingegen mochte die Dunkelheit. Er verbarrikadierte sich regelrecht, wenn er schlief, laut seiner Aussage konnte er sonst nicht schlafen. Meine Gedanken schweiften von einem Thema zum anderen. Ich ließ auch den heutigen Tag vor meinen Augen Revue passieren und je mehr ich darüber nachdachte, umso bescheuerter fand ich das Ganze. Wir hatten echt verdammt viel riskiert, vor allem für diesen dummen Briefumschlag. Ich hoffte für Ian, dass es sich gelohnt hatte. Warum ließ ich mich immer wieder von ihm überreden, solche verrückten Dinge zu tun? Ich stellte mir oft diese Frage, obwohl ich die Antwort schon wusste und das nervte mich tierisch. Ich wusste, dass es irgendwann soweit war, dass ich meinen Eltern, meinen Freunden und auch Ian gestehen musste, ihnen sagen musste, dass ich nicht so war, wie sie alle dachten.
Doch ich hatte furchtbare Angst. Angst vor ihren Reaktionen. Wie würden sie überhaupt reagieren? Ich konnte es selbst bei meinen Eltern nicht einschätzen. Mein Vater? Was würde er sagen? Würde er überhaupt etwas sagen? Würden sich meine Freunde in der Schule von mir abwenden? Ian. Wie würde er mit der Wahrheit umgehen? Hatte er Verständnis, so wie Chloe? Alles Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort wusste, wenn ich nicht gestand, wenn ich mich nicht outete. Ich lag fast tagtäglich hier und zerbrach mir darüber den Kopf. Wann sollte ich es tun? Sollte ich es überhaupt tun? Ich musste. Es machte mich schon jetzt verrückt in solch einer Zwickmühle zu stecken. Es war ein Fluch, nicht so sein zu können, wie man eigentlich war und ich wusste, je länger ich wartete, umso schlimmer würde es werden. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich in den Schlaf fiel. Um halb Zwölf schaute ich das letzte Mal auf die Uhr. Mein letzter Gedanke war, dass mein Geheimnis vorerst bei mir und Chloe sicher war.
Ich hatte eine furchtbare Nacht. Immer wieder weckte mich der Lärm von draußen. Egal ob es Sirenen waren oder zwei Felilou, die sich gerade einen territorialen Kampf lieferten. Jedes Mal brauchte ich mindestens eine Viertelstunde, bis ich wieder in den Schlaf fand, solange, bis mich das letzte Mal der Wecker von Chloe um halb sechs wachrüttelte. Sie stand immer eine halbe Stunde vor mir auf, um sich im Bad fertig zu machen, danach kam sie zu mir und weckte mich ein zweites Mal. Als wir dann beide fertig waren mit Zähneputzen und Umziehen, gingen wir gemeinsam die Treppen runter um zu frühstücken. Meine Eltern ließen die Sachen für uns meistens auf dem Tisch stehen, wenn sie vor uns aus dem Haus gingen. Erst am Frühstückstisch wechselten wir das erste Mal wieder ein paar Worte.
„Hast du gut geschlafen?“
„Nein, nicht so wirklich und du?“ fragte ich meine Freundin.
„Ich habe sehr gut geschlafen. Nachdem es nicht mehr so kalt war“, sagte sie amüsiert. Sie beeilte sich mit dem Frühstück, da ich wusste, dass sie schon den ersten Zug um sieben Uhr erwischen wollte. Sie schmierte sich das letzte Brötchen und packte es in ihre Schultasche.
„Wir sehen uns später in der Pause?“, fragte sie mich, als sie sich ihre Winterstiefel anzog und den Schal um ihren Hals wickelte.
„Natürlich, bis später“, rief ich ihr noch nach, bevor sie die Haustür hinter sich schloss.
Ich ließ mir Zeit und packte erst alle Sachen zusammen, nachdem ich fertig war und ich keinen Bissen mehr runter bekam. Schnell sammelte ich die wichtigsten Sachen ein, wie Schultasche, Handy und meine Brille, die ich gestern in der Jackentasche vergessen hatte. Ich drehte mich kurz prüfend um, ob ich auch alle Lichter ausgeschaltet hatte und schloss erst die Tür, als ich mir sicher war. Nur zehn Minuten brauchte ich von zu Hause bis zu meiner Station. Dort standen neben mir noch viele andere Schüler, die auf den Zug warteten. Ich nahm immer den späteren Zug, da ich wusste, wenn Ian sich die Mühe machte aufzustehen, dann würde er diesen hier nehmen. Nach etwa drei Minuten fuhr er schließlich ein und ich konnte im hinteren Bereich einsteigen. Der Vorteil, wenn man weiter außerhalb wohnte lag darin, dass noch einige Plätze frei waren und es sich erst nach der Hälfte der Strecke so füllte, dass man stehen musste. Ich hielt Ausschau nach Ian, konnte ihn aber auf unserem gewohnten Platz nicht finden. Wieso war es mir irgendwie klar, dass er heute die ersten Stunden schwänzen würde? Alleine nahm ich auf dem Doppelsitz Platz und verstaute die Tasche im Fußraum. Ich konnte Ian noch nicht einmal eine Nachricht mit meinem Handy schicken, da er selbst keines besaß. Er würde schon irgendwann auftauchen, wie immer. Ist ja nicht so als wäre das eine Seltenheit bei ihm, sondern eine Gegebenheit. Nach circa zwanzig Minuten kam ich an unserer Schule an, der Stratos High. Die Schule bestand aus mehreren Gebäuden. Einmal die Klassensäle, dort fand der normale Unterricht statt, wie Mathe, Deutsch und Biologie. Dieser Bereich wurde als Block A bezeichnet. Dann gab es noch die Sportanlagen, welche sich im Block B befanden und etwas außerhalb lagen. Die Anlagen wurden nicht nur von Schülern verwendet, sondern auch gerne mal von der Stadt, die dort Veranstaltungen austrug. In Block B hatten wir auch eine große Festhalle, die die Theatergruppe gerne nutzte, da dort eine Bühne bereitstand. Block C teilte sich nochmals in drei Bereiche auf. Bereich eins war das Labor, der zweite Bereich war die Werkstatt und der dritte war die Mensa, dort konnten wir uns während den Pausen aufhalten. Einen Kiosk und eine Kantine gab es dort auch. Das Lehrerzimmer wiederum befand sich im ersten Block. Da ich in den ersten beiden Stunden Mathe hatte, schlug ich den Weg Richtung BA ein. Diese Kürzel benutzte hier jeder, selbst die Lehrer. Es war kurz vor acht, als ich vorm Klassenzimmer ankam. Wie jeden Montagmorgen mussten wir auf unseren Mathelehrer Mr. Brown warten. Ein paar Minuten nach Unterrichtsbeginn, tauchte er endlich auf, mit einer Tasse Kaffee in der Hand und in der anderen schon den Schlüssel, bereit uns gleich die Tür aufzuschließen. Er kam meistens zu spät, wenn Ian mal montags zur rechten Zeit erschien, dann machte er sich ständig über unseren Mathelehrer lustig, dass er nur zu spät käme, da er zu fett war und sich morgens lieber noch die Zeit nahm, um sich einen weiteren Donut reinzuschieben. Zwar mochte ich Ian´s Wortwahl nicht immer, aber die Tatsache, dass Herr Brown das Doppelte, wenn nicht sogar das Dreifache von mir war, konnte man nicht abstreiten. Als das Klassenzimmer offen war, nahm jeder seinen gewohnten Platz ein und packte seine Hausaufgaben aus. Von Ian war mal wieder weit und breit keine Spur und mein rechter Platz blieb leer. Die erste Stunde verbrachten wir damit, die Hausaufgaben zu korrigieren, welche Mr. Brown immer gerne ausführlich besprach und Schüler, die Unklarheiten hatten, aufklärte. In der zweiten Stunde kam dann wieder ein neues Thema dran. Die Doppelstunde am Montag machte mir gar nichts aus, ganz im Gegenteil, sie machte mir richtig viel Spaß, gerade weil Mr. Brown so ein angenehmer und gemütlicher Lehrer war, nur selten musste er streng werden, da die Hälfte der Klasse um diese Uhrzeit sowieso noch schlief. Pünktlich läutete die Glocke die erste Pause ein. Ich packte schnell meine Sachen, da ich wusste, dass Chloe in Block C auf mich wartete.
Als ich über den Pausenhof lief bemerkte ich, dass sich die Nebelbänke durch die Sonne langsam verflüchtigten. Die Bäume und Pflanzen hatten aber dennoch einen Frostschimmer, der in der Sonne wunderschön glitzerte. Die Luft roch sauber und erzeugte beim Ausatmen eine kleine Dunstwolke vor der Nase und dem Mund. Vor der Kantine und dem Kiosk gab es sehr viele Tische, an denen man Platz nehmen konnte, um sein gekauftes oder mitgebrachtes Essen zu verspeisen. In der Ferne konnte ich Chloe an ihrem rosa Schal erkennen und zu meiner Verwunderung auch Ian. Er saß auf einem der Tische und stellte seine Füße auf der darunter liegenden Sitzbank ab. Neben ihm stand ein Pappbecher mit Kaffee.
„Hi“, begrüßte ich sie alle, Chloe nahm ich kurz in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Neben ihr standen ihr besten Freundinnen Lisa und Jenny, die mit ihr in dieselbe Klasse gingen, beziehungsweise fast die gleichen Kurse teilten. Neben Ian saß Stan, der seine Pausen immer bei uns verbrachte. Chloe und Stan kannten sich schon sehr lange, wie lange wusste ich leider nicht und woher auch nicht. Stan war so ein richtiger Durchschnittstyp, durchschnittlich groß, durchschnittlich gebaut und auch eine durchschnittliche Frisur. Braune Haare, braune Augen. Er interessierte mich nicht, ich fand ihn noch nicht einmal hübsch, aber er gehörte einfach zu unserer Clique. Ich wusste, ich durfte ihn nicht so anstarren, aber ich tat es trotzdem. Ian hatte die gleiche schwarze Jacke an wie gestern und wie immer eine blaue Jeans. Er trug schwarze Handschuhe, die an den Fingerspitzen offen waren, mit denen er gerade geschickt eine Zigarette drehte. Ich beobachtete ihn, wie er die fertige Zigarette zwischen seine Lippen heftete, wie er leicht die Augen zusammenkniff, was er immer tat, wenn er nach dem Feuerzeug in seiner Jackentasche suchte.
Wie lässig er auf dieser Bank saß und wie sexy er damit auf mich wirkte. Mit einer Hand hielt er das Feuerzeug und mit der anderen schützte er die Flamme. Ich fühlte mich wie ein Perverser, der die ganze Zeit sein Opfer beobachtete. Eigentlich konnte ich es überhaupt nicht leiden, wenn er rauchte, am liebsten hätte ich ihm das Ding gleich wieder aus der Hand geschlagen und doch gehörte es zu Ian, es war ein Teil von ihm. Kaum hatte er die Hände runtergenommen, blickte er zu mir auf. Es traf mich wie ein Blitz, wie, als hätte mich jemand beobachtet und angeschrien, wie ein Kind, das etwas Unerlaubtes tat, das ihm seine Eltern zuvor noch verboten hatten. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Genervt über mich selbst brach ich schnell den Augenkontakt ab, den ich sowieso nie lange halten konnte. Diese blaugrauen Augen, die mich wahnsinnig machten.
„Hey, darf man hier nicht mal mehr eine Zigarette rauchen, ohne, dass du gleich sauer auf mich bist?“ fragte er entrüstet. Er zog zu meiner Erleichterung die falschen Schlüsse. Wie auch immer. Ich schüttelte bloß den Kopf, mehr an mich zur Warnung und dass ich die Bilder aus dem Kopf bekam. Unter meiner Jacke staute sich schon die Hitze. Das Klingeln zur nächsten Stunde befreite mich von meinen Qualen und es gelang mir, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich verabschiedete mich von Chloe und den anderen und schlenderte mit Ian wieder zurück Richtung Block A. Wir hatten jetzt gemeinsam zwei Stunden Biologie. Unsere Biologielehrerin war noch sehr jung und arbeitete hauptsächlich mit Aufgaben, die wir als Team lösen und bearbeiten sollten. Dadurch entstand im Klassenzimmer immer ein noch angenehmerer Geräuschpegel. Deshalb fiel es niemandem auf oder hörte zu, wie ich mich mit Ian wegen gestern unterhielt.
„Bist du gestern noch gut nach Hause gekommen?“ wollte ich von ihm wissen.
„Ja klar, habe aber noch einen kurzen Abstecher ins Quinn´s gemacht.“
Er war also noch in unserer Stammkneipe, aber seinem Geruch nach zu urteilen, hatte er es nicht übertrieben. Er hatte mal keine Alkoholfahne.
„Und was ist mit dem Brief, also dem Umschlag?“
„Ich habe ihn noch nicht aufgemacht“, gestand er. Er lächelte. „Das wollte ich eigentlich heute Mittag mit dir machen. Hast du nach der Schule Zeit?“ fragte er mich. Ich freute mich, dass er dabei an mich dachte.
„Ja, ich habe Zeit“, stimmte ich zu.
„Industriehof?“
„Industriehof“, bestätigte ich. „Hast du wenigstens das restliche Geld nachgezählt?“
„Ja habe ich.“
„Und?“
„Knapp dreitausend Dollar“, verkündete er erfreut. Das Geld würde aber niemals für die Rechnung reichen. Er sah mein enttäuschtes Gesicht.
„Den Rest bekomme ich auch so noch irgendwie zusammen, ich lass mir schon was einfallen.“ Er versuchte mich mit seinen Worten aufzubauen. Für eine Weile arbeiteten wir stillschweigend vor uns hin.
„Hast du Chloe wegen Samstag schon gefragt?“, unterbrach Ian die Ruhe. Ich schüttelte den Kopf, das hatte ich ganz vergessen.
„Ich frage sie aber gleich in der fünften und sechsten Stunde, da haben wir zusammen Poké-Kunde“ antwortete ich ihm. Die Unterrichtsstunde zog sich ein wenig in die Länge oder lag es daran, dass ich es kaum erwarten konnte, meinen Nachmittag mit Ian zu verbringen? Auch diese Doppelstunde wurde durch ein Klingeln zur Pause beendet. Unser Treffpunkt: Der gleiche Tisch vor dem Kiosk wie in der ersten Pause. Auch nun warteten die anderen schon auf uns.
„Freust du dich auch schon auf die Poké-Kunde? So wie es aussieht, dürfen wir heute mit einem echten Pokemon arbeiten“, teilte Chloe mir erfreut mit. Sie freute sich riesig darüber und klammerte sich an meinem Arm fest. Ich freue mich mit ihr darüber.
Unsere Lehrerin hatte schon einmal ein Pokemon in die Unterrichtsstunde mitgebracht, doch letzte Woche kündigte sie an das wir heute sehr wahrscheinlich jeder eines zur Studie bekommen können. Natürlich nur leihweise. Den Pokemon durfte man nur dann besitzen, wenn man einen entsprechenden Ausweis besaß. Diesen jeder Trainer haben musste um ein Pokemon überhaupt besitzen zu dürfen. Das waren nun mal die Vorschriften. So einen Ausweis bekommt man schon mit vierzehn Jahren, wenn man sich entscheidet Trainer zu werden. Der einzige Haken an der Sache ist, dass dieser Ausweis und die Reise, wenn man sich dafür entschied, unglaublich teuer sind. Schon allein die Startgebühren, welchen die Aufenthalte und Übernachtungen im Pokemon-Center beinhalteten, konnte sich kaum jemand leisten. Geschweige denn, die Kosten eines Pokemon, welches einem zur Verfügung gestellt wird und deren Kosten für die Behandlungen nach einem Kampf oder ähnliches. Normalerweise wollte ich mich für solch einen Ausweis anmelden, daraus wurde leider nichts, da sich meine Eltern dagegen entschieden hatten. Sie meinten ich solle etwas Besseres aus meinem Leben machen und schickten mich auf die Stratos High. Den Poke-Kunde Kurs belegten Chloe und ich als Leistungskurs, da sie eines Tages mal als Krankenschwester in einem Pokemon-Center arbeiten möchte. Natürlich ist dafür ein super Notendurchschnitt notwendig und da ich auch gerne als Arzt für Pokemon arbeiten möchte brauche auch ich solch einen guten Notendurchschnitt. Nach der Schule ist für solch einen Beruf erst mal eine jahrelange Ausbildung Pflicht, bevor man sich überhaupt einen Pokemon nähern darf. Aber ich wollte schon immer mit Pokemon arbeiten. Vor vielen Jahren war ich mit meinen Eltern auf einem Jahrmarkt unterwegs. Dort gab es ein Streichelzoo für Kinder, damals konnte man dort kleine Haspiror und Mähikel füttern. Als mich dann zu dieser Zeit eines dieser Pokemon anstupste und nicht mehr von meiner Seite wisch, war es fortan immer mein Wunsch mit diesen wunderbaren Pokemon zu arbeiten. Heute durften wir das erste Mal eines studieren und die schon gelernten Sachen anwenden. Also war ich genau so aufgeregt wie Chloe.
„Ist ja echt zum Kotzen wie ihr euch aufführt“, meinte Ian genervt, der immer etwas allergisch auf dieses Thema reagierte. „Wir dürfen heute mit echten Pokemon arbeiten“, äffte Ian Chloe übertrieben nach. „Gibt es auch unechte?“ fragte er scherzend, um das Ganze noch lächerlicher wirken zu lassen. Ich weiß nicht warum, aber Ian hatte manchmal seine Phasen in dem er einfach nur ein riesiges Arschloch ist. Eigentlich sollte ich etwas sagen und meine Freundin verteidigen, doch sie war schon dabei ihn anzufauchen.
„Nur weil du Pokemon nicht ausstehen kannst, heißt das noch lange nicht das andere sie nicht mögen, geschweige denn lieben“, schrie Chloe in an.
„Das habe ich nie behauptet“, meinte Ian uns grinste dabei, was meiner Freundin gar nicht gefiel, denn sie schnaufte aufgebracht.
„Komm lass uns vor dem Klassenzimmer warten.“ Sie schlang ihren Arm unter meinem und zog mich unfreiwillig mit.
„Bis später“
Das war das Einzige was ich ihm noch hinterherrufen konnte.
Immer noch genervt zog sie mich bis zum Klassenzimmer in Block C, wo meistens die Poke-Kunde stattfand. Chloe beruhigte sich ein wenig als sie feststellte, dass das Klassenzimmer offenstand. Als wir eintraten ließ sie sogar meinen Arm los. Anders wie unser Mathelehrer Mr. Brown ist unsere Lehrerin für Poke-Kunde, Mrs. Winton immer bestens vorbereitet. Sie saß schon still arbeitend vorne am Lehrerpult und begrüßte uns kurz als sie uns bemerkte. Erst als ich mich umschaute, merkte ich neben unserer Lehrerin, den Tisch mit mindestens zwanzig Pokebälle. Bei diesem Anblick schlug mein Herz gleich doppelt so schnell. Also stimmt es, wir dürfen heute mit einem Pokemon arbeiten. Zuvor dachte ich, dass wir wieder nur bei einem unsere Studien durchführen dürfen. Doch die Anzahl der Bälle verriet mir, dass wohl heute jeder eines bekommt. Meine Vorfreude stieg an. Auf so etwas habe ich mich schon ewig gefreut und hatte es unserer Lehrerin letzte Woche nicht ganz geglaubt, als sie es verkündete.
Chloe und ich nahmen unsere gewohnten Plätze ein, welche zwei Tische im mittleren Bereich des Klassenzimmers waren.
Das hier war kein gewöhnliches Klassenzimmer, wie die in Block A in denen der normale Unterricht abgehalten wird. Hier besaß jeder seinen eigenen Tisch und musste keinen teilen. Dennoch hatten meine Freundin und ich einen direkte nebeneinander. Außerdem gab es an jedem Tisch ein kleines Waschbecken und eine Steckdosenleiste, mit verschiedenen Anschlüssen. Für die Handwerker und Künstler sehr praktisch, hier in der Poke-Kunde brauchten wir diese eher selten. Wir waren die Ersten, deshalb verhielten wir uns leise und flüsterten nur miteinander um unsere Lehrerin nicht zu stören, die sich wieder ihren Unterlagen widmete.
„Chloe, ich muss dich was fragen.“
„Schieße los.“
„Hast du am Samstag Zeit?“
Sie überlegte kurz.
„Ich weiß noch nicht, kann sein das ich arbeiten muss, wieso?“
„Ian und ich gehen am Samstagabend ins Wailiquide und wollten dich fragen ob du mit möchtest?“
Sie schaut mich mit großen Augen an.
„Zja, sag deinem Ian, dass er sich das hätte vorher überlegen sollen, bevor er mich so blöd anmacht.“ Das Thema brachte sie schon wieder ein wenig auf die Palme und mich ihre Wortwahl auch.
„Er ist nicht mein Ian“, blaffte ich zurück.
Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass das Thema hiermit beendet war. Aber ich wollte nicht, ich wollte nicht, dass wir uns wieder wegen ihm stritten.
„Es tut mir leid.“
Was tut dir leid?“ fragte Chloe verwirrt.
„Das Ian dich vorhin so angeschnauzt hat, ich hätte was sagen sollen.“
„Du brauchst dich doch nicht wegen ihm bei mir zu entschuldigen“, sagte Chloe, ihre Stimme und Gesichtszüge wurden wieder etwas weicher. Wahrscheinlich eher aus Mitleid. Sie strich mir über die Schulter und lächelte mich aufbauend an.
„Ich weiß“, antwortete ich ihr. Keine Ahnung warum ich das tat, aber ich hatte das Gefühl es zu müssen, wer sonst würde sich für sein Fehlverhalten entschuldigen. Ian selbst? Dafür war er zu stolz. Bei dem Gedanken schüttelte ich grinsend den Kopf. Es klingelte wieder. Das Zeichen, dass die Pause nun vorbei war. Ich sollte mir deswegen keine Gedanken machen, deshalb konzentrierte ich mich wieder voll und ganz auf die vielen Pokebälle die vor uns lagen.
Wie sich herausstelle waren wir nicht die Einzigen, die die Bälle erstaunt ansahen, reges Getuschel ging los, als sich immer mehr Schüler im Klassenzimmer wieder fanden. Mrs. Winton wartete geduldig ab. Bis die letzten Schüler den Saal betraten, diesen befahl sie die Tür hinter sich zu schließen und Platz zu nehmen. Sie stand auf verschränke die Arme und wartete auf die Aufmerksamkeit der Schüler, schnell war es muckspichustill.
„Willkommen zur Poke-Kunde. Wie letzte Woche schon angekündigt, wird jeder von euch seine eigene Studie an dem von mir zugeteilten Pokemon durchführen.“
Es war so still das man hätte eine Nadel fallen hören.
„Damit der Ablauf heute nicht ins Stocken gerät, bitte ich euch mir gut zuzuhören und meinen Anweisungen zu befolgen.“
Sie machte dabei ein paar Schritte zur Seite und befand sich nun vor dem Tisch mit den Bällen.
„Ich werde der Reihe nach euren Namen aufrufen. Derjenige Tritt nach vorne und holt sich bei mir seinen Pokeball ab. Danach setzt ihr euch wieder und lasst das Pokemon so lange im Ball bis jeder eines hat und ich euch das Kommando gebe ihn zu öffnen.“ Sie legte wieder eine Pause ein.
„Bitte, das meine ich wirklich ernst. Bitte versucht Ruhe zu bewahren um die Pokemon nicht gleich zu erschrecken. Sobald es befreit ist, dürft ihr mit eurer Studie beginnen. Wie wir es zuvor schon geübt und im Unterricht zuvor besprochen hatten. Versucht euch zu erinnern und verwendet das Lehrbuch nur im äußersten Notfall. Das erste wird wohl sein, dass ihr euch mit ihm anfreundet, dass es euch zuhört. Ihr sollt die Aufmerksamkeit der Pokemon für euch gewinnen. Danach werdet ihr es Messen und Wiegen, dafür habe ich euch an der hinteren Wand ein paar Utensilien bereitgestellt.“ Sie deutete mit einer Hand an uns vorbei und wir folgten ihrem Blick. Tatsächlich da hinten standen mehrere Waagen und flexible Messbänder.
„Wie gesagt danach führt ihr eure Studie weiter. Schließlich sollt ihr herausfinden wer vor euch steht, mit wem ihr es zu tun habt. Am Ende der Stunde werde ich dann alle Pokebälle und eure Notizen einsammeln und bewehrten. Nun lange Rede, kurzer Sinn, ich würde sagen wir fangen einfach mal an“, verkündete sie erfreut und nahm sich ihre Liste mit den Namen aller Schüler zu sich und begann nach und nach die Schüler aufzurufen. Meine Anspannung wuchs nach jedem Namen.
„Brewster, Chloe.“ Meine Freundin stieg tapfer auf um ihren Ball abzuholen und lächelte als sie wieder neben mir war und ihn mir voller stolz präsentierte. Was für eins hatte sie wohl? Mit welchem System wohl unsere Lehrerin vorgegangen ist, entschieden hat, welches Pokemon wir bekommen.
„Hill, Michael“, rief sie meinen Namen auf. Nun war es endlich soweit. Mit wackeligen Beinen machte ich mich auf den Weg vor zum Lehrertisch. Sie drückte ihn mit in die Hand. Er war schwerer als ich dachte und fühlte sich in meinen Händen sehr kalt an. Metallisch.
Um nicht im Weg zu stehen, machte ich mich schnell wieder auf den Weg zurück auf meinem Platz.
Die restlichen Namen interessierten mich nicht mehr. Meine volle Konzentration galt nun diesem Ball, mit dem roten metallenen Deckel und der metallenen weißen Unterseite. Wenn man ihn genauer betrachtete, erkannte man die Maserung der Fräsmaschine. Diese Dinger wurden mit Sicherheit in einer großen Fabrik maschinell hergestellt. Eine schwarze Einkerbung trennte die beiden Kappen voneinander und in der Mitte gab es einen weißen Knopf. Ich wusste aus dem Unterricht, dass man auf diesen Knopf drücken musste um das darin befindende Pokemon zu befreien. So in Gedanken versunken, hätte ich beinahe den Startschuss verpennt.
„So meine Lieben. Es müsste jetzt jeder einen Ball haben.“ Ihr Blick ging prüfend über alle Tische.
„Nun gut, ich möchte euch nur noch einmal daran erinnern, behutsam mit ihnen umzugehen, falls ich sehe das sich jemand nicht korrekt verhält, werde ich euch verwarnen und gegebenenfalls auch das Pokemon wieder wegnehmen. Falls es dazu kommen sollte, gibt es am Ende Punktabzüge, also benehmt euch“, sagte sie warnend und schaute ernst in manche Gesichter. In meine Richtung schaute sie nicht.
„Außerdem bitte ich darum für den ersten Moment ruhig zu bleiben, wir haben hier Baby-Pokemon, außer ihrer Mutter und dem Züchter, haben sie von der Welt noch nicht sehr viel gesehen. Auch wenn sie keine Gefahr darstellen sollten, möchte ich euch trotzdem warnen, es sind immer noch Pokemon und selbst in den kleinsten steckt eine immense Kraft. Jetzt möchte ich euch nicht mehr länger hinhalten. Ihr dürft die Pokebälle nun öffnen.
Kapitel 4 - Mike
Das gewohnte Geräusch das die Bälle machten, wenn man auf den Knopf drückte war nun im ganzen Zimmer zu vernehmen. Auch ich wollte nicht länger warten und betätigte ebenfalls den Mechanismus. Ein Energiestrahl schoss aus dem metallenen Ball und flog direkt auf meinen Tisch zu, um das Geschöpf dort zu materialisieren. Wie es wohl auf mich reagieren wird? Hoffentlich erschreckt es nicht gleich. Ich sollte auf es einreden, Mrs. Winton meinte wir sollen gleich eine Verbindung zu ihnen aufbauen. Wie soll das gehen? Der Strahl nahm langsam eine Form an. Das Wesen stand nun auf vier Pfoten vor mir auf dem Tisch. Sein Kopf war im Vergleich zu seinem restlichen Körper sehr groß. Die ovalen Ohren standen ihm zu beiden Seiten ab und sein hellblaues Fell glänzte unter dem künstlichen Licht der Leuchtstoffröhren. Mit seinen großen gelben Augen schaute es sich ein wenig ängstlich im Raum um, gab aber kein Ton von sich. Trotz allem, zeigte das Kleine nicht nur Angst, sondern auch Neugierde. Es beobachtete das Geschehen, wie meine Mitschüler alle ihre Pokemon begrüßten und bereits die ersten Versuche unternahmen, einen Kontakt aufzubauen. Die Nase streckte es in alle Richtungen und schien sämtliche Gerüche aufnehmen zu wollen. Das war ein Hinweis, dass mein Pokemon sich wohl sehr nach dem Geruch orientierte. Leider konnte ich das wundervolle Geschöpf noch nicht richtig zuordnen. Die meisten Pokemon der Einall-Region kenne ich schon, doch dieses ihr stammte definitiv aus einer anderen.
Welchen Typ es besaß war mir auch noch nicht klar. Oftmals konnte man jenes an der Farbe des Fells oder des Körpers sehr gut feststellen. Wasserpokemon sind meistens blau und Pflanzenpokemon grün. Das Pokemon vor mir war zum größten Teil blau hatte aber an den Hinterbeinen ein dunkleres Fell. Nachdem ich das Meiste niedergeschrieben hatte, welches mir die erste Begutachtung des Pokemon auffiel versuchte ich zum ersten Mal Kontrakt aufzunehmen.
„Hallo Kleiner“, begrüßte ich es mit ruhiger und sanfter Stimme.
Es bekam einen kleinen Schrecken, als ich es ansprach und wäre beinahe von der Tischkante geflogen, als es mit dem Kopf nach unten schaute.
Augen und Ohren waren auf mich gerichtet. Durchdringlich schaute es mich an, als hätte es mich zuvor nicht einmal wahrgenommen. Um ehrlich zu sein hat es mich gekonnt ignoriert. Noch immer hefteten die runden Gelben Augen auf meinen. Gelb traf auf grün. Ob es wohl abwägte mir zu vertrauen oder sich aus dem Staub zu machen. Aus diesem Grund versuchte ich erst gar nicht, mich auf den Kleinen zuzubewegen. Was wäre, wenn es dann aus Angst vom Tisch sprang?
„Fruuu“ Beinahe hätte ich das Geräusch überhört, welches aus dem Pokemon kam. Ich glaube jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit, denn es setzte sich vor mich und wartete auf eine weitere Reaktion meinerseits. Aufgeregt wedelte sein Schweif hin und her, was mir ein grinsen entlockte. Der größte Teil der Anspannung fiel von mir, es war doch einfacher als ich dachte. Ich hatte mir völlig umsonst Sorgen gemacht. Pokemon sind doch sehr kontaktfreudige Wesen oder gab es da doch Unterschiede von Art zu Art?
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und streckte meine Hand nach dem Pokemon aus, dass mich immer noch erwartungsvoll anstarrte. Ohne zu zögern kam es mir entgegen und legte seinen Kopf in meine Handfläche. Es ließ sich ohne weitere Probleme streicheln und schnurrte zufrieden vor sich hin. Offenbar kannte der Kleine das schon und hatte überhaupt keine Scheu oder Angst vor menschlichem Kontakt. Sein hellblaues Fell fühlte sich unerwartet weich und sehr zart an. „Na Kleiner, das gefällt dir.“ Mit einem zufriedenen Schnurren gab er mir Recht. Wusste ich eigentlich ob es ein männliches Pokemon ist? Ich hatte es instinktiv als männlich eingestuft ohne es genau zu wissen, doch ein prüfender Blick verriet mir, dass ich richtig lag. In Pokekunde hatte ich gelernt, dass sich viele von Ihnen durch kleine Merkmale unterscheiden ließen. Bei vielen Pokemon, sind die Männlichen größer und kräftiger als die Weibchen. Bei Käfer-Pokemon wiederum haben die Weibchen oftmals das Sagen. Nicht nur in der Größe unterscheiden sich die Geschlechter, auch oft von der Farbe und Struktur des Fells oder Gefieders. Selbst wenn sie von derselben Gattung abstammten, waren sie doch alle einzigartig und genau diese Einzigartigkeit machte mir so viel Freude. Sie bestärkte mich in meinem Vorhaben einmal Arzt zu werden. Deshalb musste ich immer genau wissen wer oder was ich vor mir habe um schnell und richtig handeln zu können. Genau aus diesem Grund ist eine gute Beobachtungsgabe Pflicht. Da ich feststellen konnte, dass sich den Kleinen ohne Bedenken anfassen lässt, dürfte es für mich kein Problem sein ihn rüber zu den Waagen zu bringen um meine Studie fortzuführen. Er freute sich als ich ihn durch halbe Klassenzimmer trug und beobachtete die anderen Pokemon, die ebenfalls durch die Gegend getragen wurden. Ich musste einen kleinen Moment warten bis eine Waage frei wurde, in dieser Zeit, hatte sich das Pokemon auf meinem Arm gemütlich gemacht und schien sich darin wohl zu fühlen. Ich musste einen kleinen Moment warten, bis eine Waage frei wurde. In dieser Zeit, hatte sich das Pokemon auf meinem Arm gemütlich gemacht und schien sich sichtlich darin wohl zu fühlen. Kaum war ich an der Reihe, setzte ich den Kleinen in die dafür vorgesehene Schale um sein Gewicht zu bestimmten. Er brachte gute acht Kilo auf die Waage. Danach maß ich ihn mit dem Zollstock der gleich daneben lag, bis ich wirklich alle Maße vom Kopf bis zum Schwanzende hatte. Mit meinen Notizen und dem kleinen Wicht im Arm, machte ich mich wieder auf den Weg zurück zu meinem Platz. Es wird langsam Zeit, dass ich meine Notizen zu einem ordentlichen Text aufs Blatt bringe. Zurück am Tisch setzte ich das Pokemon ab und machte mich gleich ans Werk, schließlich wollte ich bei so einem spannenden Projekt eine gute Note erzielen. Kaum flog mein Stift übers Blatt, wurde ich auch schon wieder aufgehalten. Der Kleine versuchte ständig meinen Stift zu fangen, was mich aus dem Konzept und zum Lachen brachte. Ich kraulte ihm freudig unter dem Kinn, was ihm natürlich gefiel. Wir hatten zwar noch nicht sehr viel Zeit miteinander verbracht, doch die Stimmung zwischen uns passte und es war nicht schwer für mich den Kleinen in mein Herz zu schließen. Die kleinen Pausen die mir dadurch immer boten, nutzte ich um mich im Klassenzimmer umzuschauen. Es war immer noch ein wenig durcheinander, viele unterhielten sich mit seinen Unterrichts-Partnern. Doch einige waren schon drauf und dran viele Seiten mit ihren Forschungsergebnissen niederzuschreiben. Selbst David Rush, unser Schlägertyp der Schule, denn ich absolut nicht leiden konnte, arbeitete ungewohnt fleißig vor sich hin. Cloe, meine Freundin, war ebenfalls über ihrem Blatt gebeugt. Ich beobachtete sie das erste Mal, seitdem wir die Pokemon von Mrs. Winton erhalten hatten. Ihr Pokemon stand regungslos neben ihr auf dem Tisch und machte nicht den Anschein sich aus dem Staub zu machen, wenn man es nicht im Auge behielt. Wie meines hatte es einen hellblauen Körper und auch hier war der Kopf im Vergleich zum Körper recht groß. Es besaß keine Arme, jedoch aber zwei rote Antennen die ihm seitlich aus dem Kopf ragten. Die Körperform und die Flosse am Ende deuteten stark auf ein Wasserpokemon hin. Eine Nase, feuchte Nase, die mich am Arm stupste holten mich aus meinen Gedanken und meine Konzentration war wieder auf mein eigenes Pokemon gerichtet. Er suchte die Aufmerksamkeit und schien es gar nicht zu mögen, wenn ich sie ihm nicht gewährte. Er erinnerte mich ein wenig an Ian, aufgeweckt, gut gelaunt und seine Aufmerksamkeitsspanne war der eines Goldinis, denn kaum kümmerte ich mich um den kleinen, fand er die Steckdosen am Ende des Tisches interessanter. Eigentlich wollte ich weiterschreiben und die Gunst der Stunde nutzen. Doch dann wäre mir ein kleines jedoch entscheidendes Detail entgangen. Als mein Pokemon mit der Pfote in die Steckdose, gab es einen kleinen Funken. Ich wollte schon eingreifen, doch als ich merkte, dass es ihm nicht im Geringsten ausmachte, sondern wieder und wieder erfreut reinlangte, fiel der Groschen. Das Pokemon vor musste ein Elektro-Pokemon sein. Zu einhundert Prozent war ich mir nicht sicher, aber es erklärte mir die Situation die sich vor meinem Auge abspielte. Leider genau zu diesem Zeitpunkt, meldete sich Mrs. Winton wieder zu Wort.
„So meine lieben Schüler, da die Doppelstunde gleich vorüber ist, möchte ich euch bitten. all eure Notizen mit einem Namen zu versehen und das Pokemon zurück in seinen Ball zu rufen um mir dann beides nach vorne zu bringen.“ Während sie sprach, wurde das Getuschel immer leiser.
„Ihr müsst den Pokeball auf das Pokemon richten, wenn der Infrarotstrahl das Pokemon erfasst, wird es automisch zurück in den Pokeball gezogen“, erklärte uns Mrs Winton, als sie die Unwissenheit von uns Schüler bemerkte. Schade, sind die zwei Stunden wirklich so schnell an mir vorbeigezogen? Ich nutzte die Gunst der Stunde, als alle wieder ein wenig lauter wurden und setzte neben meinen Namen eine weitere Notiz auf meine Arbeit, die wie folgt lautet: Pokemontyp = Elektro
„Wir werden uns bestimmt bald wieder sehen“, flüsterte ich gegen den Ball. Ich wusste nicht ob mich der Kleine noch hörte und warum ich das tat. Wahrscheinlich um mein eigenes Gewissen zu beruhigen. Ich vermisste seine quirlige und aufdringliche Art die nach Aufmerksamkeit schrie bereits jetzt schon. Um nicht länger darüber nachzudenken, erhob ich mich und brachte meine Unterlagen vor zu Mrs Winton, die jene mit einem Lächeln und einem Dankeschön entgegennahm. Sie war immer so freundlich. Den Ball hingegen legte ich auf den Tisch daneben, wo sie zum Unterrichtsbeginn lagen. Kaum hatte ich mich zurück auf meinen Platz gesetzt, klingelte es auch schon. Schulschluss für heute, zumindest für mich. Chloe und ich packten unsere Tasche und verließen das Klassenzimmer Richtung Schulhof. Ich wusste das Chloe heute Mittag noch Unterricht hat und leistete ihr deshalb noch ein wenig Gesellschaft in der Mensa. Wir sprachen üben den Unterricht und unsere ersten Eindrücke. Auch sie war darauf gekommen, dass vor ihr ein Wasserpokemon stand. Sie entschuldigte sich sogar, dass sie mir keine Beachtung geschenkt hatte und ich hatte mir schon sorgen gemacht das sie mir böse sein könnte, dass ich sie ebenfalls die ganze Zeit ignoriert hatte.
„Was machst du heute Nachmittag noch?“ fragte mich Chloe nach einer Weile.
„Ich gehe zum Industriehof mit Ian, wir wollen noch mal über die Sache von gestern sprechen, außerdem muss ich ihm noch sagen, dass du am Samstag nicht mitmöchtest.“ Ich rieb mir den Hinterkopf und dachte dabei an unsere Unterhaltung im Klassenzimmer zuvor.
Chloe schaute mich durchdringlich an, so als wollte sie versuchen meine Gedanken zu lesen. Ich empfand es als sehr unangenehm um wich ihrem Blick aus.
„Willst du da unbedingt hin oder machst du es für ihn?“ fragte sie mich besorgt. Das ging zu weit, wegen sowas bracht sie sich keine Sorgen zu machen. Es ist ja schließlich meine Sache mit wem ich wo hingehe und was ich möchte und was nicht.
„Na klar möchte ich da hin“, versicherte ich ihr. Sie zog ihre Stirn in Falten. Überzeugt hatte ich sie nicht.
„Bist du dir sicher? Mike, mach doch nicht immer das was er will“, sagte sie, diesmal etwas energischer. Sie schaute mich immer noch durchdringlich an, doch ich konnte ihrem Blick nicht standhalten und wendete mich ab. Mittlerweile saßen wir an einem großen Gruppentisch, jedoch nur zu zweit. Am Montag haben die wenigsten Schulunterricht am Nachmittag, deshalb kann es durchaus sein, dass sich die Anzahl der Schüler stark minimiert hat. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, dies war eine Angewohnheit, die ich mir über die Jahre mit Ian angeeignet hatte. Ich schaute mich in der Mensa um und stellte fest das sich einige Schüler hier versammelt hatten, um gemeinsam ihre Hausaufgaben erledigten, die sich heute Vormittag schon angesammelt hatten. Die Mensa ist ein sehr großer Raum, etwa so groß wie eine Sporthalle, welcher direkt an der Kantine grenzte. Diese beiden Räume trennten große Glasscheiben, damit man in den jeweiligen Raum schauen konnte. Dadurch war es mir möglich in die Kantine reinzuschauen, um das rege Treiben dort zu beobachten. Die Gerichte dort waren größtenteils genießbar, nur selten gab es dort etwas was man nicht essen konnte. Im Großen und Ganzen war es nicht verkehrt dort essen zu gehen. Als ich meine Mitschüler darin essen sah, knurrte mir der Magen. Ich sollte mich wohl langsam auf den Weg zum Industriehof machen. Die Mittagspause dürfte nicht mehr so lange sein, das heißt das meine Freundin nicht mehr lange auf ihre nächste Unterrichtsstunde warten muss.
"Ich glaube ich mache mich langsam auf den Weg", sagte ich zu ihr, als ich mich von meinem Platz erhob und meinen Rucksack über meine Schulter warf. Cloe schaute auf und streckte mir ihre Wange hin als ich mich zu ihr herunterbeugte um sie genau dort zu küssen.
"Denk an meine Worte", erinnerte sie mich.
"Mach ich." Ich würde es zumindest versuchen, schließlich hatte sie nicht ganz Unrecht. Mit schnellen Schritten verließ ich die Mensa. Kaum hatte ich die Tür Richtung Schulhof geöffnet, klingelte es auch schon. Ich musste den Schulhof überqueren um zum Bahnhof zu gelangen. Das Wetter hatte sich im Vergleich zu heute Morgen verschlechtert. Die Sonne versteckte sich nun komplett hinter den mittlerweile dunkelgrauen und bedrohlich aussehenden Wolken. Der kalte Wind pfiff mir um die Ohren und ich verfluchte mich selbst, dass ich mir heute Morgen keine Mütze aufgezogen hatte. Am Bahnhof angekommen machte ich einen kurzen Abstecher zum Imbiss, welchen viele Schüler nach der Schule oder auch während der Pause aufsuchten. Der Besitzer machte mit diesem Standort das Geschäft seines Lebens. Dort besorge ich mir etwas zu Essen und bestellte für Ian gleich etwas mit. Diese ließ ich mir gleich zum Mitnehmen einpacken und verstaute alles vorsichtig in meinem Rucksack. Am Bahnsteig wählte ich den Zug, welcher mich zum Industriehof brachte. In diesem Zug, gab es selten Passanten, zumindest nicht um diese Uhrzeit. Zum Feierabend war dieser Zug jedoch randvoll, deshalb musste man darauf achten um welche Uhrzeit man diesen nahm. Aber noch ging es, so dass ich keine Angst haben musste, keinen Sitzplatz mehr zu bekommen. Die Fahrt dauerte nicht länger als eine viertel Stunde, als dann die Durchsage für den Hof kam, erhob ich mich und stieg aus als der Zug endlich stehen blieb. Früher, als die Firma noch produzierte, benutzen viele Arbeiter diese Route. Nachdem die Firma stillgelegt wurde änderten sie sogar den Fahrplan, so wenige benutzten die Fahrmöglichkeiten noch. Deshalb halten die Züge hier nicht mehr so regelmäßig, weshalb man darauf achten musste pünktlich hier zu sein, sonst konnte es durchaus passieren, dass man ein bis zwei Stunden auf den Nächsten warten musste. Ich nahm die Treppe hinunter, die direkt auf die Straße führte, welche ich nehmen musste um direkt zum Industriehof zu gelangen. Keine fünf Minuten brauchte ich um den Zaun zu erreichen, welcher den Firmenbereich abgrenzte. Dort angekommen nahm ich den Weg links vom Zaun und lief direkt an die Stelle, von wo aus man auf das Gelände gelang. Obwohl hier niemand mehr war, kam es durchaus vor, dass Polizisten die Zäune kontrollierten, um Fremdlinge wie uns davon abzuhalten das Grundstück zu betreten oder vom Gelände zu scheuchen. Ich vermutete, dass das Grundstück immer noch der Firma gehörte. Der Eingang befand sich abgelegen zwischen zwei hohen Gebäuden und verbarg sich hinter Paletten. Die erste Schob ich beiseite um den geheimen Durchgang frei zu legen. Gebeugt musste ich durch den Eingang schlüpfen, größer war er nicht. Auf der anderen Seite angekommen, schob ich jene Palette wieder zurück auf ihren ursprünglichen Platz. Bloß fünf weitere Meter musste ich gehen um die nächste Tür zu erreichen, welche direkt in das Fabrikinnere führte. Es war eine schwere Metalltür, die nicht verschlossen ist, zu der man sich Eintritt verschaffen konnte. Sie quietschte leicht als ich sie öffnete, eintrat und vorsichtig hinter mir ins Schloss zurückfallen ließ. Der erste Korridor war sehr dunkel, aber über die vielen Jahre die ich schon hier war, wusste ich wo ich lang musste um genau in das Innere zu gelangen. Viele Wege führten hier rechts und links in Büroräume, doch ich lief direkt gerade aus und gelang schließlich in der großen Fabrikhalle. Die Halle war riesig und wirke noch größer, wenn man darinstand und noch größer, wenn man sie komplett durchqueren musste, so wie ich gerade. Ganz am anderen Ende konnte ich Ian ausmachen, der auf von uns errichteten Podest aus Paletten saß. Früher wurde in dieser Fabrik Kleidungsstücke für Pokemon hergestellt. Viele Leute kauften diese um ihre Lieblinge für eine Show einzukleiden. Darum befanden sich hier auch noch jede Menge Rollen Stoff in den verschiedensten Farben und Formen. Mit diesen Stoffen, hatten wir unsere kleine Sitzecke bezogen. Dadurch war es nicht ganz so kalt und unbequem. Als ich Ian endlich erreichte, begrüßte ich ihn mit einem kurzen Hallo, er nickte mir nur zu. In der linken Hand hielt er eine Zigarette und in der Rechten ein Bier. Neben ihm standen drei weitere Flaschen. Ich nahm mir eines davon und nahm mir Ian´s Feuerzeug, welches ebenfalls neben ihm lag, um den Deckeln von der Flasche aufzuhebeln.
Ich nahm einen großen Schluck, bevor ich mich auf meinen Platz niederließ. Es war eiskalt und schmeckte himmlisch. Perfekt um nach der Schule zu entspannen und runterzukommen. Wir saßen eine Weile und tranken unser Bier, bis Ian die Still brach.
„Hast du Cloe gefragt? Wegen Samstag?“
„Ja, habe ich.“
„Und?“
„Nun ja, du hättest sie nicht anmachen sollen, heute Vormittag“, gab ich ihm als Antwort. Er verzog das Gesicht. Erfreut war er nicht, aber irgendetwas schien ihn zu belustigen.
„Ach, wir brauchen Cloe nicht oder? Wenn wir zu weit hingehen, wird es bestimmt auch lustig.“ Ian nahm es anscheinend für selbstverständlich, dass ich mit ihm dort hingehe, aber im Grunde genommen, wusste ich gar nicht was ich von dem Ganzen halten soll. Ich meine, wir haben das blonde Mädchen gestern beklaut. Immer wieder hört man, dass Täter zu Ihrem Tatort zurückkehren, wäre es dann nicht sinnvoll von ihr fern zu bleiben? Was ist, wenn sie es schon herausbekommen hatten?
"Ich weiß nicht, ob ich überhaupt mitgehen möchte, ich überlege es mir noch", sagte ich zu Ian um mir alle Karten offen zu lassen. In der Zwischenzeit hatte ich das zuvor gekaufte Essen ausgepackt und dass Reis mit Curry Ian in die Hand gedrückt. Er nahm es dankend an. Ich wiederum fing an in meinen Spaghetti´s herumzustochern.
"Soll mir recht sein, ich werde auf jeden Fall hin gehen“, behauptete Ian mit vollem Mund. Es klang schon so als könnte man ihm davon nicht mehr abhalten. Er hatte den Reis gerade so verschlungen und schabte zum Schluss in der Pappbox herum bis er sie seufzend beiseitestellte. "Bin ich satt!" er schnaufte noch einmal durch, nahm die leere Verpackung und warf sie in die große Metalltonne, die früher anscheinend für Stoffreste diente. Dort warfen wir all unseren Müll hinein, groß genug war sie allemal. Über die Jahre hat sich dort jedoch schon einiges angesammelt, wir konnten von Glück reden, dass immer wieder wilde Pokemon auftauchten um sich die Essensreste zu ergaunern. Andernfalls würde das ganze bis zum Himmel stinken. Ian, der nun auf dem Podest stand, legte seinen Kopf in den Nacken um seine Bierflasche auszutrinken. Ich beobachtete ihn dabei. Wie sich sein Kehlkopf auf uns ab bewegte bei jedem Schluck. Danach schleuderte er sie mit aller Kraft und im hohen Bogen durch die Halle. Sie zersprang in unendlich viele Teile und die Scherben schlitterten noch weiter in alles Richtungen auf dem Boden. Kurz darauf nahm er wieder neben mir Platz. Ich schüttelte bloß den Kopf. Woher er immer seine immense Zerstörungswut hat. Ein Mitgrund, warum er sich ständig prügeln will. Ich schaute mich in der Halle um und begutachtete die kaputten Fenster, die alle auf Ians Kappe gingen. Die meisten vom Fußballspielen, andere wiederum einfach aus seiner Zerstörungswut. Ich konnte schon immer beobachten, dass es ihm sehr viel Spaß machte, Dinge kaputt zu hauen.
"Und bereit?"
Ians Frage unterbrach meine Gedanken. Ich musste zuvor erst meine Kaureste herunterschlucken um ihm erst antworten zu können.
"Für was?"
"Den Umschlag, ich habe ihn dabei." Er zog ihn aus seinem Rucksack. Wenn er nichts gesagt hätte, hätte ich ihn völlig vergessen.
"Klar, mach ihn auf", forderte ich ihn auf und stellte mein Mittagessen beiseite. Er drehte den Umschlag und brach das Wachssiegel. Sehr altmodische Variante. Er griff hinein und zog ein Blatt Papier heraus. Ein Briefpapier. Dabei rollte ihm etwas auf dem Schoß. Es waren zwei fette Geldbündel. Beim ersten Blick konnte man unmöglich erkenne wie viel es war. Doch der Aufdruck der Noten verriet, dass es viel sein musste.
„Verdammt, wieviel ist das?“ brachte ich schockiert hervor. Wie konnte man nur so viel Bares bei sich tragen, das ist mir ein Rätsel. Am liebsten hätte ich sofort einen genommen und nachgezählt, doch ich traute mich nicht. Ich hatte mir die Frage schon gestern gestellt, doch jetzt umso mehr. Wer waren diese Leute? Ian der den Brief immer noch festhielt las ihn nun laut vor und reichte ihn mir anschließend.
Auftragskarte #23/34
Teamaufstellung: Team Beta
Zielort: Stratos City
Unterkunftsstellung: Hotel zum Pixiflügel
Zimmer 418
Außenquartier Einall-Region (Stratos City)
Second Street 55, SC59981
Schlüsselkey: 3388
Aufgabe/Gesuch: Findet einen Jungen, braune Haare, braungrüne Augen, ca. 14 Jahre alt, aus mittelständigen Verhältnissen, Mittelstufe der Stratos Schule für heranwachsende Trainer.
Frist: 2 Wochen
Gruppenentlohnung: 20.000,00 Pokédollar
Gegenstände: 2 x Beleber, 2 x Hypertrank
Auch ich las mir den Brief noch einmal durch. Das Papier auf dem der Auftrag draufstand war etwas dicker als gewöhnliches Papier und hatte etwas Kartonartiges. An den Rändern hatte das Blatt eine leichte gelbe Farbe. Es war definitiv alt. Wer benutze sowas noch? Ich hob das Blatt hoch gen Fenster, in der Hoffnung, dass man durch den Lichtschein irgendetwas Verborgenes entdecken würde. Doch es war nicht zu sehen. Ich betrachtete mir eine Weile den Stempel, der am Ende der Worte gedrückt wurde. Für mich sah es aus wie ein blauer sechseckiger Stein, welche Bedeutung dieser hatte wusste ich leider nicht. Könnte allesmögliche bedeuten. Ich nahm erneut auch den Umschlag um noch einmal einen Blick hinein zu werfen. Und dort befand sich sogar noch rechteckiges Foto, so als wäre es von einer Polaroid-Kamera aufgenommen worden. Darauf zu sehen eine Familie. Eine Frau, ein Mann und ein Junge, dem ich etwas jünger als wir einschätzte. Vermutlich laut Beschreibung der Junge der Karte. Sonst waren nur alte prunkvolle Wandteppiche im Hintergrund zu sehen. Während dieser Zeit hatte Ian anscheinend nichts Besseres zu tun als die zwei Geldbündel zu zählen, was ich mitbekam als ich den Brief wendete um sicher zu gehen das auch auf der Rückseite nichts mehr war. Ich konnte mir die Poké-Dollar-Zeichen in seinen Augen vorstellen und widmete mich kopfschüttelnd dem Geschriebenen auf der Vorderseite des Briefs. Laut den Informationen mussten sie diesen Jungen finden der angeblich hier in Stratos City lebte. Aber warum? Was hattes sie dann mit ihm vor, wenn sie ihn erst einmal hatten? Davon stand hier rein gar nichts. Sämtliche Wärme, die noch vorhanden war wich auf einmal aus meinem Körper, meine Hände schwitzig und mein Atem flacher. Kaum hatte ich diesen Gedanken, wurde ich ihn auch nicht mehr los und kreiste in meinem Kopf hin und her. Was ist, wenn sie diesem Jungen etwas antuen wollten, schlimmer noch, wenn sie ihn umbringen wollten? Der Gedanke war so absurd, diese Personen waren doch nicht viel älter als wir, aber je länger ich darüber nachdachte, desto logischer fand ich das Ganze. Das Geld, mit Sicherheit Lösegeld. Konnten diese Menschen wirklich so etwas wie Söldner sein? Gab es sowas überhaupt noch, über so etwas habe ich mir bis jetzt noch nie Gedanken gemacht. War dieses blonde Mädchen zu so etwas fähig? Ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen, bei dem schwarzhaarigen... durchaus möglich, der hatte vielleicht eine finstere Miene drauf. Als wollte er uns beim lebendigen Leib fressen. Ein rascheln warf mich aus meiner Gedankenbahn. Ian war gerade allen Ernstes dabei mit dem Geld vor seinem Gesicht zu wedeln! Mit mehreren Scheinen formte er eine Art Fächer. "Ist das dein Ernst?!", fragte ich ihn und zog eine Augenbraue nach oben.
"Was denn? Ich habe nur das Geld gezählt. Außerdem wollte ich wissen wie so viel Geld auf einmal riecht", antwortete er mir ganz unschuldig. Manchmal hat er echt ein Rad ab.
"und was ist mit dem Brief?" Ich fuchtelte ein paar Mal damit.
"Was soll damit sein?"
"Machst du dir keine Sorgen?" fragte ich ihn und hoffte auf ein wenig Mitgefühl für den Jungen und ihn wachzurütteln, dass das Ganze ernster ist als er es sich anscheinend wieder vorstellt.
"Warum soll ich mit Sorgen machen? Es ist nur ein Brief, anscheinend ein Auftrag, wer weiß was er wirklich zu bedeuten hat? Vielleicht ist der Junge den sie suchen ein Krimineller auf der Flucht", entgegnete er mir achselzuckend. Also hatte er sich auch schon ein paar Gedanken zurechtgelegt. So wie er es sagte konnte es natürlich auch sein, diese Tatsache beruhigte mich ein wenig. Doch da kam mir ein weiterer Gedanke.
"Du meinst allen Ernstes, dass wir Polizisten oder ähnliches beklaut haben? Seit wann werden die mit Bargeld bezahlt?" fragte ich ihn diesmal ein wenig spöttisch. "Das macht überhaupt gar keinen Sinn."
"Ach wo denkst du hin, es gibt viele Indikatoren die dagegensprechen. Zuerst ihr Alter, viel zu jung um Polizisten zu sein und natürlich bekommen die kein Bargeld als Vorauszahlung", sagte er mir spielerisch.
"Vorauszahlung?", fragte ich nach.
"Ja, Vorauszahlung, schau mal." Er nahm mir den Brief aus meiner Hand und deutete auf die Summe die darauf stand.
"Und was verrät mir daran, dass das jetzt eine Vorauszahlung ist?", fragte ich genervt nach, da ich nicht gleich dahinter stieg auf was er hinauswollte.
"Ganz einfach, ich habe hier in der Hand zehntausend Pokédollar und als Entlohnungssumme steht hier aber zweitausend geschrieben." Er tippte nochmal auf die Summe um es mir deutlicher zu machen.
"Ok, schön und gut, aber die Summe der Scheine im Umschlag bestätigt noch lange nicht, dass sie nur die Hälfte bekommen haben, oder?" stellte ich fest.
"Vielleicht haben Sie es ja schon ausgegeben?", setzte ich nach.
"Kann auch sein, aber ich bin der Meinung, dass das wenig Sinn ergibt. Stell dir mal vor, du möchtest dass jemand etwas für dich tut, würdest du ihm schon die ganze Summe aushändigen? Obwohl der Job noch nicht erledigt ist?", erklärte Ian mir. Wenn er es so formulierte, klang es logisch. Es fühlte sich an als erklärte mir Ian eine schwierige Aufgabe, da benutze er auch einfache Darstellungen, was mir ungemein half.
"Egal was sie sind, wenn sie kriminelle suchen, dann suchen sie definitiv den Falschen, der schlimmste sitzt hier neben mir." Er lachte bloß über meine sarkastische Bemerkung.
"Was glaubst du denn was sie sind?", fragte er und lächelt dabei. Dieses spitzbübische, sanfte Lachen, machte mich ganz nervös. Ich versuchte meinen Gedanken zu sortieren und an nichts anderes zu denken, als über diesen Brief und kam an den Anfang meines Gedankenkarussells, in der ich sie noch als Söldner abgestempelt hatte.
"Ich glaube so etwas wie Söldner oder Serienkiller", sagte ich verlegen und als ich die Worte ausgesprochen hatte und sie hörte wusste ich wie doof sich das anhörte. Ich wartete drauf dass Ian mich wegen meiner Theorie auslachte. Doch es passierte nichts. Ich schaute zu ihm rüber und seine eisgraublauen Augen, die der Wahnsinn waren, trafen auf meine. Er sah mich besorgt an. "Du machst dir zu viele Gedanken darüber, erschreckende“, über seine Worte musste er selbst lächeln. Das überzeugte mich nicht. Er fuhr fort, diesmal sanfter, "Mike". Ein wohliger Schauer überkam mich, wenn er meinen Namen so aussprach. Verdammt, konzentrier dich. Konzentrier dich. Das wiederholte ich ein paar Mal wie ein Mantra, welches in letzter Zeit zunahm. "Mach dir doch keine unnötigen Gedanken über Probleme, wo überhaupt gar keine sind, zumindest nicht für uns." Der letzte Satz sagte er diesmal ein wenig energischer. Ich konnte mich beruhigen und atmete den angestauten Stress einfach aus.
"Was glaubst du denn wer oder was sie sind?" fragte ich ihn, da ich seine Meinung hören wollte. Bei solchen Sachen hörte ich ihm gerne zu, er kam auch immer auf die besten oder unsinnigsten Sachen. "Puh, ich denke eher an Pokemon-Ranger zumindest so etwas in der Art. Gibt es nicht sogar eine Organisation, die Porbleme normaler Menschen wie wir aufnimmt und an fähige oder gemeldete Trainer weitergibt?" Er formulierte das Ganze zu einer Frage, da er sich nicht sicher war ober damit Recht hatte und um meinen Rat fragte. Doch ich zuckte nur die Schultern. Das Einzige was ich wusste, dass es tatsächlich solche Pokemon-Ranger gab und diese selbst noch im Teenageralter waren. Das machte viel mehr Sinn als meine Theorie mit den Söldnern, lachte innerlich über mich selbst.
"Ich gebe dir Recht, das klingt wirklich logischer als Söldner“, antwortete ich ihm lachend.
"na siehst du, sagte ich dir doch du sollst dir keine Sorgen machen." Er stimmte in mein Lachen mit ein.
"Das heißt du willst das Mädchen namens Rose immer noch treffen", fragte ich nach.
"Aber na klar! Sowas lass ich mir doch nicht entgehen." Er zwinkerte mir zu. Ich fühlte mich nach dieser Erkenntnis gleich viel besser, ja sogar ein wenig erschöpft, nach dieser Gefühlsachterbahn die immer mehr in meinen Inneren tobte. Plötzlich kam eines der Geldbündel in meine Richtung geflogen und landete auf meiner Hose und konnte es noch rechtzeitig aufhalten, bevor es herunterfiel.
"Kriegsbeute, ich dachte wir machen Hälfte, Hälfte“, antwortete mir Ian auf mein fragendes Gesicht. "Spinnst du? Das kann ich doch nicht annehmen, du brauchst es dringender als ich", brachte ich entsetzt hervor.
"Nimm`s einfach“, sagte er und rollte mir den Augen dabei. "Du hast mir schließlich geholfen, außerdem habe ich bereits genug für die Rechnung und darüber hinaus noch etwas für die Haushaltskasse und meinen eigenen Geldbeutel." Er zog dabei nur eine Seite nach oben zu einem Lächeln. Da ist es wieder, das lächeln das ich so an ihm mag. Auch wenn er in manchen Situationen ein riesiges Arschloch war, in dieser Hinsicht war er wirklich immer sehr großzügig und bedacht fair zu sein. Auch wenn er nicht viel besaß, teilte er gerne, gerade mit mir, er war keines Wegs geizig. Dennoch war ich mir wegen der gewaltigen Summe unsicher, öffnete jedoch den Reisverschluss meines Rucksacks und ließ das Bündel darin verschwinden. Ich musste mir ein gutes Versteck aussuchen, damit es niemand findet. Sowas konnte ich unmöglich offen in meinen Rucksack oder Zimmer liegen lassen. Meine Eltern würden mich umbringen. Es wurde draußen immer dunkler, sowie in der Fabrikhalle, hier hatten wir leider kein Licht. Der Nachteil im Winter, im Sommer konnten wir uns hier wesentlich länger aufhalten. Selbst wenn es hier Licht gäbe würden wir es nie nutzen, es würde zu viel Aufmerksamkeit auf uns lenken. Ich musste mich langsam auf den Heimweg begeben, sonst würden sich meine Eltern sorgen machen und wenn das geschah wäre ich nicht mehr sicher. Sie rufen mich dann tausendmal auf dem Handy an und würden sogar die Polizei benachrichtigen. Was durchaus schon vorgekommen ist! Ich schaute vorsichtshalber mal auf mein Handy. Keine Anrufe, nur ein paar Nachrichten von Chloe, die fragte wie es mir geht und wie es gelaufen ist. Ich antwortete ihr schnell und ließ mein Handy in meine Jackentasche zurück gleiten. "Ich mache mich gleich auf den Weg, was hast du heut noch vor?"
"Ach, keine Ahnung, ich werde denke ich noch ins Quinn´s gehen und danach nach Hause und du?" fragte er zurück. "Ich geh jetzt nach Hause und mach meine Hausaufgaben, ich nahm den Brief mit, wenn es dir nichts ausmacht." Er schüttelte den Kopf und mit ihm die Zigarette die er sich gerade ansteckte. Gut, den Brief verstaute ich in meinem Rucksack und hievte ihn anschließend auf meinen Rücken. "Dann bis morgen, trink nicht zu viel", ermahnte ich ihn bevor ich mich aus dem Staub machte. "Kann ich nicht versprechen." Er hob kurz seine Hand zum Abschied.
Kapitel 5 - Ian
Nun war ich in der riesigen Fabrikhalle ganz alleine. Ich rauchte genüsslich meine Zigarette. Meine Beine zog ich weiter an meinen Körper heran. Nicht das es heute sonderlich hell war, aber seitdem die Sonne unterging und je dunkler es wurde, umso kälter wurde es auch. So langsam machte es sich bemerkbar dass ich hier schon den ganzen Nachmittag saß. Immer wieder überkam mir ein Schauer der Kälte und auf meiner zusammengezogenen Haut bildeten sich kleine Punkte. Gänsehaut. Immer wieder zuckten auch meine Muskeln unkontrolliert um meinen Körper zu wärmen. Alles in mir schrie ich soll endlich nach Hause oder mir einen warmen Ort suchen, wo ich mich wärmen konnte, doch nur mein Kopf, mein Verstand schrie zurück. Egal wie kalt mir gerade war ich genoss die Stille. Vielen würde es nach einer halben Stunde oder Stunde Alleinsein schon langweilig werden, nicht so bei mir. Ich schnipste den Filter der fertig gerauchten Zigarette auf den Hallenboden vor mir und lehnte meinen Kopf zurück an die Wand. Autsch. Das war etwas zu schnell. Ich schlug mir den Hinterkopf an der Wand an. Als der Schmerz nachließ schloss ich meine Augen und atmete die kristallklare Luft ein. Normalerweise mochte ich die Kälte nicht aber das war fantastisch. Ich ließ die Luft lange in meinen Lungen bis ich sie geräuschvoll wieder ausstieß. Es war schön zu wissen das nur ich die Kraft dazu besaß diese Stille zu brechen. Mein Leben um mich herum war sonst alles andere als Still, weshalb ich solche Orte unglaublich gerne aufsuchte um einfach mal für mich zu sein. Und manchmal hatte ich das Gefühl, so wie heute, diese Stille in mich einzusaugen zu können. Zuhause würden nur wieder vier Münder warten, jeder mit einer anderen Forderung, einer Frage, einer Bitte. Jeder wollte immer etwas von mir, egal was, es reichte von Hausaufgaben kontrollieren, Wäsche waschen bis hin zur Gutenacht-Geschichte am Abend. Und wenn die kleinen Mal einen Alptraum hatten kamen sie auch mitten in der Nacht in mein Bett gekrochen. Alles was ich gerne mache. Ich würde alles für die Kleinen tun, aber irgendwann zerren die ganzen Aufgaben an meiner Kraft und meinen Nerven, weshalb ich mir auch hin und wieder eine Auszeit hier oder im Quinn´s gönnte. Das war das Stichwort. Die Bar wartete sicherlich schon auf mich. Ich erhob mich langsam, darauf bedacht meine Muskeln nicht gleich zu überfordern. Ich war mindestens eine dreiviertel Stunde bis Stunde unterwegs, zwischendurch musste ich auch einmal umsteigen, bis ich endlich vor der Kneipe stand.
Das Quinn´s war mäßig voll. Mit meinem Eintreten, brachte ich einen Schwung kalter Luft von draußen mit hinein. Diverse Unterhaltungen wurden kurz unterbrochen, manche Köpfe erhoben sich um zu begutäugen wer gerade in ihr Heiligtum eintrat. Alles mir bekannte Gesichter, die mir dümmlich und alkoholisiert entgegenstarrten. Als sie bemerkten dass ich kein Fremder war, wurde das gerade so spannende oder wichtige Gespräch wieder aufgenommen. Davon ließ ich mich nicht beirren und lief zielsicher durch die Kneipe direkt an den Tresen der überschaubaren Bar. Direkt dahinter stand auch schon der in die Jahre gekommen Besitzer dieser Spelunke. Quinn Cavanaugh, der alte Mann mit grauem Bart und passender grauen Beattles-Frisur war früher einst einmal ein Pokéman-Trainer. Aus den unendlich vielen Abenden die ich hier schon verbracht hatte, wusste ich aus seinen Erzählungen, dass er damals mit vierzehn Jahren, wie viele jungen Menschen in diesem Alter, das Elternhaus verlassen hatte. Hier kamen niemals Polizisten her die das Alter kontrollierte und Quinn würde einen zahlenden Kunden nicht verscheuchen. Er erzählte immer gerne über diese Zeit, wenn man ihn darauf ansprach. Vor allem über die vielen Orte die er auf seiner Weltreise gesehen und besucht hatte. Er verbrachte sogar mehrere Jahre im Wüstenresort, welches sich ungefähr vierhundert Kilometer nördlich von Stratos City befindet. Doch Gerüchten zufolge musste er irgendwann heimkehren, da sein Vater im Sterben lag, das passierte alles vor meiner Zeit. Er übernahm damals diese Kneipe hier, das Einzige was sein Vater besaß. Mit dem Gebäude und Grundstück, erbte er auch leider die Schulden, wodurch er gezwungen war seine Pokemon zu verkaufen. Sowas ist illegal und nur auf einem Schwarzmarkt möglich. Mit diesem Geld konnte er sich über Wasser halten. Diese Geschichte kannte hier jeder, aber wer schlau war sprach ihn niemand über seine verkauften Pokemon an. Darauf reagierte er unglaublich gereizt und verteilte auch für eine gewisse Zeit Hausverbot für diese Person, die es sich doch einmal wagte. Das einzige Pokemon das er noch besaß war ein Zytomega, welches er für kein Geld der Welt verkaufte. Quinn war gerade dabei mit einem Geschirrtuch Gläser zu polieren und schob sich kurz die schmierige Brille zurecht als er merkte, wie ich dem Tresen näherkam.
"Mensch, Ian, freut mich dich zu sehen, was kann ich für dich tun? Das Übliche?", fragte er mich immer auf seine eigene freundliche Art. Er war ein Mann der direkten Worte, wenn ihm was nicht passte, hatte er keine Scheu es zu sagen und das respektierten hier alle. Die Anwesenden hier waren eh zu alkoholisiert um ihm das Übel zu nehmen. Oder sie wollten sich nicht mit dem Mann anlegen, der ihnen den Alkohol verkaufte. Ich hatte zu meinem Glück noch nie einen Streit mit ihm, er freute mich immer zu sehen und nannte mich einen gescheiten Jungen.
"Ein Guinness für mich, wenn es geht."
"Klar, mach ich dir."
Ich klopfte einmal mit der flachen Hand auf den Tresen, eine Geste zum Dank. Ich hatte nämlich zwei meiner ehemaligen Schulkameraden in der Ecke, in der unser Stammtisch stand, gesehen. Auf den Weg dorthin zog ich meine Jacke aus um sie dann direkt auf die Eckbank legen zu können. Beide schauten zu mir auf.
"Hey, Ian, altes Haus, lange nicht mehr gesehen." Ich klatschte Samuel´s Hand ab die er mir zur Begrüßung hin streckte. Und auch die von Kiran, ein indischer Junge, der ebenfalls bei uns zur Schule ging. Alte Freunde, die nach der Mittelstufe gleich ihre Ausbildung angefangen hatten. Eigentlich das Gleiche was ich auch wollte, aber meine Mutter mich dazu gedrängt hatte, mit der Schule weiter zu machen. Ich nahm auf dem freien Stuhl Platz.
"Stimmt, bei euch alles klar soweit?" fragte ich nach. Smalltalk eben. "Ja geht, die Woche zum Glück keine Montage, weißt du." Samuel arbeitete glaube ich als Elektriker und musste ab und zu mal in einer anderen Stadt oder einem Stadtteil außerhalb arbeiten.
„Was ist mit dir Kiran, arbeitest du immer noch im Supermarkt im Nordsektor?“ fragte ich ihn aus reiner Höflichkeit, nicht das es mich wirklich interessierte.
Kiran war eher der schüchterne Typ, er redete nicht viel, selbst nach ein paar Bier blieb er stumm. Ein Einfaches ja brachte er hervor um meine Frage zu beantworten. "Wie stehts mit dir? Immer noch der Streber wie damals?" Samuel hingegen unaufhaltbarerer Schwätzer, wenn er mal nichts zu sagen hatte, wusste man, dass etwas mit ihm nicht stimmte. In der Zwischenzeit brachte Quinn mein Bier an den Platz, woraufhin ich mich dafür bedankte und er schließlich wieder hinterm Tresen zu seinen Gläsern verschwand.
"Ich gehe immer noch genauso ungerne in die Schule, wie ihr damals, da hat sich rein gar nichts geändert", antwortete ich ihm gelassen. "Und was ist mit deiner Schwester, ist die immer noch so heiß?" fragte er nun aufdringlicher. Seitdem er sie einmal bei mir Zuhause am frühen Morgen in Hotpans und einfachem Top ohne BH gesehen hatte fragte er immer nach ihr. "Ja und immer noch verheiratet." Bei solchen Sachen musste man einfach mitspielen, obwohl ich es nicht leiden konnte, wenn er so über meine älteste Schwester sprach. Am liebsten hätte ich ihm in die Fresse geschlagen. Zur Ablenkung nahm ich einen großen Schluck vom Guinness und wischte mit dem Ärmel den Schaum von der Oberlippe, als ich das Glas wieder abstellte. Doch Samuel ließ sich nicht von meinem feindseligen Unterton beirren. "Was ist eigentlich mit deiner besseren Hälfte? Durfte er nicht mit?" Er ließ einfach nicht locker mit seinen dummen Sprüchen, ich blieb aber ruhig. Dafür kannte ich ihn lang genug um mich über sowas aufzuregen. "Du meinst Mike?", fragte ich und mimte den unwissenden, obwohl ich wusste, dass er ihn meinte. "Wenn er wollte wäre er hier. Er ist denk ich schon wieder zu Hause." Noch bevor Samuel einen weiteren Kommentar raushauen konnte, kam ich ihm zuvor. "Er hat eine Freundin." Die Antwort für alles, wenn man keine Zeit für seine Freunde fand. Aber noch bevor ich merkte was ich jetzt schon wieder losgetreten hatte sah ich die immer größer werdenden Augen Samuel´s. Er wuschelte sich durch sein schon ohnehin zu Berge stehendes Haar. "Sieht sie gut aus? Ich meine ist sie heiß?" Ich verschluckte mich fast an meinem Bier. Fragte er mich das jetzt allen Ernstes über die Freundin meines besten Freundes? "ja, ist sie. Sehr sogar", sagte ich ihm, mit dem Wissen, dass er sich mit keiner anderen Antwort zufriedengab, ohne weiter abfällig zu werden. "Wirklich?" Er war sichtlich erstaunt. "Das hätte ich dem Spinner gar nicht zugetraut. Ist der immer noch so, nun ja, spießig?" Wobei er das Wort spießig extra betonte. Ich wusste vorauf er hinaus wollte. Ich habe ihn schon fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, aber er könnte mit den nervigen Fragen echt langsam mal aufhören. Ich zuckte mit den Schultern, soll er doch denken was er will, aber ich würde nie schlecht über Mike reden, nur um ihn die Antwort zu geben die er hören wollte. Ich wusste genau warum er das letzte Wort so betont hatte und schenkte ihm deshalb einen finsteren Blick, woraufhin er eine Weile verstummte. Da war es, dieses peinliche Smaltalk-Schweigen, wenn man schon eigentlich alles gesagt hatte und nicht mehr wusste, was man Fragen sollte. Das ich mit den beiden auf die Schule ging ist schon knapp drei Jahre her. Um ehrlich zu sein, waren wir damals immer zu Fünft. Samuel, Kiran, Paul, Mike und ich. Paul (hat den gleichen Namen wie mein jüngster Bruder) war immer ein wenig das schwarze Voltilamm der Herde. Dadurch, dass er ein Jahr sitzen geblieben ist, war er ein Jahr älter als wir und genau so groß wie ich. Ich war schon immer größer als die anderen in meiner Klasse. Paul hingegen hatte aber das doppelte an Gewicht, weshalb er gerne auf Kleinere und Schwächere herumhackte und ihn deshalb keiner leiden konnte. Wir mochten ihn auch nicht, waren aber die einzigen die ihn akzeptierten. Er wusste immer alles besser, behauptete Dinge die gar nicht stimmten, nur um im Mittelpunkt stehen zu können. Der Grund warum ich ihn nicht leiden konnte und ihn ständig auf seine Fehler hinwies, es machte mir Spaß ihn als Trottel da stehen zu lassen. Der Grund warum er mich nicht leiden konnte. Es ging so weit, dass wir versuchten uns aus dem Weg zu gehen. Irgendeines Tages aus heiterem Himmel, fing er an sich über Mike und mich lustig zu machen. Er meinte es sei unnormal, wenn zwei Jungs in einem Bett schliefen. Das taten Mike und ich oft. Wir schliefen ständig beim jeweiligen anderen und da wir in meinem Zimmer Zuhause keinen Platz für eine Matratze auf dem Boden hatten, schlief Mike eben neben mir im Bett. Ich dachte das wäre die normalste Sache der Welt, es fühlte sich nie komisch oder falsch an. So habe ich das nie gesehen, Mike war schon immer mehr wie ein Bruder für mich und daran hat sich bis heute nichts geändert. Ein weiteres Mal bin ich beim Spielen in den Bach gefallen und war bis auf die Knochen nass. Da der Weg zu Mike kürzer war als der zu mir, leihte er mir seine Klamotten aus. Ich konnte mir nicht erklären woher er das wusste, aber ab diesen Zeitpunkt beschimpfte er uns und machte abfällige Bemerkungen über unsere enge Freundschaft. Am Anfang waren es noch sarkastische Bemerkungen, nichts ernst Gemeintes, was sich aber mit der Zeit änderte. Aus einer kleinen Bemerkung wurden fiese und beleidigende Sprüche. Zuliebe unserer fünfer Gruppe, ließ ich es all die Jahre über mich ergehen. Mike ebenfalls, er hatte keine andere Wahl, er war einfach nicht der Typ um sich gegen solche Schwachmaten zu wehren. Er sagte hin und wieder, dass er mit dem Quatsch aufhören soll, aber Paul lachte bloß darüber. Bis schließlich Paul vor zwei Jahren das Fass zum Überlaufen brachte.
Nach der Mittelstufe versprachen wir uns, uns regelmäßig noch zu treffen, was durchaus geklappt hat. Meistens endeten unsere Treffen in Kneipentouren, wo hin und wieder mal jemand verloren ging. Wir waren damals auf dem Heimweg, Samuel hatten wir in der letzten Kneipe zurückgelassen, da er gerade dabei gewesen war, sich ein Mädchen klar zu machen. Gut gelaunt, singend und stark alkoholisiert waren wir dabei zu unserer Zugstation zu stolpern. In einer Seitenstraße bin ich ein paar Mal auf die Fresse geflogen, aus dem Grund mich Mike versuchte zu stützen. Woraufhin ich ihn beim nächsten Mal, als ich stolperte, mitriss und wir gemeinsam hinfielen. Durch den Alkohol spürten wir keinen Schmerz und lachten uns gegenseitig aus. Paul hatte nichts Besseres zu tun als zu behaupten, dass wir uns ein Zimmer suchen sollten und dass sich niemand so was ekliges anschauen will. Kiran sagte wie üblich nichts. Unser Lachen verstummte daraufhin schlagartig und dann passierte alles ganz schnell. Mit den Worten, das es mir jetzt reicht ging ich auf ihn los. Ein Mensch der noch bei allen Sinnen war, würde sich niemals mit Paul anlegen. Aber ich rechtfertigte mich heute noch damit, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht zurechnungsfähig war. Selbst Paul war erstaunt darüber wie schnell ich wieder auf den Beinen war, dass er sich kaum wehren konnte als ich auf ihn losstürmte. Mit voller Wucht prallte ich gegen ihn und riss ihn anschließend mit mir zu Boden. Ich weiß es noch, wie als wäre es gestern gewesen, als ich mich über ihn beugte und mir einen sicheren Stand verschaffte. Damit ich weit ausholen konnte und ihn mit der rechten Faust, mit aller Kraft die ich aufbringen konnte, auf sein Gesicht einschlug. Die Wut, die sich die ganze Zeit aufgestaut hatte und mit jeder weiteren dummen Bemerkung wuchs. Sein Gesicht flog nach jedem Schlag zur Seite. Das Adrenalin floss durch meinen Körper und berauschte mich. Wäre Mike nicht gewesen, wüsste ich nicht wie weit ich gegangen wäre. Er versuchte mich aufzuhalten, versuchte mich am rechten Arm zu packen, damit ich nicht mehr zuschlagen konnte. Aus meiner Raserei heraus schlug ich ihn ebenfalls mit dem Ellenbogen beiseite worauf er vor Schmerz aufstöhnte und nach hinten strauchelte. Dieses Geräusch blieb mir besser im Gedächtnis als das Schmerzgestammel welches Paul von sich gab. Der Moment an dem ich mich von meinem Opfer abwendete um nach Mike zu schauen. Durch den Adrenalinstoß nahm ich alles nüchterner wahr als mir zu diesem Zeitpunkt lieb war. Ich spürte wie mein Herz wie wild schlug. Ich wusste nicht mehr welche Faust mehr weh tat, die linke die sich krampfhaft um Pauls Jacke geschlossen hatte, ein Reflex der mir vorher nicht aufgefallen war. Oder die Rechte mit der ich zuschlug. Das war alles nicht mehr wichtig, als ich sah das Mike aus dem Mundwinkel blutete. Wegen mir. So schlecht hatte ich mich in meinem Leben noch nie gefühlt. Mike und ich hatten in unserem Leben noch nie wirklich streit, wir hatten uns noch nie geprügelt. Wegen mir hatte er eine aufgeplatzte Lippe. Noch Wochen danach entschuldigte ich mich unendliche Male bei ihm, auch aus dem Grund, dass er richtig Stress mit seinen Eltern hatte deswegen. Kiran brachte Paul damals noch in die Notaufnahme. Pauls Eltern überredeten ihn dazu, Anzeige gegen mich zu erstatten, die Folge: Sozialstunden wegen schwerer Körperverletzung. Er hatte ein blaues Auge und ein gebrochener Nasenrücken. Nach dieser Nacht traute er sich nicht mehr in unsere Nähe oder ins Quinns und das war auch gut so. Würde ich gar nicht einsehen, wegen ihm nicht mehr hierher zu kommen, so wie heute. Die Zeit verging, Samuel und Kiran sind nach zwei weiteren Bier irgendwann gegangen. Wir hatten noch ein wenig über die Schule und Arbeit geplaudert. Danach trank ich ebenfalls noch zwei Guinness bei Quinn an der Theke, bevor ich nach Hause ging. Der Heimweg gestaltete sich sehr ungemütlich, denn in der Zwischenzeit hatte es angefangen zu regnen und es kam als unangenehmer Schneeregen herunter. Mir fing sofort an die Nase zu laufen. Durch die rutschigen Stellen, kam ich nur langsam voran und brauchte fast doppelt so lange nach Hause als sonst. Schon als ich unseren Vorgarten durchquerte fing ich an nach meinem Schlüssel zu kramen. Ich wollte ihn gerade in das Schloss schieben, als mir jemand von ihnen die Tür öffnete. Die kleine verschlafene Anni stand mir mit ihrem Schlafanzug entgegen. Sie ging einen Schritt beiseite um mich hinein zu lassen. Drinnen entledigte ich mir meine nasse Jacke und warf sie über die Couchlehne. Auch mein Haar war komplett nass und ich versuchte sie mit der Hand ein wenig trocken zu reiben. Ich ließ bewusste das Licht aus, es war durch die Straßenlaternen hell genug hier drin.
"Warum bist du noch nicht im Bett, ist doch schon längst Schlafenszeit?"
Ich schaute prüfend auf die Uhr. Halb eins.
"Ich kann nicht schlafen."
"Warum nicht? Wieder Angst vor dem Monster im Kleiderschrank?"
Sie nickte. Wusste ich es doch. Ich ging in die Hocke, damit ich besser und leiser mit ihr reden konnte, um niemanden zu wecken.
"Du brauchst doch keine Angst zu haben, deine Mama ist doch da."
Sie schüttelte langsam mit dem Kopf.
"Sie ist arbeiten", versicherte sie mir. Ich sah wie ihre Augen langsam feucht wurden.
"Oje, und was ist mit Luca?", fragte ich sie mitfühlend. Irgendjemand musste doch nach ihr schauen, wenn ich mal nicht hier bin. Normalerweise ging die Verantwortung für die Kleinen immer an den ältesten Anwesenden im Haus, wenn unsere Mom arbeiten war.
"Der schläft und schnarcht wie ein Ursaring. Ich habe ihn versucht zu wecken, aber er hat mich nur weggeschubst“, erklärte sie mir, dabei kullerte ihr die erste Träne über die Wange.
Ich breitete meine Arme aus. "Komm her." Sie ließ sich direkt in meine Arme fallen. Stille, nichts machte mehr ein Geräusch. Das Licht der Straßenlaterne färbte die Wohnzimmermöbel in einen unnatürlichen gelborangenen Ton. Alles sah hier im Dunkeln so anders aus. Hin und wieder tropfte der Regen in meinen Haaren auf Anni´s Schlafanzug, doch es schien ihr nichts auszumachen. Sie fühlte sich so viel wärmer an als ich, aber kein Wunder bei der Kälte da draußen. Mit der Zeit musste ich anfangen durch den Mund zu atmen, weil meine Nase zuging. Irgendwas brütete ich aus. Auf eine Erkältung hatte ich sowas von gar keine Lust. Ich atmete resigniert und lautstark aus.
"Du stinkst nach Alkohol."
Es war so still geworden, dass einem das Ticken der Wanduhr unnormal laut vorkam. Hass kam in mir auf, Hass auf mich selbst. Darauf das ich nicht gleich nach Hause gegangen bin. Darauf das ich nicht hier war und mich um Anni kümmern konnte als sie mich brauchte. Ich drückte sie ein wenig fester an mich, um ihr die Sicherheit zu geben, die sie jetzt brauchte und sonst keiner geben konnte. Dieser Moment erinnerte mich an meine eigene Kindheit zurück. So ein großes, leeres Haus konnte für ein Kind sehr erschreckend sein. Viele Nächte wiegte mich Leila, meine älteste Schwester, in den Schlaf, als ich bitterlich weinte und nach meiner Mutter rief, die wie so oft nicht Zuhause war. Anni sollte nicht das gleiche durchmachen wie ich.
"Hast du viel getrunken?", wollte sie wissen. Ich schüttelte vorsichtig mit dem Kopf.
"Nein." Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, den ich nicht runterschlucken konnte, und an dem ich fast zu ersticken drohte. Jetzt musste ich aufpassen, dass ich nicht in Tränen ausbrach. Ich wollte niemals so werden wie sie.
Anni merkte, dass etwas nicht stimmte und trat einen Schritt zurück. Sie schaute in mein Gesicht und bemerkte meine nassen Augenränder. Sie sagte nichts. Es machte mich stolz und auch gleichzeitig Angst, dass sie stärker war als ich. Sie erwiderte mein Lächeln. Ich musste es zumindest versuchen, stark zu sein.
"Komm, lass uns nach oben gehen, du darfst auch in meinem Bett schlafen", versprach ich ihr. Sie schlang wieder ihre Arme um meinen Hals und ihre Beine um meinen Bauch als ich sie hochhob und die Treppe hinaufbrachte. Sie hatte vorhin Recht. Luca schnarchte wirklich ruhig und zufrieden vor sich hin. Ich zog meine Jeans aus und suchte ein passendes T-Shirt im Kleiderschrank, welches ich zum Schlafen verwenden konnte. Danach machten wir es in meinem Bett gemütlich. Durch die ganze Aufregung schlief Anni sofort ein und ich schaute das sie auch ja überall zugedeckt war. Verärgert hörte ich mir noch eine Weile das Geschnarche an. Das wird definitiv noch ein Nachspiel haben. Meine Augenlieder wurden immer schwerer. Bevor ich schließlich einschlief, doch ich dachte immer wieder an denselben mich quälenden Satz.
Ich wollte niemals so werden wie sie...
Kapitel 6 - Ian
Als der Wecken von Luca losging, fuhr Anni neben mir vor Schreck zusammen. Dabei trat sie mir ausversehen mit ihrer Ferse direkt in die Eier. Ich fuhr lautstark und krampfhaft zusammen und versuchte sofort den Schmerz weg zu atmen, der sich schon nach oben hin ausbreitete. Ich konnte mir durchaus bessere Varianten vorstellen geweckt zu werden. Luca stand ohne Kommentar auf, stellte den Wecker aus und verließ das Zimmer. Es brauchte nicht lange, da saß Anni schon an der Bettkante um ebenfalls aufzustehen. Der Schmerz ließ einfach nicht nach, ich bewegte mich um mich anders zu positionieren, bis ich mich schließlich alle Viere von mir gestreckt über mein Bett krümmte. Anni bemerkte es und fragte mich besorgt ob es mir schlecht sei.
"Nein, nein. Alles gut," log ich. Es wurde schon allmählich besser. "Machst du mir einen Gefallen? Schaltest du mir bitte die Kaffeemaschine an, wenn du runter gehst?" Sie nickte mir zur Bestätigung zu. "Willst du schon so früh raus?" fragte sie mich erstaunt.
"Ja", ächzte ich und ließ mich noch einmal rücklinks auf mein Bett fallen. Bevor sie das Zimmer verließ beugte sie sich zu mir runter und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
"Du bist der beste Bruder der Welt", flüsterte sie und war dann verschwunden. Ich lächelte. Der beste Bruder der Welt hatte was Besseres verdient als so früh am Morgen in die Eier getreten zu bekommen. Ich wusste das sie es nicht mit Absicht getan hatte, darüber hatten wir eine ausführliche Unterhaltung. Dass sie mich niemals dort treten soll, egal wie wütend sie auf mich war. Ich döste noch einmal für circa fünfzehn Minuten ein, bevor ich mich dazu aufraffen konnte aus meinem gemütlichen Bett zu steigen. Früh aufstehen war so gar nicht mein Ding, weshalb ich kaum die Augen aufbrachte und ich mir auf dem Weg ins Bad den kleinen Zeh am Türrahmen anstieß. Verdammte Scheiße! Warum tat das nur so fürchterlich weh. Ich verfluchte so einiges, bis ich im Bad ankam. Der Tag fing ja schon mal sehr prickelnd an. Die Dusche konnte meine Gefühlslage ein wenig anheben, was aber durch mein Spiegelbild gleich wieder zunichte gemacht wurde. Ich putzte mir die Zähne und betrachtete mich währenddessen im Spiegel. Ich verzog das Gesicht, wobei ich aufpassen musste das mir der Zahnpasterschaum nicht aus dem Mund lief, als ich an meinen schwarzen Haaren zog. Ich hasste es, wenn sie so lange waren, weil je länger sie wurden, desto lockiger wurden sie auch. Ich musste Mike bitten wieder alles mit dem Trimmer runter zu holen. Nichts sah bescheuerter aus, als ich mit Locken. Nachdem ich im Bad fertig war, zog ich mir frische Klamotten an und fühlte mich gleich viel wohler. Ich ging gemächlich die Treppen runter, bedacht nicht irgendwo zu stolpern, jetzt noch die Stufen runter zu fliegen, dass wäre nämlich die Krönung des Tages. Der mir bislang schönste Anblick bis jetzt, war die von Anni eingeschaltete Kaffeemaschine. Mit Wasser, Filter und Kaffeepulver gefühlt. Ich musste nur noch den Knopf betätigen. Warum nicht jeden Morgen so? Lässt sich bestimmt in der nächsten Familien-Krisen-Sitzung ausdiskutieren. Ich bin froh, dass mittlerweile alle selbstständig das Haus verließen um in die Schule zu gehen. Um viertel vor acht war ich der letzte im Haus, weshalb ich mich mit einer Zigarette und meinem wundervoll duftenden Kaffee alleine an den Küchentisch setzte. Die erste Stunde verpasste ich auf jeden Fall, nichts was mich in Panik versetzte. Nachdem ich mein "frühstück" hatte, nutzte ich die Zeit die mir hierblieb um aufzuräumen. Jeder nahm sich Geschirr aus den Schränken, stellte das Benutzte aber nie in die Geschirrspülmaschine. In der allmorgendlichen Hektik ließ jeder seinen Mist einfach überall stehen. Klamotten wurden in Ecken gepfeffert, genauso wie Spielsachen oder die Sportsachen von Luca flogen auch immer woanders herum. Eine Waschmaschine bekam ich voll und stellte den Timer so ein, dass die Wäsche fertig ist, wenn ich später nach Hause komme. Ich rechnete die Zeit die ich auf der Bank und zum Einkaufen brauchte mit ein. Ich habe mir fest vorgenommen, heute das Geld für die Stromrechnung zu überweisen. Außerdem schmiedete ich mir einen Plan zurecht, wie ich die Stimmung heute Abend ein wenig heben konnte um die freudige Nachricht der bezahlten Rechnung mitzuteilen. Als ich alles Wichtige erledigt hatte suchte ich mir eine Jacke, die ich anziehen konnte. Die von gestern hing noch halb nass über der Couch, wo ich sie schließlich ließ. Ausgestattet mit Rucksack, Zigaretten und warmer Kleidung verließ ich endlich das Haus mit gutem Gewissen alles zu erledigen was ich mir vornahm. Der typische Weg zur Schule, kam mir mit der Zeit durch die Routine immer Kürzer vor. Dort angekommen schaffte ich es gerade noch so in die zweite Stunde. Deutsch, so langweilig wie immer, wobei die Lehrerin keine Bemerkung machte wegen meines Zuspätkommens, sondern darüber das ich überhaupt hier war. Ich grinste bloß und ließ mich wegen sowas nicht beirren. Sie war in der Stunde schnell genervt von mir, da ich mich zu jeder Frage die sie stellte meldete und auch immer eine Antwort wusste bis sie mich nicht mehr dran nahm um anderen Schülern eine Chance zu lassen. So schaffte man sich schnell seine Ruhe. In der Pause war ich der letzte der an unserem Gruppentisch ankam. Chloe hing Mike um den Hals, Jenny und Lisa, die Flittchen der Schule waren gerade dabei sich die Nägel zu lackieren und Stan stand daneben und versuchte vergeblich sich den Beiden zu nähern. Als ich Chloe genauer betrachtete musste ich unwillkürlich an das Gespräch gestern zwischen Samuel und mir denken. Sie trug meistens Strümpfe, selbst im Winter, doch heute hatte sie hautenge Jeans an, Wildlederstiefel und eine weiße Daunenjacke. Auf dem Kopf hatte sie eine gestrickte graue Mütze mit Bommel auf. Ihr blondes Haar hing ihr seitlich aus der Mütze und legten sich über ihre Schultern.
Ich musste Samuel nicht anlügen, sie ist wirklich sehr hübsch. Aber ein absolutes Tabu. Niemals würde ich mich wagen an die Freundin meines besten Freunds ran zu machen. Ich gönne es ihm viel lieber. "Hey, morgen", schmiss ich in die Runde um mich bemerkbar zu machen. Jeder begrüßte mich. Erst als sich Mike aus Chloe´s griff lösen konnte und auf mich zukam, bemerkte ich das er heute ebenfalls eine andere Jacke anhatte genau wie ich. Normalerweise besaß er eine graue Winterjacke mit weißer Fütterung, aber heute hatte er eine dunkelgrüne an. Also wenn man mich fragte keine Verbesserung zur Vorherigen, eher schlechter. "Ich muss kurz mit dir reden", sagte er zu mir mit gedämpfter Stimme und lief an mir vorbei. Ich folgte ihm. Soweit bis wir außer Hörweite unserer Gruppe waren. Ich schaute noch einmal zurück um festzustellen, dass es kaum einen Interessierte, außer Chloe, die misstrauisch rüber schaute.
"Schicke Jacke", sagte ich sarkastisch, als Mike kein Ton herausbrachte. Er schaute mich nervös an. "Genau darum geht es, hast du gestern Abend noch die Nachrichten geschaut?" Er schaute sich immer wieder nervös um, als hätte er angst jemand könnte uns hören oder beobachten. Ich schüttelte mit dem Kopf. "Nein, wieso?"
Mike befeuchtete seine Lippen bevor er weitersprach. "Gestern wurde in den Nachrichten über Taschendiebe bei der Parade berichtet," beantwortete er mir mit zittriger Stimme meine Frage. Dass Klang im ersten Moment gar nicht gut. Mike sprach weiter, "die Polizei übernimmt diesen Fall, vermutet aber durch den Mangel von Beweisen und fehlenden Zeugen die Fahndung einzustellen." Das Klang doch schon besser.
"Das ist doch gut für uns," ich versuchte Mike zu beruhigen der schon die ganze Zeit ein wenig blas um die Nase wirkte.
"Für den ersten Moment, ja. Aber stell die vor, dass blonde Mädchen verpfeift uns. Und noch schlimmer, sie weiß wie wir aussehen und unsere Namen." Jetzt ließ er das Mauzi aus dem Sack. Deshalb die andere Jacke. Damit er nicht in die Täterbeschreibung passte. Geschickter Schachzug und nach der Aussage wurde mir auch ein wenig mulmig in der Magengegend. Das sah wiederum sehr schlecht für uns aus. In Panik musste man wegen dieser Tatsache jetzt nicht ausbrechen, wie viele Menschen gab es hier in der Stadt, die Ian oder Mike hießen, Tausende. Außerdem ein dunkelblonder und dunkelhaariger Junge? Hallo, das könnte jeder sein. Mindestens jeder Zweite besitzt eine schwarze oder graue Jacke, sehr schwierig, da jemanden zu finden aus solch einem Einheitsbrei. Diese Erkenntnis teilte ich Mike mit und konnte ihn zumindest ein wenig beruhigen. Wie immer. Er bekam sogar wieder ein wenig Farbe ins Gesicht. Auf einmal klingelte es. Die Pause war vorbei. Sie war alles andere als entspannend. Zumal ich mir keine Zigarette anstecken konnte. Weswegen ich ein wenig genervt in die nächste Stunde ging.
Der Schultag wollte einfach nicht vorbei gehen. Mit den vielen Aufgaben die mir noch im Hinterkopf lungerten, hatte ich sowieso keine Lust auf Schule. Aber wegen Mike´s nicht besser werdender Stimmung, wollte ich ihn jetzt nicht alleine zurücklassen und würde ein andermal die Schule schwänzen. Ich redete so lange auf ihn ein, bis ich ihn einlud, heute Abend mitzukommen. Ich hatte mir überlegt, Zutaten für Plätzchen zu kaufen, damit ich Anni von letzter Nacht ablenken konnte, außerdem ein guter Zeitpunkt, mal wieder etwas mit der Familie zu unternehmen und da gehörte Mike selbstverständlicher weise mit dazu. Er willigte sogar ein, er möchte auch später mit zu Bank und auch einkaufen. Ich denke mal das er nach solchen Nachrichten sicherlich nicht alleine rumlaufen wollte. Er hatte mein Mitgefühl, irgendwie fühlte ich mich auch besser, wenn er in meiner Nähe blieb. Für alle Fälle. Durch ein Wunder klingelte es nach qualvollen Stunden zum Schulschluss. Wir machten uns gleich auf den Weg zur Bank, wo ich die Summe auf das Konto erst einzahlen musste, um die Überweisung erst tätigen zu können. Ohne Probleme tippte ich die richtige Summe und Bankverbindung in das Gerät. Dann waren auch knapp sechstausend Pokedollar einfach fort und damit auch eine große Last, die ich die letzten Tage mit mir trug. Das Einkaufen war wieder interessanter und ich war heilfroh Mike dabei zu haben, da ich überhaupt keinen Schimmer hatte, was wir alles brauchten. Fast alles mussten wir "neu" kaufen, da ich wusste das wir das Meiste nicht Zuhause hatten. Gemeinsam machten wir uns mit den Taschen voller Lebensmittel auf den Weg zu mir nach Hause. Ich übergab Mike meine Taschen um die Haustür auszuschließen. Der allgemeine Geräuschpegel kam mir entgegen. Der Fernseher lief und Paul saß halb sitzen, halb liegend davor. Anni kam die Treppen heruntergesprungen. Ich ließ die Haustür wieder zurück ins Schloss fallen und Mike machte sich auf den Weg in die Küche während Paul ihm neugierig folgte. Den Fernseher hatte er angelassen. Meine Schwester hingegen sprang mir in die Arme und freute mich zu sehen. "Hast du uns was mitgebracht?" fragte sie aufgeregt. Die Einkaufstaschen waren ihr nicht entgangen.
"Allerdings", sagte ich lächelnd und wir gingen beide in die Küche. Dort war Mike gerade dabei die Tüten auszuräumen. Anni hüpfte auf einen der freien Stühle um, wie Paul, besser rein schauen zu können. Ich gesellte mich zu meinem besten Freund und half ihm dabei. "Ich dachte mir, da in zwei Wochen Weihnachten ist, könnten wir ein paar Plätzchen backen", verkündigte ich mein Vorhaben und erfreute mich riesig über ihre Reaktionen darüber. Anni hüpfte begeistert auf und ab und beide jubelten. Auch hier war ich wieder froh Mike eingeladen zu haben, anderenfalls würden wir noch bis Mitternacht hier sitzen, er wusste die Menge die wir für einen einfachen Butterteig brauchten und stellte sich sehr geschickt beim Ausrollen des Teiges an. Anni und Paul stachen wie die Wilden die Förmchen, bestehend aus Tannenbäumen und Sternen, in den Teig. Ich konnte nicht sagen, wie es dazu kommen konnte, aber zwischendurch begannen Mike und ich mit einer Mehlschlacht, wobei ich immer noch behaupte das er angefangen hatte. Wer meinte, mein ausgestochener Stern sei eine traurige und armselige Zumutung hatte es auch nicht besser verdient. Wir lachten immer noch über uns selbst, da überall, in den Haaren und Klamotten das Mehl hängen blieb. Paul hatte ein wenig mitgemacht, Annie ist lachend und schreiend davongerannt als ich sie abschmeißen wollte. Kam aber wieder mit Tränen in den Augen zurück in die Küche, als ich schwor ich würde nicht mehr versuchen sie abzuwerfen. Hinterher landete doch eine Ladung in ihrem Gesicht. In der Zwischenzeit verbreitete sich ein himmlischer Duft von frisch gebackenen Plätzchen in der ganzen Wohnung und die aufgelockerte Stimmung ließ Mike und mich auf andere Gedanken kommen. Das Thema heute Morgen hatten wir mittlerweile völlig vergessen und genossen den Augenblick mit meinen beiden jüngsten Geschwistern. So unbeschwerte Tage hatten Mike und ich selten, seit dem Zwischenfall mit Paul, unserem ehemaligen Schulkameraden. Ich kann nicht sagen warum, aber seitdem ist Mike anders zu mir. Wir trafen uns zwar immer noch so oft wie früher aber da gab es diese Distanz zwischen uns, immer mit einem gewissen, kalten Abstand zu mir. Vielleicht nahm er sich die Sticheleien von Paul einfach zu sehr zu Herzen. Mir fehlten diese Momente ungemein und deshalb genoss ich diesen Augenblick der Wärme der sich gerade bot. Mein Bruder Paul und Anni die vor dem Ofen saßen und den Plätzchen zusahen wie sie einen leichten braunen Rand bekamen. Die Küche, die komplett durcheinander ist aber eine Gemütlichkeit ausstrahlte. Nicht zu guter Letzt durch den Backofen, der die Hitze abgab. Im Hintergrund lief noch der Fernseher und ließ nie eine peinliche Stille entstehen, Wobei das hier nicht möglich ist, nicht mit meiner Familie oder Mike. Der sich erfreut über den Tisch lehnte. Ich schaute ihn an und musste immer noch über das Mehl in seinen Haaren schmunzeln. Das erste Mal seit langem, dass er mitmachte und keinen bissigen Kommentar von sich ließ, wenn ich ihn anfasste. Wie früher, als man keine anderen Sorgen hatte, als die Entscheidung mit was für einem Spielzeug man als nächstes spielen wollte. Er hatte sich so sehr verändert, und doch war er noch der Gleiche. Machte das Sinn? Wir haben uns Beide verändert aber dadurch das wir uns miteinander verändert hatten, fiel es einem erst bei genauerem Hinsehen auf. Er blickte verstohlen zu mir auf, doch er blickte nicht gleich wieder, wie sonst immer, weg. Seine grünen Augen huschten hin und her als wollte er versuchen herauszufinden was ich dachte. Es fühlte sich so an als würde er gerade versuchen meine Gedanken lesen und dann war dieser Moment da. Dieser Moment, in dem ich ihm am liebsten sagen würde, dass ich ihn einfach liebe, was aber niemals geschehen würde, da wir im Innern es schön längst wussten. Und als ob er tatsächlich darauf kam was ich gerade dachte zogen wir im gleichen Moment die Lippen zu einem Lächeln. Mir wurde auf einmal ganz warm ums Herz und ich wusste ich hatte meinen alten Mike wieder zurück. Doch kaum war dieses Hochgefühl da, ging es auch wieder bergab. Mikes Miene verhärtete sich und er legte die Stirn in Falten. Sein Lächeln erstarb und ich sah dieses dezente Zucken in seinem Mundwinkel, als hätte er Schmerzen und wendete sich dann wieder von mir ab. Was war nur geschehen? Was hatte diesen Moment zerstört? Noch bevor ich ihn fragen konnte was los ist, ging er ohne ein weiteren Kommentar zum Backofen um die fertigen Plätzchen auf dem Blech mit dem Handschuhen herauszuholen. Mit meinem geistig verwirrten Zustand stand ich ganz perplex da und verpasste fast die Ankunft von Luca. Dieser von der Arbeit nach Hause kam. Er sah nicht begeistert aus, als er die Küche sah.
"Was ist denn hier passiert?" In seinem Ton lag eine gewisse Aggressivität, die mich selbst aggressiv machte. "Plätzchen sind passiert", gab ich ihm im gleichen Tonfall zurück. Er schaute mich entsetzt an. "Ich mach die Schweinerei ganz sicher nicht sauber," sagte er verächtlich. "Ich geh bestimmt nicht den ganzen Tag arbeiten um dann hier weiter zu machen, ich glaube ihr habt sie nicht mehr alle, wie es hier aussieht." Seine blonden Haare lagen ein wenig plattgedrückt auf seinem Kopf. Durch seinen Sicherheitshelm, den er fast den ganzen Tag tragen musste, ließ es sich kaum vermeiden. "Genau das ist es, du machst außer arbeiten nichts! Genau wie gestern, warum hast du dich nicht um Anni gekümmert als ich weg war? Was ist dein Problem?" Ich wusste nicht was mich zu diesem Satz geritten hatte, aber das Verhalten von Luca, welches er sich die letzten paar Wochen angeeignet hatte ging allmählich zu weit und ich hatte genug davon.
"Ach ja! Und was ist mit dir du möchte gern Oberschlau. Schwänzt die ganze Zeit Schule um danach mit Mike einen drauf zu machen und ein Bier nach dem anderen zu kippen? Schau mich bloß nicht so an, denkst du ich rieche deine Alkoholfahne nicht, wenn du mitten in der Nacht nach Hause kommst?" Autsch, das hatte gesessen.
Anni fing an zu weinen. "Hört sofort damit auf", schlurzte sie. Doch ich beachtete sie nicht, dass zwischen Luca und mir musste hier und jetzt geklärt werden. Streit gab es hier immer mal wieder, schließlich waren wir auch keine perfekte Familie. Pff, davon waren wir weit entfernt. "Erzähl mir nicht, ich reiße mir nicht für diese Familie den Arsch auf. Eigentlich sollte das mal wieder seit langem ein schöner Abend werden. Aber jetzt kommst du und ruinierst alles. Dabei wollte ich verkünden das die Stromrechnung bezahlt ist. Also steck dir dein Geld von deiner ach so schweren Arbeit sonst wo hin!"
"Komm schon Ian, lass gut sein", mischte sich nun Mike ein. Er versuchte mich am Arm zu packen und mich von Luca wegzuziehen. Erst jetzt fiel mir auf das ich meine Hände zu Fäusten geballt hatte. "Ganz sicher nicht!" Denn ich sah bei Luca ebenfalls die angespannte weiße Haut über den Knöcheln seiner Fäuste. Hier brannte die Luft und das nicht durch den Backofen. Ich überlegte schon wie ich ihn am besten zur Rage bringen konnte, denn ich wollte diesen Kampf. Mein Blut voller Adrenalin pulsierte bereits durch meinen Körper und ich hielt mich für alles bereit und Luca ergriff wieder das Wort, "an deiner Stelle würde ich mich schämen. Nachts betrunken ins Haus zu stolpern," er bohrte an meinem verwundbarsten Punkt, den er genau kannte."Mhm... erinnert dich das nicht an was?", verspottete er mich und lachte mich dabei aus als er meine entsetzte Miene sah. "Hör sofort auf damit!"
"Womit? Damit, dass du genau wie sie geworden bist?" Er genoss es mich leiden zu sehen. Ich schaute rüber zu Anni, die immer noch verheult dastand und sich nicht traute sich zu bewegen, auch Paul war ganz still geworden. Mir zerbrach fast das Herz als ich in ihre Gesichter blickte und die Angst darin sah. Was tat ich eigentlich hier? Ich löste meine Fäuste und die ganze Wut fiel von mir ab. Genau das wollte er doch, dass ich auf ihn los ging? Diesen Wunsch werde ich ihm nicht erwidern. Und aus irgendeinem Grund schien Mike bezüglich meiner Reaktion verblüfft zu sein. "Alles ok?" fragte er mich misstrauisch. Ich nickte. Anscheinend war die Sache gegessen. Luca beugte sich voller Wut zu seinem Rucksack und wollte gerade die Treppen hochstürmen, da beging ich einen riesen Fehler.
"Du hättest eh keine Chance gegen mich gehabt", sagte ich schmunzelnd und wusste im nächsten Moment nicht wie mir geschah. Wutentbrannt kam Luca auf mich zu, noch bevor ich meine Arme zur Abwehr hochreisen konnte verpasste er mir mit voller Wucht eine. Direkt auf die Nase. Ich taumelte rückwärts und dachte ich würde jeden Moment zu Boden fallen, doch zu meinem Glück stand Mike immer noch hinter mir, der mich gerade so halten konnte und mir wieder aufhalf.
"Leg dich ja nicht mit mir an," drohte er mir und war ebenfalls wieder dabei nach oben zu gehen. Ach ja, dem werde ich es zeigen, Körperkraft ist nicht alles. Ich beachtete meine blutende Nase nicht als ich mich Luca zuwendete," das war schon alles?" Jetzt wollte ich es wissen, und dieser Satz erzielte genau die Wirkung die ich haben wollte. Jetzt kam er nicht auf mich zu, sondern stürmte auf mich los. Perfekt. Ich kam ihm mit aller Kraft entgegen wobei ich kurz vor unserem Zusammenprall ein wenig in die Knie ging. Völlig perplex flog er über meine Schulter und seine ganze Kraft arbeitete nun gegen ihn. Er kam heftig zu Boden. Er schlug mit dem Rücken und Hinterkopf auf den Fliesen auf. Er ächzte und rang dann nach Luft, die ihm durch den Aufprall aus den Lungen gepresst worden war. Ich war ebenfalls leicht entsetzt da ich nicht mit so einem heftigen Aufprall rechnete und irgendwie tat er mir für einen kurzen Moment leid. Anni ging weinen auf mich zu und drückte ihr Gesicht in meinen Pullover. Meine Nase hatte immer noch nicht aufgehört zu bluten und tropfte meine ganze Kleidung voll.
"WAS IST HIER LOS!!!"schrie eine weibliche Stimme hinter mir und mein Herz hörte für einen kurzen Moment auf zu schlagen. Jetzt wünschte ich mir ein Loch herbei, in das ich verschwinden konnte.
Kapitel 7 - Ian
Mom war hier und sie kam mit ihrem langen Pyjama und barfüßig die Treppe herunter stolziert. Sie betrachtete das Szenario, dass sich ihr gerade bot. Der Backofen lief immer noch obwohl keine Plätzchen mehr drin waren. Meine Nase blutete immer noch und ich versuchte es mit dem Handrücken aufzuhalten. Vergeblich. Anni riss sich von mir und stürmte zu ihrer Mutter, die sie sofort in die Arme nahm. Dort vergrub sie ihr Gesicht in die braunen Haare unserer Mutter. Luca hatte sich inzwischen ein wenig erholt, war aber immer noch von dem heftigen Sturz angeschlagen. Beim Versuch aufzustehen, wollte Mike ihm helfen und hielt ihm eine Hand hin, doch er ignorierte die freundliche Geste meines Freundes. Sein Stolz war definitiv angekratzt. Die Miene meiner Mutter veränderte sich stätig, je nachdem was sie sah wurde sie wütend, entsetzt und als sie mich erblickte, sah ich Enttäuschung in ihren Augen. Ich warf ihr deswegen einen finsteren und ernsten Blick zu. "Was ist hier passiert?", fragte sie und hätte am liebsten die Frage wieder zurückgenommen als alle anfingen durcheinander auf sie einzureden. Etwa fünf Minuten ließ sie es über sich ergehen bis sie uns anschrie, "Stopp! Ich will nichts mehr hören! So, Anni und Paul ihr geht euch fertig machen und sofort ins Bett." Sie ließ meine Schwester von ihrem Arm herunter und beide rannten ohne Wiederworte die Treppen hinauf. "Und ihr zwei", sie deutete auf Luca und mich," ihr werdet die Küche aufräumen. Ich will später nichts mehr von diesem Chaos hier sehen." Sie meinte es ernst, obwohl ich ihr das nicht abkaufte. Ich zuckte mit den Schultern und sah sie gelangweilt an bevor ich die Hand erhob. Ich streckte sie aus und hielt sie seitlich an meine Schläfe. "Aye Aye, Sir", sagte ich sarkastisch und schenkte ihr keinen Respekt, sie hatte auch nie welchen für mich übrig. "Falls es dir nichts ausmacht, werde ich schnell mein Gesicht waschen." Mein halbes Gesicht war voller Blut, auch wenn es mittlerweile aufgehört hatte. Noch bevor sie mir eine Antwort geben konnte ging ich an ihr vorbei, bedacht sie nicht anzurempeln. Oben angekommen öffnete ich die Badezimmertür und bemerkte hinter mir Mike, der mir gefolgt sein musste. Ich ließ ihn mit ins Bad. Drinnen klappte ich den Toilettendeckel herunter und setzte mich erst einmal darauf. Als ich meinen Kopf senkte begutachtete ich meine Hände, die völlig verschmiert waren und seufzte einmal schwer aus. Durch das ganze Chaos hatte ich vergessen wie sehr mir meine linke Gesichtshälfte weh tat. Ich tastete vorsichtig mit den Fingerspitzen meine Nase ab. Zischend zog ich die Luft ein als ich eine schmerzempfindliche Stelle traf. Mike der mich die ganze Zeit beobachtet hatte, kam mit einem nassen und kalten Lappen auf mich zu und fing an die Blutreste aus meinem Gesicht zu wischen und zu tupfen. Er war vorsichtiger als ich zu mir selbst war, weshalb es kaum weh tat. Das tat er ständig, wegen dieser Arztgeschichte, aus diesem Grund ließ ich ihn einfach gewähren. Er hatte darüber mehr Ahnung als ich oder andere und das war durchaus praktisch. Bei meiner Verletzungsrate. Außerdem hatte er für sowas einfach geschicktere und ruhigere Hände als ich.
"Wie sieht´s aus?" fragte ich ihn, und hoffte auf eine positive Antwort. "Ach, es geht, ich habe dich schon mit viel schlimmeren Verletzungen gesehen", entgegnete er mir mit einem müden Lächeln. "Wie es scheint ist sie nicht gebrochen, aber ich denke ein Hämatom am unteren linken Auge bleibt dir nicht erspart, du solltest es auf jeden Fall kühlen", stellte er fest. Manchmal hatte ich den Glauben, dass er sich insgeheim freute, wenn ich verletzt wurde und dann hinterher Arzt spielen durfte, ich war ja auch das perfekte Opfer dafür. Als er fertig war wusch er den Lappen mit kaltem Wasser wieder aus, bis kein Blut mehr zurückblieb. Ich erhob mich vom Toilettensitz und kam zu ihm rüber, damit ich mich im Spiegel betrachten konnte. Es tat mir sichtlich weh als ich wegen meiner Haare die Nase rümpfte. Verfluchte Scheiße. Warum musste auch immer mir sowas passieren. Ich nutzte die Gunst der Stunde und bat Mike mir die Haare runter zu rasieren.
"Hast du wieder irgendwelche Drogen genommen?" fragte er mich lässig, als wäre es das normalste der Welt als er den Badeschrank öffnete um den Trimmer raus zu holen. "Nein, seit der Wette mit meiner Mom habe ich nichts angefasst." Mike steckte den elektrischen Rasierer in die Steckdose und prüfte die Schnitthöhe. "Ein Jahr wirst du doch noch durchhalten" meinte er und schaltete das Gerät ein. Ich zog meinen Pullover über den Kopf aus und pfefferte ihn in die nächstbeste Ecke. "Ja klar, mich wundert nur das meine Mom so lange durchgehalten hat. Hätte ich ihr gar nicht zugetraut." Ich ging in die Hocke und beugte meinen Kopf über die Badewanne, die auch gleichzeitig unsere Dusche ist. Mike setzte die Maschine am Nacken an und rasierte der Länge nach, bis nach vorne zur Stirn, die Haare herunter. Ich wusste nicht wieso, aber ich mochte es und bereitete mir immer einen wohligen Schauer der eine Gänsehaut verursachte. Eine Weile sagten wir nichts und ich lauschte dem surrenden Geräusch. Immer mehr Haarbüschel flogen an mir vorbei und landeten in der Wanne. Ich unterbrach die Stille mit meiner kratzigen Stimme. "Ich dachte, sie würde wieder in die nächst beste Kneipe flüchten und sich dort irgendeinen Typen anlachen. Nachts betrunken Heim kommen..." Ich rieb mir die Stirn, da mich die losen Haare im Gesicht juckten. Oder wollte ich mich nur von dem Gedanken ablenken, dass mir das in letzter Zeit ständig passierte, obwohl ich es selbst bis auf den Tod hasste. Ich musste unbedingt damit aufhören. Die Stimme von Mike riss mich aus meinen Gedanken. "Ich bin fertig," verkündete er stolz. Ich rieb mir einmal über den frisch rasierten Schädel um mich zu überzeugen. Im Spiegel konnte ich erkennen das er ganze Arbeit geleistet hatte. "Perfekt." Ich lächelte mein eigenes Spiegelbild an, welches so vollkommen anders aussah wie noch vor zehn Minuten. Mit der kürzeren Frisur wirkte ich definitiv älter und mein halbblaues Auge ließ mich gefährlich aussehen. Wahrscheinlich ein Grund warum die Leute Angst vor mir hatten und mich größten Teils mieden. Ich entfernte noch ein paar Haare aus meinem Gesicht, wobei ich darauf achtete nicht meine Nase zu berühren und fuhr mir ein Paar mal über die nackte Brust um auch dort die Haarreste los zu werden. Leichter gesagt als getan, um eine weitere Dusche kam ich wohl nicht herum. Doch erst sollten wir wieder zurück in die Küche, schließlich herrschte dort bestimmt immer noch das reinste Chaos. Mike hatte in der Zwischenzeit den Trimmer gereinigt und wieder zurück in den Schrank verstaut. " Wir sollten mal schauen was in der Küche los ist." Den Pullover von vorhin konnte ich nicht mehr anziehen und landete direkt im Wäschekorb als ich ihn aufhob und prüfte. Ich verließ das Bad, huschte schnell in mein Zimmer um im Schrank etwas Neues heraus zu kramen. Mein Lieblingspulli fiel mir sofort in die Hände. Ich hatte ihn schon ewig, sah aber verhältnismäßig zu meinen anderen Klamotten noch sehr gut aus. Es ist ein schwarzer Kaputzenpulli, wobei die Innenseite Blau war. Ich mochte ihn einfach, er saß perfekt und war super bequem. Mike wartete im Flur auf mich und folgte mir wieder runter in die Küche. Dasselbe Chaos herrschte hier immer noch nur hatte sich die Szene erheblich verändert. Von Luca war weit und breit nichts zu sehen. Meine Mom hatte beide Hände vor´s Gesicht geschlagen und hatte vor sich eine Tasse Tee stehen, welchen ich durch den Beutel am Rand erkannte. Der Backofen war bereits ausgeschalten. Als meine Mutter hörte das jemand die Treppe runter kam blickte sie auf. Ihre Augen waren ganz glasig und sahen müde aus. "Was ist los?", wollte ich wissen. Doch auf meine Frage hin schüttelte sie nur mit dem Kopf. "Wo ist Luca?" Den mir seine Abwesenheit schon zuvor aufgefallen war. "Er hat nicht eingesehen hier aufzuräumen und ist verschwunden." Sie schloss ihre langen dünnen Finger um die dampfende Tasse vor sich. "Was meinst du er ist verschwunden?", fragte ich genervt nach. "Er hat seine Jacke genommen und ist die Tür raus," sagte sie achselzuckend. Unter ihren Augen bildete sich ein nasser Rand. Oh nein, das darf doch jetzt nicht wahr sein. Innerlich bettelte ich, dass sie jetzt nicht anfing zu weinen. Früher als Kind kam ich immer zu ihr als sie weinte und tröstete sie indem ich sie in den Arm nahm, wie Kinder das eben mal so tun. Das habe ich mir über die Jahre abgewöhnt, inzwischen ignorierte ich es meistens. "Was ist, wenn er nicht mehr zurückkommt?" Sie gab sich wirklich alle Mühe ihre Tränen zurück zu halten. "Der kriegt sich schon wieder ein und kommt zurück, "versuchte ich gegen meinen Willen sie zu beruhigen. „Die kleinen hören noch auf mich aber ihr beide tanzt mir mittlerweile auf der Nase herum, wie Leila kurz bevor sie auszog,“ erklärte sie und nahm einen großen Schluck von ihrem Tee. Daher wehte der Wind. Das hatte ihr damals schwer zu schaffen gemacht als Sie das Haus verließ. Sie konnte sie nicht aufhalten oder umstimmen. Das würde sie bei mir auch nicht schaffen, das Einzige was mich eigentlich noch hier hielt waren meine jüngsten Geschwister, die ich beim besten Willen nicht zurücklassen konnte. Ein Dach über den Kopf würde ich da draußen schon finden, im schlimmsten Fall würde ich Samuel fragen ob bei ihm in der WG noch ein Platz frei wäre. Aber dann würde hier alles im Chaos versinken, niemand würde aufräumen, niemand würde kochen, die Wäsche waschen, Hausaufgaben kontrollieren, die kleinen zu Bett bringen oder nachts trösten, wenn sie vor lauter Angst nicht schlafen konnten. Die Person die vor mir am Tisch saß kam mir mittlerweile wie eine Fremde vor, sie war nicht mehr meine Mutter wie ich sie früher kannte. Sie entzog sich jeglicher Verantwortung. Gut, ich konnte verstehen das sie, wenn sie von der Nachtschicht kam und sich den Vormittag schlafen legte, ihre Ruhe haben wollte. Aber sie war kaum zu Hause und verpasste alles. Anni die ihren letzten Milchzahn verloren hatte. Paul, der dank meiner Hilfe bessere Noten mit nach Hause brachte. Aber das Alles kümmerte sie nicht. Sie saß hier und versank in Selbstmittleid. Was mich wütend machte. Nach dem sie ihre Tasse leer getrunken hatte, stand sie auf, stellte das Geschirr in die Spüle und sah sich um. „Was soll ich nur tun?“ fragte sie und sah dabei noch bemitleidenswerter aus wie zuvor. „Am besten gar nichts, wie immer“, fuhr ich sie an. Wie konnte man nur so in Selbstmitleid versinken, dafür hatte ich kein Verständnis. „Verschwind einfach wieder dahin wo du herkamst und überlasse das mir, wie du es mit allem auch immer wieder tust.“ Als ich die Worte ausgesprochen hatte, konnte ich sie nicht mehr zurücknehmen. Der Ernst den ich den Worten verlieh halte selbst in meinen Ohren wieder. Meine Mutter hatte den Mund geöffnet, als wollte sie etwas sagen. Doch sie schloss ihn wieder und verschwand aus der Küche, ohne sich noch einmal umzudrehen. Genervt atmete ich schwer aus. So gemein wollte ich nun auch nicht zu ihr sein. Aber vielleicht verstand sie es ja nicht anders. Mike war immer noch hier, ich bin froh das er sich in solche Angelegenheiten nicht einmischte, zumindest gab er sich immer ruhig. Keine Ahnung ob er es mit Absicht tat oder nicht wusste was er dazu sagen sollte. Ich wollte ihn auf keinen Fall mit in diesem Familienchaos drin haben. Nicht, dass es ihn nichts anging, aber wegen mir oder jemanden aus meiner Familie sollte er sich keine Sorgen machen. Außerdem konnte ich nicht mit ansehen wie meine Mutter vor meinen Augen in Selbstmitleid versank. So sehr Sie sich auch verändert hatte, sie war schließlich immer noch meine Mutter. Manchmal hatte ich einfach das verlangen sie an den Schultern zu packen und wach zu rütteln, seit mein Vater sie verlassen hatte, an den ich keinerlei Erinnerungen habe, hat sie sich sehr verändert. Sie hat sich quasi innerlich zurückgezogen und das meine Schwester so früh ausgezogen war, machte er mindestens genau so viel zu schaffen. Aber hier drehte es nicht um meinen Vater oder um meine Schwester, sondern um uns vier, die immer noch hier sind. Natürlich sind Probleme vorprogrammiert, wenn zwei hormongesteuerte Teenager auf zwei kleine Kinder aufpassen sollten. Ich versuche mich jeden Tag zusammen zu reisen, aber manchmal brauche auch ich einmal meine Auszeit, schließlich habe ich auch andere Dinge im Kopf und möchte mit meinen Freunden Party machen, anstatt zu Hause zu sitzen und den Haushalt zu schmeißen. Viele Gedanken überschlugen sich gerade in meinem Kopf und irgendwie kam ich immer auf zwei Ergebnisse, entweder meine Mom wachte aus ihrem Traum auf und nahm wieder die Verantwortung oder es lag alles an mir. Wobei ich für die erste Variante noch Hoffnungen hatte. Schließlich hat sie seit unserer Wette ihr Verhalten erheblich verbessert, wobei sie durch die Arbeit auch wieder weniger Zeit hatte. Alles hatte seine Vor- und Nachteile. Ich bemerkte Mike erst wieder, als er eine Hand fürsorglich auf meine Schultern legte. „Ich weiß zwar nicht wo du gedanklich wieder unterwegs bist, aber wenn du willst, helfe ich dir aufräumen. Danach würde ich gerne etwas essen gehen“, sagte er und sah mich verständnisvoll an. Manchmal wusste ich nicht, womit ich ihn verdient hatte. Ich nickte. „Das hört dich gut an, wenn du willst lade ich dich auch ein.“
Mike widmete sich dem dreckigen Geschirr, während ich mit dem Staubsauger das Mehl wegsaugte und hinterher mit dem Waschlappen über sämtliche Oberflächen wischte. Es ging schneller als gedacht und mit Mike brauchte ich gerade mal zwanzig Minuten, danach sah es hier ordentlicher aus als zuvor. Wir hatten uns geeinigt zu Nimas Frittenbude rüber zulaufen, das war jetzt die schnellste und einfachste Variante. „Danke. Für alles.“ Ich musste ihm einfach danken, einfach das er immer wieder für mich da war und mir aus jeder Situation heraushalf ohne nachzufragen. Das rechnete ich ihm sehr hoch an. Er lächelte mich an, während wir unsere Jacken anzogen. „Du weißt das du das nicht brauchst“, sagte er zu mir als würde ich mich für irgendetwas banales bedanken. Ich hatte ihn wirklich nicht verdient. Ich zog die Tür hinter mir ins Schloss, als wir uns auf den Weg machten. Wir gingen schweigend einen Schritt vor dem anderen und brauchten eine Weile, bis wir am Imbiss ankamen. Dort bestellte jeder das was er haben wollte, bei mir war es eine große Portion Pommes Frites und Mike bestellte sich einen Hotdog mit Röstzwiebeln. Dampfend bekamen wir beide Portionen an unseren Stehtisch gereicht. Dank meiner an den Fingerspitzen offenen Handschuhen, musste ich sie zum Essen nicht ausziehen so wie Mike. Ich pickte mir nach und nach die dampfenden Pommes aus der Schale und ertränkte sie stellenweise in dem Ketchup. Das warme. fettige Essen fühlte sich einfach fantastisch an und füllte schnell meinen leeren Magen. Der Tag brachte doch noch ein annehmbares gutes Ende, wenn man das so nennen konnte. Wo Luca wohl hin verschwunden ist? Ob er die Nacht woanders verbrachte? Sollte mir recht sein, er wird schon wieder auftauchen. Da machte ich mir weniger Sorgen als unsere Mom. Schließlich sind mein Bruder und ich gar nicht so unähnlich. Als wusste Mike was ich gerade dachte, fragte er mich nach Luca und ob ich vorhatte ihn suchen zu gehen. „Nein, das wäre übertrieben, der taucht wieder auf sobald er sich beruhigt hat.“
„Wie sieht es aus mit Samstag?“, fragte Mike mich vorsichtig. Daran hatte ich seit heute Morgen gar nicht mehr gedacht. Aber ich bin zu dem Entschluss gekommen das es zu riskant war. Jetzt nachdem nach uns mehr oder weniger gesucht wurde. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass gar nicht groß was von der Polizei aus unternommen wird. Taschendiebe gab es in so einer riesigen Stadt wie Sand am Meer.
„Ich werde nicht hingehen“, war mein Antwort und ich sah in Mike´s Gesicht, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Warum machte er das bloß? Wieso wollte er mitkommen, zwang sich regelrecht dazu, auch wenn er es eigentlich gar nicht wollte. Wenn er nein gesagt hätte, wäre das auch in Ordnung gewesen. „Ich habe aber dafür einen anderen Plan, wahrscheinlich.“ Nachdem ich das gesagt hatte schaute mich Mike verwundert an. „Was für einen Plan?“ Doch ich schüttelte nur mit dem Kopf, denn es war kein ausgereifter Plan, sondern nur eine Schnapsidee. Wenn ich ihm sagen würde, dass ich eigentlich vorhatte das Haus beziehungsweise, die Unterkunft, was auch immer es war, auszuspionieren, würde er durchdrehen. Es war aber möglich, dass ich dadurch etwas über sie herausfand. Ich fand es mehr als nur merkwürdig das so junge Leute so viel Bargeld bei sich trugen. Das ist selbst für einen Pokemon-Trainer oder Ranger eine Menge Geld. Da steckte definitiv mehr dahinter und ich wollte herausfinden was. Eine direkte Konfrontation, ist leider durch die momentane Situation unmöglich. Egal was es war, es steckte mehr dahinter und ich witterte meine große Chance. Ich musste es zumindest versuchen. Das blonde Mädchen hatte gemeint, das sie am Samstag in Wailiquide gehen, das heißt, dass eventuell niemand im Haus ist. Die perfekte Möglichkeit dort ein wenig herum zu schnüffeln. Zum Glück hatte ich so ein gutes Gedächtnis, die Adresse wusste ich noch immer auswendig. Dennoch werde ich sie googeln müssen, um die Straße zu finden. Ich stopfte mir die letzte Pommes in den Mund bevor ich den leeren Pappteller in die Tonne warf. Seitdem ich Mike den Plan erwähnt hatte schaute er mich immer wieder durchdringlich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Was auch immer du da „planst“, sei bloß vorsichtig“, sagte Mike als wir uns auf den Weg zur Bahnstation machten. Seine Hände hatte er in seine Hosentaschen gesteckt um sie vor der Kälte zu schützen.
„Wann war ich mal nicht vorsichtig?“, witzelte ich und stieß ihn seitlich an, er wiederum verdrehte nur die Augen. „Ich werde schon aufpassen“, sagte ich nun etwas ernster.
„Um ehrlich zu sein, will ich gar nicht wissen was du vor hast, aber ich habe keine Lust, dich deswegen im Knast besuchen zu müssen.“ Ich grinste über seine Wortwahl und erfreute mich das er mich so gut kannte. Ich bemerkte erst wie spät es war, nachdem ich Mike zum Bahnhof begleitet hatte und dann den Weg nach Hause angetreten war. Ich stand in der Küche. Die Stille kam mir an diesem Ort gerade seltsam vor, wenn man bedachte was hier vor eine paar Stunden noch los war. Lucas Jacke und Schuhe waren immer noch nicht hier. Er würde heute Nacht nicht mehr nach Hause kommen. Da war ich mir sicher. Müde begab ich mich ins Badezimmer, machte mich fertig und legte mich in mein Bett. Ungewohnt ruhig, ohne das Geschnarche meines Bruders, dachte ich mir bevor ich in den Schlaf fand.
Kapitel 8 - Mike
Mit der Hochbahn war ich sehr zügig zu Hause. Die kurze Strecke zwischen der Station von Ian bis zu mir, konnte ich auch schnell hinter mich bringen. Ein kurzen Blick auf mein Handydisplay verriet mir das ich mehr als pünktlich war und ich keine Sekunde zu spät an der Haustür stand. Mit meinen Eltern hatte ich vereinbart, falls ich mich nicht meldete, spätestens um zehn Uhr zu Hause zu sein und daran hielt ich mich auch. Ich schloss mit dem dazu passenden Schlüssel die Haustür auf. Instiktiv griff ich nach dem Lichtschalter, damit ich meine Jacke ordentlich in die Garderobe hängen konnte. Auch in der Küche brannte kein Licht. Waren meine Eltern schon im Bett? Konnte ich mir fast nicht vorstellen, wenn meine Mutter nicht wusste wo ich war und bis zehn nicht auftauchte, machte sie vorher kein Auge zu. Doch als ich weiter lief sah ich einen schwachen Lichtschein und hörte Geräusche die mir sagten, dass sie vor dem Fernseher saßen. Als ich weiter dem Geräusch nachging, entdeckte ich die Beiden auf der Couch sitzend. Bei genauerem Hinsehen, erkannte ich sogar das meine Mutter eingeschlafen war. Ich räusperte mich kurz um mich bemerkbar zu machen. "Guten Abend, Mike,"begrüßte mich mein Vater als er mich erkannte. Ich hob zum Grüß nur die Hand. "Ich gehe gleich ins Bett", sagte ich noch bevor ich mich umdrehte um nach oben zu gehen. Mein Vater war wesentlich unkomplizierter als meine Mom, was wohl daran lag, dass wir nur selten miteinander redeten. Nicht das wir gar nichts redeten, aber unsere Gespräche waren niemals tiefgründig. Aus irgendeinem Grund kam meine Mutter ihm immer zuvor. Das macht die Beziehung zu meinem Vater doch sehr einfach. Es gab Momente, da versuchte er mit mir über wichtige Dinge zu reden. Zuletzt erst als Chloe und ich zusammen gekommen waren. Dieses peinliche Aufklärungsgespräch, welches mein Vater versuchte mit mir zu führen, war wohl das peinlichste welches er mit mir führen musste. Damals ist er mit einem hoch roten Kopf aus meinem Zimmer marschiert, nachdem er mir ein Kondom in die Hand gedrückt hatte. Welches übrigens immer noch in der Schublade meines Schreibtisches lag. Dieser Moment hätte ich eigentlich nutzen können, ihm sagen können das ich das gar nicht brauche, doch ich WeichTogepie hatte mich mal wieder nicht getraut. Im Nachhinein hatte ich das Gefühl, das wahrscheinlich meine Mutter in dazu gedrängt hatte. Ein Vater-Sohn-Gespräch eben. Alles in allem meinen es meine Eltern nur gut mit mir, dass sie mich beschützen wollen, in jeglicher Hinsicht, auch wenn sie es manchmal übertrieben. Das konnte ich ihnen keines Falls übel nehmen. Schließlich lassen sie mir ein großes Stück Freiraum. Gerade was das mit mir und Chloe angeht. Völlig Gedankenversunken stampfte ich die Treppen hoch. Ich war müde. Der ganze Tag hing mir noch nach wie meine kleine persönliche Regenwolke. Die letzten paar Tage generell waren sehr anstrengend und in den Nächten zuvor hatte ich auch wenig Schlaf bekommen. Hundustermüde war für meinen Zustand kein Ausdruck. Aber es gab so viele Dinge, über die ich mir große Sorgen machte. Die Nachrichten, die verrieten, dass sie uns insgeheim suchten. Die Gruppe Jugendlicher, denen wir eine riesen Summe Bargeld gestohlen hatten. Die riesige Summe Bargeld. Der riesen Streit mit Ian und Luca. Die vielen Arbeiten die noch in der Schule anstanden und die riesige Menge die ich dafür noch lernen musste. Irgendwie schien mir gerade alles ein wenig über den Kopf zu wachsen. Mein riesiger Schlafmangel die von meinen riesigen Problemen her rührten. Meine letzte Unterhaltung mit Ian, und das er sehr, sehr wahrscheinlich wieder was floinkdummes vorhatte. Ich hätte zu gern gewusst was, aber dann wäre ich mit Sicherheit nicht mehr im Stande gewesen nein zu sagen und würde mich wieder in was reinstürzen, das mich nur in Schwierigkeiten brachte. Aber was ist, wenn ihm dabei etwas passiert? Wenn er erwischt wird, egal was er vorhatte. Ich könnte es niemals verhindern, ob ich jetzt mitmache oder nicht, aber ich könnte abwägen was für Folgen das Ganze hätte oder welche Konsequenzen es mit sich zog. Und aus diesem Wissen heraus könnte ich eventuell noch mit ihm reden, ihm ausreden es nicht zu tun. Doch Chloe hatte mich davor gewarnt und sie hatte Recht. Ich hätte viel zu verlieren. Ian macht keine halben Sachen und als er mich vorhin nicht gefragt hatte, dann wird er es im Nachhinein auch nicht tun. Weil er mich da nicht mit hinein ziehen will. Was nur meine Vermutung verstärkte, dass er da was Übles vorhat. Meine schulische Ausbildung war mir sehr wichtig und die berufliche Karriere danach, die ich mir schon so sorgfältig geplant hatte durfte ich nicht einfach so aufs Spiel setzen, nur weil ich etwas für ihn empfinde. Bei diesem Gedanken war mir direkt zum Schreien oder zum Heulen zumute, weshalb ich verzweifelt die Hände vors Gesicht schlug. Eine verdammte Zwickmühle, in der ich schon lange festsitze und an dieser sich niemals etwas ändert, wenn ich mich nicht für eine Richtung entscheide. Kann ich es sagen? Bekomme ich die Worte über die Lippen in seiner Gegenwart? Sofort schnürte sich mein Hals zu. Ich stand verloren in meinem Zimmer. Würde es Sinn machen, mit allem etwas kürzer zu treten. Ian aus meinem Leben auszuschließen. Ihn nicht mehr sehen? So viele Fragen die ich mir immer wieder auf´s neue stellte ohne eine Antwort zu bekommen. Das frustrierte mich. Doch ich bekomme ihn einfach nicht mehr aus meinen Kopf. Wie ich Ihn heute gesehen habe. Das Bild, als er mit einem blutverschmierten Gesicht im Bad saß. Als er den Pullover auszog. Nein, scheiße verdammt Nein! Ich schüttelte heftig mit dem Kopf um diese Bilder aus meinem Kopf zu kriegen. Ich stand einfach nur geistig abwesend da. Ich schweifte meinen Blick über mein Zimmer und meine persönlichen Gegenstände die sich darin befanden- und wunderte mich aus heiterem Himmel über mein penibel aufgeräumtes Zimmer. So ordentlich und sauber wie immer. Wie kann das nur sein, wenn meinem Inneren das komplette Gegenteil herrscht. Ich musste schnell auf andere Gedanken kommen bevor ich noch völlig den Verstand verliere, aus diesem Grund musste ich schnell hier raus und entschied mich meine Zähne zu putzen und zog mir dabei auch gleich noch etwas frisches an. Das bringt alles nichts. Als ich dann doch etwas später auf meinem Bett lag, war an schlafen nicht mehr zu denken und schaltete deshalb den Fernseher an. Ich dachte mir die Nachrichten anschauen würde nicht schaden und falls sie wieder über die Diebstähle während der Parade berichteten, wollte ich da nichts verpassen. Doch es kam zu meiner Erleichterung nichts dergleichen. Danach kam nichts mehr Interessantes. Ich schaltete das Gerät wieder aus und damit auch meine Ablenkung. Hellwach lag ich da. Ich schnaufte ein paar Mal genervt aus. Jede Kleinigkeit war mir willkommen, die mich nicht an meine Probleme erinnerten. Die Geräusche von draußen waren diese Kleinigkeit und ich lauschte ihnen. Jetzt als ich genauer hinhörte kamen sie mir so verdammt laut vor. Fahrende Autos. Menschen, Pokemon, Musik, die Hochbahn die alle fünf Minuten bremste, hielt und dann wieder hupend davon fuhr. Der Lärm einer Stadt die niemals schläft. Genau wie ich. Zumindest fühlt es sich so an. Der Lärm, das Chaos gegen das ich gerne anschreien möchte, daraufhin es zumindest keinen kurzen Moment verstummt. Einen Moment, den ich zum Einschlafen nutzen konnte.
Ich rannte zur Haustür und klingelte viermal, mein Geheimzeichen für Ian. Er musste direkt hinter der Tür gestanden haben, denn er öffnete sie sofort und zog mich ins Haus.
"Wird langsam Zeit", knurrte er und deutete auf die Treppe. "Siehst du diese Anhöhe?", fragte er und redete dabei wie ein Soldat in einem Kriegsfilm.
"Jawohl, Sir!", antwortete ich und schlug die Hacken zusammen.
"Noch vor dem Morgengrauen muss sie uns gehören."
"Maschinengewehre oder Sturmausrüstung, Sir?"
"Wohl übergeschnappt!", bellte er. "Wie sollten wir die schwere Ausrüstung denn durch diesen Schlamm schleppen?" Er deute in Richtung Teppich.
"Dann also Sturmausrüstung, Sir", nickte ich beipflichtend.
"Und falls sie uns schnappen", grunzte er warnend, "heb die letzte Kugel für dich selbst auf."
Immer einen letzten Ausweg in der Hinterhand.
Wir stürmten die Treppe wie ein Trupp Soldaten, feuerten nicht vorhandene Schüsse auf nicht vorhandene Feinde ab. Es war kindisch, machte aber einen Mordsspaß. Ian büßte unterwegs ein Bein ein, und ich musste ihn bis nach oben schleppen.
"Ihr habt mir mein Bein genommen", brüllte er vom Treppenabsatz, " und vielleicht nehmt ihr mir noch mein Leben, aber mein Land kriegt ihr nie und nimmer!"
Es war eine bewegende Ansprache. Zumindest setzte es seine große Schwester in Bewegung, die unten aus der Küche kam, um nachzusehen, was der Lärm zu bedeuten hatte. Als sie uns erblickte, lächelte sie und fragte, ob wir etwas essen oder trinken wollen. Ich mochte nichts, aber Ian erwiderte, er wolle gern ein bisschen Kaviar und Champagner. Wir lachten darüber, aber Leila verdrehte nur die Augen und verschwand wieder in der Küche. Den Rest musste ich ihn die Treppe hoch schleifen. Mit beiden Armen musste ich ihn mit aller Kraft die ich besaß die Treppen hochzerren. Oben angekommen faselte Ian noch etwas, das ich Ihn zurück lassen sollte und das die Mission alles ist was zählt.
Kurz drauf waren wir in seinem Zimmer angekommen und legten uns auf sein Bett. Es war ein Hochbett und wir starten gegen die Unterseite der darüber liegenden Matratze von Luca. Wir waren allein. Ich brauchte eine Weile bis sich meine Atmung normalisierte, nach der Anstrengung die es mich gekostet hatte Ian die Treppe hoch zu schleifen. Doch jetzt lagen wir friedlich in seinem Bett und quatschten ein wenig. Erst über Schule, dann über unsere Freunde und wie doof sie manchmal waren.
„Auch wenn er ein lustiger Typ ist, aber manchmal kann ich Samuel nicht leiden, “, stellte Ian fest und ich nickte nur zustimmend. Ich starrte ihn von der Seite an.
"Auf dich kann ich mich immer verlassen." Mir rutschte fast das Herz in die Hose als er sich zu mir drehte und mir das direkt ins Gesicht sagte. Kurz darauf spürte ich jeden Herzschlag doppelt so fest in meine Brust hämmern, als ich versuchte zu realisieren, was er gerade dabei war zu tun. Er rutschte ein Stück näher in meine Richtung, unser Blickkontakt brach dabei nicht ab. Ich spürte und schmeckte flüchtig seinen Atem auf meiner Haut, kurz bevor ich mich entschied die Luft anzuhalten. Die Haut brannte kurz darauf an dieser Stelle, doch ich wäre der letzte gewesen der wollte das das aufhört. Ich versuchte nicht daran zu denken, falls denken für mich gerade überhaupt möglich ist. Feuerrot im Gesicht lag ich direkt vor ihm. Blinzeln war für mich keine Option. Seine Augen waren klar und leuchtend und sie starrten mich direkt an. Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Spucke als er noch einmal ein ganzes Stück näher kam. Die Lücke zwischen unseren Lippen hätte nur noch ein Blatt Papier ausfüllen können und ich dachte mein Herz würde jeden Moment aussetzen. Kurz vor dem Kuss schloss es sanft seine Augen.
Mit einem so heftigen Ruck, mit dem selbst ich nicht gerechnet hatte saß ich geschockt und nach Luft schnappend lichtelgerade in meinem Bett. Ich brauchte nicht lange um zu verstehen, dass das bloß ein Traum war. Doch der kleine Traum ging mir bis ins Mark und ich brauchte eine ganze Weile bis ich meine Gefühle unter Kontrolle hatte. Noch immer schwer atmend schaute ich mich in meinem vertrautem Zimmer um. Auf der Suche nach etwas ließ ich meinen Kopf hin und her wandern. Doch mein Verstand spielte mir nur Streiche und kam mit der massiven Sinnesüberflutung selbst nicht zurecht. Eine leichte Panik überkam mich als ich das wonach ich suchte nicht fand und dabei wusste ich noch nicht einmal was. In meinem Zustand dachte ich, jeden Augenblick den Boden unter meinen Füßen zu verlieren und hier war nicht woran ich mich halten konnte. Das war es! Das wonach ich suchte, Halt. Nach etwas an dem ich mich halten konnte, doch das war nicht hier. Denn die einzige Konstante in meinem Leben, an der ich mich halten konnte, das war Chloe, die jetzt nicht hier war. Nicht Ian, nicht meine Eltern, nein. Sie wussten von nichts. Chloe ist momentan die einzige Person die mich verstand und die mir jetzt helfen konnte. Ich beruhigte mich bei dem Gedanken an Chloe und wie es wohl sei sie jetzt bei mir zu wissen. Eine gefühlte Ewigkeit brauchte es bis sich mein Puls beruhigte und normale Geschwindigkeit annahm. Umso erleichterter war ich als ich doch zügig in den Schlaf fand.
Mein Wecker klingelte und es war Zeit für die Schule. Ich beeilte mich mit dem Waschen, Anziehen und Frühstücken, denn ich hatte ein Ziel. Ich musste heute den Zug früher erwischen, denn ich musste unbedingt mit Chloe sprechen. Das Ziel beflügelte mich ein wenig und brachte mir ein wenig Selbstvertrauen zurück, das ich sicher gleich noch brauchte. Ich würde Chloe erst auf dem Schulhof antreffen, da sie aus einem völlig anderen Stadtteil kam und somit einen anderen Zug nahm um in die Schule zu kommen. Im Zug angekommen, machte ich mir noch nicht einmal die Mühe einen Sitzplatz zu suchen ich war zu aufgeregt um wirklich still sitzen zu bleiben. An der Schulstation angekommen musste ich kurz meinen Schal ein wenig enger um meinen Hals ziehen, als ich die furchtbare Kälte beim Aussteigen bemerkte. Ich eilte über den kurzen Weg zwischen Schule und Bahnstation und über den Schulhof, den ich wollte keine Zeit verlieren. Aus der Ferne konnte ich dann endlich Chloe ausmachen, die wie üblich mit Lisa und Jenny an unserem Tisch stand. Nach einer Weile erkannte auch sie mich und war sichtlich erstaunt mich hier so früh zu sehen. Wir begrüßten uns umarmten uns, wobei sie mir wie fast immer noch einen Kuss auf die Wange drückte.
"Womit habe ich die Ehre, dich hier so früh anzutreffen", fragte sie mich übertrieben gespielt höfflich.
"Ich muss mir dir sprechen", war meine knappe, fast zu schroffe Antwort auf ihre zuvor freundliche Frage. Ihr Lächeln wandelte sich zu einer festen Miene indem sie die Lippen aufeinander presste. "Jetzt sofort?" Sie sah mich ungläubig an.
"Ja jetzt sofort." Ich duldete keinen Aufschub mehr. "Alleine unter vier Augen am besten", setzte ich noch nach. Sie sah mich genauer an und musste etwas gesehen haben oder meine Dringlichkeit gespürt haben, denn sie nickte mir zu und wir entfernten uns einige Meter von Jenny und Lisa, bei denen wir uns für die Unannehmlichkeiten entschuldigt hatten. Chloe wirkte geknickt als sie sich zu mir wandte. "Was gibt es so dringendes, weshalb du sofort mit mir reden musst?" Ihre Stimme wirkte noch brüchiger als zuvor, nachdem sie beschloss nicht auf meine Antwort zu warten und weiter redete. "Sag mir bitte nicht, dass du mit mir Schluss machen willst."
"Was?! Nein, wie kommst du darauf?" Auf diese Aussage war ich selbst nicht vorbereitet und brachte mich selbst aus dem Konzept.
"Ich weiß es nicht, vielleicht weil du hier so früh auftauchst, was du sonst nie machst und mich sofort sprechen musst." Sie klang dabei ein wenig verlegen und ihr war es sichtlich peinlich, dass sie die falschen Schlüsse daraus gezogen hatte, denn sie lief rot an. Obwohl wir nur eine „Zwecksbeziehung“ hatten, gab es mir dennoch ein gutes Gefühl, dass ihr das so nahe ging. Es ist schön zu wissen das ich ihr wichtig war, egal in welcher Hinsicht. "Ich will doch nicht mit dir Schluss machen", sagte ich um musste dabei fast lachen, weil die Vorstellung allein schon lustig war. "Selbst wenn, wird sich das Verhältnis zwischen uns nicht ändern, du wirst immer meine Freundin bleiben, zwar nicht meine feste Freundin aber das ich ein anderes Thema." Das Ganze lenkte mich für einen Augenblick von meinen tatsächlichen Problemen ab. Chloe hingegen fand es überhaupt nicht lustig das ich mich auf ihre Kosten amüsierte. "Haha", lachte sie gekünstelt“, über was wolltest du dann mit mir reden?" Bäm. Hallo Alltag. Da war er wieder und erschlug mich fast. Sofort erstarb mein Lächeln.
"Ich muss mir dir reden über... ähm..." Mehrere Male stockte meine Stimme und ich konnte meine Gedanken und Sätze nicht mehr formulieren die ich mir den Abend zuvor zurecht gelegt hatte. Warum fiel mir es so schwer darüber zu reden. Reine Sinnesüberflutung. Blackout, und meine Worte waren weg.
"Über was nun? Sprich schon!" Sie wurde ungeduldig und tippelte mit den Füßen vor sich hin. "Ich wollte,... ich,... ich kann nicht" stotterte ich wie ein vollkommener Trottel. Was ist nur los mit mir? Chloe sah mich auf einmal besorgt an, so kannte sie mich nicht, ich erkannte mich sogar gerade selbst kaum wieder. Es fühlte sich an als hätte mein einen Zug mit voller Geschwindigkeit gestoppt. Nicht einfach so. Nein. Sondern mit vollem Eisen.
"Mike. Wenn du mir was sagen möchtest, dann sag es, wenn du es nicht kannst, dann kann ich dir leider auch nicht helfen, selbst wenn ich es möchte und das möchte ich." Sie ergriff meinen Arm um mir zu versichern, dass sie es ernst meint und das wiederum löste einen Teil meiner Angst.
"Ich kann das alles nicht mehr, das mit Ian."
"Was genau meinst du“, hakte sie sofort nach.
"Alles eben. Ich zerbreche mir mittlerweile jeden Abend den Kopf darüber, ich finde einfach keinen Schlaf mehr und liege nächtelang wach." Eine gewaltige Hemmschelle in mir brach und löste sich auf und kurz drauf erzählte ich Chloe etwas was ich vorher nie tat. Das Thema Ian wollte ich niemals an die große Glocke hängen aber nun war es soweit.
"Ich sehe ihn überall. In der Schule, ich sehe ihn in der Pause, nach der Schule. Am Wochenende, ich sehe ihn sogar wenn ich meine Augen schließe und weißt du was ich da noch sehe?"
Sie schüttelte nur mit dem Kopf.
"Dann stelle ich mir Dinge vor die ich gerne mit ihm tun würde!" Noch bevor ich es richtig ausgesprochen hatte und realisierte was ich da gerade gesagt hatte, wünschte ich mir eine Erdspalte herbei in der ich versinken konnte. Mit hochrotem Kopf stand ich nun vor ihr und es entstand eine unangenehme Stille zwischen uns und ich wünschte mir sie würde endlich etwas sagen, irgendwas. Doch das tat sie nicht. Nicht eine Silbe kam über ihre Lippen stattdessen nahm sie mich ihn den Arm. Ich erwiderte ihre Umarmung und drückte sie ebenfalls fest an mich, weil es mir gut tat. Damit hatte ich nicht gerechnet. Doch es drückte mehr aus, als sie je hätte sagen können.
"Egal für was du dich entscheidest Mike, ich werde hinter dir stehen."