Batika City versucht sein Glück.
Beiträge von Ideeus
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Ich stelle jetzt wahrscheinlich eine dumme Frage, aber kann Suicune auch auf Wasserflächen auftauchen oder wie Raikou und Entei nur im Gras?
Auf Raikou und Entei bin ich ziemlich schnell gestoßen, da ich immer ganz Johto kreisförmig abgefahren habe nur Suicune taucht nicht auf.
An erster Stelle meines Teams habe ich ein Garados mit Lv. 32 und benutze Top-Schutz, weil ich die vielen Nieten satt habe.
Vielen Dank im Voraus für eure Hilfe.
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Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich für meinen Text im Endeffekt gebraucht habe. Die Idee mit "Muttertag" kam mir tatsächlich wegen des Abgabetermins. Eigentlich plante ich ursprünglich einen positiven, fröhlichen Text, dann sind mir aber die Manga "Takopi und die Sache mit dem Glück" und "Schau zu den Sternen, blick nicht zurück" wieder eingefallen, die zeigen, dass es nicht selbstverständlich ist, eine anständige Mutter zu haben. Mit den Geschichten im Hinterkopf ging es dann irgendwie von selbst. Aber dass mein Text unterschiedliche Reaktionen hervorrufen war zu erwarten. Ich habe genauso oft 12 Punkte erhalten wie nur einen. Irgendwie freut mich das.
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In dem Fall werfe ich für Batika City erneut meinen Hut in den Ring.
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Hi,
Würde mich auch sehr gerne mal an Gruppenmissionen versuchen, habe aber noch keinerlei Erfahrung darin. Daher habt bitte Geduld mit mir, wenn nicht alles gleich von Anfang an klappt. Starten möchte ich so gegen 20.15 Uhr. Freue mich auf eure Rückmeldungen. Bis dann.
Muss absagen. Internet funzt nicht. Sorry.
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Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, diese doch sehr lange Geschichte von mir zur Gänze zu lesen. Es war das erste Mal, dass ich mich an einer Original-Geschichte in Buchlänge versucht habe. Dass ich mich manchmal etwas ausufernd ausgedrückt habe ist eine Schwäche, derer ich mir bewusst bin. Ich hoffe, es gelingt mir, diese in zukünftigen Geschichten besser auszubalancieren, wobei ich ehrlich zugeben muss, dass ich sie in Kapitel 5 weniger vermutet hätte, eher bei Kapitel 6 und 10. Ist aber letztendlich wohl Geschmackssache.
In diesem Sinne: nochmals recht herzlichen Dank für dein Feedback.
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Mit diesem Kapitel ist die Geschichte nun vollendet. Vielen Dank an alle, die sich die Qual aufgeladen haben sie bis hierhin zu lesen. Nach wie vor wären Meinungen dazu gerne gesehen, egal ob positiver oder negativer Natur. Selbst wenn ihr nur die Zusammenfassung gelesen habt und euch denkt, "Mann, der kann das überhaupt nicht" ist das für mich von Nutzen. ;) Also, nur keine Scheu. Aber genug des Jammerns, viel Vergnügen!!!
Kapitel 11 - Davor und danach - Epilog
Kapitel 11 (Finale) - "Davor und danach" - Epilog
Mein Name ist Masao Takahashi und ich bin vierundzwanzig Jahre alt. Mein Vater ist ständig auf Geschäftsreise und daher kaum zuhause. Meine Mutter ist sehr bekümmert darüber. Aber sie lässt sich nichts anmerken. Eine der Geschäftsreisen meines Vaters ist der Grund warum ich überhaupt auf der Welt bin. Vor meiner Geburt kam er nach Europa, genauer gesagt nach Wien. Dort sollte er einen wichtigen Deal aushandeln. Nachdem er unter Dach und Fach war bekam er von seinen Geschäftspartnern eine Karte für die Wiener Philharmonie geschenkt. An dem Abend spielte meine Mutter dort die Violine. Mein Vater war sofort völlig verzaubert von ihr und bat sie nach dem Konzert um ein Abendessen. Auch sie war ihm schnell zugetan und die beiden heirateten Hals über Kopf in einer kleinen Kapelle. Gemeinsam gingen sie nach Japan, der Heimat meines Vaters. Wenige Monate darauf wurde ich geboren. Auch wenn ich ansonsten nach meinem Vater schlage habe ich meine blauen Augen von meiner Mutter geerbt. Ich denke, man kann sagen, dass meine Ursprungsgeschichte sehr romantisch ist.
Ich selbst halte mich aber nicht für einen sonderlich romantischen Menschen. Dennoch versuchte ich meiner Nachbarin und besten Freundin in Liebesdingen auf die Sprünge zu helfen. Ihr Name ist Ai Nakamura und ihr fehlte es drastisch an Selbstvertrauen. Deswegen hat sie nach Abschluss der Oberschule erst ein Roninjahr[1] eingelegt und sich Hilfe gesucht. Vor kurzem hat sie eine Praxis als Tiermedizinerin eröffnet und könnte nicht glücklicher sein.
Heute ist der Tag meiner Hochzeit mit Mimi Sato und ich wüsste niemanden der besser geeignet ist meine Trauzeugin zu sein. All unsere Gäste meinen Mimi und ich wären uns erst in der Oberschule begegnet. Aber Tatsache ist, dass unsere erste Begegnung bereits viel länger zurückliegt, als sie wissen können. Genau genommen verdanke ich mein heutiges Glück gerade Ai, aber sie selbst weiß nichts davon. Vielleicht werden wir es ihr eines Tages erzählen, aber in jedem Fall euch.
Die Geschichte begann, als Ai und ich etwa acht Jahre alt gewesen waren:
„Nein … hust … ich kann heute nicht krank sein. Doraemon kommt doch extra. Da muss ich dabei sein. Großmutter, bitte.“
„Ai, es tut mir leid. Aber mit 38,4 Grad kann ich dich wirklich nicht nach draußen lassen. Du willst doch die anderen Kinder nicht anstecken, oder?“
„Ich stecke schon niemand an. Versprochen. Aber Doraemon kommt doch nur heute in unsere Stadt. Ich muss ihn unbedingt kennenlernen. Hatschi!“
„Sieh mal. Masao und seine Mutter gehen doch für dich hin. Sie bringen dir auch sicher etwas von der Veranstaltung mit. Das ist dann doch fast so, als ob du selbst dort gewesen wärst. Hm? Beim nächsten Mal bist du dann richtig mit von der Partie.“
„Schnief … aber … na gut. Masao versprichst du mir, dass du Doraemon von mir grüßen wirst? Du musst ihm unbedingt erzählen, dass ich alle Folgen mit ihm gesehen habe und sogar sein Stofftier bei mir schlafen darf.“
„Natürlich. Du kannst dich ganz auf mich verlassen! Nichts kann mich davon abhalten, die Mission zum Erfolg zu bringen.“
„Na komm, du kleiner Angeber. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Frau Nakamura. Wir werden ihrer Kleinen auf jeden Fall etwas Schönes mitbringen.“
„Vielen Dank, Frau Takahashi. Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich bei Ihnen erkenntlich zeigen soll. Sie sehen ja, meine Enkelin ist untröstlich.“
„Aber gerne doch. Sie gehört ja quasi auch zu unserer Familie. Wer weiß, ob meinem Stoffel nicht in ein paar Jahren die Augen bei ihrem Anblick übergehen werden.“
Taten sie nicht.
Ai hatte sich eine Sommergrippe eingefangen und ich fühlte mich wie der Held eines Videospiels. Meiner Schwester, der Prinzessin, ging es schlecht und ich musste mich auf Mission begeben um sie zu heilen. Ich würde durch stark bevölkertes Gebiet ziehen um heilende Items zu erlangen. Wahrscheinlich war ich nicht der einzige, der die Mittel begehrte, aber ich würde alles tun um sie in meinen Besitz zu bringen. War ich erfolgreich, würde mein Weibervolk den Mann in mir erkennen, zu dem ich geworden war. Zugegeben, so ausformuliert waren meine Gedanken damals nicht. In jedem Fall wollte ich aber ein Held werden.
Das Event zu dem wir fuhren war speziell für Kinder ausgerichtet worden, um uns ein wenig Zeitvertreib während der Ferien angedeihen zu lassen. Es sollte Eis, Melone, Kuchen und noch viele andere Süßigkeiten geben. Das wichtigste Element davon war für uns Fans aber der Auftritt von Doraemon persönlich. Er war der Held von Manga und Anime. Wir Kinder liebten seine lustigen Abenteuer. Er war ein Robo-Kater aus der Zukunft und hatte panische Angst vor Mäusen. Mit seinen Freunden erlebte er die lustigsten Abenteuer und vertrieb uns nur zu gerne unsere Langeweile. Was Ai anging, war sie wohl der größte Fan von ihm in ganz Japan. Sie war schon als Kind ganz besonders tierlieb und ein Kater der sprechen konnte war für sie das Tollste überhaupt.
Sicherheitshalber reisten wir mit der Straßenbahn an. Aber auch dieses Verkehrsmittel war gut besucht und brachte einige weitere Doraemon-Fans ihrem Idol näher. Meine Mutter meinte, dass es bei so einer Veranstaltung sicher nicht genügend Parkplätze geben würde und sie behielt recht. Der Veranstaltungsort war rappelvoll mit Menschen. Zahllose Mütter drängten mit ihren Kindern zu den Ständen um sich Naschwerk und Souvenirs zu sichern. Wir waren keine Ausnahme. Mit ihrer europäischen Statur von 1,80 Metern hatte meine Mutter jedoch einen unschlagbaren Vorteil gegenüber den anderen Familien. Ich konnte bequem auf ihren Schultern reiten und mir einen Überblick über die wichtigsten Angebote verschaffen. Etwa zwei Tische weiter auf der rechten Seite gab es signierte Poster und kleine Figuren. Davon musste ich Ai auf jeden Fall etwas mitbringen. Die Angebote mit den Süßigkeiten in Doraemon-Form ignorierte ich erst einmal. Meine Mutter stellte selbst die tollsten Sachen her, daher war das Zeug kein Muss. Außerdem wäre es ohnehin nur schwer heil zu transportieren gewesen.
Noch weiter vorne, etwa in der Mitte des Platzes, war bereits eine große Bühne aufgebaut worden. Ich schlussfolgerte, dass dort später Doraemons großer Auftritt erfolgen würde müssen. Vielleicht verteilte er sogar Autogramme. Wenn ich Ai davon keines mitbrächte hätte ich wohl eine beste Freundin gehabt.
„Mama, lass mich runter. Ich weiß jetzt, wo wir überall hinmüssen.“
„Uff, na endlich. Du bist ganz schön schwer geworden, weißt du das?!“
Ich schenkte Mamas Worten zu meiner Statur damals wie heute keine große Beachtung und fasste sie bei ihrer Hand. Ziehend navigierte ich sie durch das Gewusel an Menschen und begann nach und nach alle Gegenstände einzusammeln, die ich für notwendig und würdig hielt sie meiner kranken Gefährtin als Opfer darzubringen. Es war nicht wenig, dass sich in meine Tüte verirrte: die schon erwähnten Poster und Figuren, darüber hinaus besonderes Schreibpapier mit Bleistift und Radiergummi, eine Mütze und sogar einen Haarreif mit Doraemon-Ohren konnte ich ergattern. Ich war stolz bis dorthinaus Ai so ein guter Freund gewesen zu sein. Ich dachte, ich hätte alles Wesentliche ergattert. Dann vernahm ich das Gerücht eines besonderen Doraemon-Anhängers, von dem es wohl nur sehr wenige Exemplare geben sollte. Den musste ich haben, kostete es, was es wollte.
Allerdings drohte mir ein menschliches Bedürfnis meiner Mutter einen Strich durch die Rechnung zu machen.
„Masao-Schatz, ich weiß du möchtest Ai auch noch den Anhänger mitbringen, aber ich muss jetzt wirklich mal kurz wohin. Mein Magen rumort schon die ganze Zeit über. Vielleicht geht sich ja beides aus.“
„Aber Mama, ich kann ihn auch ganz alleine besorgen gehen. Ich bin doch kein Kind mehr.“
„Bei der Menschenmenge gehst du mir alleine nirgendwohin. Wie soll ich dich denn jemals wiederfinden? Du wartest schön hier bis ich wiederkomme. Hast du verstanden?“
„Aber Mama …“
Ich fand die Welt einfach nur ungerecht. Ai hatte mich mit einer wichtigen Mission betraut und ich sollte sie nicht erfüllen dürfen?! Es stand fest: wenn ich Ai einen der begehrten Anhänger mitbrächte würde sie auf jeden Fall ganz schnell wieder gesund werden. Ich gehorchte meiner Mutter nur ungern nicht. Aber ein Mann musste manchmal tun, was ein Mann tun musste. Wenn ich mich beeilte konnte ich sicher den Anhänger in meinen Besitz bringen UND rechtzeitig wieder zurück sein, ohne dass meine Mutter Wind davon bekam.
So schnell es irgend möglich war drängte ich mich durch das Menschenvolk und stellte mich gerade noch rechtzeitig an, um den letzten der begehrten Anhänger in meinen Besitz zu bringen. Er hatte die Form des Robokaters und bedeutete mit seinen Fingern „Victory“. Wie passend das war muss ich wohl nicht erst erwähnen. Ich war stolz. Jetzt musste ich nur noch wieder am Treffpunkt sein, bevor meine Mutter die sanitären Einrichtungen verließ. Zum Glück hatte ich ihren schwachen Magen nicht geerbt, der sie gerne mal länger an die Toilette fesselte, als ihr lieb war. Ich war ein Held. Zumindest fühlte ich mich so.
Gerade als ich mich aufmachte wieder zurückzugehen vernahm ich die leise Stimme eines Mädchens. „Mama?! Mama wo bist du?! Hat jemand meine Mama gesehen?“ Es erschien merkwürdig, aber niemand außer mir schenkte dem Mädchen Beachtung. Es waren wohl alle reichlich damit zugange, auf ihr eigenes Kind zu achten. Auch wenn mir eine heftige Strafe meiner Mutter drohte beschloss ich mich mit dem kleinen Mädchen zu unterhalten.
„Hallo, brauchst du Hilfe?“
Tränen liefen dem kleinen Gesicht hinunter.
„Ja, ich weiß nicht, wo meine Mutter ist. Dabei wollte ich nur ganz schnell zu der Bühne, weil ich unbedingt Doraemon sehen wollte. Ich bin ganz schnell gerannt, dabei muss ich sie verloren haben.“
„Ich helf‘ dir sie suchen. Gemeinsam finden wir sie bestimmt wieder. Wie sieht sie denn aus?“
„Ganz toll. Sie hat langes schwarzes Haar und funkelnde Ohrringe. Wenn ich groß bin sehe ich ganz bestimmt wie sie aus. Sie trägt ein blaues, nein grünes Kleid und eine Sonnenbrille. Oh, und sie hat eine Tüte mit meinen ganzen Geschenken bei sich. Wir müssen sie auf jeden Fall wiederfinden.“
„Bestimmt. Komm mit. Was ist?“
„Ähm … kannst du mich an der Hand nehmen? Wenn du auch noch verloren gehst hab‘ ich doch niemanden mehr.“
„Wenn es sein muss. Aber jetzt los.“
Damals habe ich es verständlicherweise noch nicht zu schätzen gewusst, die Hand eines Mädchens zu halten. Heute tue ich es sogar sehr gerne. Aber zurück zum Thema. Wir waren also zwei Achtjährige, die in einem Pulk von Erwachsenen und Kindern eine ganz bestimmte Person finden mussten. Langes schwarzes Haar, Ohrringe, eine Sonnenbrille und ein Kleid, das grün, vielleicht aber auch blau war mussten mir als Hinweise genügen. Das war nicht unbedingt viel. Gerade die Haarfarbe war für Japanerinnen überhaupt nichts Besonderes und bei wohl allen anwesenden Müttern vertreten.
„Halt dich richtig gut fest. Übrigens, wie heißt du eigentlich?“
„Mimi. Das bedeutet Prinzessin.“
Ich musste schmunzeln.
„‘Prinzessin‘, das passt ja. Ich heiße Masao. Masao Takahashi. Wir müssen uns beeilen. Meine Mutter darf nicht merken, dass ich alleine mit dir unterwegs bin.“
Es begann eine schier aussichtslose Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Eine Person, deren Gesicht man nicht kannte zu finden war extrem schwierig, selbst für Erwachsene. Und wir waren dazu noch klein. Darüber hinaus mussten wir darauf achten nicht versehentlich niedergetrampelt zu werden. Obwohl es eine Veranstaltung für Kinder war, war sie für kleine Menschen nicht minder gefährlich. Logisch betrachtet wäre es einfach gewesen hätte es einen offiziellen Treffunkt für Familien gegeben, die sich aus den Augen verloren hatten. Leider waren die Veranstalter dafür nicht vorausschauend genug gewesen. Als Anführer unseres kleinen Trupps war es an mir eine effiziente Lösung für Mimis Problem zu finden.
„Mimi, kannst du dich noch daran erinnern, an welchen Ständen du und deine Mutter bereits ward? Ich denke, deine Mama wird versuchen, dich an einem von diesen wiederzufinden, da du die Wege dorthin bereits kennst.“
„Ja, das kann gut sein. Mal überlegen … Am Anfang haben wir uns einen dieser tollen Haarreifen besorgt. So einen wollte ich schon immer einmal haben. Dann wollte ich unbedingt auch das Schreibpapier mit Doraemon haben. Oh und ich war durstig. Deswegen holten wir uns etwas an dem Stand dort drüben zu trinken. Dann haben wir Takoyaki[2] gegessen. Aber ich habe meine Portion nicht ganz aufessen können, weil es mir zu viele waren. Und dann … fand es meine Mutter zu laut und wir haben uns außerhalb ein wenig ausgeruht. Als sie eingeschlafen ist bin ich auf eigene Faust losgegangen um mich umzusehen. Aber als ich wiederkam war sie bereits weg. Meinst du sie ist böse auf mich und hat mich alleine hier zurückgelassen?“
Bei diesen Worten verzog Mimi gleich wieder ihr Gesicht und es liefen ihr bittere Tränen über die Wangen. Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen um sie zu beruhigen. Das Einzige, was ich dabei hatte war allerdings nur … Ai möge es mir verzeihen, aber es war Not am Mann.
„Sieh mal, was ich hier habe.“
„Einen Doraemon-Anhänger?! Aber der ist doch super-selten.“
„Doraemon würde sich niemals unterkriegen lassen. Egal, wie aussichtslos eine Lage scheint. Wenn du zu weinen aufhörst schenke ich ihn dir. Damit du nie wieder vergisst, wie tapfer du eigentlich bist.“
„Schnief. Wirklich? Vielen Dank, Masao, du bist wirklich der tollste Junge auf der ganzen Welt. Den werde ich nie wieder hergeben.“
„Aber jetzt los. Sonst fängt meine Mama am Ende auch noch an sich Sorgen zu machen.“
So gut es ging liefen wir Mimis bisherige Route noch einmal ab. Von den Haarreifen gingen wir zum Schreibpapier über die Getränkebar zum Takoyakistand. Jede Frau, die unseren Weg kreuzte nahmen wir dabei ganz genau unter die Lupe. Es gab Mütter mit langen Haaren und grünen Kleidern, welche in blau und mit Ohrringen. Aber entweder es fehlte die Sonnenbrille oder sie passten farblich nicht zu Mimis Steckbrief. Keine der Frauen war die Mutter von Mimi. Selbst die Bank auf der Mimis Mutter angeblich eingeschlafen war klapperten wir ab. Vergeblich.
Plötzlich ertönte über einen Lautsprecher eine Durchsage. Liebe Kinder und Eltern. In wenigen Augenblicken ist es soweit. Kommt alle her, zur großen Bühne und begrüßt euren Lieblingshelden. Hier ist DORAEMON!!!“
„Ach wie blöd. Jetzt verpasst du wegen mir auch noch Doraemon. Dabei hast du mir vorhin auch noch extra seinen Anhänger geschenkt.“
„Das ist es. Komm, lass uns sofort dahin gehen.“
„Aber was ist jetzt mit meiner Mama? Hilfst du mir denn nicht mehr sie zu suchen?“
„Doch. Aber ich weiß jetzt, wo wir sie ganz sicher finden. Los, schnell.“
Ich packte Mimi bei der Hand und lief mit ihr so schnell es ging Richtung Bühne. Ich war mir sicher, dass dort die Wahrscheinlichkeit am Höchsten sein würde, Mimis Mutter zu finden. Es gab sicher kein Kind auf dem ganzen Gelände, dass Doraemons großen Auftritt verpassen wollen würde. Deswegen würde sie ganz sicher auch dort sein um nach ihrer Tochter zu suchen.
Ich sollte recht behalten. Wirklich alle Anwesenden hatten sich zur Bühne begeben und sahen Doraemon zu, wie er auf der Bühne Faxen machte. Für einen Moment war ich wehmütig, weil Ai das alles verpassen würde. Aber ich durfte nicht auf meine Mission vergessen. Mimis Mutter zu finden hatte Priorität. Das Problem war nur, wir waren im Vergleich zu den ganzen Erwachsenen ziemlich klein und gingen zwischen ihnen unter. So sahen wir nicht viel. Irgendwie mussten wir uns auf eine höhere Ebene begeben, wenn wir Erfolg haben wollten. Selbst wenn ich Mimi auf meine Schultern genommen hätte wären wir zusammen immer noch zu klein gewesen. Was sollten wir nur tun?
„Gleich ist es soweit, meine kleinen Freunde. In wenigen Momenten werden wir die Nummer des glücklichen Kindes ziehen, das dann mit mir zusammen meinen Titelsong singen darf. Seid gespannt und seht ganz genau auf eure Eintrittskarten.“
Was hatte Doraemon da eben angekündigt? Ein Kind würde zu ihm auf die Bühne dürfen. Das wäre genau die Chance, auf die wir gewartet hatten. Aber hier waren hunderte von Kindern. Die Chance, gezogen zu werden war minimalst. Aber es war zumindest eine Möglichkeit. Wir mussten einfach hoffen, dass eine unserer beiden Nummern gezogen werden würde. Ich hatte die 312 und Mimi die 543. Immerhin hatten wir damit eine doppelt so hohe Chance wir die anderen Kinder.
„Und der glückliche Gewinner ist das Kind mit der Nummer drei …“
Ja …
„Eins …“
Komm schon …
„Drei! Wo bist du? Zeig dich ganz schnell zu mir auf die Bühne, damit wir gemeinsam singen können. Die 313 bitte ganz schnell auf die Bühne.“
Um eine Ziffer daneben. Wie grausam konnte das Schicksal bitte sein?! Auch Mimi schien alle Hoffnung verloren zu haben und kämpfte mit den Tränen. Aber sie hielt ihren Anhänger ganz fest mit beiden Händen umklammert und machte sich damit Mut. Moment 313? Ich hatte doch noch Ais Eintrittskarte dabei, die sie gar nicht hatte nutzen können. Da wir beide unsere Eintrittskarten gemeinsam bestellt hatten mussten sie aufeinanderfolgende Nummern haben. Die Frage war jetzt nur, ob ihre Nummer unter oder über meiner lag. Schnell zog ich ihren Abschnitt aus meiner Tasche und sah nach. Tatsächlich. Es war kaum zu glauben, aber Ais Karte war tatsächlich die glückliche. „313“ stand in dicken Lettern gedruckt darauf.
„Das Kind mit der Nummer 313 soll bitte umgehend zu mir her auf die Bühne kommen oder wir werden nochmals ziehen. Hast du gehört?!“
„Schnell, Mimi. Nimm die Karte und lauf. Sonst ist es zu spät.“
„Aber das ist doch deine Karte. DU hast gewonnen.“
„Dass du deine Mutter wiederfindest ist wichtiger. Jetzt mach schon.“
„Vielen Dank Masao Takahashi. Das werde ich dir nie vergessen. Doraemon hier, ich habe gewonnen.“
„Ich gratuliere dir von Herzen, meine kleine Freundin. Wie heißt du denn?“
„Mein Name lautet …“
„MIMI! Gott sei Dank. Mimi hier bin ich. Endlich habe ich dich gefunden.“
„Mama!!! Mama! Ich dachte schon ich würde dich nie wiedersehen.“
So schnell sie konnte lief Mimi zum Rand der Bühne, an den sich ihre Mutter soeben vorgekämpft hatte. Es war ein absolut rührendes Wiedersehen. Wäre Ai an meiner Stelle gewesen, sie hätte bestimmt ein paar Tränen der Rührung vergossen. Einzig die Veranstalter und Doraemon schienen sich nicht sicher zu sein, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Schließlich begann der Kater einfach in die Hände zu klatschen und forderte das Publikum auf es ihm gleichzutun. Die Kinder taten sowieso alles was ihr Idol von ihnen verlangte. Auch wenn sie die Situation nicht ganz erfasst haben dürften. Aber auch die Eltern taten es ihnen gleich. So brandete ein unfassbarer Lärm auf, durch den man beinahe nicht mehr fähig war seine eigenen Gedanken zu verstehen. Es hatte einige Zeit gedauert Mutter und Kind wieder zu vereinen, aber mit den vereinten Kräften von Ai war es tatsächlich gelungen.
Zeit?! Heiliger Bimbam, ich musste ja dringendst zurück zu meiner Mutter oder ich bekäme ein gewaltiges Donnerwetter zu hören. Ich hätte mich gerne noch von Mimi verabschiedet aber an ein Durchdringen der Mengen war nicht zu denken. Immerhin stand sie nun genau auf der anderen Seite der Bühne und die Menschentraube darum war gewaltig. So rannte ich so schnell mich meine Beine trugen zurück zu den sanitären Einrichtungen und betete, dass mich der Magen meiner Mutter nicht im Stich gelassen haben mochte. Als ich dort ankam war keine Menschenseele mehr zugegen. Ausnahmslos alle mussten sich zur Bühne aufgemacht haben. Meine Mutter etwa auch?! Ich konnte ja schlecht auf die Damentoilette gehen und nachsehen. So lehnte ich mich einfach an eine Absperrung und wartete. Mit Mimi verging die Zeit schneller als mir lieb war. Dafür dauerte jede einzelne Sekunde jetzt eine Ewigkeit. Ich hatte ein gutes Werk getan und jemandem geholfen, der in Not war. Wenn ich mir allerdings vorstellte, dass meine Mutter jetzt ebenso besorgt auf der Suche war wie die Mimis fühlte ich mich hundsmiserabel.
Alles was ich tun konnte war am vereinbarten Platz zu warten. Mehr konnte ich im Moment nicht tun. Da geschah das erhoffte Wunder.
„Masao, es tut mir leid, dass du hier so lange auf mich warten musstest. Wegen mir konntest du dir nicht einmal den Auftritt von Doraemon ansehen und musstest hier dumm rumstehen. Gibt es irgendetwas, womit ich diese Pleite wiedergutmachen kann?“
„Keine Sorge, alles ist in Ordnung. Hauptsache, dir geht es wieder gut. Komm, lass uns nachhause gehen. Ai sitzt sicher schon auf heißen Kohlen wegen ihrer Souvenirs.“
„Wenn du so redest hast du normalerweise etwas ausgefressen. Bist du dir sicher, dass du hier die ganze Zeit auf mich gewartet hast?!“
„Aber wo sollte ich denn sonst gewesen sein? Siehst du, den begehrten Anhänger habe ich ja auch nicht …“
„Na gut. Ich will dir mal glauben. Bringen wir Ai ihre Trostpflaster.“
So war das damals. Ich war ein waschechter Held und niemand außer Mimi durfte es wissen. Meine Mama nicht aus den bereits erwähnten Gründen. Ai nicht, weil sie sich sonst noch mehr geärgert hätte nicht mit dabei gewesen zu sein. Nur Mimi und ich waren eingeweiht. Ehrlich gesagt hatte ich die Geschichte viele Jahre über vergessen. Erst als ich damals erfuhr, dass die Person, die Ai im Krankenhaus ihren Anhänger hinterlassen hatte Mimi war fiel sie mir wieder ein. Im Gegensatz zu Mimi, die die Erinnerung an mich all die Jahre über in ihrem Herzen bewahrt hatte.
Wie gesagt, ich bin kein sonderlich romantischer Mensch. Wenn ich mir aber bewusst machte, dass unser Wiedersehen in der Oberschule Schicksal gewesen sein musste bekam selbst ich Schmetterlinge im Bauch. Hier standen wir nun, so viele Jahre später. An meiner Seite war die bezauberndste Braut, die man sich vorstellen konnte und stand kurz davor mit mir gemeinsam aus einer Sakeschale zu trinken, wie es bei japanischen Hochzeiten üblich war. Übrigens, Hideaki, Ais früherer Schwarm war Mimis Trauzeuge. Nach Abschluss der Oberschule hat er gegen den Willen seiner Familie Schauspiel studiert und sich zu einem angesehenen Darsteller gemausert. „Zufälligerweise“ studierten Hideaki und Ai nur fünfzehn Minuten voneinander entfernt. Auf Nachfrage bei Ai meint diese immer nur, dass sie nichts davon bemerkt hätte. Allerdings nicht, ohne rot zu werden. Auch Hideaki hüllt sich diesbezüglich in Schweigen. Aber wenn ich mir die verstohlenen Blicke ansehe, die sich heute so zuwerfen – nun ja, eigentlich geht es mich auch nichts an. Hauptsache, sie ist glücklich …
Meine Mutter, die mich einst als hoffnungslosen Fall betitelte kam aus dem freudigen Schluchzen nicht mehr heraus. Mein Vater hatte alle Mühe sie zu beruhigen, damit die Zeremonie nicht an ihr vorbeilief. Ich kann nur sagen, ich bin dankbar, dass es Ai in meinem Leben gibt, ohne die der heutige Tag nie möglich gewesen wäre.
[1] bedeutet, dass man sich ein Jahr Zeit nimmt, bevor man (wieder) zu einer Aufnahmeprüfung antritt
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@Gray Ninja und Shiralya:
Was den Beitrag von Batika City angeht, so handelt es sich tatsächlich um ein Original. Eigentlich war es als lange Geschichte geplant, bevor ich die schrieb, die ich derzeit im Fanfiction-Bereich poste. Grob gesagt wurde es mir im fortschreitenden Planungsstadium zu heikel, die Beziehung der Protagonisten zueinander fortschreiten zu lassen, auch wenn es nicht körperlich geworden wäre. Da ich mich ziemlich spontan für den Wettbewerb eingetragen habe dachte ich, ich könnte die Grundidee recyceln. Da sie durch die Begrenzung aber praktisch alles verloren hat was sie ausmachte, hat es mich zurecht aus der Kurve geworfen. Nicht, dass sie in einer Langversion zwangsläufig besser geraten wäre. ;)
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Auch wenn es mit dem Bisavision Schreib Contest gerade genug zu lesen gibt, hier jetzt das 10. und vorletzte Kapitel meiner Geschichte.
Kapitel 10 - "Seelenheil"
Unser Jahrgang hatte seine Abschlussreise nach Kyoto angetreten. Wenn man so wollte war es Hideakis Vermächtnis an uns gewesen. Es machte mich traurig, dass er selbst nicht von den Früchten seiner Arbeit probieren konnte. Egal, wie wir nun zueinanderstanden. Ich weiß nicht, wie viel Mut es ihn gekostet haben musste seinen Traum seinen Eltern gegenüber auszusprechen. Nun war leider die Schauspielerei alles andere als ein sicheres Berufsfeld mit regelmäßigen Einkünften. Gerade in den ersten Jahren. Schließlich gab es nicht eben wenige Konkurrenten mit teils viel mehr Erfahrung als Hideaki zuteil geworden war. Da seine Eltern dagegen sehr elitär veranlagt waren hatten sie ihn in ein Internat für bessere Kinder gesteckt. Dieses sollte ihn auf den rechten, sprich ihren Weg zurückführen. So blieben auch die Gefühle für mich, so er denn welche hegte, ein Geheimnis. Mir blieb einzig die Erinnerung an den Kuss, den wir beide auf der Bühne teilten.
Auch wenn er ihm nur Unglück eingebracht hatte, so bewunderte ich dennoch seinen Entschluss. Einen Traum zu haben, den man bereit war zu verfolgen, daran mangelte es mir. Meine Mutter hatte mir an meinem Geburtstag die Möglichkeit in Aussicht gestellt, in ihre Fußstapfen zu treten. Aber ich rang in meinem Inneren immer noch mit mir das Angebot anzunehmen. Zeit mit meiner Mutter aufholen zu können war ein langgehegter Traum von mir. Aber war der Weg, den sie verfolgte, auch jener, der mir ein glückliches Leben verhieß?
In der Vergangenheit hatte ich oft Masao und auch Sato-chan zu Rate gezogen, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Vor allem in Liebesdingen. Aber die Entscheidung hier wollte ich niemandem aufladen. ICH musste eine klare Entscheidung für meine Zukunft treffen. ICH musste mit dieser Wahl mein Glück finden. Mir stand meine elende Angst vor Entscheidungen einmal mehr im Weg. Im Endeffekt war ich ein Kind, das Angst davor hatte erwachsen zu werden. Alle Menschen, die mir bis zu diesem Punkt begegnet waren, hatten ein Ziel vor Augen. Undenkbar, dass jemand wie Amuro-san vor der Zukunft scheute. Auch, wenn ich nicht wusste was es war, aber sie hatte sicherlich seit langem ein konkretes Ziel. Etwas, von dem nichts und niemand sie abhalten konnte. Sie wäre sicherlich eine geborene Führungspersönlichkeit. Egal, ob in der Privatwirtschaft oder der Politik. Ungeachtet dessen war Frieden in unseren einseitigen Krieg eingekehrt. Seit sie sich damals mir gegenüber geöffnet hatte war sie ruhiger geworden. Man konnte zwar nicht sagen, dass wir Freundinnen geworden waren, aber sie hatte die unnötige Gehässigkeit mir gegenüber eingestellt. Alles in allem war das ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Dass wir ausgerechnet nach Kyoto reisten hatte einen guten Grund. Die zahlreichen Tempel und anderen Sehenswürdigkeiten waren seit jeher auch Ziel zahlreicher ausländischer Touristen. Gerade daher gab es als Japaner keine Ausrede, sie nicht selbst einmal gesehen zu haben. Genau genommen handelte es sich aber nicht um meine erste Reise nach Kyoto. Als Kind durfte ich mit Masaos Familie bereits einmal hierherkommen. Meine schönste Erinnerung daran war der sogenannte Affenpark Iwatayama. Der Eingang zum Park erfolgte über den Schrein Ichitanimunakata. Nach einem Aufstieg von etwa dreißig Minuten kam man oben auf der Aussichtsplattform mit den Affen an. Für mich als Tierliebhaberin ein absoluter Traum. Im Gegensatz zu mir waren Masao die Affen nicht recht geheuer. Dabei konnte gar nichts passieren, sofern man sich an die Vorschriften hielt. Eigentlich verstanden diese sich von selbst. Man durfte nicht in die Augen der Tiere starren, sie nicht anfassen, sondern einen Mindestabstand von drei Metern einhalten und sie nicht füttern. Gerade letzteres fiel mir schwer. Zum Glück galt dies nicht für das ganze Gebiet. Oben gab es die Möglichkeit für kleines Geld Snacks zu erwerben, die man ihnen von einem sicheren Gebäude aus reichen konnte. Da die Affen auch nicht dumm waren tummelten sie sich nur zu gerne dort. Ich verstand schon damals nicht, warum ihre Art als Schimpfwort herhalten musste. Von ihrem Sozialverhalten könnte sich auch heute noch so mancher Mensch eine dicke Scheibe abschneiden.
Leider stand der Besuch dieser Attraktion nicht auf dem Programm. Allein der Kulturschock, wenn Amuro-san auf die Tiere träfe, wäre sicherlich urkomisch gewesen. Aber ich schweife zu sehr ab. Neben dem Fehlen Hideakis gab es einen weiteren Umstand, der mir Kopfzerbrechen machte. Auf dem Platz neben mir saß Akira. Schweigend. Wenn ich sie ansah rang sie sich ein Lächeln ab. Ansonsten wirkte sie fast schon depressiv. Schon in den Tagen vor unserer Abreise war sie immer zurückhaltender und stiller geworden. Verglich ich sie mit ihrem früheren Selbst, der stets fröhlichen Plappertante, bekam ich richtige Angst. Wenn sich ein Mensch so entgegen seinem Naturell verhielt musste man sich um ihn sorgen. Ob es etwas mit ihrem Bruder zu tun hatte? Gut möglich. Gerne hätte ich ihr mein Ohr geliehen. Aber sicherlich wollte sie nicht inmitten unserer ganzen Mitschüler über ihr Problem reden. Ich beschloss mich auf unserem Zimmer in der Gaststätte eingehend um sie zu kümmern. Vielleicht wollte sie auch nichts dazu sagen. Gemeinsames Schweigen konnte auch eine heilende Wirkung haben. Es war nur wichtig, dass man sich nicht allein fühlte.
„Alle einmal hergehört. In Kürze erreichen wir Kyoto. Vergesst niemals, dass ihr stets unsere Schule und damit auch unsere Heimatpräfektur verkörpert. Zeigt euch stets von eurer besten Seite und macht unsere Lehreinrichtung stolz. Ich bin mir sicher, dass ihr mich nicht enttäuschen werdet.“
Der Sensei unterbrach meine Gedanken. In unserem Alter war es eigentlich unnötig uns so zur Raison zu rufen. Vielleicht wollte er einfach nur auf Nummer Sicher gehen. Jetzt, da er kurz vor seiner Rente stand, wollte er sich wahrscheinlich nicht mehr unnötig aufregen müssen.
„Sobald wir am Bahnhof ankommen, wird euch von eurer Klassensprecherin Ryoko Amuro der Zeitplan für unsere Unternehmungen ausgehändigt. Bitte denkt daran, dass auf dieser Reise euer Geist und die Kameradschaft gefördert werden soll. Es gilt Erinnerungen zu schaffen, die euer Leben lang andauern. Selbstverständlich werdet ihr auch Gelegenheit haben Kyoto auf eigene Faust zu erkunden. Gerade die Mädchen halte ich aber zu ihrer Sicherheit an stets zumindest in kleinen Gruppen zu bleiben. Als ersten Punkt werden wir unsere Unterkunft aufsuchen, damit ihr euch nach der langen Fahrt ein wenig frisch machen könnt. Am nächsten Tag werden wir als erstes den Gosho aufsuchen, den Kaiserpalast, welcher viele Jahrhunderte Japans Aristokratie beherbergte. Im Laufe der Geschichte wurde er insgesamt …“
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Hideaki hatte unserer Klasse Zimmer in einem traditionellen japanischen Ryokan gebucht. Dabei handelte es sich um eine Pension, deren Böden mit Tatami-Strohmatten ausgelegt waren. Behufs dessen trug man in den Innenräumen keine Straßenschuhe, sondern spezielle Hausschuhe. Wenn man es bevorzugte konnte man natürlich auch in seinen Socken durch das Anwesen gehen. Es lag auch selbstverständlich nicht mitten in der Stadt, sondern etwas außerhalb. Sinn des ganzes war zu entschleunigen und auch einmal Abstand von der digitalen Welt zu gewinnen. Neben einem wunderschönen Zengarten hatte es Anschluss an ein Onsen. Das waren außenliegende Bäder, welche von heißen Quellen gespeist wurden. Ich hatte eine verhältnismäßig alte Seele, weswegen ich diese Art Luxus besonders liebte. Natürlich wussten auch Jugendliche diesen zu schätzen.
Wie bereits erwähnt teilte ich mein Zimmer mit Akira, was mir besonders angenehm war. Auch wenn die Hänseleien meiner Schüler nicht mehr gegeben waren wäre es mir doch unangenehm gewesen mit einer anderen Klassenkameradin zusammenzuwohnen. Akira war mir lieb geworden, als wäre sie meine leibliche Schwester. Gerade deswegen konnte ich es nicht haben, dass ihr etwas auf der Seele lag. Ich muss zugeben, es reizte mich über die Yatsuhashi herzufallen, die sich als Gruß des Hauses auf unserem Zimmer befanden. Von dieser traditionellen Süßspeise aus Pulverreis mit Zimt und Zucker musste ich Großmutter unbedingt als Souvenir mitbringen.
Ach ja, Großmutter und Arabiki-kun … Es war der erste Tag der Reise und ich vermisste die Beiden bereits als wäre ich seit Monaten unterwegs. Ich hing wirklich an ihnen. Großmutter würde die sturmfreie Bude sicher auszunutzen wissen. Sicherheitshalber hatte ich Masaos Mutter Frau Takahashi aufgetragen hin und wieder nach dem Rechten zu sehen. Ich fiel nur wirklich ungern anderen zur Last, aber Masao war mit seiner Klasse ebenfalls auf Reisen gegangen. Ihn konnte ich somit nicht dafür unter Vertrag nehmen. Ich misste zwar ihn und Sato-chan, hoffte aber gleichzeitig, dass Masao endlich zu Potte kommen würde. Die Oberschulzeit dauerte schließlich nicht ewig. Sollten sie in unterschiedlichen Städten studieren war seine Chance dahin. Und dann war da ja noch der Nachwuchs von uns Dreien: Arabiki-kuns und Shina-chans Welpen. Mit etwas Glück kamen wir gerade noch rechtzeitig nachhause um ihre Geburt mitzuerleben. Die kleinen Wesen würden mit Sicherheit zuckersüß aussehen.
Noch ganz verträumt griff ich nach dem grünen Tee, der sich neben den Naschwaren befand. Ich schenkte mir ein wenig davon ein. Auch Akira füllte ich vorsorglich einen Becher. Die Arme fühlt sich nicht ganz wohl und hatte unverzüglich die sanitären Einrichtungen aufgesucht. Hoffentlich hatte sie sich nicht auch noch ein Virus eingefangen. Nach Kyoto zu reisen und dann bettlägerig zu sein hatte sie wirklich nicht verdient. Aber wie aufs Stichwort trat sie da auch schon in das Zimmer.
„Akira, du Arme, geht es dir wieder besser? Ich habe uns bereits etwas Tee eingeschenkt. Der ist genau richtig, wenn man es am Magen hat.“
„Danke, den nehme ich gerne. Aber es geht mir schon wieder ein wenig besser.“
„Das freut mich. Wollen wir später nicht in den Onsen? Natürlich nur, wenn es dir nicht zuviel wird.“
„Ach, weißt du, ich bade nicht so gerne.“
„Was?“
„Ich meine, ich zeige meinen Körper nicht so gerne vor anderen.“
„Aber die Bäder sind getrennt. Wir sind ganz unter uns. Außerdem hast du wirklich eine ganz tolle Figur.“
„Danke. Aber trotzdem. Ich geniere mich so leicht. Außerdem vertrage ich das heiße Wasser nicht so gut.“
„Was soll ich dann erst sagen?! Aber wir müssen nicht, wenn du wirklich keine Lust hast. Wir können auch gerne etwas anderes zusammen machen. Weißt du, während der Anreise warst du so ungewohnt schweigsam. Das macht mir richtig Sorgen. Wenn du dir etwas von der Seele reden möchtest, bin ich für dich da. Ich bin vielleicht nicht die beste Ratgeberin, aber ich kann sehr gut zuhören.“
„Vielen Dank, aber es ist alles in Ordnung ... ich versuche alles in Ordnung zu bringen ... ich kann dich damit nicht belasten.“
„Aber sind Freunde nicht dafür da? Kaum dass wir uns kennengelernt haben hast du mich selbstlos nach Kräften unterstützt. Dabei hättest du gesellschaftlich leicht unter die Räder kommen können. Ohne dich und deinen Bruder hätten Hideaki und ich uns wahrscheinlich niemals geküsst. Bitte lass mich dir helfen. Auch wenn es um deinen Bruder geht, finden wir bestimmt eine Lösung. Du musst nicht unnötig Rücksicht auf mich nehmen.“
„Ach Ai-chan, du bist wirklich zu lieb für diese Welt. Ich hab‘ wirklich großes Glück mit dir befreundet zu sein. Aber was mein Problem angeht kann mir wirklich niemand anderes helfen. Wenn alles vorbei ist wirst wahrscheinlich nicht einmal du noch etwas mit mir zu tun haben wollen.“
„Wie meinst du das? Du machst mir Angst.“
„Entschuldige, ich meine, lass uns einfach unsere letzte Reise als Oberschüler genießen. Du hast den Sensei doch gehört, wir sollen unvergessliche Erinnerungen schaffen. Lass uns in den Aufenthaltsraum zu den anderen gehen. Ein bisschen Geselligkeit wird uns guttun. Aber dein Tee …“
„Ach, den kann ich auch noch trinken, wenn wir zurückkehren. Ich muss es jetzt einfach lebendig haben …“
Mir war wegen Akiras Stimmungsumschwung nicht ganz wohl. Aber wenn es ihr damit besser ging, warum nicht? Wahrscheinlich schadete es auch mir nicht mich weniger abzukapseln. Im Aufenthaltsraum herrschte bereits reges Treiben.
„Ai-chan sieh mal. Lass uns dort mitmachen.“
Zielstrebig ergriff Akira meine Hand und steuerte mit mir einen Tisch an. Dieser stand ein wenig abseits und einige unserer Mitschüler spielten dort gelangweilt Karten.
„Bei der nächsten Runde wollen Ai-chan und ich auch Karten klopfen. In Ordnung?!“
Das Trio nickte ohne sonst eine großartige Regung zu zeigen. Kaum hatten wir uns hingesetzt stand aber bereits Amuro-san vom Nebentisch auf und ergriff das Wort.
„Für diejenigen, die unseren Plan noch nicht zur Kenntnis genommen haben erläutere ich zur Sicherheit noch einmal den Tagesablauf. Bis zum Abendessen wird uns der restliche Nachmittag zur freien Verfügung gestellt. Unsere Schule empfiehlt uns zur Eingewöhnung allerdings in der Nähe des Ryokan zu bleiben. Zum Zwecke des erbaulichen Zeitvertreibs wird zu Aktivitäten geraten, die uns als Klasse einander noch einmal näherbringen sollen. Gemeinsame Spaziergänge in der Natur sind ebenso gerne gesehen, wie das Erstellen eines Reisetagebuchs für nachfolgende Generationen von Schülern. Selbstverständlich ist es euch gestattet die Onsen zu benutzen um ein wenig die Seele baumeln zu lassen. Hierbei verlässt sich die Direktion unserer Pension selbstverständlich auf das Ehrgefühl der männlichen Schüler. Diese werden wie es sich gehört die Privatsphäre der Schülerinnen achten. Ein Verstoß dagegen wird im schlimmsten Fall mit Rauswurf geahndet. Weiters haben derlei Delinquenten umgehend die Heimreise auf eigene Kosten anzutreten. Von Seiten unserer Schule erfolgt in diesem Fall ein Eintrag in die Schülerakte und der Übeltäter wird in der Aula öffentlich Stellung dazu nehmen müssen. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt?!“
An den kreidebleichen Gesichtern unserer Jungen konnte man ganz klar ablesen, dass im Vorfeld bereits gewisse Pläne geschmiedet worden waren. Wenn Amuro-san dahingehend Warnungen aussprach hatten diese die unterschwellige Note einer Morddrohung. Zumindest war dagegen der Verlust seines Gesichts das noch kleinere Übel. Wäre sie nicht so ein Besen hätte sie sich vor Liebesgeständnissen sicher nicht retten können. Allerdings war die Neugier auf ihren (äußerst ansehnlichen) Körper vielen erhalten geblieben. Da schadete ein Warnschuss definitiv nicht.
„Seid zeitig im Bett um für unsere morgigen Unternehmungen gerüstet zu sein. Unter anderem werden wir den Fushimi Inari-Taisha einen Besuch abstatten, einem Shintō-Schrein, dessen sagenumwobene Geschichte uns sicherlich Erhellendes zutage fördern wird. In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine erquickliche Reise.“
Es war zwar nicht angebracht, dennoch erfolgte lauter Applaus. Auch ich schlug tapfer meine flachen Hände gegeneinander. Auch wenn für mich augenscheinlich keine Gefahr mehr von ihr ausging riet mir mein Instinkt dennoch sie nicht zu verärgern. Lust aufs Kartenspielen hatte ich keine mehr. Dennoch tat ich es um Akira zu unterstützen. Sie gab sich redlich Mühe so wie immer zu erscheinen. Ich allerdings kannte sie mittlerweile gut genug um sie zu durchschauen. Sie redete über dies und das und für alle anderen war kein Unterschied zu früher erkennbar. Sie konnte sich wirklich sehr gut verstellen.
Es lag nahe, dass sie auch mit schädlichen Einflüssen während der Anreise zu kämpfen gehabt hatte. Ihre Konstitution war nicht die beste. Seit sie bei uns an der Schule war hatte sie sich durchgehend vom Sport freistellen lassen. Stattdessen vertiefte sie sich in der Klasse in ihre Bücher. Durchaus lobenswert.
Sicher lag ihr aber vor allem ihr Bruder, der Hikikomori, auf der Seele. Ich hatte früher selbst nicht allzu viel Freude an sozialen Kontakten. Von daher konnte ich das Verlangen mit der Umwelt abzuschließen schon ein wenig nachvollziehen. Wer weiß, ob ich nicht auch dazu geworden wäre hätte ich nicht Masao in meinem Leben gehabt. Und dann war da noch Arabiki-kun, der stets seine Spaziergänge einforderte und mich zwang mein Zuhause zu verlassen. Auch wenn ich mir das selten bewusst machte, ich hatte trotz allem schon ziemlich viel Glück in meinem Leben gehabt.
Sicher belastete die Krankheit von Akiras Bruder auch deren Eltern. Dabei hatte sicher auch Akiras Vater mit seinem beruflichen Exil gut zu tun. Aber gerade um Akira tat es mir leid. Dass über einem so fröhlichen, liebenswerten Mädchen ein derart dunkler Schatten schwebte, machte mich sehr betroffen. Gerade als ihre Freundin. Aber alles was ich tun konnte war sie moralisch zu unterstützen. Immerhin war ich nicht dahingehend ausgebildet, sondern nur eine einfache Schülerin. Vielleicht verkannte ich auch die Situation. Immerhin hatte ich schon zwei Mal beobachten dürfen, wie er an das Licht der Öffentlichkeit getreten war. Es passte so einiges nicht zusammen was diesen Akito betraf …
8
Nach dem Abendessen ging ich auf mein Zimmer um einige Grüße an meine Großmutter aufzusetzen. Natürlich hätte ich ihr auch einfach eine kurze Nachricht per Smartphone zukommen lassen oder gleich direkt anrufen können. Aber ich fand, dass liebevoll verfasste, handschriftliche Zeilen einfach persönlicher waren. Ich wollte ihr damit zeigen, wieviel sie mir bedeutete. Dafür musste man sich schon Zeit nehmen. Das Schreiben ging mir relativ einfach von der Hand. Abschicken würde ich den Brief allerdings erst demnächst, wenn ich ihn um einige Erlebnisse aktualisiert hatte.
Es war noch früh am Abend. Zu früh, um meinem Platz auf dem Futon einzunehmen. Außerdem gab es ja noch das Onsen. Nachdem ich mich zuvor gründlich abgeduscht hatte machte ich mich auf den Weg zu dem Außenbereich für Frauen. Auch auf dem Weg dorthin war Vorsorge getroffen worden, dass Männer und Frauen sich nicht einmal zufällig begegnen konnten. Eine sehr löbliche, wie vernünftige Maßnahme. Zu meinem Glück hatte die heiße Quelle neben mir gerade niemand anderen locken können. So saß ich denn im dampfenden Wasser und konnte geradezu spüren wie alle Negativität meinen Körper verließ. Einfach dazusitzen und nichts zu tun war ein viel zu seltener Luxus in meinem Leben geworden. Sicher war ich auch in meinen letzten Leben eine Kreatur gewesen, die es liebte, im heißen Wasser vor sich hin zu dampfen. Vielleicht war ich ja ein Schneeaffe aus Nagano. Bei der Vorstellung musste ich glatt prusten. Zum Glück war niemand da, den ich damit verärgern konnte.
War das wirklich so? Wenn ich genauer hinhörte vernahm ich Schritte, die langsam näherkamen. Och nö, es war gerade so schön ruhig und einsam gewesen. Ich wandte mich um und erblickte … Amuro-san! So wie Gott sie geschaffen hatte!!!
Ihr perfekt proportionierter Körper führte mir nur wieder vor Augen, mit welchen Makeln mein unvollkommener Leib behaftet war. Schweigend glitt sie ins Wasser und nahm neben mir Platz. Ihr Anblick hätte die Jungs scharenweise verrückt werden lassen. Das musste selbst ich als Mädchen ihr neidlos zugestehen. Mit meiner Gemütsruhe war es nun vorbei. Am liebsten wäre ich einfach aus dem Wasser gestiegen und auf mein Zimmer gegangen. Aber wie hätte das ausgesehen, kaum dass sie gekommen war?! Immerhin wusste ich nicht, wie brüchig der Frieden zwischen uns war. In früheren Zeiten wäre ein solcher Affront ausreichend gewesen um zwei Länder in den Krieg zu stürzen. Außerdem wollte ich mir nicht die Blöße geben, indem sie mich nackt sehen konnte. Die Diskrepanz zwischen Tag und Nacht wäre nicht ausreichend gewesen um die körperliche Differenz zwischen uns bildlich zu beschreiben. Das hatte im Übrigen nichts mit einem falschen Selbstbild zu tun, sondern waren, nun ja, eben nackte Tatsachen. Wortwörtlich und in Farbe.
Wieder einmal wurde mir bewusst, wie laut Stille sein konnte. Sicher, man hörte hie und da ein Rauschen der Blätter von Bäumen oder noch einen Vogel zwitschern. Das alles konnte aber das ohrenbetäubende Schweigen nicht übertönen. Sollte ich einfach lautlos vor mich hin dampfen oder ein höfliches Wort sprechen?! Einfach nur um etwas getan zu haben. Jede Zelle meines Körpers riet mir dringend davon ab eine soziale Interaktion aufzunehmen, dennoch fühlte es sich einfach nicht richtig an, gar nichts zu tun. Aber wenn ich etwas unternahm, was sollte es sein? Für ein einfaches „Guten Abend!“ war schon zu viel Zeit verstrichen. Vielleicht war ein Kompliment zu ihrem Körper das richtige?! Nein, das konnte man in unserer Situation missverstehen. Schließlich waren wir in keinem Yuri-Manga.[1]
Puh! Langsam stieg mir das heiße Wasser ein wenig in den Kopf. Damit geriet ich ein wenig unter Zeitdruck. Da kam mir die Idee.
„Ich …“
„Das Leben kann schon seltsam sein, findest du nicht?“
„…freue mich, dass es dir seelisch wieder besser geht.“, wollte ich eigentlich sagen. Da kam Amuro‑san mit dieser halb‑philosophischen Frage an. Wie sollte ich jetzt reagieren? Offenbar sah man mir meine Ratlosigkeit an, weshalb sie von sich aus weiter auszuführen begann.
„Ausgerechnet wir beide teilen uns ein Onsen. Wenn man uns so sieht könnte man uns glatt für Freundinnen halten. Dabei fanden es meine ‚echten‘ Freunde unterhaltsamer Zeit zu zweit zu verbringen. Natürlich haben sie dafür gewähltere Worte gefunden.“
Zuvor hätte ich es nie für möglich gehalten, das Amuro-san tatsächlich große Stücke auf Rin und Suki hielt. Ich dachte immer Amuro-san gab sich mit ihnen ab, weil sie willensschwach und leicht zu formen waren. Offensichtlich hatten sie aber doch genug Rückgrat um (manchmal) ihren Willen einzufordern.
„Vielleicht sind wir beide uns sogar ähnlicher als wir annehmen. In manchen Punkten zumindest.“
Mein Gesicht lief glatt rot an. Vor Anerkennung?
„Wahrscheinlich gibt es Momente, in denen ich genauso gemieden werde wie du.“
Mein Stolz ließ schlagartig nach und sank wieder auf den gewohnten Tiefpunkt.
„Wer weiß, wieviel Freude dir meinetwegen verwehrt blieb, als ich dich zur Kröte ernannt habe. Und schlimmeres. Du hättest mit Sicherheit noch viel mehr Freunde gefunden als ohnehin schon.“
„Amuro-san …“
„Aber falls dich meine Meinung interessiert: ohne die meisten dieser Wendehälse warst du am Ende besser dran. Mich haben sie umschwärmt wie Motten das Licht. Ich wette, sie wussten nicht eine wirklich persönliche Sache über mich. Von wegen, hier als Klasse zusammenwachsen. Mich mögen sie all unsere gemeinsame Zeit umringt haben, aber am Ende bleibt hier doch alles wie gehabt … In Wahrheit bin ich unsagbar neidisch auf dich …“
Was war das gerade?
„Deine Freunde stehen zu dir. Immer. Für sie bist du nicht nur eine Möglichkeit im Ansehen aufzusteigen. Selbst diese Akira. Ihr kanntet euch noch kaum, trotzdem hat sie dich sofort wie eine Löwin verteidigt. Vielleicht habe ich deshalb versucht, dich ständig klein zu machen und zu halten. Als ich mich nach unserem Theaterstück so klein und schäbig fühlte wie nie zuvor warst ausgerechnet du es, die mich in den Arm genommen und getröstet hat. Trotz allem, was ich dir angetan habe. Eigentlich hättest DU es all die Zeit sein müssen, die lobgepreist wurde.“
Amuro-san schwieg daraufhin eine Weile, bevor sie aus dem Wasser aufstieg. Sie schloss die Augen, senkte ihren Kopf und verbeugte sich tief vor mir.
„Es fällt mir schwer das auszusprechen, aber was ich dir angetan habe ist mit keinem Wort der Welt wiedergutzumachen. Dennoch stehe ich jetzt vor dir und …“
Passierte das gerade wirklich oder war ich in der heißen Quelle ohnmächtig geworden?!
„Es tut mir leid wie du unter mir zu leiden hattest, Nakamura-san. Hörst du? ES TUT MIR LEID!!!“
Die letzte Entschuldigung kam derart laut, dass ich mir nicht sicher war, ob man sie nicht auch im Innenbereich gehört haben musste. Amuro-san selbst schien davon derart peinlich berührt, dass sie sich einfach nur noch schnell in ein Handtuch wickelte und sich eiligst davon machte. Ehrlich gesagt war ich auch ganz froh drum. Nicht, weil sie mich mit ihrer Entschuldigung nicht berührt hätte. Sondern weil ich dringend raus aus dem Wasser musste. Mir fing es nämlich bereits an sich in meinem Kopf gehörig zu drehen.
So gut es ging verließ ich schnellstmöglich die Quelle, wickelte mich meinerseits in ein Handtuch und torkelte zurück in mein Zimmer. Dort angekommen ließ ich mich auf meinen bereits ausgelegten Futon fallen und atmete erst einmal begierig die kühle Luft ein. Je länger ich das tat umso mehr kam es mir vor als würde sich mein Körper wieder stabilisieren.
Nach und nach entfalteten die Worte von Amuro-san dann ihre wahre Wirkung in meiner Seele. Sie hatte mich um Vergebung ersucht, aber ich fühlte mich davon innerlich nur leer. In all der Zeit in der ich sie kannte hatte ich oft davon geträumt wie schön es wäre, wenn sie einfach nur von mir ablassen würde. Wenn sie mich einfach nur der ängstliche, unvollkommene Mensch sein ließe, der ich nun einmal war. Stattdessen stellte sie es jetzt einfach so dar, als hätte ich ihr die ganze Zeit eigentlich etwas vorausgehabt. Ich war wütend, fassungslos, hatte das Gefühl laut loslachen zu müssen, ja ich wollte nur noch laut schreien. Ich griff mir das Kissen und brüllte so laut ich nur konnte hinein. Mochten die anderen Gäste von mir aus denken, ich sei verrückt geworden – vielleicht war ich ja auf dem besten Weg dahin – es war mir nunmehr schlicht egal.
All die Boshaftigkeit sollte jetzt einfach so weggewischt worden sein?! Ich begann lauthals aufzuschluchzen und zu weinen. Wäre es ihr all die Zeit wirklich so schwer gefallen nett zu mir zu sein oder mich einfach nur zu ignorieren? Wie oft war ich mit einem schlechten Gefühl nachhause gekommen oder hatte mich von meinen Freunden trösten lassen müssen?! Wie oft hatte ich mich wegen ihr klein und hässlich gefühlt oder selbst gemacht?! Und das sollte es jetzt gewesen sein?! Das konnte doch nur ein Scherz sein. Sie hatte nie am eigenen Leib zu spüren bekommen wie es war gedemütigt zu werden, als Witzfigur herhalten zu müssen. Sie saß die ganze Zeit in ihrem Elfenbeinturm und hatte auf mich herabgeblickt. Ai Nakamura – wer war das schon, im Vergleich zu ihr? Mit der konnte man es all die Jahre ja machen.
Der ganze Zorn und Frust, die sich die Jahre über in mir aufgestaut hatten, brachen nun aus mir hervor. Es war als durchlebte ich all den Schmerz ein zweites Mal. Wenigstens sah mich niemand dabei, wie ich schier den Verstand verlor. Akira war wohl noch im Aufenthaltsraum und spielte die Fröhliche. Ich wünschte Ryoko das Schlimmste an den Hals, was ich mir vorstellen konnte. Wieso hatte ich die ganze Zeit eigentlich solch immensen Respekt vor ihr gehabt? Sie sollte fühlen müssen, was es hieß, gemobbt zu werden. Ihr sollte es so elend gehen wie mir, in den vielen Momenten, da man sich über mich lustig machte. In meinen Gedanken saß sie einsam und verlassen an ihrem Platz, von allen Kameraden gemieden und aß verzweifelt ihr Bento. Je mehr ich sie zu quälen begann … … umso mieser begann ich mich selbst zu fühlen. Ich war nun einmal kein rachsüchtiger Mensch. Wenn ich dennoch daran dachte begann ich selbst noch mehr zu leiden als mein Opfer. Auch wenn es immer nur Gedanken waren. Im Grunde meines Herzens wünschte ich mir nur mit allen gut auszukommen, selbst mit Amuro‑san. Egal, was vorgefallen war. Ich hatte absolut keinen Killerinstinkt und war weich wie Butter. Sowohl psychisch als auch physisch.
Wenn ich mir gegenüber ehrlich war, hatte Amuro-san mich immer tatsächlich so behandelt wie ich mich in Gedanken selbst. Ich mochte mich selbst nicht recht leiden und das strahlte ich wohl auch nach außen hin aus. Natürlich gab es von Natur aus gutherzig veranlagte Menschen wie Masao, Sato‑chan, Akira und Kazuki und Kazuko. Sie mochten mich wie ich war, auch wenn ich es nicht tat. Dann durfte es mich aber auch nicht wundern, dass es Menschen gab, die sich einen Spaß daraus machten auf meinen Schwächen herumzureiten. Erst recht, wenn ich mich nicht wehrte. Wenn ich mich selbst nicht achtete, warum dann jemand anderes?
Amuro-san hatte mir gegenüber einen aufrichtigen Eindruck gemacht und selbst in ihr Inneres blicken lassen. Offensichtlich war ihr erhabenes Leben auch nicht immer ein reines Zuckerschlecken gewesen. Es wäre leicht gewesen, ihre Fehler einfach anderen aufzubürden. Sie hatte aufgrund der vergangenen Ereignisse offensichtlich eine Wandlung erfahren oder vielleicht sogar ihr wahres Ich entdeckt. Das verdiente ehrliche Anerkennung. Außerdem: hätte ich sie trotz allem wirklich gehasst, wäre ich damals bestimmt nicht in der Lage gewesen sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. In einem anderen Leben wären wir vielleicht sogar Freundinnen geworden, wer konnte das schon sagen?
Mit einem Taschentuch wischte ich mir Rotz und Wasser aus dem Gesicht und fällte einen Entschluss. Während unserer Reise wollte ich Amuro-san sagen, dass ich ihr die Vergangenheit nicht mehr nachtrug. Mochte diese Entscheidung für sie so heilsam wirken wie für mich. Aber für mich musste sich noch so einiges ändern, wenn ich als vollkommener Mensch in das Erwachsenenleben eintreten wollte. Mit Sicherheit würden meine Freunde mich auf diesem Weg unterstützen – dafür war ich ihnen von Herzen dankbar.
Jetzt erst bemerkte ich, wie warm mir von der ganzen Aufregung wieder geworden war. Ich schnürte meinen Kimono fest und ging in den Garten des Ryokan. Die Landschaft, die es umgab war einfach atemberaubend schön. Erst recht unter diesem klaren Sternenhimmel. Die vielen zahllosen Lichter funkelten in der klaren Luft am Firmament, neben ihnen erstrahlte der Halbmond im fahlen Glanz. Ich dachte darüber nach mit meinem Smartphone ein Foto zu schießen, aber es hätte niemals die Schönheit in ihrer ganzen Pracht einfangen können. Es war so ruhig, dass man meinen konnte, alle anderen Lebensformen hätten sich bereits zur Nachtruhe begeben und nur ich war noch da.
Ein Trugschluss. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich offensichtlich nicht alleine war. Etwas außerhalb des Geländes erblickte ich eine Gestalt, einen Jungen. Genau wie ich war er verzaubert von der Schönheit der Natur und blickte gen Himmel. Sein Gesicht konnte ich ohne meine Brille nicht erkennen, dennoch fühlte ich mich ihm aus irgendeinem Grund verbunden. So, als kannte ich ihn schon lange Zeit. War ich ihm vielleicht schon einmal begegnet? War er einer meiner Mitschüler? Ich war im Zwiespalt, ob ich ihn denn ansprechen sollte. Während ich noch überlegte nahm er mir die Entscheidung ab und ging davon. Vielleicht plagte ihn ein Problem, dem er nicht Herr werden konnte. Auch wenn er mir vertraut erschien, war mir nicht ganz wohl bei der Sache und ich ging nach drinnen um mich schlafen zu legen. Wenn Akira kam, wollte ich ihr davon erzählen.
Während ich so auf meinem Futon lag bemerkte ich erst wie mich die ganze Aufregung des Tages angestrengt hatte. Eine bleierne Schwere legte sich auf meine Augenlieder und ich entschwand alsbald im Land der Träume …
8
Wie es sich für ein Ryokan gehörte ließ es sich beim Frühstück nicht lumpen. Neben Miso-Suppe gab es Kartoffelsalat, Auberginen, saure Pflaumen und frittiertes Hähnchen. Das Herzstück bildete ein kunstvoll entgräteter, gegrillter Fisch. Es schmeckte absolut hervorragend und mit dieser Meinung stand ich nicht alleine da. Dazu war es schön, einmal nicht selbst für die Zubereitung des Essens verantwortlich zu sein. Ich saß neben Akira, die im Gegensatz zu allen anderen allerdings aß wie ein Spatz. Ihre Sorgen, die ihr bereits während der Anreise zu schaffen machten, schlugen ihr wieder aufs Gemüt.
„Akira, soll ich vielleicht heute mit dir im Ryokan bleiben? Du fühlst dich doch nach wie vor nicht gut. Hab‘ ich nicht recht?“
„Keine Sorge. So schlimm ist es nicht. Außerdem habe ich mich schon sehr darauf gefreut mit euch allen heute die Besichtigungstour zu unternehmen. Wozu wäre ich denn sonst überhaupt mitgekommen?! Das wird ein Heidenspaß.“
„Wenn du meinst ist es ja gut. Auch wenn ich mir unterhaltsameres vorstellen könnte, als stundenlang ausschließlich Tempel zu besichtigen.“
„Wo kommt das denn auf einmal her? Du bist doch sonst unsere Miss Wissensdurstig. Du wirst doch nicht zum Delinquenten? Hi hi.“
„Blödsinn. Mir wäre der Affenpark einfach lieber als durch zahllose Anlagen zu spazieren. Tiere in ihrem mehr oder minder natürlichem Umfeld zu beobachten und sie auch noch zu füttern wäre einfach das Höchste für mich.“
„Geht mir genauso, auch wenn mir ihre Zähne ein wenig unheimlich sind. Aber unser Sensei macht stur einen auf Kultur. Dabei gehören sie genauso zu unserem Land wie alles andere.“
Das weitere Lobpreisen der hiesigen Affenwelt durch zwei Tierfreundinnen erspare ich euch an dieser Stelle. Es war ohnehin müßig. Der Sensei wollte uns die reichhaltigen Kulturschätze Japans näherbringen und dabei blieb es auch. Jeder Einspruch war von vorneherein zum Scheitern verdammt.
Wie er es uns angekündigt hatte war unsere erste Station der ehemalige Kaiserpalast, auch Gosho genannt. Seit kurzem durfte man ihn sogar ohne Anmeldung besichtigen, was uns einigen bürokratischen Aufwand ersparte. Wie wir erfuhren ging es in dieser Residenz häufig nicht gerade um Politik. Vielmehr wurde sie Zeuge diverser Intrigen und Hofgeschichten. Zur Serie verfilmt hätten diese sicher Potenzial für spannende Fernsehabende gehabt. Zu meinem Glück waren wir in noch einem der kühleren Monate angereist. Im Sommer konnte es hier leicht über 35° Celsius haben. Gerade für nicht‑japanische Touristen eine nicht unwesentliche Information. Mit Schaudern dachte ich an mein gestriges, viel zu langes Bad im Onsen zurück. Insgesamt muss ich sagen, dass die weitläufigen Anlagen sehr sehenswert sind. Ich war zwar vom Sightseeing anfangs nicht sonderlich angetan, aber es war dennoch auch für mich sehr lohnenswert.
Im Verlaufe dieses Tages folgten noch viele weitere Einrichtungen, die unsere Augen erblicken sollten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir allerdings der Sanjūsangen-dō-Tempel. Eigentlich hieß er ja Rengeō-in-
hon-dō, in etwa „Haupthalle des Tempels des Lotuskönigs“. Sein Spitzname rührte von den dreiunddreißig Nischen der Halle her. Die „Dreiunddreißig“ stand hierbei auch für die dreiunddreißig Formen Kannons. Kannon gehört, wenn man so will, zu den beliebtesten Gottheiten im Buddhismus, wenn es denn ein offizielles Ranking gegeben hätte. Ihre Aufgabe ist sich die Klagen und das Leid der Menschen anzuhören und ihnen Erlösung zu schenken. Behufs dessen verfügt sie über zahllose Augen und Arme um hilfreich eingreifen zu können. Ich kam nicht umhin mich zu fragen, ob Kannon nicht vielleicht deswegen Masao in diese Welt gesetzt hatte. Mein „Bruder“ hatte mir immerhin schon zahllose Male aus der Patsche geholfen. Da war diese Theorie vielleicht gar nicht so weit hergeholt. Ich war zwar grundsätzlich eine Frau der Wissenschaft, aber es gab doch mehr auf unserer Welt, als sie zu erklären verstand.
Auch wenn wir zwischendurch eine Pause einlegten, so war das viele Gehen für mich sehr ungewohnt, um nicht zu sagen, ich HASSTE es. Mit Arabiki-kun unternahm ich zwar auch zuweilen weitläufige Spaziergänge, allerdings fanden diese unter schattigen Bäumen statt. Wie ich euch schon vorhin erzählt hatte, mochte es in Kyoto zuweilen unangenehm heiß werden. Erst recht in der Stadt. Es war zwar noch eine kühlere Jahreszeit, jedoch bemühte sich die Sonne ausgiebig diesen Zustand zu widerlegen. Es war mir ein Rätsel, wie Amuro-san der Temperatur widerstand. Trotz der ausgiebigen Temperatur vergoss sie nicht ein sichtbares Schweißtröpfchen. Selbst der Bereich unter ihren Armen schien knochentrocken. Manche Menschen war ihre erhabene Ausstrahlung einfach angeboren. Da konnten Normalsterbliche wie Akira und ich nicht dagegenhalten.
Apropos Akira: Im Gegensatz zu gestern machte sie heute tatsächlich einen vitaleren Eindruck. Bewegung tat ab und an eben doch gut …
8
Bei der Heimkehr in unsere Pension waren wir alle, ausgenommen Amuro-san, geschafft und abgekämpft. Vermutlich verstand sie es nur ihre Ermüdung zu verbergen. Stolz hielt sie Amt und Würde des Klassensprechers hoch. Alles andere als ein Vorbild zu sein hatte sie sich wohl verboten.
Bis zum Abendessen entschloss ich mich auf mein Zimmer zu gehen und auszuruhen. Bei der Gelegenheit konnte ich auch meine Zeilen an Großmutter fertigstellen und den Brief versandfertig machen. Morgen wurde uns der Tag zur freien Verfügung gestellt, da fand sich sicher eine Poststelle um ihn abzusenden. Auf jeden Fall sollten meine Grüße daheim einlangen, bevor ich selbst zurückkehrte. Aber wie sollte ich den freien Tag weiter nutzen? Um im Ryokan herumzugammeln hätte ich nicht die weite Reise auf mich nehmen müssen. Aber um großartig herumzuspazieren fehlte mir nach dem heutigen Tag ebenfalls die Motivation. Da kam mir eine Idee.
„Akira, wollen wir uns morgen Fahrräder leihen um ein wenig herumzustreunen?“
Schweigen.
„Akira?! Hörst du nicht?“
„Wie?! Entschuldige, ich war gerade in Gedanken.“
„Wollen wir morgen etwas zusammen unternehmen?“
„Eigentlich sehr gerne. Es ist nur … ich habe morgen schon etwas vor. Ich will etwas erledigen, dass ich schon viel zu lange vor mir hergeschoben habe.“
„Kann ich dich dabei irgendwie unterstützen? Du brauchst es nur zu sagen.“
„Du bist wirklich lieb. Aber das geht leider nicht … Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie es danach mit mir weitergehen wird.“
„Du machst mir Sorgen. Du willst doch nicht etwa durchbrennen oder Schlimmeres anstellen? Wenn du willst finden wir sicher eine Lösung. Ganz egal, was dein Problem auch ist. Bestimmt. Du kannst mir vertrauen. Ich sage es auch niemandem. Nicht einmal Masao.“
Obwohl Akira lächelte waren ihre Augen mit einem Mal gleichzeitig von unsagbarer Traurigkeit erfüllt. Ich hatte das Gefühl, dass sie für immer aus meinem Leben verschwinden könnte, wenn ich jetzt nicht an ihrer Seite stand. Leider hüllte sie sich weiterhin in Schweigen.
„Ach Ai … meine Familiensituation ist verworrener als du denkst. Wenn du die Wahrheit erfährst würdest selbst du nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Ich könnte es nur zu gut verstehen. Im Grunde empfinde ich ja selbst so was mein Leben angeht.“
„Akira, rede doch keinen Unsinn. Was hat denn jetzt deine Familie damit zu tun?! Egal was es ist, ich würde nie schlecht über einen meiner Freunde denken. Bitte lass mich mit dir kommen.“
„Das geht nicht. Ich gebe zu, dass ich mich vielleicht ein wenig düster ausgedrückt habe. Aber ich verspreche dir, dass ich dir danach alles erzählen werde. Dann kannst du selbst entscheiden, ob du noch etwas mit mir zu tun haben möchtest. Wenn du so willst lege ich mein Schicksal morgen in die Hände der Götter …“
Ich kann nicht sagen, dass mich ihre letzte Aussage sonderlich beruhigt hätte. Ich war mir nicht sicher, ob sie sich nicht vielleicht doch etwas antun oder ähnlich Furchtbares geschehen lassen wollte. War ihr Bruder vielleicht auch gerade in Kyoto? War er in der Lage gewesen sein Zimmer zu verlassen? Wollten sie sich hier treffen und wenn ja, warum? Warum machte sie nur so ein Geheimnis um ihn? Er schien doch so ein furchtbar lieber Kerl zu sein, Hikikomori hin oder her. Ich konnte auch schlecht den Sensei alarmieren, schließlich wusste ich letztendlich nicht worum es ging. Ich entschied mich schlussendlich dafür die Nacht mit einem wachen Auge zu verbringen und Akira am nächsten Tag heimlich zu folgen, soweit es mir eben möglich war …
8
Am nächsten Morgen schreckte ich entsetzt aus meinen Träumen hoch. Entgegen meinen Vorsätzen hatte ich die Nacht nicht halb wach verbracht. Der Gewaltmarsch hatte seinen Tribut gefordert und mich ins Land der Träume überführt. Akira!!! Lag sie noch schlafend auf ihrem Futon? Verängstigt blickte ich mich um. Nein, ich war die einzige lebende Seele in diesem Zimmer. Keine Panik. Vielleicht war sie nur schon in den Gemeinschaftsraum vorgegangen. Sicher saß sie dort und wartete aufs Frühstück.
Zumindest wollte ich das glauben, aber mein Gefühl sagte mir bereits etwas anderes. Ich warf mich in meinen Kimono und stürmte durch das Ryokan. Immer wieder traf ich auf Mitschüler, doch diese sagten einhellig aus Akira heute noch nicht gesehen zu haben. Schweren Herzens redete ich mir ein, Ruhe zu bewahren. Sie hatte mir fest versprochen, dass sie sich kein Leid zufügen würde. Aber wenn alles so harmlos war, warum sagte sie mir dann nicht, was sie auf dem Herzen hatte?!
Es hatte mit ihrer Familie zu tun, soviel wusste ich. Aber weder kannte ich die Telefonnummer ihrer Eltern noch hatte ich sonstige Kontaktdaten. Ich verfluchte mich selbst dafür, dass ich nie auf einen Gegenbesuch bei ihr zuhause bestanden hatte, nachdem sie bei mir war. Natürlich gab es damals tausend gesellschaftliche Gründe, die dagegensprachen, dass ich mich aufgedrängt hätte. Aber trotzdem. Aus heutiger Sicht war es von Nachteil. Ich hätte damals eigentlich schon hellhörig müssen. Akira bestand damals immerhin schon fast verzweifelt darauf, dass unser Treffen bei mir stattfand. Ach, ich war so ein Dummkopf.
Halt! Musste nicht Amuro-san eine Klassenliste bei sich haben um sicherzustellen, dass bei der An- und Abreise alle anwesend waren? Darauf befanden sich auch die Kontaktdaten der Familie. Einzig, ob sie mir Einblick gewähren würde, war fraglich. Immerhin waren die Daten vertraulich. Egal, Versuch machte klug. Wenn ich ihr die Situation erklärte würde sie sicherlich Verständnis zeigen. Nur, was sollte ich überhaupt sagen?! Dass Akira den freien Tag nach Gutdünken nutzte, wie es von der Schule vorgesehen war? Dass meine Erklärungen auf bloßem Verdacht fußten und ich die Pferde trotzdem Scheu machte? Zugegeben, unser Gespräch vom Vortag war beunruhigend. Aber konnten wir nicht aneinander vorbeigeredet haben? Was, wenn ich ihre Eltern umsonst in Aufruhr versetzte, beziehungsweise, wenn sie schon längst von der Angelegenheit wussten?
Unter Umständen bereitete ich meiner Freundin großen Ärger anstatt ihr zu helfen. Wenn ich so darüber nachdachte: sie wollte „ihr Schicksal in die Hände der Götter legen“ … Das hieß vermutlich, dass sie einen Schrein oder eine ähnlich religiöse Einrichtung aufsuchen wollte. Aber welche? Kyoto war gespickt damit.
Nachdem ich mich etwas schlau gemacht hatte kamen Folgende in Frage:
Der Kiyomizu-dera-Tempel war eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten. Wesentlicher an ihm war aber, dass er dafürstand, einen Entschluss zu wagen. Wer sich zu einem Sprung von seiner Terrasse durchrang, dem sollten alle Wünsche erfüllt werden.
Der Yasui Konpira-gu-Schrein war verglichen dazu eher ein Geheimtipp. Folgte man dort einem bestimmten Ritual würde es einem gelingen eine Beziehung aufzubauen oder zu beenden.
Benzaiten war eine japanische Beschützergottheit und gehörte zu den sieben Glückgöttern. Sie war zuständig für die Künste, die Beredsamkeit und Weiblichkeit. Diese drei Attribute waren perfekt auf Akira zugeschnitten. Ihr wurde im Daigo-ji, einer buddhistischen Tempelanlage, ein Pavillon gewidmet.
Natürlich war es nach wie vor ein Glücksspiel, aber etwas Besseres tun als mich darauf einzulassen konnte ich nicht. Darüber hinaus unterstützte der Sensei nur zu gerne mein „Bestreben, mich in meiner Freizeit weiterzubilden“. Am Sinnvollsten erschien mir die Route Yasui Konpira-gu – Kiyomizu‑dera – Daigo-ji. Mit einem Tagesticket für den Bus würde ich wohl am Schnellsten alles abklappern können.
Ungeduldig wartete ich an der Haltestelle darauf, dass dieser erschien. Ich vermutete, dass, wenn eines meiner Ziele richtig war, sie ebenso diesen genommen haben musste. Hoffentlich machte ich mir zu Unrecht Sorgen. Eigentlich war es eine Schande, dass ich die vielschichtige Landschaft nicht genießen konnte. Aber in diesem Fall konnte ich mich nur auf meine Intuition verlassen.
Kaum war ich am ersten Schrein angelangt lief ich wie wild umher um meine Freundin aufzuspüren. Sicher war dies einem heiligen Ort nicht würdig, aber Gottheiten hatten oft Verständnis für die Lage kleiner Erdenmenschen. Irgendwie waren sie zu diesem Zweck ja auch geboren worden. Aber so sehr ich mich auch umsah, von Akira war keine Spur zu sehen. Unter anderen Umständen hätte ich nur zu gern das Ritual vollzogen und einen Zettel aufgehangen, um um eine immerwährende gute Beziehung zu den Leuten zu bitten, die mir nahestanden.
Ich saß wie auf heißen Kohlen. Endlich tauchte der Anschlussbus auf, der mich zum Kiyomizu‑dera bringen sollte. Genau genommen kam er pünktlich, aber selbst das war mir nicht schnell genug. Eigentlich wäre die Strecke auch gut zu Fuß bewältigbar gewesen, aber logisch betrachtet war ein motorisiertes Fahrzeug nun einmal schneller.
Am Tempel angekommen stellte ich fest, dass seine Terrasse etwa 13 Meter vom Grund entfernt war. Ich befürchtete, dass Akira den Sprung wagen wollte und informierte daher eine Aufsichtsperson. Diese machte mich allerdings darauf aufmerksam, dass es heutzutage verboten war, dies zu tun. Ich entschuldigte mich peinlich berührt und schlich schnellen Schrittes von dannen. Dennoch ließ ich nicht von meinem Vorhaben ab. Wegen dem hohen Besucheraufkommen war die Suche nicht ganz einfach. Allerdings war Akira zu meinem Glück ja ein hochgewachsenes Mädchen. Wenn sie sich hier befand, konnte man sie nur schwer übersehen. Es galt hier noch einige Schreine abzuklappern, um sicher sein zu können. Sogar der Liebe war einer gewidmet. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich sicher nur zu gerne die Liebessteine abgeschritten, aber dafür war heute keine Zeit. Auch hier war das Ergebnis leider: Fehlanzeige!
Während der Fahrt zum Daigo-ji hoffte ich nur noch, dass Akira dort sein würde. Mochte sie mich wegen meiner Sorge meinetwegen auslachen, Hauptsache, es ging ihr gut. Ich hätte genauso gehandelt, wäre es um Masao, Sato-chan oder einen der Zwillinge gegangen. Meine Freunde waren neben meiner Familie das Kostbarste, das ich besaß. War einer von ihnen potentiell in Gefahr, nichts und niemand hätte mich davon abhalten können zu ihm zu eilen. Ich war ein Feigling, aber in solchen Situationen konnte selbst ich über mich hinauswachsen. Das war in der Natur bei Müttern und ihren Jungen nicht anders.
Die Sekunden vergingen so langsam als wären es Stunden. Am liebsten wäre ich aus dem Bus gesprungen und zu Fuß dorthin gelaufen. Das war natürlich Unsinn. Aber in manchen Situationen hatte man nun einmal das Gefühl, dass man schneller war als ein motorisiertes Vehikel. Dabei war es nur die Untätigkeit, zu der ich im Moment verdammt war, die mich hektisch werden ließ. Herumzusitzen und nichts zu tun kam mir in diesem Moment einfach unglaublich falsch vor.
Endlich angekommen sprang ich förmlich aus der Tür … und wäre beinahe der Länge nach hingefallen. Während ich mir zu einem anderen Zeitpunkt todsicher mindestens die Knie aufgeschlagen hätte gelang es mir heute gerade noch mich rechtzeitig wieder auszubalancieren. Das war ein gutes Omen. Die Götter schienen hinter meiner Mission zu stehen.
Die Tempelanlage war dermaßen von Harmonie und Fassung beseelt, dass ich mit meiner Nervosität sofort daraus hervorstach. Zum Glück waren nicht viele Menschen vor Ort, denen ich den Tag damit verleiden konnte. Ich kannte ohnehin nur ein Ziel: Benzaitens Pavillon. Es gab keinerlei Garantie, dass sich meine Hoffnung erfüllen würde, aber mehr als beten konnte ich eben nicht.
Gottlob befand sich dieser gleich am Eingang der Anlage, an einem Teich gelegen. Auch wenn es mir sehr schwer fiel ging ich langsamen Schrittes dorthin um die Integrität des Tempels nicht zu zerstören. Ich sah hinein und erblickte zwei Touristen, Ausländer, darin. Keine Akira, kein Happy End wie im Film. Nur die bleierne Schwere der Enttäuschung und Ratlosigkeit. Mein detektivischer Spürsinn hatte versagt.
Mein Kopf war wie leergefegt. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie es Akira gerade ging, geschweige denn, wo sie überhaupt war. Ich war ihr keine gute Freundin. Als solche hätte ich vergangene Nacht gar nicht erst die Ruhe gefunden einzuschlafen. Ich beschloss die restliche Tempelanlage noch abzulaufen und dann ins Ryokan zurückzukehren und zu hoffen, dass es Akira auch tun würde. Ich Versagerin.
8
Gerade als ich den Tempel verließ sah ich von hinten eine Gestalt den Pavillon betreten. Sie hatte eine ähnliche Statur wie Akira und auch die Haarlänge und -farbe stimmte. Aber von hinten ließ sich das eben nur schwer sagen. Mein Herz begann wie wild zu klopfen und ich hätte zu gerne laut nach ihr gerufen. Aber wenn sie es nicht war … Es gab nur einen Weg das herauszufinden. Ich folgte der Erscheinung bis in den Pavillon, wo außer ihr gerade niemand war. Nach wie vor konnte ich das Gesicht nicht erkennen. Sie sprach gerade schweigend ein Gebet, weswegen ich noch wartete, die Person zu konfrontieren.
Mit einem Mal griff sich die Unbekannte an die wunderschönen langen Haare … und zog sie sich vom Kopf. Eine Perücke! Vor Erstaunen konnte ich einen leisen Schrei nicht unterdrücken. Die Person drehte sich erschrocken um und ich erblickte … Akiras Bruder. Dieser sah mich an als hätte er einen Geist gesehen und wollte sogleich die Flucht ergreifen. Leider stand ich für ihn ungünstig im Ausgang der Stätte und er war mir ausgeliefert.
Schnell begriff er, dass es für ihn weder Sinn hatte noch eine Möglichkeit gab zu fliehen. Schließlich fand er wieder seine Mitte und sagte: „Ai … es tut mir leid … ich wollte nicht, dass du es so erfährst …“ Nach und nach begannen sich erst die Puzzlestücke für mich zusammenzufügen. Die Ähnlichkeit zwischen Akira und ihrem Bruder, dass man sie nie zusammen sah, dass ich sie nie besuchen durfte … Obwohl ich gerade ihre Verwandlung mit eigenen Augen gesehen hatte, kam ich mir vor wie in einem schlechten Film.
„Akira …“
Mehr brachte ich nicht heraus.
„Ja … und nein …“, antwortete mir die Gestalt.
Ich sah mir den Menschen an, den ich bis dahin zu meinen besten Freunden gezählt hatte und musste weg. Es war einfach zu viel, was da von einem Moment auf den anderen passiert war. Zu meinem Glück kam gerade der nächste Bus angefahren und ich entkam mit ihm, bevor „Akira“ mich einholen konnte.
Ab diesen Moment lief alles an mir wie in Trance vorbei. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Akira und Akito waren dieselbe Person?! Warum?! Wieso?! War unsere Freundschaft für sie … ihn … nur ein großer Witz gewesen? Sollte ich unsere Mitschüler und den Sensei darüber in Kenntnis setzen? Wieso war das niemandem aufgefallen? Wieso war das MIR nicht aufgefallen? Wie würde Amuro-san darauf reagieren, wenn sie erfuhr, wer ihr Traumprinz wirklich war? Ach, was sollte ich nur tun?!
Wieder in unserer Unterkunft angekommen meldete ich mich erstmals krank um mich ungestört auf mein Zimmer zurückziehen zu können. Sollte ich Masao und Sato-chan um Rat bitten? Nein, ihnen sollte ihre Reise nicht durch meine Hilflosigkeit verdorben werden. Außerdem: was sollten sie tun? Nein, ich musste erst einmal alleine sein. Falls „Akira“ die Chuzpe haben sollte hierherzukommen gäbe ich ihr … ihm die einmalige Chance sich zu erklären. Erwiese er sich als gefährlich konnte ich ohne Zögern die gesamte Gaststätte zusammenschreien.
Gefährlich?! Was dachte ich da nur?! Ob Mann oder Frau, bei der Person handelte es sich immer noch um Akira. Denselben Menschen, der mir gegen Amuro-san beigestanden hatte, dessen Freundschaft Gold wert war. Vielleicht mochte er ein obskures Geheimnis mit sich herumtragen, aber warum hätte er mich mit seinem Charakter täuschen sollen? Auch Arabiki-kun hatte ihn sofort in sein Herz geschlossen und auf seine Expertise war Verlass.
Mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Konnte sich „Akira“ überhaupt noch hierherwagen? Immerhin musste er doch befürchten, dass ich sein Geheimnis ausposaunte. Wenn er nun dachte, dass alle ihn ächteten? Wo sollte er anders hin? Wussten seine Eltern von seiner anderen Identität? Was hatte ich nur angestellt, als ich vor ihm davongerannt bin. Ich musste raus, ihn suchen, bevor meine eigentliche Befürchtung wahr wurde und ich ihn nie wiedersah. Menschen, die sich von der Welt im Stich gelassen fühlten, waren schlicht zu allem fähig. So schnell ich konnte machte ich mich wieder ausgehfertig und stürmte durch die Gänge nach draußen. Ich lief so schnell ich konnte und rannte in … Akira! In Mädchengestalt. „Komm bitte sofort mit mir mit!“, sagte ich und packte ihn am Ärmel. Dass ich dermaßen bestimmend sein konnte wusste ich noch gar nicht von mir. Offenbar gab es auch an mir noch unbekannte Seiten. Schnurstracks ging ich mit ihm auf unser Zimmer und setzte Akira einem Kreuzverhör aus.
„Also, ich höre: was steckt hinter der ganzen Angelegenheit?“
Akira schaute kurz betreten zu Boden und sah mir dann leicht nervös in die Augen.
„Hast du … schon jemandem ‚davon‘ erzählt?“
„Nein, aber das kann sich noch ändern. Ich wollte zuerst deine Seite der Geschichte hören. Bitte enttäusche mich nicht.“
Akira atmete einmal tief ein und aus. Er schien unsicher, ob ich wohl Verständnis zeigen konnte.
„Also … ich bin nach wie vor Akira. Einen Akito gibt es in meiner Familie nicht. Und ich habe auch keine Geschwister. Ich bin Einzelkind.“
„Was sollte die Kostümierung die ganze Zeit über? War das irgendein schräger Witz auf unser aller Kosten? Oder bist du vielleicht …“
„Schwul? Nein, nichts dergleichen. An meiner alten Schule bin ich immer wieder gemobbt worden, weil ich, von meiner Größe abgesehen, angeblich so mädchenhaft sei. Außerdem interessiere ich mich auch eher für feminine Dinge. Das kam bei gewissen Mitschülern gar nicht gut an. Insofern war es ein Segen für mich, dass mein Vater strafversetzt wurde und ich einen Neuanfang machen konnte.“
Auch dieser Teil von Akiras Biographie entsprach also der Wahrheit.
„Jedenfalls hatte ich Sorge, dass es mir wieder so ergehen würde, wie an meiner alten Schule. Irgendwie kam ich dann auf den verqueren Gedanken, dass, wenn mich alle Welt ohnehin als ein solches sehen wollte, ich doch auch als Mädchen die Schule abschließen könnte. An meinem Namen konnte man schließlich keinen Unterschied festmachen. Und wenn man in meinen Unterlagen nachsah, hatte das Sekretariat eben einen Fehler gemacht.“
Richtig. Akira war sowohl ein Name für Jungen als auch für Mädchen. Diese Information entsprach wohl ebenso der Wahrheit.
„Wie dem auch sei, als ich Ryoko in der Klasse erblickte hätte mich innerlich fast der Schlag getroffen. Immerhin hatte sie mich schon damals in dem Familienrestaurant als Jungen gesehen. Zum Glück erkannte sie mich damals nicht wieder. Am besten wäre es wohl gewesen ich hätte mich still und leise in die Klassengemeinschaft eingefügt und keinen Ton mehr gesagt.“
„Aber stattdessen hast du dich dafür entschieden meine Partei zu ergreifen. Warum bist du dieses Wagnis eingegangen?“
„Naja, ich hatte mich eben spontan in dich verliebt.“
Mein Kopf lief knallrot an. Wenn einem die vormals beste Freundin ihre Liebe gestand musste man das schon verdauen.
„Entschuldige, ich meine, ich hatte mich in dich als Mensch verliebt.“
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Gleichzeitig hatte ich aber auch gute Lust, dem Blender eine ordentliche Ohrfeige zu verpassen. Unverschämtheit.
„Ich fühlte mich dir sofort verbunden. Du warst genau wie ich der Typ Mensch, der für andere die Opferrolle innehatte. Auch du hättest alles was man dir aufbürdet stoisch ertragen. Da konnte ich nicht anders, als mich für dich in die Bresche zu schlagen. Im Prinzip hat mir wohl meine neue Rolle den Mut gegeben, mein wahres Ich zu zeigen. So absurd es auch klingen mag.“
„Du bist sogar das Risiko eingegangen und hast dich bei unserem Theaterstück noch einmal als Junge gezeigt. Dafür möchte ich dir noch einmal von Herzen danken. Deinem richtigen Ich. Jedoch …“
„Aber?“
„Wie du dich Amuro-san gegenüber verhalten hast geht trotz allem nicht in Ordnung. Weder für mich, noch für sie. Wenn du keine ernsten Absichten hast war es falsch, ihr Hoffnungen zu machen. Ihr gegenüber wirst du dich auch noch entschuldigen müssen.“
„Das würde ich gerne, nur ganz so einfach ist die Sache auch wieder nicht. Zudem ich ihr gegenüber tatsächlich ernsthafte und aufrichtige Gefühle hege …“
„Weil du ihr gegenüber nicht so die Karten offenlegen möchtest wie mir?“
„Auch. Aber es ist besser ich erzähle dir die Geschichte von Anfang an. Meine Eltern und ich waren damals gerade dabei uns nach einer neuen Unterkunft umzusehen. Schließlich mussten wir ja irgendwo wohnen, nachdem mein Vater hierhin strafversetzt werden würde. Damit stand uns auch ein geringeres Einkommen zur Verfügung, was die Sache nicht eben einfacher machte.“
„Nachdem ich genug von den Besichtigungen hatte beschloss ich mir meine neue Heimat auf eigene Faust anzusehen. Da ich an jenem Tag schlecht gefrühstückt hatte, bekam ich Hunger und stieß auf das Familienrestaurant, in dem du zu der Zeit gearbeitet hast. Als ich Ryoko sah war ich sofort von ihr angetan. Auch ihre negativen Seiten blieben mir nicht verborgen, dennoch mochte ich sie sofort. Ihren Typ Mädchen zu durchschauen war nicht sonderlich schwer: eine Prinzessin, die ihr Leben lang dermaßen gehätschelt wurde, dass nichts mehr ihrem Standard gerecht werden konnte. Darauf ließ sich für mich aufbauen. Um bei ihr Eindruck zu schinden bestätigte ich sie derart in ihrer Rolle als höhere Tochter, dass sie gar nicht anders konnte, als sich für mich zu interessieren. Es lag mir dabei nichts ferner, als mich über sie lustig zu machen. Immerhin war sie auch der Grund warum ich den Schrein aufgesucht habe. Ich habe mir eine Art göttliches Zeichen oder ähnliches dafür erhofft, ob ich mich ihr offenbaren sollte.“
„Aber warum bist du dann damals einfach gegangen, ohne sicherzustellen, dass ihr euch wiedersehen werdet? So gesehen war das ziemlich dumm.“
„Ich fand, es war wichtiger, geheimnisvoll zu wirken. Wie ich sie einschätzte war sie im Grunde ihres Herzens eine Dramaqueen. Für sie wäre ein einfaches Austauschen der Daten viel zu banal gewesen.“
Nach diesen Worten musste Akira kurz kichern.
„Eigentlich wollte ich mich aber einfach nur größer erscheinen lassen, als ich war. Unterm Strich war sie etwas viel besseres gewöhnt, als ich ihr wohl je bieten konnte. Derlei unterschiedliche Beziehungen funktionieren wohl nur im Film …“
„Sag sowas nicht. Wenn dem so wäre, hätte Amuro-san niemals solche Tränen vergossen, als du sie das zweite Mal hast stehen lassen.“
Daraufhin sah Akira selbst nur traurig zu Boden.
„Weißt du überhaupt wer sie ist, Ai? Nachdem sie mir ihren Namen nannte habe ich sofort im Internet recherchiert und meine Befürchtungen haben sich bestätigt. Sie ist die einzige Tochter des Eigentümers der „Amuro Konzerngruppe“ oder mit anderen Worten, sie ist die Tochter des obersten Chefs meines Vaters. Das würde er mit Sicherheit niemals gutheißen. Erst recht nicht, nachdem sich mein Vater so bei ihm in die Nesseln gesetzt hat. Wie du siehst ist meine Lage ziemlich aussichtslos.“
„Zugegeben, ganz unproblematisch klingt das nicht. Aber ich denke, du selbst hast noch gar nicht aufgegeben. Zumindest hättest du sie bei unserem Kulturfest dann nicht geküsst.“
Ich hatte ihn ertappt. Er war wohl einer jener Typen, die anderen Leuten Feuer unterm Hintern machten, damit sie zu ihrem Glück kamen. Nur sich selbst wollte er nichts zutrauen. Also war es wohl an mir, ihm mit einem tüchtigen Schubs wieder in die Spur zurück zu helfen.
„Aber wenn du natürlich meinst, dann muss sie sich eben nach jemand anderem umsehen. Ich bin mir sicher, sie wird einen blendend aussehenden jungen Mann finden, mit dem sie in der Zukunft wunderschöne kleine (gemeine) Kinder in die Welt setzen wird. Zu schade für dich. Vergiss nicht, du wärst ihre erste Wahl gewesen. Aber naja. Da kann man leider nichts machen.“
„Kinder?! Mit Ryoko?! Aber das … soweit hatte ich gar nicht … ich bin doch noch viel zu jung dafür … aber irgendwann … mit ihr verheiratet … Vater sein … das wäre … ein Traum …“
Dachte ich mir doch, dass Akira dieser Gedanke gefallen würde. Ob Männlein oder Weiblein – Akira war schon mir gegenüber immer ein sehr mütterlicher Typ. Dass man ihm das in seiner alten Schule zum Nachteil auslegte war einfach nur gemein und traurig. Mehr Männer sollten so sein wie Akira! Naja, vielleicht nicht in allen Punkten. Mit seiner Maskerade hatte er sich das Leben schlussendlich schwerer als nötig gemacht. Aber in diesem Punkt schon.
„Ist der Groschen jetzt gefallen? Dafür, dass du mir immer so gute Ratschläge gegeben hats standst du jetzt ziemlich auf den Schlauch. Auf jeden Fall solltest du ihr in deiner wahren Gestalt gegenübertreten und die Sache klarstellen. Das könnte natürlich auch schiefgehen. Immerhin hat sie ziemliches Temperament. Aber, wie gesagt, wenn du es nicht versuchst …“
Da schien Akira auch wieder ein wenig der Mut zu verlassen. Immerhin war das flexible Geschlecht wahrscheinlich nicht eben leicht Amuro-san zu vermitteln. Aber ich hatte das Gefühl, als könne es klappen. Immerhin hatte sie sich auch begonnen von einer weicheren, einsichtigeren Seite zu zeigen. Man würde es abwarten müssen …
„Eine Frage habe ich allerdings noch. An unserem ersten Abend in Kyoto habe ich einen Jungen vor dem Ryokan gesehen, den ich aber nicht klar erkennen konnte. Warst du das?“
„Das kann gut sein. Ich fühlte mich an jenem Abend dermaßen von meiner zweiten Identität überfordert, dass ich damals einfach Schluss mit ihr machen wollte. Im Endeffekt hat mich aber der Mut verlassen und ich habe mich wieder verkleidet. Aber in jedem Fall hatte ich vor dieser Reise den wackeligen Vorsatz gefasst mein Versprechen an dich doch noch einlösen. Ich wollte mit Ryoko über meine Absichten sprechen. Irgendeine Ausrede warum ich auch in Kyoto war wäre mir schon eingefallen. Dann aber hat mich das Gewissen geplagt und ich wollte nicht mehr lügen.“
Plötzlich fiel mir ein Problem der anderen Art auf: Akira war jetzt ein Junge und ich … immer noch ein Mädchen. Wir teilten uns ein Schlafzimmer. War das noch angemessen? Ich meine, ich machte mir keine Sorgen, dass er nun über mich herfallen würde. Allerdings war es nicht unproblematisch, wenn Akira sich vor allen outen würde. Da gab es gerne saftigen Klatsch und Tratsch und das nicht zu knapp. Auch wenn mit Sicherheit viele nicht daran glauben würden konnte er große Wellen schlagen. Was sollten wir nur tun? Ich meine, durch eine vermeintliche Affäre wieder negative Schlagzeilen zu machen, das wollte ich nun wirklich nicht.
„Keine Sorge, bis zu unserem Abschluss demnächst werde ich meine geheime Identität für die Klasse noch aufrechterhalten, damit es kein Gerede gibt. Das bin ich dir schuldig.“
Akira kannte mich wirklich gut. Sie … will sagen er war wirklich eine Seele von Mensch, auch wenn mir im Moment die ganze Geschichte noch wie ein Traum vorkam. Ich meine, so ein Erlebnis kam doch normalerweise nur in schlechten Büchern vor. In wirklich schlechten. Sei es wie es sei – der Rest der Reise war eine wundervolle Erfahrung. Kyoto war wirklich immer eine Reise wert, egal ob man aus Japan stammte oder von sonst wo. Der Aufenthalt ging leider viel zu schnell vorüber und das sagt ein Gewohnheitstier wie ich. Aber ich wusste, sobald ich nachhause kam, musste ich endlich endgültig die Weichen für meine Zukunft stellen. Sollte ich das Angebot meiner Mutter nun annehmen oder nicht? Ich hatte mich unter anderem bei der von ihr empfohlenen Universität beworben und war angenommen worden. Aber tat ich damit auch das Richtige für mich?
8
Zuhause angekommen wartete erst einmal noch eine andere Aufregung auf mich: die Geburt der Welpen von Shina-chan und Arabiki-kun. Arabiki-kun war sich vermutlich nicht einmal des Umstandes bewusst, dass er kurz davor stand Vater zu werden. Woher sollte er auch wissen, woher Hundewelpen kamen?! Aber für Frau Sato und vielmehr noch Shina-chan wurde es bald harte Realität. Ich beschloss gemeinsam mit Masao Sato-chan aufzusuchen um die werdende große Schwester zumindest moralisch zu unterstützen. Immerhin waren auch Masao und ich nicht ganz unbeteiligt an der Situation.
In der Einfahrt des Anwesens stand bereits ein älter wirkender, grauer Toyota. Er wirkte nicht wie etwas, dass Frau Sato oder eine ihrer Freundinnen fahren würde. Wir schritten zur Eingangstür um zu klingeln. Zu unserer Verwunderung war diese nur angelehnt. Es war zwar heller Tag, dennoch war es ziemlich unvorsichtig. Immerhin waren wir hier nicht gerade bei armen Leuten. Es war zwar ein wenig unhöflich, dennoch traten wir in das Haus ein.
„Frau Sato? Sato-chan? Wir sind’s: Ai Nakamura und Masao Takahashi. Ist jemand zuhause? Wir wollten uns nach Shina-chan erkundigen.“
„Wir sind hier. Gut, dass ihr da seid. Kommt einfach herein.“
Sato-chans vertraute Stimme wies uns den Weg. Das Haus war einfach viel zu groß. Ohne kundige Führung war es sehr leicht hier falsch abzubiegen. Als wir den Raum betraten kam ich mir vor als wäre ich an das Set einer Krankenhausserie geraten. Frau Sato saß kreidebleich auf einem Stuhl, Sato-chan selbst hielt ihr unterstützend die Hand. Die eigentliche Patientin war Shina-chan, die offensichtlich kurz vor ihrer Niederkunft stand. Sie lag auf einer weichen Decke, die ihrerseits über einen Tisch ausgebreitet worden war. Vor ihr stand eine Frau im weißen Kittel, offensichtlich eine Tierärztin.
„Ai-chan. Mas … Takahashi-kun. Ihr kommt wie gerufen. Bitte helft mir Mutter auf das Sofa im Wohnzimmer zu legen. Ihr ist die Aufregung um Shina-chan gar nicht gut bekommen. Eigentlich wäre sie erst in ein paar Tagen fällig gewesen. Meine Mutter hat den Anblick der Geburt nicht so gut vertragen. Deswegen muss sie jetzt die Beine hochlegen, damit ihr Kreislauf wieder in die Gänge kommt. Je schneller, umso besser.“
Hatte sie bei Satos Geburt auch vor Aufregung Probleme mit dem Kreislauf bekommen? Egal. Sato‑chan und ich stützten die Arme rechts, Masao legte ihren Arm auf seine linke Schulter. Obwohl wir auf dieser Seite zu zweit waren liefen wir doch einige Male Gefahr, dass sie uns hinuntersackte. Glücklicherweise schafften wir es mit vereinten Kräften sie wie geplant auf das Sofa zu betten.
Während Masao an ihrer Seite blieb ging Sato-chan hinauf um ihr ihr Kreislaufmedikament zu holen. Dies roch zwar fürchterlich und hatte eine überaus unschöne, braune Färbung, aber das spielte an einem Tag wie diesen auch keine Rolle mehr.
Da es Frau Sato wohl herzlich egal war, ob ich an ihrer Seite weilte, konnte ich der Versuchung nicht wiederstehen in den improvisierten Kreißsaal zurückzukehren. Leise betrat ich den Raum und sah aus einer Ecke davon zu. Hätte die Ärztin oder Shina-chan etwas dagegen gehabt wäre ich natürlich sofort wieder gegangen. Gerade Shina-chans Zustimmung war mir wichtig. So eine Geburt war immerhin ein sehr intimer Moment. Den wollte man nicht der breiten Öffentlichkeit gegenüber preisgeben. Wenn ich ein Kind bekäme wollte ich selbst mit Masao und Akira nicht im selben Raum sein, trotz unserer guten Freundschaft. Aber da wir alle drei hier weiblich waren hatte Shina-chan wohl auch keine Vorbehalte.
Wenn ich daran dachte, wie aufgeregt ich bereits war, wie musste sich dann erst die werdende Mutter fühlen?! Bald hatte sie die Verantwortung über einen Wurf kleiner Welpen, deren Wohl und Wehe von ihr abhängig war. Aber sie würde keinen Moment zögern und wäre bereit ihr Leben für die Kleinen zu lassen, so wie es Mutter und Großmutter auch für mich täten. So waren die meisten Kreaturen nun einmal.
Da! Langsam war das erste Junge herausgeploppt. Es sah seiner Mutter zum Verwechseln ähnlich. Nur die Fellfarbe hatte es von seinem Vater mitbekommen. Das würde Frau Sato sicher freuen. Ich konnte einfach nicht anders. Ich war derart überwältigt, dass mir ein paar Tränen der Rührung über die Wange liefen. Gerade war ein neues Lebewesen zur Welt gekommen und ich durfte Zeugin davon sein. Sicher hatte ich schon das eine oder andere Mal Bilder von Neugeborenen gesehen. Aber dabei zu sein wie sie tatsächlich in ihr Leben eintraten hatte eine ganz andere Wirkung. Am liebsten wäre ich hingestürmt und hätte das Kleine in Händen gehalten, aber das stand mir nicht zu. Dieser Moment sollte ganz allein Mutter und Kind gehören.
Es dauerte nicht lange und ein zweiter Welpe durfte das Licht der Welt erblicken. Auch diesmal war es bereits ein fast reiner Shiba Inu, nur das spitze Näschen zeugte von seinem deutschen Vater. Und schließlich kam das dritte und letzte Baby zur Welt, das eindeutig von Arabiki-kun abstammte: kurze Beinchen, Schlappohren und rauhaariges Fell. Die Natur ging zuweilen schon ziemlich individuelle Wege. Aber für eine Mama spielten die Unterschiede keine Rolle. Zärtlich wusch sie den bunten Wurf mit ihrer Zunge sauber, einen Welpen nach dem anderen. Diese Bezeugung mütterlicher Liebe traf mich erneut mitten ins Herz und ich musste vor Rührung schluchzen. Prompt reichte mir die Tierärztin ein Taschentuch, bevor sie mich näher an die traute Familie heranführte.
„Mich lässt es auch nicht kalt, wenn ein Tier Junge zur Welt bringt. Egal, wie oft ich schon so etwas gesehen habe. Das sind die Momente, in denen ich meinen Beruf besonders liebe.“
Ich konnte bloß nicken und musste heftig schlucken. Das Erlebnis war einfach zu überwältigend. Erst recht, wenn man so nahe am Wasser gebaut war wie ich. Später kamen auch Sato-chan und Masao hinzu, um die neuen Erdenbürger willkommen zu heißen. Nur Frau Sato war der freudige Anblick ein wenig zu viel und sie drohte wieder ohnmächtig zu werden.
Später am Tag verabschiedeten Masao und ich uns von Sato-chan und ihrer Mutter und machten uns auf den Heimweg. Während wir so vor uns hin radelten suchte ich das Gespräch um die Stille zu durchbrechen.
„Die Geburt miterleben zu dürfen war eine unglaubliche Erfahrung. Noch dazu, wo wir mit dafür verantwortlich waren. Denkst du nicht auch?“
„Ich war ja nicht mit dabei. Mimi und ich waren gut damit beschäftigt dafür zu sorgen, dass uns ihre Mutter nicht umkippte. Ich frage mich, wie sie sich bei ihrer Geburt wohl geschlagen haben muss.“
„Hi hi, da hast du wohl recht. Aber es ist schön zu sehen, dass ihr Shina-chan so viel bedeutet. Dabei wirkt sie gar nicht wie der Typ dafür.“
„Da kannst du mal sehen. Der erste Eindruck kann ziemlich täuschen.“
„Stimmt, so wie ich mich in Sato-chan. … Denkst du, das war unser letztes gemeinsames Abenteuer?“
„Warum? Nur weil wir vielleicht an unterschiedlichen Orten die Universität besuchen ist das doch nicht das Ende unserer Freundschaft. Hast du schon einen Entschluss gefasst?“
„Naja …“
„Schieb es nicht mehr zu lange hinaus. Vergiss nicht, letzten Endes musst DU mit deinen Entscheidungen glücklich werden, niemand sonst. Übrigens hat sich herausgestellt, dass Mimi und ich an dieselbe Universität gehen werden, wenn auch an unterschiedliche Fakultäten. Ich denke, nach unserem Studium werde ich sie wohl um ihre Hand bitten.“
Waaaaaaaaaas? Masao war wirklich unfassbar. Plante er tatsächlich bereits soweit die Zukunft voraus? Wann waren sich die Beiden denn derart nahegekommen? Etwa auf ihrer Reise?! Typisch, da hatte ich doch glatt das Beste verpasst. Aber wo ich so darüber nachdachte … Sato-chan war mir tatsächlich noch viel hübscher vorgekommen als früher. Es stimmte wohl tatsächlich, dass Frauen, die ihr Glück in der Liebe gefunden hatten, immer attraktiver wurden. Ich freute mich ehrlich für meine Freunde.
Aber was war mit mir? Welche Entwicklung hatte ich die ganze Zeit über eingeschlagen? Wenn ich ehrlich war fühlte ich mich kein Stück anders als zu dem Zeitpunkt, da ich den Brief damals geschrieben hatte. Ich hatte zwar einiges erlebt, neue Freunde gefunden und war für Außenstehende zu einer reiferen Person geworden, aber innerlich war ich noch so unzufrieden mit mir wie eh und je. Noch immer traute ich mir nicht viel zu und fühlte mich wie ein hässliches Entlein. Es waren Probleme, die aufgearbeitet werden mussten. Selbst Akira hatte mit der Wahrheit reinen Tisch gemacht und sich seinem Schwarm gegenüber offenbart. Mit allen Konsequenzen. Amuro-san war zunächst stinksauer gewesen, dass sie vermeintlich so vorgeführt worden war. Schließlich gelang es ihm aber ihr seine Beweggründe und Gefühle zu vermitteln. Sie wollte daraufhin noch keine Entscheidung treffen und bat sich Bedenkzeit aus. Für die anderen Schüler hielt er sein Spiel aufrecht, damit er keine Konsequenzen mit der Direktion der Schule zu befürchten hatte. Ich wünschte den Beiden nur das Beste.
Zuhause angekommen verabschiedete ich mich von Masao und betrat das Haus. Gemeinsam mit Großmutter bereitete ich ein einfaches Abendessen zu und drehte danach mit Arabiki-kun seine Runden. Das half mir einen klareren Kopf dafür zu bekommen, wie ich mein Leben gestalten wollte. Ich machte mir Gedanken über dies und jenes, aber im Endeffekt gab es entscheidende Schritte, die ich setzen musste, wenn es mit mir kein übles Ende nehmen sollte.
Es war schon zweiundzwanzig Uhr vorbei, als ich den Mut aufbrachte meine Mutter anzurufen. Sie arbeitete meist noch spät bis in die Nacht hinein, weswegen sie mir sicher Gehör schenken würde. Es tutete nur einmal, dann hörte ich bereits ihre Stimme.
„Ai, meine Güte. Geht es dir gut? Ist etwas mit Mutter?“
„Nein, keine Sorge. Es ist nichts dergleichen. Ich weiß, es ist spät, aber ich muss unbedingt mit dir reden.“
„Aber natürlich. Was hast du denn auf dem Herzen?“
„Zunächst einmal danke ich dir von Herzen für dein Angebot. Aber … ich denke es ist nicht das Richtige für mich. Ich würde sehr gern mehr Zeit mit dir verbringen, aber unter anderen Umständen.“
„In Ordnung. Es war auch ziemlich selbstsüchtig von mir dich in eine Richtung drängen zu wollen. Egal, was du aus dir machen möchtest, du hast meine volle Unterstützung.“
„Danke, Mama, dass du mich verstehst. Aber ich denke, dafür werde ich nicht nur deine Hilfe benötigen … Ich möchte in Therapie …“
[1] bezeichnet ein Genre, das die Liebe zwischen Frauen zum Thema hat
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Hier kommt das neu(nt)e Kapitel. Und los geht's ...
Kapitel 9 - "Mütter"
„Takahashi-kun, was soll ich denn jetzt nur machen? Ich weiß nicht, wie ich es meiner Mutter erklären soll. Sie bringt mich glatt um, wenn sie davon erfährt.“
„Ich werde die Verantwortung dafür voll übernehmen. Ohne Wenn und Aber. Wenn ich ihr gegenübertrete werde ich klipp und klar erklären, dass ich nicht aufgepasst habe und wir deswegen Nachwuchs erwarten. Ich bin sicher, wenn er erst mal zur Welt gekommen ist, wird sie ihn genauso sehr lieben wie dich.“
„Da bin ich mir nicht so sicher. Das Ganze kommt reichlich ungeplant. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie damit glücklich wird. Immerhin hatte sie große Pläne. Ich glaube nicht, dass sie jemals so von mir enttäuscht war, wie sie es jetzt sein wird.“
„Sato-chan, es tut mir leid. Wäre ich nicht gewesen, wäre all das nie passiert.“
„Ach, Ai-chan, das ehrt dich. Ehrlich gesagt freue ich mich sogar schon irgendwie darauf das Ergebnis zu sehen. Nur meine Mutter wird äußerst bekümmert darüber sein.“
„Ich denke, wir drei werden das Kind zusammen sicher schaukeln. Und wenn es hart auf hart kommt, passt sicher Ai auch gerne einmal darauf auf. Quasi als Patentante.“
„Wir reden hier aber schon noch über Shina-chans Wurf?! Aber mit den Kleinen spielen würde ich schon für mein Leben gerne. Wie sie wohl aussehen werden? Vielleicht bekommen sie ja Arabiki-kuns Schnäuzchen oder seine Öhrchen …“
Verwirrt?! Nun die Geschichte nahm ihren Anfang vor einigen Wochen, als Sato-chan wieder einmal mit einem Anliegen an mich herantrat …
„Bitte, Ai-chan, du musst mir diesen Gefallen einfach tun.“
„Es ist ja nicht so, dass ich dagegen bin, aber ich weiß nicht, was Arabiki-kun davon halten wird.“
„Arabiki-kun?“
„Mein Hund. Ich weiß nicht, was er davon halten würde.“
„Aber Shina-chan ist wirklich pflegeleicht und eine Seele von Tier. Außerdem steht sie sogar auf der Liste[1].“
„Arabiki-kun kann aber nicht lesen. Außerdem wird ihm das vollkommen egal sein.“
„Ich kann sie nur jemandem anvertrauen, der zu einhundert Prozent zuverlässig ist.“
„Und da kommst du auf mich?! Was ist mit Masao?“
„Du weißt doch, wie ich zu ihm stehe. Ich traue mich nicht ihn darum zu bitten. Shina-chan ist für meine Mutter quasi eine zweite Tochter. Wenn sie sie nicht in guten Händen weiß, fällt unser Familientreffen bei meiner Großmutter flach.“
„Bring sie doch einfach mit. Du sagst doch selbst, sie sei deine Schwester.“
„Großmutter reagiert aber leider allergisch auf Hunde. Da können sie noch so sehr ein Familienmitglied sein.“
„Und es ist wirklich nur über das Wochenende?“
„Wah! Ai-chan, du bist wirklich die Beste.“
Sato-chan fiel mir stürmisch um den Hals.
„Moment, ich habe noch nicht … na gut.“
So kam es, dass meine Familie über das Wochenende um ein viertes Mitglied anschwoll. Bereits der Abschied von Sato ließ Shina-chan Rotz und Wasser heulen. Sie musste sich ungefähr so fühlen, wie ein reiches Stadtkind, das den Sommer bei den ärmlichen Großeltern auf dem Land verbringen sollte, denen es noch nie begegnet war. In erster Linie fürchtete sie wohl um ihren hohen Lebensstandard bei uns. Shina war ein reinrassiger Shiba Inu, also quasi von Adel und damit etwas Besseres als meine Familie. So sollte sie auf Anweisung von Satos Mutter auch behandelt werden.
„Arabiki-kun, kommst du mal? Wir haben Besuch.“ Sofort stürmte Arabiki-kun das Wohnzimmer, in welchem Shina-chan ihr Wochenende bei uns hauptsächlich verbringen würde. Die Anwesenheit eines weiteren Hundes schien ihm sichtlich zu gefallen und er lief wie von Sinnen um unseren Gast herum um ihn ausgiebig zu beschnuppern. Die bairische Herzlichkeit, die Arabiki-kun aus seiner Heimat bei uns eingeführt hatte, vertrug sich nicht so ganz mit der kühlen Vornehmheit, die Shina-chan gewohnt war. Vielleicht war sie aber auch einfach nur eine Rassistin, für die auswärtige Rassen nichts galten oder die ebenso auf der Liste aufgeführt sein mussten wie sie selbst. In den nächsten Tagen würden wir uns sicher ein Bild davon machen können, wie ihre Seele tatsächlich gestrickt war. Jedenfalls setzte sie erneut zu einem lauten Wolfsgeheul an, in das Arabiki-kun pflichtbewusst miteinstimmte, als wäre Vollmond. Erst als wir mit Arabiki-kun den Raum verließen, bekam sich die höhere Tochter wieder ein.
„Großmutter, es tut mir leid. Wenn ich das im Vorhinein gewusst hätte …“
„Hättest du das Tier trotzdem bei uns wohnen lassen. Ich kenne dich doch. In dem Punkt schlägst du ganz nach mir. Ich hatte ja auch reichlich Probleme damit Arabiki-kun von Deutschland nach Japan zu überführen, als er mir bei meiner Reise durch Deutschland über den Weg gelaufen war. Er war vollkommen verschmutzt, aufdringlich und niemand anders wollte ihn haben. Trotzdem habe ich mich seiner angenommen und ihm eine Heimat gegeben. Und sieh in dir heute an.“
„Hast du mich etwa aus ähnlichen Beweggründen bei dir aufgenommen?“
„Red keinen Unsinn, Kind. Du bist Verwandtschaft. Manchmal glaube ich es war Schicksal, dass wir uns damals begegnet sind.“
„Warst du nicht nur dort um das deutsche Bier vor Ort zu verkosten?“
Großmutter lachte herzlich auf.
„Das eine schließt das andere ja nicht aus. Außerdem bin ich dort auch in einem Biergarten jemandem begegnet, der dort …“
Ich legte meinen Zeigefinger auf ihren Mund um sie von einer Fortführung ihrer Geschichte zum Schweigen zu bringen.
„Ist schon gut. Ich glaube, mehr Informationen brauche ich gar nicht. Vergiss nicht, für mich gilt noch der Jugendschutz.“
„Was du immer gleich denkst … Auch in dem Punkt scheinst du nach mir zu schlagen.“
Ich konnte nicht anders als mich schamesrot abzuwenden. Wie gut, dass Shina-chans Mutter … will sagen Frauchen, nicht wusste, wie es bei uns zuweilen zuging.
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Shina-chan war nun schon einige Stunden bei uns und hatte nichts anderes getan als Wasser zu trinken. Demzufolge war sie fällig für einen Spaziergang. Allerdings war mir nicht wohl dabei, Shina‑chan und Arabiki-kun gleichzeitig zu beaufsichtigen. So war ein Anruf nötig, bei einem lieben Freund. Es tutete, dann nochmals dann vernahm ich eine weibliche Stimme.
„Takahashi?“
„Guten Tag, Frau Takahashi, hier spricht …“
„Ai-chan, wie schön.“
Frau Takahashi sagte dies derart erfreut, dass die Lautstärke beinahe auch ohne Telefon übertragen worden wäre.
„Ai-chan, wie geht es dir? Du warst schon so lange nicht mehr bei uns. Mein Faulpelz von Sohn sollte dich viel öfter mitbringen.“
„Frau Takahashi, wegen ihrem Faulpelz … ähm Sohn rufe ich eigentlich …“
„Du sollst mich doch Marie-chan nennen. Kannst du dir vorstellen, dass er mir noch immer kein Mädchen mit nachhause gebracht hat? Siebzehn Jahre und alles was ihn interessiert ist zweidimensional.“
Sollte ich ihr sagen, dass es da ein Mädchen gab, das sich heftig für ihren Sohn interessierte und gar nicht mal ein schlechtes? Nein, das brächte Masao und Sato-chan wahrscheinlich nur Scherereien. Wenn die beiden zusammenkommen sollten, erführe sie es noch früh genug. Ansonsten gäbe es wahrscheinlich nur eine Riesenenttäuschung.
„Weißt du, ich habe immer gehofft, dass du vielleicht mit ihm …“
Frau Takahashis Japanisch wurde zuweilen von einem starken Wiener Akzent begleitet, aber leider verstand ich gerade ganz gut, worauf sie hinauswollte.
„Frau Takahashi, Marie-chan …“
Aus Verlegenheit druckste ich herum. Dabei war mein Anliegen ganz unverfänglicher Natur.
„Ich wollte Masao eigentlich nur fragen, ob er Lust hätte mit Shina-chan …“
„Shina-chan? Ein Mädchen? Ich schicke ihn sofort rüber.“
Ohne sich zu verabschieden legte sie sofort auf. Es war wirklich unpraktisch, dass Masao über kein eigenes Handy verfügte. Selbst ich besaß eines. Dabei hätte ihm seine Mutter jederzeit ein eigenes besorgt. Nur für die Rechnung hätte er selbst Verantwortung zeigen müssen. Da er all sein Geld aber für Manga und Anime aufwendete war dies keine Option. Vielleicht sollten wir wieder ein Büchsentelefon zwischen unseren Zimmern spannen, wie wir es schon als Kinder taten. Dann käme ich um das Gespräch mit „meiner Schwiegermutter“ herum. Was Masao wohl dachte, wenn seine Mutter ihn mit völlig konfusen Informationen zu mir herüberschickte?
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„Konntest du meiner Mutter nicht gleich sagen, dass Shina-chan ein Hund ist? Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte unsere Verwandten benachrichtigt. Wahrscheinlich schmiedet sie bereits Hochzeitsvorbereitungen. Wenn ich ihr nachher die Wahrheit sagen muss bricht für sie glatt die ganze Welt zusammen.“
„Tut mir leid, aber du weißt ja selbst am besten wie sie sein kann, wenn es um dich geht. Sie hat mich gar nicht ausreden lassen.“
„Sie ist ja selbst schuld. Wenn sie mir zugestehen würde, sich die Dinge in meinem Tempo entwickeln zu lassen, dann …“
„Sei mir nicht böse, aber dein Tempo kann sich manchmal ganz schön in die Länge ziehen.“
„Aber es ist absolut zielführend. Trotzdem schuldest du mir dafür was. Meiner Mutter das Herz zu brechen ist kostenpflichtig.“
„Ich weiß, dass wird mich mit Sicherheit mehr als ein paar hundert Yen kosten, aber meinetwegen. Lass nur meine Seele unbeschadet.“
„…“
„Masao?!“
„Nur ein Witz. Eigentlich ist es sogar ganz schön einfach so einen Spaziergang zu machen. Shina‑chan ist wirklich brav.“
„So verhält sie sich eigentlich erst, seitdem du ihre Leine übernommen hast. Wie wäre es, möchtest du sie nicht gleich über das ganze Wochenende …“
„Meine Mutter ist leider allergisch. Außerdem hat Sato ausdrücklich dich ausgewählt.“
(Masaos Mutter hatte tatsächlich eine Allergie gegen Tierhaare. Das hatte ich vollkommen verdrängt.)
„Nur weil sie sich dich nicht fragen getraut hat. Shina-chan ist ganz verrückt nach dir. Darin unterscheidet sie sich nicht …“
„Hm?“
Hoppla, da wäre mir fast etwas herausgerutscht. Klar, mittlerweile war ich mir sicher, dass Masao Sato-chans Geständnis mir gegenüber mitgekriegt hat. Wenn er aber nicht von sich aus darüber sprach stand es mir nicht zu ihn seiner Gefühle wegen auszufragen. Sato dachte ja wahrscheinlich, dass ihre Gefühle für Masao ein Geheimnis zwischen ihr und mir wären. Keine Ahnung, wie sie reagierte, wenn Masao ihr Geheimnis kannte. Aber wenn er es kannte, wieso unternahm er nichts? War es das, was er unter seinem „eigenem Tempo“ verstand? Mir gegenüber hatte Shina-chan jedenfalls Vorbehalte und Masao schätzte sie. In letzterem Punkt stand sie „ihrer Schwester“ in nichts nach.
„Wie steht eigentlich Arabiki-kun zu eurem Gast?“
„Er hat sich über das Kennenlernen sehr gefreut. Leider hat sie wohl einen gewissen Standesdünkel.“
„Wer weiß, ob sich das nicht ändert?! Es kann schon vorkommen, dass sich manchmal zwei Charaktere näherkommen, die auf den ersten Blick so gar nicht zueinander passen. So wie Wailord und Eneko.“
Wieder einmal ein Vergleich aus der Pokémon-Welt. Wenn ich mich richtig erinnerte, war ersteres ein riesiger Walfisch und letzteres ein zartes Kätzchen. Wollte er mir jetzt Hoffnung machen oder sprach er von Sato und sich? Ich nahm wohlwollend an, dass er beide Themen abdeckte.
„Deine Worte tun manchmal richtig gut, Masao.“
„Nur manchmal? Du könntest viel öfter von meiner Weisheit profitieren, wenn du mir richtig zuhören würdest.“
„Masao, Shina-chan hat da etwas hinterlassen, in das du von mir aus gerade gerne reintreten könntest …“
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Wieder zuhause machte ich mich daran, das Abendessen für Shina-chan und Arabiki-kun herzurichten. Auf dem Spaziergang hatten sich die Beiden tüchtig entleert, sodass jetzt Platz für Neues war. Arabiki-kun bekam seine übliche Auswahl aus herkömmlichem Nass- und Trockenfutter, für Shina‑chan war eine Edelmarke vorgesehen. Dessen Qualität überstieg allein von Aussehen her bereits jene meines Essens. Damit Arabiki-kun nicht eifersüchtig wurde oder sich einen luxuriösen Geschmack aneignete bekam er sein Futter wie gewohnt in der Küche. Für Shina-chan deckte ich im Wohnzimmer auf. Doch die Gute zeigte keinerlei Ambitionen sich an ihrem Menü zu delektieren. Vielmehr nahm sie neuerlich nur ein paar Schlucke Wasser und legte sich dann in ihr Körbchen.
„Ach Shina-chan …“, seufzte ich. „Vermisst du deine Familie tatsächlich bereits so sehr? Wenn man sich erst einmal an mein Zuhause gewöhnt hat, ist es wirklich gar nicht einmal so schlecht.“ Daraufhin begann Shina-chan zu fiepen, als wollte sie mit einem „Doch!“ kontern. Es war zwar nicht sonderlich erfolgversprechend, aber vielleicht konnte Arabiki-kun Shina-chans Appetit ein wenig anstacheln. Wenn er begänne von ihrem Futter zu nehmen, würde sie das vielleicht motivieren, selbst ein paar Happen zu verspeisen. Futterneid gab es ja auch bei menschlichen Kindern. Das Risiko, dass Arabiki‑kun dann nur noch derlei Qualität erwartete musste ich in Kauf nehmen. Alles war besser, als einem Tier dabei zuzusehen wie es traurig vor sich hinvegetierte.
„Arabiki-kun, kommst du bitte mal?“ Er war wirklich ein sehr folgsames Tier und man musste ihn nur selten ein zweites Mal bitten, wenn man nach ihm rief. So schlenderte er gemütlich zu uns ins Wohnzimmer und leckte sich genüsslich über das Maul. Ihm hatte es offenkundig geschmeckt. „Sieh mal, Arabiki-kun, Nachschlag.“ Er schnüffelte kurz am Luxusmenü und schnaubte dann verächtlich.
„Unser Arabiki-kun ist eben bodenständig.“, sagte meine Großmutter. „Er hat nicht vergessen wo er herkommt.“
„Trotzdem. Auch unsereiner weiß doch alle Jubeljahre ein vornehmes Menü zu schätzen. Außerdem soll er Shina-chan eifersüchtig machen und sie nicht in ihrer Ablehnung bestärken.“
„Vielleicht gehen wir die Sache aber auch grundverkehrt an.“
Großmutter stand auf und ging in die Küche. Als sie wiederkam trug sie zwei Arabiki-Würste[2] in ihren Händen. Sie brach sie in mehrere kleine Stücke und gab davon Arabiki-kun. Die restlichen hielt sie Shina-chan unter die Nase. Vermutlich war ihr derart ordinäre Kost noch nie angeboten worden. Was musste sie von uns denken? Obwohl Arabiki-kun bereits gut gefressen hatte nahm er sich seinen Anteil an der Wurst sofort zur Brust und verspeiste sie mit großem Genuss. Shina-chan schien dagegen nicht zu wissen, was sie von Großmutters Angebot halten sollte. Erst leckte sie vorsichtig daran, dann noch einmal, es folgte ein vorsichtiger Biss und dann wurde es sogar ein ganzer Haps. Sie hatte wohl derlei profane Kost noch nie probiert, aber sie stieß auf Zustimmung. Kurz nach dem ersten Biss hatte sie auch schon ihren Anteil komplett verschlungen und forderte mehr. Es war großartig zu sehen, wie die Hündin ihre Lebensfreude wiedergewann. Sie bellte freudig und sprang hechelnd umher. Schließlich leckte sie meiner Großmutter sogar das Gesicht.
„Ist ja schon gut, meine Kleine. Habe ich es mir doch gleich gedacht: egal wie vornehm seine Erziehung auch sein mag, im Endeffekt bleibt ein Hund eben doch immer noch ein Hund.“
„Gut, dass wir wegen Arabiki-kun immer solche Würste auf Vorrat haben.“
Was wohl Frau Sato davon halten mochte, wenn wir ihr ihren Hund derart verdorben zurückgaben?
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Nachdem wir sie noch mit ein paar Würsten gefüttert hatten verlief die Nacht mit beiden Hunden ohne größere Vorkommnisse. Im Gegenteil, als ich am Morgen aufstand waren Arabiki-kun und Shina‑chan ein Herz und eine Seele. Es gab keine Spur mehr von irgendwelchem Standesdünkel. Beide fraßen abwechselnd aus Arabiki-kuns Napf Trockenfutter einer billigen Marke. Es war nicht so, dass ich kein besseres kaufen wollte, aber er bestand auf diesen Hersteller. „Auch Einfaches hat seinen Wert. Stimmt’s, Shina-chan, diese Art ‚Luxus‘ war dir bis gestern fremd.“ Als hätte sie mich verstanden, bellte sie einmal fröhlich. Wahrscheinlich aber reagierte sie nur auf ihren Namen. „Wollen wir Masao fragen, ob er nachher wieder mit uns spazieren gehen möchte?“ Erneut bellte Shina-chan fröhlich. Dabei hatte ich ihren Namen diesmal gar nicht in den Mund genommen. Vielleicht verstand sie tatsächlich mehr von der menschlichen Sprache, als man gemeinhin annehmen sollte.
Noch bevor ich mein Handy nehmen und mich bei Masaos Mutter für das gestrige Missverständnis entschuldigen konnte, klingelte es bereits von selbst. Es war tatsächlich Masao und ich atmete erleichtert auf.
„Guten Morgen, Masao.“
„Was soll an dieser Uhrzeit gut sein?“
Am Wochenende schlief Masao gern bis in die Puppen, nachdem er sich die Nacht mit irgendwelchen Animes um die Ohren geschlagen hatte. Insofern war sein Anruf um diese Zeit tatsächlich für mich ein Novum.
„Ähm … wenn du schon wach bist, würdest du …“
„Was glaubst du warum ich dich anrufe? Ich komme gleich rüber.“
„Ist das Radio nicht ein wenig laut?“
Im Hintergrund vernahm ich deutlich das Spiel von Violinenklängen.
„Das ist kein Radio.“
Dann legte Masao ohne ein weiteres Wort auf. Shina-chan hatte Masaos Stimme sofort wiedererkannt und wedelte aufgeregt mit ihrem Schwanz. Irgendwas musste Masao an sich haben, was die Frauen der Sato-Familie offenkundig ansprach. Ich dagegen war gegen seinen Zauber immun. Auch Arabiki-kun erkannte was die Stunde geschlagen hatte und ließ sich wie seine Freundin ohne Widerworte die Leine anlegen.
Es klingelte. „Na komm, begrüß Masao gleich ordentlich. Dann bekommt er sicher bessere Laune.“ Nachdem mein „Guten Morgen“ am Telefon nicht auf Gegenliebe stieß wollte ich es ihm nun persönlich dermaßen um die Ohren schleudern, dass er gar nicht anders konnte, als von unserem Frohsinn angesteckt zu werden.
„Ich wünsche dir einen guten Morgen, Masao. Es freut mich wirklich riesig dich zu … Wie siehst du denn aus?! Was um alles in der Welt ist dir denn zugestoßen?!“
„Du und Shina-chan. Und dann noch meine Mutter.“
„Komm erst mal rein und dann erzählst du mir alles der Reihe nach.“
Shina-chan machte Masaos heruntergekommenes Aussehen nichts aus und sie sprang freudig an seinem Bein empor. Dies beendete sie erst, als Masao auf einem Stuhl Platz genommen hatte.
„Dann erzähl mir mal, was vorgefallen ist.“
„Ich kam gestern nach unserem Spaziergang nachhause, da fiel mir meine Mutter um den Hals. ‚Wer ist sie? Welche Schule besucht sie? Wie sieht Shina-chan überhaupt aus und wie alt ist sie? Ist sie groß oder eher klein? Schlank oder eher mollig? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!‘ Sie stellte mir die ganzen Standardfragen halt. Als ich ihr wahrheitsgemäß antwortete, dass Shina-chan mir, wenn sie sich langmachte, gerade bis zur Hüfte ging und etwa drei Jahre alt war sah sie mich kurz so an, als wäre ich ein Unhold. Erst als ich sie darüber aufklärte, dass es sich bei meinem ‚Date‘ um einen Hund handelte konnte sie ihren Blick wieder erleichtert von mir nehmen. Das wäre an sich noch nicht so schlimm gewesen. Ich enttäusche sie in dieser Hinsicht ja ständig. Dann kam der Anruf von meinem Vater.“
„Den habe ich ja schon länger nicht mehr gesehen.“
„Meine Mutter auch nicht. Deswegen ja der Anruf. Seine Geschäftsreise wird sich um zwei Wochen verlängern. Es gibt da Probleme mit irgendwelchen Verträgen. Das war der zweite Tiefschlag an diesem Tag für meine Mutter. Und wenn es ihr schlecht geht, dann …“
„… packt sie ihre Violine aus. Marie-chan spielt aber doch ausgezeichnet. Mir hat immer gefallen, wenn sie musiziert.“
„Das Problem ist aber nicht die Qualität, sondern die Uhrzeit. Die halbe Nacht und dann wieder heute Morgen ab sechs Uhr. Das verträgt sich nicht mit meinem Schlafrhythmus an Wochenenden.“
„Darum wirkst du so … abgenutzt.“
„Abgenutzt? Bin ich für dich bloß ein Gebrauchsgegenstand?“
„Mehr so etwas wie eine weise Eule, die immer zur Stelle ist, wenn ich Rat brauche. Irgendwie erinnerst du mich optisch auch ein wenig an ein Schnabeltier.“
Masao dachte kurz über meine Worte nach, bevor er antwortete.
„Soso. Ich bin aber in jedem Fall ein Tier, das sich von Ungeziefer ernährt.“
„So war das nicht gemeint. Eigentlich habe ich mich mehr an deinem Charakter orientiert.“
„Lass uns lieber losgehen, bevor du mir noch mehr Komplimente machst.“
„Du hast heute keinen Nerv für meinen Humor, oder?“
Hatte er wirklich nicht.
„Komm, wir gehen. Ich lade dich unterwegs auch auf ein Getränk aus dem Automaten ein.“
So dackelten wir los. Ich wurde von Arabiki-kun gezogen, Shina-chan folgte uns elegant an der Leine tänzelnd mit Masao.
Den Weg war ich schon wer-weiß-wie-oft alleine mit Arabiki-kun gegangen, mit zwei Hunden allerdings kam er mir irgendwie lebendiger, einfach fröhlicher vor. Auch wenn Masao schlechte Laune mitgebracht hatte, so kam er mir mit jedem Meter wieder zugänglicher vor. Eigentlich liebte er Tiere genauso sehr wie ich. Seine Mutter war aber, wie gesagt, gegen Tierhaare allergisch. So bekam er als kleiner Junge statt dem heißersehnten Hund nur einige Goldfische. Schön anzusehen, ja, aber dennoch mehr etwas für ältere Erwachsene. Ich dagegen hatte schon als Kind einen Kater. Das Tier, und nicht Nebenwirkungen vom Alkoholkonsum. Der alte Käpt‘n hatte mein Bett stets zu seinem Lieblingsplatz erkoren, außer im Sommer. Da lag er lieber auf der Veranda. Ansonsten konnte man aber toll mit ihm spielen. Den roten Punkt des Laserpointers zu jagen war sein Lebenszweck. Als er älter wurde ließen seine Jagdinstinkte zwar nach, aber hin und wieder brachte er uns noch Beute von seinen Jagdausflügen mit. Irgendwann fand Großmutter ihn im Gebüsch liegend, so, als wäre er friedlich eingeschlafen. Er war, als er uns zugelaufen ist, wohl bereits älter, als wir angenommen haben. Wenn ich jetzt, viele Jahre später, noch an ihn zurückdenke, laufen mir immer noch bittersüße Tränen das Gesicht hinab. Heute habe ich zwar Arabiki-kun an meiner Seite, aber dennoch vermisse ich den alten Käpt’n. Möge seine Seele Frieden gefunden haben.
„Geht es dir nicht gut? Du bist so ungewohnt still. Anders als sonst, wenn wir etwas zusammen unternehmen.“
„Mir geht es gut. Ich habe nur gerade seit längerem wieder an mein altes Haustier denken müssen. Du weißt schon.“
„Den Käpt’n?! Dafür, dass kein Gewässer in der Nähe war, war er ganz verrückt nach Fisch. Der hat meine Mutter mehrmals einer Ohnmacht nahegebracht, weil er nicht nur bei euch mit seinen Jagderfolgen angeben wollte. Mann, was hat meine Mutter ihn dafür mit Flüchen bedacht. Zum Glück auf Wienerisch, also hielt sich der Schaden bei unseren Nachbarn in Grenzen.“
„Aber so sind Katzen nun einmal. Mir als Tierfreundin wäre es persönlich auch jedes Mal lieber gewesen, wenn er mit seiner Futterration zufrieden gewesen wäre. Zur Gänze konnte er seine Vergangenheit als Streuner nie ablegen.“
„Der Fairness halber bin ich bereit ihm seine Vorteile zuzugestehen.“
„Vorteile?“
„Naja, der Käpt’n hat sich immer selbst seine Körperpflege besorgt. An Shina-chan haben wir uns gestern beinahe wund gebürstet. Außerdem besaß er im Gegensatz zu ihr nur emotionalen Wert. Und was am Wichtigsten ist …“
„Hm?“
„Er hat seine Häufchen selbst entsorgt. Arrgh!“
Ich musste leise kichern. Zugegeben, die Hinterlassenschaften seines Hundes zu entsorgen gehörte zu den eher unangenehmen Seiten eines Tierbesitzers. Aber da musste er eben durch. Sein Kindheitstraum eines Hundes hatte sich zwar erfüllt, aber ein Tier bedurfte eben mehr als nur Spiel und Spaß.
„Halte durch. Wenigstens bekommst du gleich dein versprochenes Getränk. Was soll es denn sein?“
„Am besten Hochprozentiges um meine Hände zu desinfizieren.“
„Ich hole uns lieber zwei Säfte. Die bekommen uns beiden besser.“
Der Automat stand etwas abseits von unserer Route neben einem Spielplatz. Hunde waren dort ungern gesehen, weswegen Masao kurz beide überwachen musste. Bei zwei so braven Exemplaren war das selbst für einen ungeübten Halter kein Problem. Vor mir stand noch eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn, der sich nicht entscheiden konnte.
„Möchtest du lieber Apfel oder Johannisbeere?“
„Lieber Orange, Mama.“
„Orange gibt es hier leider nicht, Shinichi. Oder möchtest du vielleicht lieber kühlen Tee?“
„Nein … ja … vielleicht. Eigentlich will ich erst noch einmal auf die Schaukel. Komm, Mama.“
Shinichis Mutter seufzte einmal auf. Schließlich gab sie aber auf und folgte ihrem Kleinen zu dem Spielgerät. Auch wenn sie einem manchmal auf die Nerven gehen konnten, waren Kinder etwas Tolles. Später wollte ich unbedingt selber welche haben. Am liebsten ein Mädchen und einen Jungen. Nur die Reihenfolge war noch unklar. War eine große Schwester oder ein großer Bruder besser? Da ich selbst gerne eine ältere Schwester gehabt hätte tendierte ich eher dazu. Aber einen großen Bruder hätte ich sicher genauso liebgewonnen. Naja, immerhin hatte ich Masao. Aber man stelle sich vor, Großmutter hätte neben mir auf noch ein Kind achtgeben müssen. Wie hätte mein Leben wohl ausgesehen, wenn ich mit Geschwistern oder überhaupt bei Mama aufgewachsen wäre? Es fehlte mir bei Großmutter an nichts, aber manchmal stellte ich mir halt solche Fragen. Shinichi würde sich später einmal nicht solchen Fragen aussetzen.
Was das Angebot meiner Mutter anging, so hatte ich noch immer keine Entscheidung fällen können. Es klang wundervoll, mehr Zeit mit ihr verbringen zu können und später Seite an Seite zu arbeiten. Meine Zukunft stünde damit auf grundsoliden Beinen. Und doch wusste ich nicht, ob ich meine Zukunft in der Wirtschaft sah. Mir lagen die Natur und das was sie bewirkte nun einmal näher als der Unterschied zwischen roten und schwarzen Zahlen. Andererseits wusste ich nicht wie meine Leidenschaft mir später einmal meine Brötchen finanzieren sollte. Als mögliche Wissenschaftlerin einen halbwegs gut dotierten Posten zu bekommen war sicher nicht leicht. Solche Stellen waren in der Regel heiß umkämpft und Konkurrenzkampf lag mir gar nicht. Dazu kam, dass meine Mutter mich wirklich nie um etwas bat. Ach, was dachte ich da nur wieder? Eine Entscheidung zu treffen war mittelfristig unumgänglich. Aber im Moment hatte ich wirklich andere Sorgen. Ich klatschte mir mit meinen beiden Händen mehrmals ins Gesicht um meinen Trübsinn zu vertreiben. Leider übertrieb ich es ein wenig. Von den Geräuschen, die dabei entstanden, zog ich die Aufmerksamkeit von Shinichi und seiner Mutter auf mich. „Schau mal, Mama. Das Mädchen da haut sich selbst.“ Keine Ahnung, ob mein Gesicht nun von meinen Handlungen oder der Scham gerötet war. Schnell zog ich die Säfte aus dem Schacht und machte mich schnellen Schrittes davon.
„Bist du gerannt oder warum ist dein Gesicht so rot?“
„Hier dein Saft. Komm. Wir müssen weiter.“
„Was soll die plötzliche Eile? Kann ich nicht wenigstens vorher noch einen Schluck … He, hör auf mich zu ziehen.“
Ich packte Masao am Ärmel und machte mich schnellstens davon, bevor noch mehr Familien vom Spielplatz auf mich aufmerksam wurden. Vielleicht zog ich damit aber erst recht die Blicke auf mich als sowieso schon.
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Abgesehen davon verlief das Wochenende ansonsten ohne besondere Umstände. Meine Familie stellte sich darauf ein, sich bald von unserem Hausgast zu verabschieden. Wenn man vom Anfang absah war Shina-chan eine sehr angenehme Besucherin gewesen, die sicher eine gewisse Lücke hinterlassen würde. Ich hoffte, dass auch Sato, und vor allem ihre Mutter, mit Shina-chans Zustand zufrieden sein würden. Ich persönlich sah keinen Unterschied zu vorher, aber wer war ich das zu beurteilen? Pünktlich wie die Maurer stand Sato vor unserer Haustür um ihre „Schwester“ wieder in Empfang zu nehmen.
„Ai-chan, Shina-chan sieht …“
„Ja?“
In Gedanken machte ich mich schon bereit, das Land verlassen zu müssen.
„… wirklich hervorragend aus. Sie scheint sogar ein wenig an Gewicht zugelegt zu haben. Dabei frisst sie bei uns sonst nur wie ein Spatz. Meine Mutter hat sich schon ernsthaft Sorgen um sie gemacht. Dabei kauft sie jetzt schon das beste Futter, das für Geld zu haben ist.“
„Naja …“
„Wie hast du das bloß hingekriegt?! Shina-chan hat so viel Lebensfreude, dass ich sie kaum wiedererkenne.“
„Arabiki-kun hat auch ganz erheblich dazu beigetragen. Vielleicht fehlte ihr einfach ein ebenbürtiger Spielkamerad?!“
„Darf ich sie, wenn es nötig ist, wieder zu euch bringen? Meine Mutter wollte sie erst in eine teure Hundepension geben, aber was sie hier erhalten hat, ist scheinbar mit Geld gar nicht aufzuwiegen.“
„Och, so teuer sind die Würste nicht.“
„Wie? Ach, Shina-chan, ich freue mich ja auch dich wiederzusehen.“
War Satos Familie etwa wohlhabender als ich annahm? Ich hätte sie gern danach gefragt, aber über Geld zu reden schickte sich unter Freunden nicht. Shina-chan sprang an Sato entlang, als hätte sie ihre Ziehschwester ein Jahr lang nicht gesehen. Dabei war es bloß ein Wochenende. Aber ich selbst fühlte mich daheim ja auch immer am wohlsten. Das hatten wir beide gemein.
Shina-chan begann nun Satos Hand freudig erregt abzulecken. Offenkundig erwartete sie jetzt auch von ihrer richtigen Familie eine Arabiki zu erhalten. Ich wusste nicht, wie ich Sato das erklären sollte. Sie war ein bodenständiges Mädchen und hätte vermutlich keine Probleme mit der gelegentlichen Ernährungsumstellung gehabt. Aber der Beschreibung ihrer Mutter nach wusste ich nicht, wie diese darauf reagieren würde. Sato wollte ich nicht zur Überbringerin dieser möglichen Hiobsbotschaft machen. Wenn Shina-chan die Nahrungsaufnahme daheim verweigern sollte würde ich ihr persönlich zum Kauf von Arabiki raten. Hoffentlich kam dieser Tag nie … Dennoch würde es mir fehlen einen zweiten Hund im Haus zu haben. Arabiki-kun schien es da ähnlich zu gehen. Er fiepte leise als die Stunde des Abschieds geschlagen hatte.
Ein paar Tage später klingelte das Telefon. Sato war dran. Im Hintergrund heulte Shina-chan wieder wie ein Wolf bei Vollmond.
„Ai-chan, es ist furchtbar. Shina-chan will partout nichts fressen. Egal, was wir ihr servieren, sie will nichts davon haben. Könntest du nicht bitte bei uns vorbeikommen? Vielleicht sind es du und Arabiki‑kun, die sie so sehr vermisst, dass sie nichts essen mag.“
Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Ich schluckte mehrmals und sagte dann zu.
„Ist gut. Ich mache mich sofort auf den Weg.“
„Vielen Dank, Ai-chan. Du bist wirklich ein Schatz!!! Bis gleich.“
„Großmutter, ich muss los. Übrigens: Haben wir noch Arabiki-Würste?“
„Ja, noch einige. Grüß Shina-chan von mir.“
„Woher weißt du, dass es nicht um Arabiki-kun geht?!“
„Ich hab‘ einfach gut geraten …“
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Ich war so in Gedanken versunken, dass ich beinahe nicht einmal merkte, wie ich mit meinem Fahrrad am Haus der Familie Sato ankam. Sicherheitshalber prüfte ich noch meinen Atem, bevor ich an der Haustür klingelte. Das Haus war von prächtiger Art und mein Zuhause hätte wohl gut Platz darin gefunden (mit dem Garten). Ich hörte bereits Shina-chan laut aufheulen und Schritte, die sich der Haustür näherten.
„Ai-chan, endlich. Wie schön, dass du gekommen bist. Wir wissen bei Shina-chan bereits weder ein noch aus. Hoffentlich gelingt es wenigstens dir sie wieder einigermaßen zu beruhigen. Was hast du denn da mitgebracht?! Sind das etwa …“
Ich nickte vorsichtig, bevor ich mit der Wahrheit herausrückte.
„Ja … eine Packung Trockenfutter von unserer Hausmarke und … eine Portion Arabiki-Würste. Frisch vom Metzger …“
Von hinten trat Satos Mutter an uns heran. Als sie mitbekam, wie sich ihr geliebtes Tier zu ernähren wünschte, fiel sie beinahe in Ohnmacht und wir mussten sie stützen.
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Aber genug davon. Kehren wir wieder zurück in die Gegenwart und zurück zu unserem Problem.
„Arabiki-kun ist ja wirklich süß, aber angesichts meiner Mutter sollten sie möglichst alle nach Shina‑chan schlagen. Ai-chan, du hast ja schon gesehen, wie entsetzt sie bereits auf ihre Ernährungsumstellung reagiert hat.“
„…“
„Habe ich vielleicht etwas Falsches gesagt, Ai-chan?“
„Ich meine ja nur. Nur weil jemand vielleicht optisch anders aussieht als es der Standard vorgibt, sind diejenigen nicht gleich weniger wert.“
„So war es doch überhaupt nicht gemeint. Meine Mutter kann ziemlich zick … schwierig sein, wenn es um Shina-chan geht. Erst recht, wo das Tier ungeplant Mutter wird. Ich will schließlich nur das Beste für alle Beteiligten.“
„Wenn deine Mutter einen Standesdünkel hat werde ich die Kleinen eben zu mir nehmen, wenn sie groß genug sind. Ich werde schon gute Besitzer für sie finden. Auch wenn sie von der Norm abweichen. Dann passen wir wenigstens gut zusammen.“
„Aber Ai-chan, du bist doch nicht … und auch die Hunde … Takahashi-kun, kannst du ihr bitte erklären, wo mein Problem liegt? Ich weiß vor lauter Aufregung schon gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht.“
„Ai, Sato denkt, dass niemand aufgrund seiner Optik weniger wert ist als andere. Aber Hundebesitzer wollen oft möglichst reinrassige Tiere in die Welt setzen, weil diese leichter einen Besitzer finden als Mischlinge. Schließlich kann man schlecht für einen ganzen Wurf dessen Lebtag lang alleine Sorge tragen. Verstehst du?“
„Das ist mir auch klar. Trotzdem sollte es aber nicht so sein. Immerhin ist es der Charakter, der zählt.“
„Dieses grundsätzliche Problem der Menschenwelt kriegen wir aber bis zur Geburt nicht mehr geklärt. Sato, wie lange ist es noch hin bis zum großen Tag?“
„Laut Tierärztin sind es noch ziemlich genau sechs Wochen. Das einzig Gute ist, dass ich mit Shina‑chan alleine bei der Tierärztin war. So kann ich es meiner Mutter nach und nach schonend beibringen.“
„Wenn wir zusammenhalten kriegen wir drei das schon irgendwie hin, nicht, Ai?“
„Natürlich. Ein Tier in Not lasse ich nicht im Stich. Dich selbstverständlich auch nicht, Sato. Auch wenn mir die Einstellung deiner Mutter gegen den Strich geht.“
„Vielen Dank, ihr seid die Besten. Komm, Shina-chan, lass uns gehen. Mutter wartet.“
„Richte ihr unsere besten Glückwünsche aus.“
Für diesen Satz bedachte Sato Masao mit einem Blick, den ich bei ihr noch nie gesehen hatte.
„Masao, bitte. Versuch nicht witzig zu sein. Dafür fehlt es dir einfach an Gespür.“
Masao wirkte daraufhin ein wenig eingeschnappt, aber das war im Moment unser geringstes Problem. Arabiki-kun wurde Vater mit einer Hündin, deren „Schwester“ und wir die Aufsichtspflicht vernachlässigt hatten. Auf jeden Fall verdienten es die Welpen ein gutes Zuhause zu bekommen. Wir konnten ja zunächst einmal in der Nachbarschaft herumfragen, wer überhaupt ein Tier zu adoptieren bereit wäre. Sicher gab es auch viele Menschen, die weniger elitär veranlagt waren als Sato-chans Mutter. Am liebsten hätte ich die Welpen tatsächlich allesamt zu mir genommen, aber das überstieg unser Haushaltsbudget bei weitem. Nein, ich würde mein Möglichstes tun, damit die Kleinen einmal einen guten Lebensplatz bekommen würden. Und wenn mir davon die Haare ausfielen. (Was Gott hoffentlich verhüten mochte.)
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Die Zeit verging und langsam war Shina-chans Bäuchlein unübersehbar. Laut Sato schrieb ihre Mutter es ihrer nun mangelhaften Ernährung mit Arabikis zu. Wir drei wussten allerdings, dass wir die gute Frau langsam über Shinas wahre Umstände aufklären mussten. Wie das Schicksal und der Zufall es wollten beging Satos Mutter dieser Tage ihr Wiegenfest. Gäbe es einen besseren Zeitpunkt sie in Kenntnis zu setzen?! Vielleicht, aber an diesem Tag erwartete sie Gäste und würde uns wegen unserer Verantwortungslosigkeit nicht zur Rechenschaft ziehen.
Für das Geschenk legten wir drei zusammen und besorgten einen Geschenkkorb mit wunderbarem Welpenspielzeug. Kleine Seile waren ebenso dabei, wie auch Bälle und Plüschtiere. Sogar ein kleiner Esel war vorhanden. Nur von Gummispielzeug sahen wir ab. Wenn mehrere Welpen gleichzeitig quietschende Geräusche erzeugten konnte das schon an den Nerven geduldiger Menschen nagen, geschweige denn an denen einer kapriziösen Frau wie Satos Mutter. Stattdessen gab es ein Hundebettchen in dem Shina und ihre Welpen gemeinsam ausreichend Platz finden würden. Unser Herz war am rechten Fleck, allerdings war nach wie vor fraglich wie Frau Sato die freudige Botschaft ihres Lieblings annähme. Auch wenn wir uns alle gleichermaßen schuldig bekannten konnte es gut sein, dass Sato-chan den Hauptteil abbekam. Immerhin war es ihre Idee die Aufsicht über den Augenstern einer verantwortungslosen Person wie mir zu übertragen.
Was, wenn ihre Mutter Sato den Umgang mit uns verbot? Mich würde sie sicher verschmerzen können, aber Masao wäre ein herber Verlust. Dagegen träfe es mich schmerzlich, wenn ich Satos Freundschaft verlöre. Wie man an Hideaki sah konnte Satos Familie extrem reagieren, wenn man ihren Wünschen zuwiderhandelte. Aber es gab keine Alternative zur Wahrheit. Schließlich würden die Welpen nicht ewig im Bauch ihrer Mutter Platz finden.
Masao und ich verabredeten gemeinsam zum Anwesen der Satos zu radeln. Auf seinem Gepäckträger montierten wir fachgerecht den Gabenkorb. Das Ganze war zwar trotzdem eine etwas wackelige Angelegenheit, aber die Befestigung hielt. Vor dem Haus rief ich Sato-chan auf dem Handy an, damit auch sicher sie die Tür öffnen und unsere Überraschung nicht zu früh platzen würde. Vorsichtig trug Masao den Korb auf Satos Zimmer. Für mich war es das erste Mal, dass ich ihre Räumlichkeiten zu sehen bekam. Wohl auch für Masao, aber solange ich dabei war ging es wohl in Ordnung, dass er sich darin aufhielt.
Ich weiß gar nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber auf jeden Fall hätte ich nicht gedacht, dass Sato ein Fan von Rockmusik wäre. Erst recht, nachdem sie mir einmal erzählt hatte, dass sie als Kind Violine gelernt hatte. Man sah es nicht auf den ersten Blick, aber auf das ganze Zimmer verteilt fanden sich immer wieder einzelne sorgfältig ausgeschnittene Zeitungsartikel, CDs und andere Devotionalien. Was das anging war Sato-chan wohl etwas altmodisch veranlagt.
„Ich hätte nie gedacht, dass …“
Masao! Bitte drück dich nicht falsch aus.
„… du ein Fan von X JAPAN bist. Ich bin zwar mehr ein Fan von Anime-Musik, aber die sind echt nicht schlecht. Auch wenn sie schon einige Jahre auf dem Buckel haben. Am besten gefällt mir von ihnen …“
„Masao, das ist jetzt nicht der passende Zeitpunkt.“
Es mochte kaltherzig wirken, eine Annäherung der beiden zu unterbinden, aber meine Nerven lagen blank.
„Entschuldigt, ich meine es nicht so. Aber ich bin ziemlich angespannt. Immerhin muss ich Angst haben, dass deine Mutter mir ins Gesicht springt, wenn wir Farbe bekennen.“
„Keine Sorge, ganz so schlimm wird es nicht. Am Wichtigsten wird es sein, eine Unpässlichkeit zu verhindern. Immerhin war es schon als sie von den Arabiki-Würsten erfuhr hart an der Grenze. Wesentlich ist auch, dass wir, vor allem du Ai-chan, schon potentielle Abnehmer für die Tiere gefunden haben. Das wird es ihr deutlich einfacher machen sich mit der Sache anzufreunden.“
„Wann denkst du sollten wir sie damit überraschen?“
„Ich denke, nachdem die anderen Gäste ihre Gaben überreicht haben kommen wir einfach dazu. Wenn sie das Spielzeug sieht wird sie selbst ihre Schlüsse daraus ziehen können.“
„Ganz wohl ist mir dennoch nicht. Immerhin haben Masao und ich nicht gut genug auf ihren Liebling aufgepasst. Da können wir wohl mindestens eine Standpauke erwarten.“
„Keine Sorge, zumindest heute wird das nicht der Fall sein. Immerhin sind andere Gäste zugegen. Außerdem achtet sie sehr auf ihre Wortwahl. Immerhin will sie einen gewissen Stand verkörpern. Normalerweise will ich nichts damit zu tun haben, aber heute ist es einmal von Vorteil.“
So warteten wir ab, bis unsere Zeit gekommen war. Mir war zwar ganz flau im Magen vor Aufregung, aber es schadete auch nicht, wenn mir einmal der Appetit ausblieb. Zur Unterhaltung hörten Masao und ich Musik von X JAPAN, Sato-chan half ihrer Mutter bei den letzten Vorbereitungen.
Langsam trudelten nach und nach die Gäste ein und man hörte von unten Stimmen miteinander sprechen. Auch Gläser wurden miteinander angestoßen und Gratulationen kommuniziert. Ich hatte keine Ahnung, wie alt Satos Mutter heute überhaupt wurde. Das zu fragen hätte der Anstand gebietet, aber in der Aufregung war dieses Thema gänzlich untergegangen. Schließlich wurde es vier Uhr und Masao und ich machten uns langsam bereit mit dem Präsent nach unten zu gehen. Es ist müßig zu sagen, dass auch wir beide uns zu diesem Anlass in Schale geworfen haben, auch wenn es vermutlich nicht dem entsprach, was Satos Mutter darunter verstand.
Das Schicksal wollte es, dass die gute Frau gerade von der Toilette kam. Etwas, von dem sie sicher nicht wollte, dass es jemand bemerkte. Sato-chan zögerte nicht lange und machte kurzentschlossen Nägel mit Köpfen.
„Mutter, darf ich dir meine Freunde vorstellen?! Ai Nakamura kennst du ja bereits und das ist Masao Takahashi. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen dir ebenfalls ihre Glückwünsche zu deinem Geburtstag zu entbieten.“
Frau Satos Blick nach zu urteilen hielt sie Masao und mich nicht einmal für wert ihre Schuhe zu putzen. Von daher hätte sie auch Amuro-sans Mutter sein können. Aber Masao war sich deswegen nicht fies davor sich vor sie hinzustellen und ihr mit einer Verbeugung zum Geburtstag zu gratulieren. Ich zog mit der gleichen Handlung nach.
Nach wie vor zeigte sie keinerlei ehrliche Anwandlung von Freude. Ihr Gesichtsausdruck hatte mehr etwas von „Haltet euch von meiner Tochter fern und verschwindet!“. Diesen Gefallen wollten wir ihr aber nicht tun. Schließlich nahm Sato-chan wieder die Sache in die Hand.
„Sieh nur, die Beiden haben dir sogar etwas mitgebracht. Eigentlich ist es ja für Shina-chan, aber wir wissen ja alle wie sehr du sie liebst.“
Man hörte Frau Sato regelrecht denken. Jetzt sah ihr Gesicht mehr nach „Das wird schon so ein Plunder sein. Womit habe ich das nur verdient?!“ aus. Nichtsdestotrotz holten wir unseren Präsentkorb hervor. Das Bettchen hatten wir der Einfachheit halber in Sato-chans Zimmer gelassen. Mit Argusaugen achtete sie darauf, dass wir auch ja nichts von ihrem ach so wertvollen Besitz berührten. Ob Amuro-san und Sato-chan bei der Geburt vertauscht worden waren?! Wirklich, es war unfassbar. Zwei Menschen, die sich wohl nie begegnet waren und sich dennoch charakterlich ähnelten. Wie das berühmte Ei dem anderen. Wir stellten den Korb auf einem Tischchen ab und waren auf alles gefasst. „Sieh doch nur, Mutter. Es kommt von uns allen.“ Die Höflichkeit zwang sie dazu sich mit dem Geschenk eingehender zu befassen. Ob sie es wollte oder nicht. Frau Sato ließ ihre Finger kurz über die einzelnen Bestandteile gleiten.
„Das ist nichts für meine Shina-chan. Derlei Plunder darf sie nicht in den Mund nehmen. Bestimmt ist es voller Chemikalien und schädlicher Stoffe. Meine Kleine bekommt nur Naturprodukte zum Spielen. Außerdem ist sie für derlei Zeug bereits viel zu groß. Das ist für Welpen.“
„Nun, Mutter, was das angeht …“
Ich hatte eine Heidenangst, fühlte mich aber dennoch in der Bringschuld, über Shinas Zukunft aufzuklären. Wenn sich Frau Satos Zorn entlud sollte es nicht Sato-chan sein, die ihn abbekam.
„Frau Sato, was wir ihnen sagen möchten … müssen … als Shina-chan zur Pflege bei mir war … ich habe auch einen Hund … einen Rüden … eines führte zum anderen … nun ja, sie verstehen sicher worauf wir hinauswollen. Die Natur geht eben manchmal ihre eigenen Wege.“
Die Augen der Hausherrin wurden mit einem Mal riesengroß. Im gleichen Ausmaß änderte sich ihre Gesichtsfarbe zu kalkweiß.
„Mutter, setz dich. Soll ich dir ein Mittel zur Stärkung bringen? Ich glaube, das wird dir guttun. Sieh mal, statt einer Shina hast du dann gleich ein paar.“
„Ooooooooooh. Wie konntest du nur, Shina-chan?“
Aufs Stichwort kam die Shiba Inu-Hündin angedackelt und setzte sich zu Füßen ihrer aufgewühlten Herrin. Frau Sato nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas, das ihre Tochter ihr gerade gebracht hatte. In ihm befand sich eine leicht bräunliche Flüssigkeit, die einen scharfen Geruch verströmte. Ich hatte keine Ahnung, was es war, aber die Tinktur verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Matriarchin bekam alsbald wieder Farbe im Gesicht. Auch schien sie langsam die Situation erfassen zu können.
„Nun gut. Ein Wurf reinrassiger Welpen ist nicht das Schlimmste, das passieren kann. Ich darf doch wohl annehmen, dein Tier besitzt einen Stammbaum?!“
„In erster Generation …“
„Auch das noch! Aber es ist doch wohl körperlich intakt. Welchen Wuchs hat es und welche Farbe weist sein Fell auf?“
„Arabiki-kun ist kerngesund. Er ist etwa 32 cm hoch, wiegt 6 kg und hat braunes Fell.“
„Kind, was redest du denn für einen Unsinn. Diese Daten passen doch niemals zu einem Vertreter der Shiba Inu. Dann noch dieser Name. Was du da beschreibst ist doch bestenfalls ein Dackel.“
„Rauhaar.“
„Wie bitte?“
„Arabiki-kun ist ein Rauhaardackel. Aber absolut treu ergeben und liebenswert. Wenn Sie wollen kann ich ihn ja einmal herbringen, damit sie sich selbst ein Bild von ihm machen können. Ich bin mir sicher, auch Shina-chan würde sich freuen ihn wiederzusehen.“
„Ein Dack … der Vater … um Himmels Willen. Wie soll ich das bloß erklären? Wie steht Shina-chan denn da? Und die Welpen. Was soll denn bloß aus ihnen werden? Was soll ich mit ihnen anfangen? Mir wird ganz anders …“
Damit stürzte sie sich auch noch den Rest der unappetitlichen Flüssigkeit die Kehle hinab. Was immer es auch war, es zeigte Wirkung. Zumindest hielt es sie davon ab in Ohnmacht zu fallen. Verständlich, dass es sie einige Nerven kostete, wenn ihr Liebling immer mehr auf ihren Status pfiff. Allerdings war es auch von einem Rassetier zu viel verlangt, dass es menschliche Sitte und Moral einhielt. Shina hatte es nun einmal mein Arabiki-kun angetan. Daran war nichts verkehrt. Nicht jeder konnte groß gewachsen und mit Stammbaum ausgestattet sein. Das tat dessen Wert keinerlei Abbruch. Gut, vielleicht erkannte ich in Arabiki-kuns Beschaffenheit auch etwas von mir selbst. Fakt war in jedem Fall, dass zwischen unseren Familien nun bald eine sichtbare Verbindung bestehen würde. Die Frau konnte froh sein, dass die Welpen von Arabiki-kuns gutem Charakter ebenso profitieren würden, wie von jenem Shinas. Überhaupt waren Nachkommen von einem derart liebenswerten Hund wie meinem gar nicht mit Geld aufzuwiegen. Wer sagte überhaupt, dass Shina‑chans Stammbaum gut genug war? Nein, das ging zu weit. Shina war ein toller Hund. Für ihr Frauchen konnte sie nichts. Den Rest aber würde ich ihr jetzt unverhohlen auf den Kopf zusagen.
„Hören Sie, …“
„Frau Sato, bitte gestatten Sie mir mich Ihnen in gebührender Form vorzustellen.“
Masao?!
„Mein Name ist Masao Takahashi. Ich bin ein Klassenkamerad Ihrer Tochter und der wohl beste Freund von Ai Nakamura. Mir oblag an jenem Tag kurzzeitig die Aufsicht über Arabiki-kun wie auch über Ihre geliebte Shina-chan. Ich weiß, Sie sehen es als unverzeihlich an, dass beide Tiere unter meinen Augen ihrer Sympathie Ausdruck verliehen. Selbstredend scheint es auf den ersten Blick so, dass Ais Hund dem Ihren nicht das Wasser reichen kann. Bei Shina handelt es sich schließlich um ein reinrassiges Tier von edlem Geblüt. Aber spielen nicht auch Charakter und Herzensbildung eine wesentliche Rolle? Natürlich werden Nachkommen von Vertretern derselben Rasse gemeinhin als wertvoller, ästhetisch angenehmer empfunden. Aber seit Anbeginn der Zeit kam es durch die Evolution ständig zu Veränderungen der Erbmasse, zu einer Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Verschiedene Stämme vereinigten sich und schufen optimierte Nachkommen. In manchen Kreisen mochten diese auf Ablehnung stoßen. Jedoch zeigte sich im Laufe der Geschichte, dass diese Mischwesen um keinen Deut weniger wert waren als ihre reinrassigen Zeitgenossen. Im Gegenteil, sie vereinigten das Beste aus verschiedenen Welten in sich. Und ist es nicht überhaupt verwerflich in verschiedenen Rassen zu denken, wenn das Erbgut doch problemlos kompatibel ist?! Ich denke, gerade in der heutigen Zeit sollten wir, die wir uns moderne Menschen nennen, uns von diesem Klassendenken verabschieden. Vielmehr sollten wir einfach unabhängig von der Abstammung dazu übergehen uns auf den Geist eines Wesens zu konzentrieren, denn auf äußerliche Beschaffenheiten. Denn nur dann werden wir in der Lage sein uns auf die Erfordernisse zukünftiger Problemstellungen einzustellen und eine Zukunft zu gestalten in der wir alle gleichermaßen …“
„Du meine Güte. Selten habe ich so ein Geschwafel gehört. Hörst du dich so gerne selber reden?“
Frau Sato griff sich mit der Hand an die Stirn. Es hatte den Anschein als wären wir die Ursache für ihre beginnenden Kopfschmerzen.
„Aber …: Im Kern verstehe ich worauf du hinauswillst. Ich kann nicht sagen, dass mich Shina-chans Handeln freut. Aber sie ist eben nur ihrem Herzen gefolgt. Ein Partner, der ihr das Wasser reichen kann hätte weit weniger Probleme für sie bedeutet. Allerdings respektiere ich ihren Willen. Was das angeht ist sie ein selbstständig denkendes Wesen, wie wir alle.“
Mit diesen Worten goss sich Sato-chans Mutter noch etwas von ihrer übelriechenden Tinktur in ihr Glas, welches sie in einem Zug leerte. Mich schauderte es allein bei dem Gedanken von der Flüssigkeit zu probieren. Bessergestellte hatten wirklich eigene Vorstellungen, wenn es um Genussmittel ging.
„Da ihr schon länger Bescheid zu wissen scheint: Habt ihr bereits eine Vorstellung, was aus den Welpen werden soll, wenn sie einmal größer sind?“
Jetzt schlug meine Stunde.
„Was das angeht kann ich Sie beruhigen: Masao, ihre Tochter und ich haben uns bereits ungehört und Menschen gefunden, die potentiell einen der Vierbeiner adoptieren würden. Unabhängig von Rassenreinheit. Selbstverständlich nur, wenn Sie auch damit einverstanden sind. Immerhin sind Sie ja auch die eigentliche Besitzerin.“
„Wenigstens etwas Erfreuliches in dieser dunklen Stunde. Wie es aussieht komme ich wohl nicht darum herum mich noch eingehender mit euch zu befassen. Doch das soll das Thema für einen anderen Tag sein. Wenn ihr mich entschuldigt, meine Gäste werden sich schon wundern wo ich bleibe. Mimi, verabschiede dich von deinen … Freunden. Ich gehe schon einmal vor.“
„Unglaublich. So positiv habe ich meine Mutter noch nie über jemanden sprechen hören. Ihr müsst sie wirklich tief beeindruckt haben. Das ist großartig.“
„Wirklich?! Ich hatte eher einen etwas anderen Eindruck.“
„Ai, jetzt stell unser Licht nicht unter den Scheffel. Es ist doch klar, dass sie sich erst mit der Situation anfreunden muss. Immerhin haben wir sie ziemlich überrumpelt. Aber dass sie bereit war von ihrem Standesdünkel abzurücken ist doch schon allein ein großer Erfolg.“
„Eben, das meine ich doch auch. Ihr seid wirklich unglaublich. Ohne euch hätte ich das nie geschafft.“
„Ohne unser Zutun wärst du erst gar nicht in so eine Situation gekommen …“
Sato schwieg kurz. Hatte ich sie da auf etwas aufmerksam gemacht, an das sie noch gar nicht gedacht hatte?!
„Sato-chan?“
„Nur ein Scherz. Manche Dinge sollen eben einfach sein. So wie Shina-chans Mutterschaft. Jemanden daran die „Schuld“ zu geben wäre grundverkehrt.“
„Dann bin ich erleichtert. Ich denke, Masao und ich sollten uns jetzt auf den Weg nach Hause machen. Du wirst ohnehin noch von euren Gästen erwartet.“
„Ehrlich gesagt, würde ich auch lieber mit euch kommen. Auf das Schaulaufen habe ich so gar keine Lust. Aber manchmal kommt man an seinem Schicksal eben nicht vorbei.“
Auch bessere Töchter hatten ebenso ihr Päckchen zu tragen. In unserer Schule gab es sicher so manche, die gerne mit Sato-chan getauscht hätten. Darunter auch ich. Aber momentan schien ein Rädchen perfekt ins andere zu greifen. Vielleicht würde sich auch für Akira bald eine Möglichkeit bieten, an die sie und ihr Bruder noch nicht gedacht hatten? Ich wollte einfach alle meine Freunde glücklich sehen. Und dann war da auch noch unsere Klassenfahrt, die bald stattfinden würde …
[1] gemeint ist die Liste des Nihon Ken Hozonkai – der „Assoziation zur Bewahrung des japanischen Hundes“
[2] wörtlich übersetzt „grob gemahlen“; Schweinswürste
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Dabeisein ist alles.
Batika City - die einzige Stadt, in der Glutexos leben.
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Weiter geht es mit Kapitel 8. Viel Vergnügen.
Kapitel 8 - Familienangelegenheiten
Kapitel 8 - Familienangelegenheiten
„Ai-chan, warte mal eben. Du errätst nie, wer bei uns angerufen hat, als du dich für die Schule fertiggemacht hast.“
Solche Spiele mochte ich nicht. Wenn ich es nicht erraten konnte, wozu sollte ich es dann überhaupt versuchen?! Daher fragte ich Großmutter einfach: „Wer?“
„Ayumi besucht uns an deinem Geburtstag. Ich wollte dich eigentlich damit überraschen, aber sie fand, du seist schon zu alt für solche Kindereien.“
„Mama kommt?!“
Auch wenn ich mich in Worten nur knapp dazu äußerte freute ich mich riesig darauf meine Mutter wiederzusehen. Ich sah sie ohnehin nur höchst selten. Wenn, dann eigentlich nur an meinem Geburtstag. Ich hatte ganz vergessen, dass der vor der Tür stand. So etwas passierte sonst eigentlich nur älteren Menschen.
Meine Mutter war noch recht jung, als ich zur Welt kam. Gerade einmal achtzehn Jahre. Mein Vater war auch nur unwesentlich älter. Sie waren frisch verliebt und heirateten gegen den Willen der Eltern meines Vaters. Am Anfang glaubten sie wohl, ihre Zuneigung wäre immerwährend und würde sie über alle Probleme hinwegtragen. Aber mein Vater war ein Träumer, der in die Welt hinausziehen und sie verändern wollte. Das ließ sich mit seiner Rolle als Oberhaupt einer kleinen Familie nicht vereinbaren.
Mama hätte das Zeug gehabt, an der Tōdai zu studieren, der renommiertesten Universität Japans. Aber sie folgte dem Ruf ihres Herzens. Als sie schließlich mich unter diesem trug musste sie sich von dieser Möglichkeit endgültig verabschieden. Auch heute denke ich manchmal darüber nach, ob meine bloße Existenz sie nicht ins Unglück gestürzt hat. Meine Mutter ließ mich nie etwas dergleichen spüren und ihre Stimme ist immer voll der Liebe, wenn sie mit mir spricht. Dennoch denke ich oft, ob es nicht besser gewesen wäre, sie hätte mich nicht geboren. Aus vielerlei Gründen. Schließlich konnte sie sich trotz allem sogar eine kleine gutgehende Firma aufbauen. Was wäre dann erst möglich gewesen, wären sich meine Eltern nie begegnet?!
Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen wir uns sahen, wollte ich ihr keinen Kummer bereiten. Deswegen bemühte ich mich in der Schule auch stets um gute Noten. Sie sollte sehen, dass ich gut zurechtkam und mich nicht unterkriegen ließ. Bei unseren Gesprächen schwang leider auch ein wenig von der Distanz mit, die sich über die Jahre nicht nur räumlich aufgetan hatte. Ja, wir waren einander verbunden, aber wir lebten nun einmal auch zwei größtenteils voneinander getrennte Leben. So etwas entfremdete. Ich hätte gern ein wenig mehr Anteil an ihrem Leben gehabt. Nicht nur, weil ich Masao und seine Mutter um ihre Beziehung zueinander beneidete. Hätte ich einen Wunsch frei gehabt, so wäre ich am liebsten bei Mutter UND Großmutter aufgewachsen. Aber Wünsche hat man eben nur im Märchen frei und mein Leben war verlaufen, wie es nun einmal war.
Auch, wenn heute meine Lieblingsfächer anstanden, so machte mir der Unterricht keinen Spaß, ja, die Anwesenheit im Klassenraum mich regelrecht traurig. Hideakis Platz war leer und verlassen. Seine Eltern steckten ihn in ein Internat um ihm seine Flausen auszutreiben. Sie hatten ihm ein Leben als zukünftige Führungspersönlichkeit Japans auferlegt, davon abzuweichen war keine Option. Vor kurzem erst hatte ich beschlossen meine Beziehung zu ihm nur langsam, Schritt für Schritt, aufbauen und vorantreiben zu wollen. Jetzt bestand nicht einmal mehr der geringste Kontakt zu ihm. Von Sato‑chan hatte ich erfahren, dass er seinen Eltern gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte, nicht länger eine rein akademische Laufbahn bestreiten zu wollen. Vielmehr wollte er seinen eigentlichen Neigungen entsprechen, die er von klein auf unterdrücken hatte müssen. Viel mehr als eine Führungskraft zu werden wollte er auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Kein Witz. Der tadellose Hideaki, dem alle Türen offen standen wollte eine unsichere Zukunft als Schauspieler bestreiten. Ich bewunderte ihn dafür, dass er bedingungslos nach den Sternen zu greifen versuchte. Aber ich hasste es, dass er nun kein Teil meines Lebens mehr war. Unsere Situation nach dem Theaterstück war verfahren und ich hatte keine Gelegenheit, die Dinge mit ihm zu klären, geschweige denn, langsam eine richtige Beziehung zu ihm aufzubauen. Diese Chance war mir ein für alle Mal genommen worden.
Übrigens war ihm Amuro-san mittlerweile als unsere Klassensprecherin nachgefolgt, einstimmig, da ohne Gegenkandidaten. Ihre Laune war nach wie vor auf dem Tiefpunkt. Akira zufolge wartete ihr Bruder den richtigen Zeitpunkt ab bei ihr vorstellig zu werden. Ich fand das reichlich taktlos. Ein (schwieriges) Mädchen war ihm verfallen und litt darunter nicht mehr von ihm zu hören. Was gab es da groß abzuwarten?! Überhaupt: der richtige Zeitpunkt wofür? Er plante doch wohl keinen Heiratsantrag.
Trotz unserer Vergangenheit tat mir Amuro-san von Herzen leid. Ob ich sie wohl einfach über die Identität ihres unbekannten Schwarms aufklären sollte? Aber wie würde sie darauf wohl reagieren? Sicherlich würden Akira und ich unser Fett abbekommen. Immerhin wussten wir schon seit einiger Zeit, dass der Unbekannte Akiras Bruder war und hatten sie dennoch im Dunkeln gelassen. Das war nicht sehr nett von uns. Aber die Sache ging im Endeffekt nun einmal nur die Beiden etwas an.
Überhaupt verhielt sich Akira ein wenig eigentümlich, seit ich mit ihr bei mir zuhause über dieses Thema gesprochen hatte. Nach außen hin war sie nach wie vor das quirlige, lebenslustige Mädchen, das sich gerne einmal weit aus dem Fenster lehnte. Aber ich konnte fühlen, dass sie etwas innerlich zerriss. Hatte sie Angst ihren geliebten Bruder an ein Mädchen wie Amuro-san zu verlieren beziehungsweise an ein Mädchen überhaupt? Gehörte sie etwa zu der Sorte Schwester, die ihren Bruder dermaßen liebte, dass es schon hart an der Grenze zum Verbotenem war? Masao hatte mir mal Manga mit dieser Thematik zu lesen gegeben. Schwer vorzustellen, dass derlei auch in der Realität passierte. Wie aufs Stichwort hatte sie mich sofort im Klassenraum erblickt und kam wortgewaltig auf mich zu.
„Ai-chan, guten Morgen. Wie schön dich zu sehen. Wie geht es dir denn heute? Kann ich vielleicht etwas für dich tun, damit du dich seelisch wieder ein wenig besser fühlst? Weißt du, ich wünschte mir dich wieder ein wenig mehr lächeln zu sehen. Hast du heute Nachmittag schon etwas vor? Was hältst du davon, wenn ich all deine Freunde zusammentrommle und wir gemeinsam etwas unternehmen? Ich weiß, dass du dich nicht danach fühlst, aber du musst ein wenig auf andere Gedanken kommen, auch wenn es noch so schwerfällt. Wenn du lieber nur …“
„Akira, stopp. Ich meine vielen Dank. Dein Optimismus tut wirklich gut. Nach einer Gruppenaktivität steht mir momentan nicht so der Sinn. (Schließlich hatte ich damit meine Erfahrungen!) Aber wenn wir beide alleine irgendwohin gehen könnten und vielleicht einen Tee trinken, das wäre sehr schön. Natürlich nur, wenn du möchtest und es dir nicht peinlich ist mit mir …“
„Jetzt muss ich ‚Stopp!‘ sagen. Fang nicht wieder an dich selbst schlecht zu reden. Natürlich können wir nur zu zweit etwas übernehmen. Sehr gerne, obwohl ich eigentlich Kaffee bevorzuge. Aber das tut der Sache ja keinen Abbruch. Ich finde Tee hinterlässt immer einen etwas eigenartigen Nachgeschmack im Mund. Oh, aber deiner natürlich nicht. Der, den du mir neulich zubereitet hast war wirklich ganz köstlich. Aber das beste Getränk überhaupt ist ohnehin eiskalter Orangensaft. Darauf lasse ich nichts kommen. Und dazu passt am besten …“
Diesmal ließ ich Akira in ihrem Redeschwall gewähren. Ich schon, aber der Sensei nicht, der in diesem Moment hereinkam und sie sogleich für ihre Schwatzhaftigkeit rügte. Aber naja, das war nicht das erste und auch sicher nicht das letzte Mal, dass ihr derlei passierte. Sie liebte es zu reden. Ich fragte mich, ob ihre Eltern wohl jemals zu Wort gekommen waren, seitdem sie auf der Welt war. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, dass Akira als Baby einmal mit dem Plappern angefangen und seitdem nicht mehr damit aufgehört hatte.
Dem Plappern des Senseis zuzuhören war dagegen keine rechte Freude. Noch dazu, da es auf Englisch geschah, meinem absoluten Hassfach. „I want to draw your attention to the fact that my frequent use of rhetorical questions is intended to show that …“ Ich verstand, wenn überhaupt, nur vereinzelte Wörter. Irgendwas mit Aufmerksamkeit und dass er uns etwas zeigen wollte oder so. So sehr ich auch ein instinktives Gespür für Naturwissenschaften besaß, so wenig war dies für Sprachen außer japanisch tauglich. Hätten mich amerikanische Eltern geboren, wäre ich wohl mein Leben lang stumm geblieben.
„Nakamura and Watanabe, would you please show us a dialogue between an american tourist and a japanese girl?“ Ach nö, warum denn ausgerechnet ich? Aber wenn ich schon nur Bahnhof verstand wollte ich wenigstens Akira nicht zu sehr runterziehen. Irgendetwas musste ich wenigstens sagen.
„Hello, Miss America. I … ähm … Miss Nakamura. How … ähm … can I help you?“
„Hello, Miss Nakamura. Nice to meet you. It is true, I am from the United States, but I am not Miss America. In fact, I am Akira Watanabe and I am seventeen years old now. My father worked for a large company but he made a huge mistake. That’s why he has been transferred to a smaller branch in this country. My mother has been a colleague of him, but now she is a housewife. I have an older brother, Akito. He does not leave his room at home. I think that’s what you would call a ‚hikikomori‘. My mother always try to change his mind but he only plays video games all day long. He also reads lots of adult comics. My birthday is on December 1st and my blood type is AB. Have you any further questions?“
Beherrschte sie diese Informationen etwa in jeder Sprache um sie international verbreiten zu können?! Wie damals, als sie sich bei uns in der Klasse eingeführt hat, wusste auch jetzt keiner, erst recht nicht ich, etwas darauf zu antworten. Auch der Sensei stand der Informationsflut etwas ratlos gegenüber. „Naja, ob das jetzt als Dialog durchgeht, ich weiß nicht. Aber in jedem Fall war das verwendete Englisch nicht unbedingt falsch. Ich denke, ich muss mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Tagame, lies du jetzt den Text von Seite 42 vor und übersetze ihn ins Japanische.“ Während der arme Tagame damit beschäftigt war die englischen Zeilen halbwegs tauglich in unsere Sprache zu übersetzen zwinkerte mir Akira spitzbübisch zu. Ich musste mich beherrschen, damit mir kein spontanes Prusten entwich. Es war das erste Mal seit längerer Zeit, dass ich in der Schule wieder Spaß empfand und mir leichter ums Herz wurde. Akira war wirklich eine Nummer für sich, aber gerade das mochte ich an ihr. Vielleicht hatte ich mich auch getäuscht, als ich ihr Eifersucht um ihren Bruder unterstellte. Ich hoffte heute Nachmittag auch ihr einen Stein von der Seele nehmen zu können.
8
Der Unterricht war gerade vergangen und Akira und ich fuhren mit dem Bus in ein nahegelegenes Café nach französischem Vorbild. Man sollte meinen, ein derartiges Etablissement hätte auch gediegene Gäste zum Ziel, aber dem war nicht so. Die Preise waren angemessen, der Service sehr ordentlich und auch qualitativ ließ man nichts auf sich kommen. Aufgrund der eben genannten Vorzüge war das Café immer sehr gut besucht, sodass es auch so seinen Besitzer reichlich zu nähren wusste. Es war so eine Art versteckte Perle in dem Viertel, weswegen Nichteingeweihte nicht zwangsläufig darauf stießen. Aber die Mundpropaganda ließ einen den Aufwand gerne in Kauf nehmen.
Wir warfen einen Blick auf die Karte, die wirklich beinahe jede Kaffeesorte anbot.
„Such dir ruhig aus, was du möchtest, Akira. Ich lade dich ein. Immerhin war der Ausflug hierher auch meine Idee.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage, Ai-chan. Wenn hier jemand eingeladen wird bist du das. Immerhin hast du mich schon vor ein paar Wochen bei dir zuhause bewirtet. Da ist es das mindeste, was ich für dich tun kann.“
„Aber ich kann doch nicht …“
„Haben die beiden Damen schon gewählt?“
„Ich hätte gerne den Latte Macchiato und was nimmst du, Ai-chan?“
„Ich nehme den grünen Tee. Vielen Dank“
„Und dann bringen Sie uns bitte noch eine kleine Auswahl von den Macarons.“
Die Kellnerin tippte unsere Bestellung in einen kleinen Organizer und ging dann wieder nach hinten. Macarons, für die Dinger konnte ich sterben, aber leider waren sie auch nicht ganz billig.
„Akira, das geht doch nicht. Das wird doch viel zu teuer. Ich kann das nicht annehmen. Bitte lass mich wenigstens die Hälfte der Kosten übernehmen.“
„Und ob das geht. Glaub mir, ich kann mir das schon leisten. Sind wir nun Freundinnen oder nicht?! Aber lassen wir das Geld. Worüber wolltest du denn mit mir sprechen? Mobbt dich Ryoko etwa wieder oder geht es um deinen Hideaki?“
Ich fühlte mich peinlich berührt. Aber es stimmte: meine Probleme hatten meine Freunde in den letzten Monaten tatsächlich ziemlich in Beschlag genommen. Doch wenigstens war ich nun dabei auch auf ihre Themen einzugehen.
„Ehrlich gesagt wollte ich mit dir über dich sprechen. Ich habe den Eindruck, dass dich seit kurzem etwas umtreibt, was mit dir und deinem Bruder zu tun hat. Vielleicht geht es mich nichts an, aber du bist mir sehr wichtig. Wenn es irgendetwas gibt was ich für dich tun kann, sag es mir bitte.“
Aus irgendeinem Grund wurde Akira schlagartig blass im Gesicht. Dazu kam, dass sie kein Wort sagte, was, sind wir einmal ehrlich, wirklich nicht alle Tage vorkam.
„Entschuldige, ich hätte nicht so neugierig sein sollen. Es tut mir leid, wenn dir dieses Thema unangenehm ist. Ich dachte nur, dass ich dir vielleicht helfen könnte, als gute Freundin. Ich sehe ja, dass dir etwas auf dem Herzen liegt. Du wirkst auch weniger fröhlich, seitdem ich dir die Angelegenheit mit Amuro-san dargelegt habe. Ich kann mir auch vorstellen, dass der Gedanke sie quasi in der Familie zu haben nicht sonderlich behaglich ist. Auch wenn ich es selbst nicht glauben konnte, hat sie mir vor kurzem gezeigt, dass selbst sie eine verletzliche Seite besitzt. Ich habe am eigenen Leib erfahren und weiß nur zu gut, was sie für eine biestige, eigentlich regelrecht boshafte Person sie sein kann. Aber als sie dein Bruder zurückgelassen hat war sie mir gegenüber zum ersten Mal aufrichtig. Ich finde, er sollte sie nicht noch länger warten lassen. Selbst, wenn er kein Interesse an ihr hat. Sie hat es einfach verdient zu wissen, woran sie ist. Trotz allem wünsche ich ihr ein Happy End, selbst, oder vielleicht gerade weil ich keine Gelegenheit mehr hatte mit Hideaki reinen Tisch zu machen. Dein Bruder wird auch weiter für dich da sein, da bin ich mir sicher.“
„Dessen bin ich mir auch sicher, aber du kennst meinen Bruder nicht. Er ist … anders, als du dir vorstellen kannst. In jeglicher Hinsicht. Wäre die Sache für ihn so einfach, hätte er sich schon längst mit Ryoko getroffen. Es geht einfach nicht. Deswegen war es überhaupt ein Fehler, dass ich überhaupt andeutete, dass es eine Aussprache zwischen den Beiden geben könnte. Es steckt da mehr dahinter als du ahnen kannst. Selbst dir kann ich nicht davon berichten.“
„Etwa, weil er ein Hikikomori ist? Aber er war doch jetzt schon mehrmals draußen, sogar bei unserem Theaterstück hatte er einen Überraschungsauftritt. Gibt es da wirklich keine Hoffnung für ihn?“
„Ach, Ai-chan, wenn du nur wüsstest. So einfach ist die Geschichte bei weitem nicht …“
Akira löffelte zwei Hübe Zucker in ihren Milchkaffee und rührte ihn um. Dabei hatten ihre Augen etwas von einer Traurigkeit, wie ich sie bei ihr noch nie gesehen hatte. Sie setzte den Löffel ab und nahm einen tiefen Schluck. Es sah fast so aus, als wolle sie ihn damit in einem Zug leeren, nur damit sie kein Wort mehr verlieren müsste. Die Situation um ihren Bruder schien schlimmer zu stehen, als es den Anschein hatte. Verständlich, dass sie darüber nicht so gerne sprach. Erst recht, wo es ihre eigene Familie betraf. Auch ich schwieg und nahm einen Schluck von meinem grünen Tee. Etwas Warmes zu mir zu nehmen tat mir immer gut, wenn ich mich schlecht fühlte. Es linderte ein wenig das Unbehagen, dass sich in meiner Magengrube breitmachte. So sehr mich die Macarons auch lockten, es schien mir in dieser Situation nicht angemessen davon zu nehmen. Ich wollte etwas für Akira tun, sie trösten, aber konnte ich das jetzt überhaupt?! Nach wie vor war mein Herz am rechten Fleck, aber ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich mich verhalten sollte. In sozialen Interaktionen war ich einfach ziemlich ungeschickt. Ich folgte einfach meinem Instinkt und legte meine Hand schützend über ihre, als sie sich flach auf dem Tisch befand. Akira zeigte ein leichtes Lächeln.
„Du bist wirklich eine gute Freundin, Ai-chan. Wahrscheinlich die beste, die ich jemals hatte.“
Ich freute mich sehr über diese Worte, errötete davon peinlich betroffen aber auch ein wenig. Die Situation mit Akira war anders als jene, die ich mit Sato-chan bisher erlebt hatte. Während sie mir gegenüber oftmals die Rolle der großen Schwester einnahm tat ich es heute für Akira. Ich war dankbar für all die Liebe, die ich durch sie erfahren durfte und die ich jetzt an Akira weitergeben konnte. Wir redeten an diesem Nachmittag nicht mehr viel und verstanden uns schweigend. Früher hatte ich angenommen, mir ginge es schon schlecht, aber heute hatte ich einen Eindruck davon bekommen, dass andere Menschen weit größere Päckchen zu tragen hatten.
8
Mein Geburtstag war da und ich war noch keinen Schritt damit weitergekommen Akira zu helfen, geschweige denn Amuro-san. In der Schule hielt sie ihre Fassade des fröhlichen, unbekümmerten Mädchens aufrecht, aber ich wusste, dass es anders in ihr aussah. Aus Angst ihr Leid zu vergrößern sprach ich die Situation um ihren Bruder nicht mehr an. Irgendwie musste ich ihr doch helfen können, aber ich konnte nicht einmal Masao oder Sato-chan zurate ziehen. Das hätte bedeutet, Akiras Vertrauen zu missbrauchen, die sicher nicht wollte, dass die Geschichte ihres Bruders an die große Glocke gehängt werden würde. Aber ich alleine war einfach nicht stark genug um wirklich etwas bewirken zu können. Vielleicht konnte ich dieser Tage mit ihr sprechen, damit meine Freunde auch zu den ihren wurden.
Großmutter hatte eigens für den heutigen Tag Geburtstagstorte vorbestellt und abgeholt. Sie lief mit emsigen Schritten im ganzen Haus herum und bereitete alles für uns drei vor: sie selbst, mich und Mama. Zu solchen Anlässen wurde sie beinahe wieder zu einem kleinen Kind, selbst wenn ich es war, die gefeiert wurde. Es war herrlich mitanzusehen, wie Großmutter herumlief und alles zu perfektionieren versuchte. Naja, vielleicht wollte sie Mama auch nur zeigen, dass bei uns alles in geregelten Bahnen verlief und sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Ich selbst war bereits reichlich aufgeregt meine Mutter nach genau einem Jahr wiederzusehen. Wie gesagt, wir waren uns in Liebe verbunden, aber ein Jahr Abstand voneinander tat keiner Beziehung gut, selbst, wenn wir regelmäßig Telefonate führten.
Die Torte selbst war aus Reismehl gebacken mit reichlich Schlagsahne und Erdbeeren obendrauf. Sie war nicht allzu groß aber für drei Personen durchaus ausreichend. Meine Mutter aß ohnehin wie ein Spatz, da blieb sicher auch für den nächsten Tag noch ein wenig davon übrig. Heute war darüber hinaus Samstag, sodass Großmutter und ich den ganzen Vormittag mit Vorbereitungen zubringen konnten. Aufgeregt wie wir waren hätte man meinen können der Kaiser persönlich machte uns seine Aufwartung. Aber unsere Familie kam so selten zusammen, dass es über meinen Geburtstag hinaus noch als Feiertag galt. Mutter war das einzige Kind meiner Großeltern und dadurch auch heute noch meiner Großmutter Augenstern. Ich weiß nicht, ob es ihr ein Trost war, dass ich bei ihr lebte. Das eigene Kind war eben doch immer noch eine Spur besonderer, erst recht, wenn ich der Ersatz war.
Es war beinahe Punkt ein Uhr geworden, der Zeitpunkt, zu dem Mama sich angekündigt hatte. Ich machte mir furchtbare Sorgen, dass ich sie enttäuschen könnte. Sie war so furchtbar erfolgreich und selbstbewusst, dass ich kaum fassen konnte, dass ich tatsächlich von ihr abstammte. Kein Kind wollte in den Augen seiner Eltern als Versager gelten und vom Kopf her war mir klar, dass dies keinesfalls der Fall sein würde. Leider war mein Gefühlsleben da anderer Ansicht. Es war eine dieser Ängste von denen man wusste, dass sie nicht zutraf, aber man hatte dennoch ein mieses Gefühl in der Magengegend. Furchtbar. Stand alles an seinem Platz? Lief die Sahne nicht Gefahr zu zerlaufen? War es auch nicht staubig? An meinem Ehrentag war ich ein Nervenbündel geworden.
Der große Zeiger der Uhr schwenkte auf seinen höchsten Punkt und im gleichen Moment klingelte es an der Tür. Mutter war wirklich die Pünktlichkeit in Person.
„Ayumi, wie schön. Komm doch herein. Gut siehst du aus. Ein bisschen zu mager vielleicht. Du musst ein wenig mehr auf dich achten. Erst recht, bei deinem stressigen Lebenswandel.“
„Aber Mutter, du übertreibst immer noch. Hier ist wirklich die Zeit stehen geblieben. Es sieht noch ganz genauso aus wie früher.“
„Mama! Wie schööön.“
„Ai-chan, meine Kleine. Lass dich umarmen. Wirst du heute wirklich schon achtzehn Jahre alt?! Ich kann es kaum fassen. Ach, es tut richtig gut wieder bei euch zu sein.“
Mama kam überaus formell gekleidet in unser Wohnzimmer. In ihren Händen befand sich ein wunderschöner Blumenstrauß, den sie mir zu meinem Ehrentag mitgebracht hatte. Ich liebte die bunte Vielfalt von Blumen seit jeher. Dieser Strauß war von besonders kräftiger Farbgebung. Man sah, dass die Floristin sich ziemlich viel Mühe damit gegeben haben musste. Für manche in meinem Alter mochte es ein wenig enttäuschend sein von der Mutter nur Blumen zu bekommen. Ich hingegen freute mich aufrichtig darüber. Große Wünsche hatte ich ohnehin kaum. Wenn, dann waren diese eher immaterieller Natur. So war es für mich am schönsten meine Familie wiedervereint zu sehen.
„Kommt, lasst uns auf diesen Tag anstoßen.“
„Mutter!“
„Großmutter!“
„Dann nur mit Tee, ich verspreche es. Ihr zwei seid Spielverderber.“
Ich holte eben noch schnell eine Vase um meine Gabe versorgt zu wissen. Danach nahmen wir um den Geburtstagstisch herum Platz und ich schenkte den Tee in unsere Becher. Eine besondere Sorte aus heutigem Anlass.
„Mama, erzähl. Was tut sich so in der großen Stadt?“
„Es ist vor allem laut, kein Vergleich zu hier. Immer wenn ich den Lärm bemerke komme ich mir wie ein Landei vor. Vor allem, wenn er meinen Angestellten absolut nichts auszumachen scheint. Jetzt arbeite ich schon so lange dort und komme mir manchmal immer noch furchtbar fehl am Platze vor. Aber die Ergebnisse können sich sehen lassen. Uns ist es gelungen unseren Kundenstamm noch einmal um ein gutes Stück auszubauen. Aber lasst uns nicht über meine Firma reden. Heute ist der Tag unserer Kleinen, entschuldige Großen.“
„Nein, du hast recht. Ein bisschen wachsen möchte ich schon noch. Ich bin doch eher kurz geraten.“
Mein Ausspruch war zwar nicht sonderlich lustig, aber dennoch lachten wir. Es war einfach schön unseren Haushalt wiedervereint zu sehen. Wir drei sollten viel öfter zusammen sein und uns zum Lachen bringen. Nur in dieser Konstellation fühlte sich meine Familie vollständig an und so sollte es auch sein.
„Ach Ai, ändere dich bloß nicht, mein Liebling.“
„Das muss sie von mir haben, Ayumi. Du warst in ihrem Alter doch eher der ernste Typ. Du hast kaum gelächelt und immer nur die Nase in Bücher gesteckt. Eigentlich seid ihr euch in letzterem dann doch wieder ähnlich wie ein Ei dem anderen.“
„Aber geschadet hat es mir dann doch nicht, Mutter. Sieh dir nur an, wo ich heute stehe. Wäre ich weniger zielstrebig gewesen, wäre ich sicher nicht so weit gekommen.“
„Aber wer sagt dir, dass du mit ein wenig mehr Spaß an der Sache nicht genauso weit gekommen wärst?! Man ist schließlich nur einmal jung im Leben.“
„Dann bist du schon dein ganzes Leben lang jung, Mutter. Gut, dass meine ruhige Seite sich bei Ai durchgesetzt hat.“
„Dein Vater war auch immer so ein Trauerkloß. Ich finde, wer zu wenig Spaß hat vertut sein Leben.“
„Es muss halt auch Menschen wie Ai und mich geben. Es ist gut, dass du so ein lebensfroher Mensch bist wie du bist, aber man kann auch so ein erfülltes Leben führen.“
Was die Natur unserer Seele anging waren Mama und ich aus demselben Holz geschnitzt. Wir waren nicht gemacht für ein lautes Leben. Wir liebten eher die leisen, subtilen Töne. Mit Großmutter, die im Vergleich zu uns so aus der Art schlug, tat ich mich manchmal schwer. Dies änderte aber nichts an meiner Zuneigung zu ihr. Ich fand es schön mich in meiner Mutter ein wenig wiederzuerkennen und ich glaube ihr ging es ebenso mit mir.
„Ai, ich weiß es noch wie heute, als ich dich das erste Mal in Händen hielt. Du warst so klein und zerbrechlich. Deine Haut war schweinchenrosa und vollkommen faltig. Als ich dir meinen Finger hinhielt hast du sofort danach gegriffen und hast ihn ganz fest gehalten. Und sieh dich jetzt an: du bist beinahe völlig erwachsen. Ich bin so stolz auf dich und das was aus dir geworden ist.“
„Mama …“
Einerseits war es schön diese Worte zu hören. Auf der anderen Seite war ich aber auch ganz schön peinlich berührt. Die Grenze zwischen Scham und Freude war manchmal eben ganz hauchdünn. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie meine Mutter sich damals gefühlt haben mochte. Sie war blutjung und ich ein hilfloses Etwas, das völlig auf sie angewiesen war. Ich hoffte zwar später einmal selbst Mutter zu werden, konnte mir es emotional aber überhaupt nicht vorstellen. Was mochte in einem vorgehen, wenn man sein Kind das erste Mal sah? Hätte sie gedacht, dass einmal ein derart unsicherer Mensch aus mir werden würde? Wohl nicht, dafür war sie eine viel zu starke Persönlichkeit.
„Bist du eigentlich noch mit diesem Jungen von nebenan befreundet? Masao hieß er doch.“
„Ja. Wir sind immer noch sehr gut miteinander befreundet. Manchmal denke ich, dass er eigentlich mein großer Bruder ist. Dabei ist er doch der Jüngere von uns beiden. Oft weiß ich nicht, was ich eigentlich ohne ihn machen würde. Er hat immer ein offenes Ohr für mich und gibt mir Ratschläge. Ich habe wirklich Glück, dass er ein Teil meines Lebens ist.“
„Und sonst gibt es da niemanden?“
„Oh doch. Da sind noch meine besten Freundinnen Sato-chan und Akira. Sato kommt aus einem sehr guten Elternhaus hat aber keinerlei Standesdünkel. Bei Akira habe ich sogar das Glück, dass wir dieselbe Klasse besuchen können. Weißt du, als Kind hatte ich mir immer ältere Schwestern gewünscht, die auf mich achtgäben. Wir drei sind zwar im gleichen Alter, aber es fühlt sich beinahe danach an. Es ist so schön Leute um sich zu haben, denen man bedenkenlos vertrauen kann.“
„Das ist schön, Schatz, aber ich bin mir sicher, dass du auch ohne sie zurechtgekommen wärst. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man niemandem blind vertrauen sollte. Egal, was das Gefühl einem rät.“
„Ayumi, bitte. Das sind doch zwei Paar Schuhe. Ich weiß, dass es für dich damals nicht einfach war. Aber es hätten dir auch viele unter die Arme gegriffen. Nicht zuletzt ich.“
„Das weiß ich doch, Mutter. Ich meine nur, dass auf einen selbst immer noch am meisten Verlass ist. Meine Kleine setzt ihre Prioritäten richtig. Sie konzentriert sich auf die Schule. Nicht auf irgendwelche substanzlosen Liebeleien.“
Irgendwie war unser Kaffeeklatsch in eine bierernste Konversation verkommen. Hatten die Erinnerungen an früher etwa auch alte Wunden aufgerissen?! So etwas war an meinen bisherigen Geburtstagen bislang nicht vorgekommen.
„Mama, was das angeht …“
„Ai, Schatz, es tut mir leid. Es ist nur so, dass ich mich oft hart und unnachgiebig geben muss um ernst genommen zu werden. Gerade als Frau. Wenn ich nicht alle Zügel fest in der Hand hielte wäre es um mich geschehen. Um seine Ziele zu verwirklichen tut manchmal eine gewisse Kaltherzigkeit Not.“
„…“
„Ai, ich weiß, dass du die Anlagen hast alles zu schaffen was du dir vornimmst. Du darfst nur dein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Nimm mich als Beispiel, ich hatte damals denkbar schlechte Karten. Aber mit Fleiß und Beharrlichkeit konnte ich mich emporarbeiten.“
„Mama, das ist toll. Ich wünschte, ich könnte genauso zielstrebig und erfolgreich sein wie du.“
„Das wirst du sicher auch noch. Nur Geduld. Oder denkst du bei mir ging alles von jetzt auf gleich? Aber glaub mir im Beruf erfolgreich zu sein ist auch nicht alles. Wenn es nur noch mich und die Arbeit gibt. Wieviel habe ich von deinem Leben verpasst, weil meine Kunden meinten, ich sei ihnen unabkömmlich? Ich bin stolz darauf, was ich mir aufgebaut habe, das kannst du mir glauben. Aber was bleibt mir am Ende des Tages? Dann sitze ich alleine in meiner Wohnung und brüte über irgendwelchen Berichten, während ich eigentlich viel lieber hier bei euch wäre und mit euch zu Abend essen würde. Glaubt mir, Glück und Erfolg sind nicht zwangsläufig dasselbe.“
„Ayumi, was sagst du denn da?! Das wusste ich ja gar nicht.“
„Mama …“
„Ach, ich plappere Unsinn. Solange ich weiß, dass es meinem Augenstern gut geht ist alles in Ordnung. Wirklich. Nur manchmal frage ich mich, ob ich nicht ein wenig kürzertreten könnte. Tag für Tag nur Geschäftsberichte und nackte Zahlen zu betrachten ist auf Dauer ein wenig eintönig. Es ist schön Bestätigung zu erfahren, aber man ist eben auch sehr viel alleine. Ich meine, es sind zwar immer Menschen um mich herum, aber mit denen verbindet mich eben nur Geschäftliches. Währenddessen habe ich eigentlich überhaupt keine Ahnung wie es euch geht, was euch bewegt. Bis auf ein paar Telefonate hie und da wissen wir doch eigentlich nichts voneinander. Ai, ich konnte bis heute zum Beispiel keinen einzigen deiner Freunde beim Namen nennen. Ich habe keine Ahnung, welche Bücher du liest oder welche Sendungen du siehst. Ich weiß nur, du bist sehr begabt in den Naturwissenschaften. Ich konnte nie da sein, wenn du krank warst oder wenn du eines mütterlichen Rats bedurft hättest. Das alles habe ich dir aufgebürdet, Mutter. Ich weiß nicht einmal, ob es einen Jungen gibt, in den du verliebt bist oder wie es war, als du das erste Mal Liebeskummer hattest. Ich habe einfach so furchtbar viel verpasst, während ich mich selbst verwirklicht habe.“
So hatte ich meine Mutter noch nie gesehen. Sie erschien mir immer so stark und unabhängig, wenn wir uns trafen. Ich hatte keine Ahnung, dass ihr unsere Situation derart zusetzte. Auch wenn ich mir selbst gegenüber immer betonte, wie stark unser Band doch war, so war ich mir letztendlich dennoch nie sicher, ob ich mit der Zeit nicht immer mehr in den Hintergrund trat. Es freute mich sehr, dass dem nicht so war, aber Mama derart aufgewühlt zu sehen tat es nicht. Mama nahm ein paar tiefe Züge aus ihrem Becher, bevor sie sich wieder mir zuwandte.
„Ai, hast du dir schon überlegt, wie du deine Zukunft gestalten möchtest? Bald musst du dich für eine Universität entschieden haben und die Aufnahmeprüfungen ablegen. In meiner Nähe gibt es eine gute Fakultät für Wirtschaft. Du könntest Betriebswirtschaftslehre studieren und nach deinem Abschluss bei mir in die Firma einsteigen. Wir könnten dann mehr Zeit zusammen verbringen und später sogar zusammenarbeiten. Du musst dich nicht sofort entscheiden, aber lass es dir bitte einmal durch den Kopf gehen. Das wäre doch eine tolle Gelegenheit für uns, meinst du nicht?!“
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Hier jetzt Kapitel 7. Viel Vergnügen!
Kapitel 7 - Nach dem Kulturfest
KAPITEL 7 - Nach dem Kulturfest
FREITAG – kurze Zeit nach der Theateraufführung
„Was, er hat dich geküsst?! Kyaah! Ich freue mich so für dich, Ai-chan. Das ist doch großartig.“
Selbst Masao nickte mir nach dieser Nachricht anerkennend zu.
„Na ja, was das angeht … Ehrlich gesagt bin ich mir da gar nicht mehr so sicher …“
Masao und Sato-chan sahen mich an als wäre ich ein Alien, das von seinem Heimatplaneten berichtete.
„Moment, nur damit ich das richtig sehe: bei eurem Theaterstück ist also dieser fremde Junge aufgetaucht, der die ganze Handlung auf den Kopf gestellt hat. Er hat vor Publikum diese Amuro-san geküsst und Hideaki, mein Cousin, dich? Woran zweifelst du dann noch?“
„Ich weiß, es klingt albern, aber was, wenn es nur für mich ein richtiger Kuss war, aber nicht für ihn. Ich war dabei so aufgeregt, dass ich jetzt gar nicht mehr weiß, was ich von der ganzen Sache halten soll. Ito-san ist der einzige, der mir meine Zweifel nehmen könnte. Wie sieht das denn aus, wenn ich ihn frage. Ich bin wirklich ein hoffnungsloser Fall.“
„Ach, Ai-chan …“
Selbst Sato-chan wusste nicht mehr wie sie mich noch trösten sollte. Mein Traum war in Erfüllung gegangen und ich konnte nicht einmal sagen, ob es nicht wirklich nur ein Traum war.
„Wie ist er denn mit dir nach dem Stück umgegangen? Vielleicht gibt es da irgendwelche Anhaltspunkte.“
„Ehrlich gesagt haben ihn sofort, nachdem er die Bühne verlassen hatte, alle möglichen Mädchen umschwärmt und um ein Autogramm gebeten. Die meisten wollten auch seine Kontaktdaten haben. Und ich bin …“
„Du bist was? Doch nicht etwa …“
Masaos Tonfall hatte etwas Ernstes, nicht zu sagen bedrohliches an sich. Er klang ein wenig wie ein Vater, der wusste, dass seine Tochter etwas sehr Dummes angestellt hatte.
„Da war (vielleicht) dieser Kuss, auf den ich mein ganzes Leben gewartet hatte. Da waren all diese Mädchen, die mich darum beneideten und auch viele, die mir deswegen die Pest an den Hals wünschten. Ich war so durcheinander wegen der ganzen Aufmerksamkeit, dass ich nur mein Zeug gepackt habe und auf dem schnellsten Weg zu euch gekommen bin.“
„Das darf doch nicht wahr sein. Wie kann ein an sich so kluges Mädchen sich manchmal nur so dumm verhalten?“
Masao klatschte seine Hände an die Stirn und hielt sie sich dann vor die Augen, als wolle er mein Elend nicht mehr mitansehen. Ich wusste selbst, dass das nicht sehr intelligent gewesen war. Wäre ich geblieben hätte ich aus Ito-sans Verhalten (wahrscheinlich) ablesen können, was wirklich passiert war. Wäre es für ihn tatsächlich nur Schauspielerei gewesen hätte er sich hinterher nicht anders verhalten als vorher. Wenn sein Kuss aber tatsächlich ein Bekenntnis von Herzen war, dann … Arrrgh!
Mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Wenn er mir gegenüber tatsächlich seine Gefühle zum Ausdruck gebracht hatte und ich ihn danach einfach stehen ließ, war ich einfach nur verachtenswert. Ich hatte nicht nur seine Gefühle zutiefst verletzt, nein, ich hatte mir auch jede Chance auf gemeinsames Glück mit ihm für alle Zeiten verbaut. Was war ich nur für ein Riesentrampel! Ich hatte mich in eine absolut aussichtslose Situation manövriert. Dachte ich vor wenigen Tagen noch, ein Kuss zwischen Amuro-san und meinem großen Schwarm wäre für mich die Hölle, war es jetzt noch tausend Mal schlimmer.
„Ai-chan, ich höre dich denken. Soll ich vielleicht mal mit ihm reden? Immerhin stehe ich ihm nicht nur als Familienmitglied nahe. Mir gegenüber macht er aus seinem Herzen bestimmt keine Räuberhöhle.“
Am Liebsten hätte ich einfach nur genickt und ja gesagt. Das war jedoch keine Option. Wenn ich die Dinge geraderücken wollte musste ich das selbst tun. Ohne Kompromisse und selbst wenn Ito-san mich für mein Verhalten abweisen würde. Soweit die Theorie. Aber ich hatte panische Angst vor den Konsequenzen. Hätte ich gekonnt hätte ich mich einfach nur zuhause in eine Decke eingerollt und im Kokon überwintert. Ich kann es nur nochmals sagen: mein Naturell machte mich zu einem hoffnungslosen Fall.
„Ist der Groschen gefallen? Dann mal los. Wir warten hier auf dich und halten die Stellung.“
„Masao, Sato-chan. Vielen Dank, dass ihr mir euer Ohr geliehen habt.“
Masao war zwar strenger in seinem Urteil als Sato-chan, aber er kannte mich wirklich neben meiner Großmutter einfach am besten.
Ich war schon viele Male den Weg von Masaos Klasse zu der meinen angetreten, aber noch nie hatte ich so Bammel vor dem, was mich erwartete. Um mich herum waren etliche Menschen, die sich blendend auf unserem Kulturfest amüsierten. Viele Ehemalige waren gekommen, um ihre alte Schule wiederzusehen. Auch mehrere Mittelschüler drängten durch die Gänge. Manche hatten hier wohl ältere Geschwister, denen sie später nachfolgen wollten. Wieder andere unterhielten sich lebhaft miteinander. Es gab auch Paare die Händchen hielten und einfach eine gute Zeit haben wollten. Wie gerne wäre ich mit Ito-san an ihrer Stelle gewesen. Aber je mehr ich mich ihm vermeintlich näherte, umso heftiger schlug mein Herz vor Aufregung.
Die Aula war nach wie vor stark besucht und alle redeten noch von unserem Stück. Wie langweilig es doch anfangs gewesen sei. Erst gegen Ende wäre dann Leben in die Bude gekommen und wie überraschend dann aber dafür die Wendungen waren. Viele unserer Jungs waren bereits gut damit zugange, die ganze Bühne mit ihrer Beleuchtung wieder abzubauen. Die war immerhin nur gemietet und jeder weitere Tag kostete gutes Geld. Wie mir jetzt erst auffiel schienen sich während der Vorbereitungen auch einige Pärchen gefunden zu haben. Einige meiner Klassenkameraden turtelten vor aller Augen heftig miteinander, obwohl sie sich früher kaum eines Blickes gewürdigt hatten. Oder hatte unsere Aufführung eine derart heftige Wirkung? Nein, das war doch zu weit hergeholt.
Wo war bloß Ito-san abgeblieben? Egal, wie sehr ich mich auch überall umsah, er blieb meinen Augen fern. Manche der anwesenden Mädchen sahen mich mit großen Augen an, wieder andere zeigten unverhohlen mit dem Finger auf mich. „Was, die?!“, „Wirklich?!“ und „Du machst Witze.“ waren nur einige der Satzfetzen die ich von ihnen aufschnappen konnte. Kein Wunder, ich stellte im Gegensatz zu Ito-san eben nichts dar. Mit derlei gefühllosen Äußerungen musste der Typ Mensch wie ich es war eben leben, wenn er sich dem Rampenlicht hingab. Aber im Moment war mir das völlig egal. Ich musste mit Ito-san reden. Unbedingt. Er musste erfahren, dass seine Zuwendung mir die Welt bedeutete, selbst wenn sie nur gespielt war.
Wen konnte ich nur nach seinem Aufenthaltsort fragen? Ito-san erfreute sich an unserer Schule allgemeiner Beliebtheit. Aber mit wem er wirklich befreundet war konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Obwohl unsere Aufführung nun schon etwa eine Stunde her war waren wir damit noch in aller Munde. Wir waren wohl so etwas wie „der Schöne und das Biest“. Ja, so nannte uns freilich keiner, aber derlei kam mir eben als erstes in den Sinn. Ich musste wirklich ernsthaft anfangen an mir zu arbeiten. Aber eins nach dem anderen. Ich entschloss mich schließlich, mich beim Erstbesten meiner Mitschüler zu erkundigen.
„Ähm, entschuldige? Tagame-san richtig?“
„Ja, was willst du? Ach, du bist es. Unsere heimliche Hauptdarstellerin. Machst in der Klasse immer einen auf graues Mäuschen und verführst dann ungeniert unseren Schulhelden. Ha ha. Das war ja was.“
„Ähm wegen Ito-san, weißt du wo er gerade ist? Irgendwie reden alle über ihn aber ich kann ihn nirgendwo entdecken.“
„Ach so, der ist vorhin mit ganz ernster Miene abgerauscht. Es handelte sich wohl ‚um eine Angelegenheit, die keinen weiteren Aufschub dulden würde‘. Keine Ahnung, was er damit meinte. Er hätte uns ruhig beim Abbau helfen können. Ich meine …“
„Vielen Dank …“
Für anderer Leute Probleme hatte ich jetzt wirklich keinen Nerv. War Ito-san noch irgendwo im Gebäude oder war er bereits nachhause gegangen? Unser Kuss auf der Bühne hatte ihm eben doch nichts bedeutet. Oder hatte ich ihn mit meinem Verhalten vor den Kopf gestoßen? Was sollte ich bloß …
„Ganz sicher, er war es. Mein Traumprinz hat nach mir gesucht und mich gefunden. Wie romantisch von ihm mir vor aller Augen seine Liebe zu offenbaren. Er muss hier noch irgendwo sein. Rin, Suki, ihr müsst ihn unbedingt für mich suchen und finden. Ich kann es nicht verkraften ihn noch einmal zu verlieren.“
„Ryoko-san, aber wir wissen nicht wo wir ihn noch suchen sollen. Alle, die wir gefragt haben sagen nur, er wäre unmittelbar nach seinem Auftritt wieder verschwunden.“
„Die lügen. Ihr habt einfach nur noch nicht richtig gesucht. Und ihr wollt mit mir befreundet sein? Als würde er abermals in mein Leben treten um danach wieder zu verschwinden. Dass ich nicht lache. So grausam kann er nicht sein.“
„Wir geben unser bestes. Komm Suki, wir suchen einfach noch einmal das ganze Gebäude ab. Aber du beruhigst dich bitte. Wir fangen bereits an uns um dich zu sorgen.“
„Um mich müsst ihr euch nicht sorgen. Aber um euch, wenn ihr abermals mit schlechten Nachrichten angetrampelt kommt.“
„Ich dachte immer, wenn ein Junge sie gut findet, würde sie netter zu uns sein. Aber der Kerl hat es für uns nur schlimmer gemacht.“
Letzteren Satz flüsterte Suki Rin kaum hörbar ins Ohr. Ich bekam ihn nur mit, weil die Beiden währenddessen unmittelbar an mir vorbeigelaufen waren. Schon lustig, wie zwei Menschen die ansonsten keine Gemeinsamkeiten hatten plötzlich ein ähnliches Ziel verfolgten. Ich war Ito-sans verlustig gegangen und Amuro-san ihres Traumprinzen. Auch wenn sie wie immer unausstehlich war, so konnte ich doch nachvollziehen, wie sie sich im Moment fühlte.
„Ai Nakamura … es sind wirklich immer die stillen Wasser, was?! Das hätte dir keiner von uns zugetraut, am allerwenigsten ich.“
Amuro-san nannte mich bei meinem richtigen Namen?! Das verhieß nichts Gutes. Am Allerwenigsten, nachdem ich ihr die Show und Ito-san einen Kuss gestohlen hatte. Ich weiß, während der Kussszene selbst hatte ich noch große Reden geschwungen. Dass Ryoko mich am Spieß braten könnte und so was. Aber wenn man dann unmittelbar davor stand lebendig gegart zu werden war es doch eine furchtbare Angelegenheit.
„Ähm, Amuro-san, ich kann mir vorstellen, wie du dich jetzt fühlst, aber ich …“
„Du willst verstehen wie ich mich fühle?! Wenn einem anstelle des erwarteten großen Moments gleich zwei Mal das Herz gebrochen wurde?! Nach all der Zuwendung, die ich Hideaki-kun zuteilwerden habe lassen küsst er lieber dich. Vor allen Leuten. Selbst wenn es nur gespielt war ist es doch die größte Demütigung, die er mir überhaupt zufügen konnte. Und dann ist da der Junge, der mich damals im Restaurant wie eine echte Prinzessin behandelt hat. Ich dachte bereits, ich würde ihn nie wiedersehen. Dann tritt er völlig unvermittelt wieder in mein Leben, benetzt meine Lippen mit den seinen nur um mich dann doch wieder einfach stehen zu lassen. So etwas ist doch einfach das Letzte. Wäre er einfach nie wieder aufgetaucht wäre es einfach eine unvergessliche Erinnerung gewesen. Aber so lässt er mich wieder in meiner Einsamkeit zurück.“
Dass Amuro-san so fühlte hätte ich nie gedacht. Ich war immer der Meinung, außer Zorn und Gehässigkeit kenne sie keine Gefühle. Aber tatsächlich war sie im Endeffekt ein Mädchen wie ich, das einfach geliebt werden wollte und jetzt binnen kurzem zwei Enttäuschungen hinnehmen musste. Die Distanz die immer zwischen ihr und mir herrschte fühlte sich im Moment winzig klein an. Auch wenn ich mich aufgrund unserer Vergangenheit noch immer ein wenig vor ihr fürchtete musste ich sie jetzt einfach in den Arm nehmen. Sie zuckte bei meiner Berührung ein wenig zusammen, legte ihren Kopf aber dann dankbar auf meiner Schulter ab.
„Wenn du jemandem davon erzählst wirst du deines Lebens nicht mehr froh …“
„Ist mir schon klar …“
„Dann … danke … Ai …“
Wir verblieben noch ein paar Augenblicke in dieser Haltung bevor wir sie lösten. Amuro-san zog sich dann schnellstens auf die Mädchentoilette zurück. Es sollte wohl niemand außer mir mitbekommen, dass sie heute nah am Wasser gebaut war. Ich fand zwar, dies wäre kein Grund sich zu schämen, aber sie war eben eine sehr stolze junge Frau. Vielleicht würden wir uns in Zukunft weiter annähern können. Beste Freundinnen würden wir wohl keine, aber es wäre schön sie nicht mehr zur Feindin zu haben.
Was Ito-san dagegen anging war ich um keinen Deut schlauer als vorher. Egal, wen ich auch fragte ich bekam keine erhellende Antwort. Alle sagten nur etwas in der Art, dass er etwas Dringendes zu tun hatte, was keinen Aufschub duldete. Ich beschloss mich damit abzufinden, dass die Angelegenheit auf der Bühne ihm eben doch nichts bedeutet haben konnte. Aber das war so unglaublich schwer und es würde wohl noch um ein Vielfaches schwerer ihm nach dem Wochenende wieder gegenüberzustehen und so zu tun als wäre nichts gewesen. Da ahnte ich noch nicht, dass mir noch viel Schmerzhafteres bevorstehen sollte …
8
SAMSTAG
Der Wecker klingelte und ich erhob mein müdes Haupt von meinem Kissen. Gut geschlafen hatte ich letzte Nacht nicht. Wenn mich überhaupt der Schlaf umfing träumte ich nur unzusammenhängendes Zeug. Die meiste Zeit hatte ich mich hellwach hin und her gewälzt. So sehr ich es auch versuchte, es war mir nicht gelungen, meine Traurigkeit abzustreifen und sie hielt an meiner Lagerstatt Wache. So gesehen war ich ganz froh, dass ich aufstehen und das Frühstück für uns drei zubereiten musste: mich, Großmutter und Arabiki-kun.
Ich hielt es meiner Stimmung gemäß einfach und bereitete nur Miso-Suppe, Reis und Fisch vor. Dazu stellte ich eingelegtes Gemüse wie Rettich und Gurken auf den Tisch. Damit erfüllte ich den japanischen Grundsatz „ichiju sansai“, was so viel heißt wie „eine Suppe, drei Beilagen“, voll und ganz. Herzhaftes Essen würde zumindest die Leere in meinem Magen füllen können. Großmutter stand wie immer als letztes Mitglied unseres Haushaltes auf, Arabiki-kun sprang üblicherweise sofort auf seine kurzen Beinchen, wenn er meinen Wecker hörte.
Arabiki-kun nahm laut schmatzend sein Dosenfutter zu sich, während ich gerade dabei war Großmutter den Tee einzuschenken.
„Hör mal, Ai-chan. Es ist sonst nicht meine Art mich in deine Dinge einzumischen, aber wegen gestern muss ich noch einmal nachhaken …“
„Großmutter, du weißt, ich hab‘ dich lieb, aber ich weiß wirklich nicht, ob ich darüber …“
„Das Ende von eurem Stück war doch ziemlich improvisiert. Das konnte man nicht übersehen. Und der junge Mann, mit dem du dich da geküsst hast, wer war das eigentlich?“
„Das war Hideaki Ito, unser Klassensprecher. Nur ihm haben wir es zu verdanken, dass überhaupt so viele zugesehen haben.“
„Soso, euer Klassensprecher und nichts weiter?“
„Großmutter, wirklich, darüber möchte ich nicht …“
„Entschuldige, wenn du darüber nicht reden möchtest, respektiere ich das selbstverständlich. Worauf ich eigentlich überhaupt hinaus wollte: es kam mir nicht so vor, dass dieser Kuss wirklich gespielt war. Weder bei dir noch bei deinem Prinzen.“
Ich musste tief schlucken. Großmutters Ansichten machten die Wirklichkeit nur noch schmerzhafter für mich.
„Mehr wollte ich dir auch überhaupt nicht mitteilen. Ich kenne dich gut. Im Gegensatz zu mir bist du eine Zweiflerin. Was du aus meiner Beobachtung machst ist deine Sache.“
„Großmutter …“
„Dein Tee schmeckt heute auch ein wenig bitterer als sonst. Aber das bringt den Geschmack des Essens nur umso besser zur Geltung.“
„Ich …“
Tief einatmend füllte ich meine Lungen mit Luft um in mir ein wenig Mut anzustauen.
„Ich bin wirklich in ihn verliebt. Es erschien mir immer absolut dumm. Er, der Quasi-Prinz und ich, das hässliche Entlein. Ihm habe ich damals am Valentinstag die Pralinen in die Schule mitgebracht, obwohl es aussichtslos war. Ach Großmutter, wenn du wüsstest.“
Ich redete mir ihr gegenüber alles von der Seele. Manches mochte sie schon intuitiv erfasst haben, etwa, dass mein Krankenhausaufenthalt unmittelbar nach dem Valentinstag damit zusammenhing. Ich berichtete von Sato-chan, die mein Verhältnis mit Masao falsch verstand und jetzt meine beste Freundin war. Auch erzählte ich ihr von meinem Aushilfsjob, mit dem ich ihr ein besonderes Geburtstagsgeschenk besorgen wollte. Wie ich dabei Pech hatte und nicht genug zusammenbekam. Sogar von all den Peinlichkeiten während meines Ausfluges ans Meer ließ ich keine aus. Auch von Watanabe-san erzählte ich ihr, die mir während unserer Proben eine gute Freundin geworden war und mir half mich gegen meine Tyrannin aufzulehnen. All meine Sorgen und teils völlig unnötigen Ängste beichtete ich ihr. Ich konnte richtig spüren, wie der dunkle Nebel um meine Seele sich mit jedem Wort zu lichten begann. Als ich endlich fertig war fühlte ich mich innerlich so aufgeräumt wie seit Ewigkeiten nicht. Ich würde bei meiner Großmutter sicher nicht in ihrer Achtung gesunken sein. Höchstens, dass ich ihr von alledem nicht schon früher berichtet hatte konnte sie mir krummnehmen. Aber sie ließ sich nichts dergleichen anmerken.
„Ach Ai, damit hättest du doch schon viel früher zu mir kommen können …“
„Ich weiß, Großmutter. Ich weiß.“
Wie ich am Vortag Amuro-san nahm Großmutter jetzt mich in den Arm. Ihre Güte und Wärme hatten schon als Kind immer beruhigend auf mich gewirkt. Daran hatte sich bis zum heutigen Tag nichts geändert.
„Großmutter, ich habe Ito-san einfach stehen lassen anstatt mit ihm zu sprechen. Und später war er einfach verschwunden. Was soll ich jetzt bloß machen?“
„Diese Sato-chan ist doch seine Cousine. Kannst du nicht sie um seine Kontaktdaten bitten?“
„Daran habe ich auch schon gedacht, aber er geht nicht einmal bei ihr ans Telefon. Was, wenn er nichts mehr von mir wissen will?!“
„Das denke ich nicht. Wenn er genug von dir hätte würde er dir das ins Gesicht sagen. Ich denke eher, dass da etwas ganz anderes dahintersteckt. Vielleicht könnt ihr bereits am Montag alles klären und das ganze Missverständnis löst sich in Wohlgefallen auf. Leider wirst du bis dahin wohl abwarten müssen. Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes raten. Es tut mir leid.“
„Ist schon gut, Großmutter. Weder du noch ich können momentan etwas ausrichten. Ich habe keinen Appetit, aber iss du jetzt wenigstens bevor alles kalt wird.“
„Nichts da, gerade jetzt brauchst du deine Kräfte. Entweder wir essen gemeinsam oder ich trete ebenfalls in den Hungerstreik. Sieh dir Arabiki-kun an. Er lauert schon regelrecht darauf, dass er sich über unsere Reste hermachen kann.“
Wir lachten beide. Es stimmte schon, Tiere verhielten sich meistens klüger als so mancher Mensch. Essen hielt Leib und Seele zusammen, auch wenn mir in meiner Hilflosigkeit gerade nicht danach war. Aber eines konnte ich tun, wenigstens für Amuro-san: Watanabe-san anrufen und sie fragen, ob der unbekannte Junge tatsächlich ihr geheimnisvoller Halbbruder war. Die Ähnlichkeit war frappierend, es musste einfach so sein. Und wenn nicht musste sie ihn doch kennen. Immerhin hatte sie die ganze Sache doch augenscheinlich eingefädelt.
Nach dem Frühstück räumte ich gemeinsam mit Großmutter das Geschirr beiseite und wählte Watanabe-sans Namen auf meinem Handy, noch bevor ich mit Arabiki-kun seine Runde drehte. Es klingelte. Einmal, ein zweites Mal. Mein Herz begann vor Aufregung wie wild zu klopfen. Obwohl Watanabe-san meine Freundin war verspürte ich immer noch ein gewissen Unwohlsein, wenn ich ein Anliegen an jemanden hatte. Dazu kam, dass ich dabei nicht in ihr liebenswürdiges Gesicht schauen konnte. Mit Masao war ich es gewohnt zu telefonieren. Aber die Freundschaft zu Watanabe-san war eben noch zu frisch um nicht aufgeregt zu sein. Abermals klingelte es. Sie war wohl gerade nicht erreichbar. Und das im Handyzeitalter. Als ich gerade auflegen wollte klackte es am anderen Ende.
„Ja?“ Eine Jungenstimme meldete sich. Ich erschrak darüber dermaßen heftig, dass mir beinahe mein Handy aus der Hand gefallen wäre. „Ist da jemand?“ Abermals hörte ich die Jungenstimme. „Gu … guten Tag, mein Name ist Ai Nakamura. Akira ist wohl nicht zu sprechen?!“ Ich redete vor Aufregung dermaßen schnell, dass ich mir nicht sicher sein konnte, ob man mich überhaupt verstand. „Was?“ Ein kurzes Räuspern folgte. „Ai-chan, hallo. Schön, dass du mich einmal anrufst. Dass war auch schon lange überfällig. Wie geht es dir? Ich habe ja die tollsten Dinge über unsere Aufführung gehört. Du warst mit der Star des Stücks. Ich habe dir ja prophezeit, dass sich die Dinge zum Besten wenden würden. Ich wäre ja so gerne dabei gewesen, aber leider konnte ich es nicht. Du hast sicher umwerfend ausgesehen im Prinzessinnenkostüm. Hat jemand Bilder davon gemacht? Wahrscheinlich schon. Immerhin leben wir ja im Handyzeitalter. Die muss ich unbedingt sehen und …“
Da war er wieder, Watanabe-sans Redeschwall. Damit hatte sie sich ja auch in unserer Klasse eingeführt. Schon seltsam, dass unmittelbar auf die Jungenstimme jene Watanabe-sans folgte. Halt, das musste ja wohl ihr Bruder gewesen sein. Von einem Freund wusste ich nichts. Außerdem wäre wohl selbst Watanabe-san nicht so abgebrüht, dass sie bereits mit einem Geliebten am Frühstückstisch sitzen würde. Andererseits waren wir auch keine Kinder mehr. Halt, meine Gedanken schweiften wieder einmal ab.
„Hör mal, ich weiß, das kommt überraschend, aber wäre es möglich, dass wir uns heute treffen? Ich hätte da ein Anliegen, über das ich wirklich mit dir sprechen müsste. Natürlich nur, wenn du dich nicht zu krank fühlst?!“
„Krank?! … Naja, noch fühle ich mich nicht ganz auf dem Damm. Morgen würde es mir tatsächlich besser passen.“
„Schön. Gibst du mir noch deine Adresse? Dann kannst du deine Kräfte noch ein wenig schonen und wir müssen kein Geld für ein Familienrestaurant ausgeben.“
„Meine Adresse? Ich würde eigentlich viel lieber dich besuchen kommen. Außerdem liebe ich Tiere. Deinen Arabiki-kun würde ich zu gerne einmal kennenlernen. Mit deiner Großmutter würde ich mich auch super verstehen. Mit älteren Damen kann ich gut. Also abgemacht. Wir sehen uns. Bis morgen. Tschüss.“
Watanabe-san war wirklich ein eigener Charakter. Ich hatte eigentlich den Hintergedanken, bei ihr zuhause auch ihren Bruder anzutreffen. Dann hätte ich gleich gesehen, ob mein Verdacht zutraf. Nun ja, wahrscheinlich besäße Watanabe-san auch einige gemeinsame Fotos auf ihrem Handy. Wenn ich sie darum bat sagte sie bestimmt nicht „Nein“. Schließlich ging sie mit ihrer Familiengeschichte auch hausieren. Moment, wusste sie überhaupt wo ich wohnte?! Sicherheitshalber rief ich sie nochmals an. Es ging aber nur noch die Mailbox ran. Sehr merkwürdig. Vielleicht telefonierte sie bereits mit jemand anderem. Ich schickte ihr meine Kontaktdaten dann einfach über „Line“, einem japanischen Messangerdienst. Arabiki-kun seinerseits wurde bereits ungeduldig und scharrte an der Haustür. Ich leinte ihn an und ging mit ihm auf unseren gewohnten Spaziergang. Allerdings kam ich nicht umhin, mir über Watanabe-sans merkwürdiges Verhalten Gedanken zu machen.
8
SONNTAG
Es war kurz nach eins und ich bereitete alles für Watanabe-sans Besuch vor. Ich war richtig aufgeregt einmal von einer Freundin besucht zu werden. Selbst Sato-chan hatte ich bis heute noch nicht eingeladen. Wenn es heute glatt lief konnte ich vielleicht auch bei ihr den Mut aufbringen, sie mich besuchen zu lassen. Freude und Angst stiegen bei dieser Vorstellung gleichermaßen in meinem Inneren auf. Ich hatte in meinem Leben einfach schon zu viel mitgemacht um derlei sozialen Interaktionen unbeschwert entgegenzublicken.
Um halb zwei wollte sie bei mir eintreffen. Auch wenn Watanabe-san wohl nicht darauf achtete hatte ich meine besten Klamotten ausgewählt. Schon komisch, was man für andere so tat. Ich lief zwar normalerweise auch nicht gerade verlottert herum, aber aus irgendeinem Grund machte man sich für andere besonders gut zurecht. Selbst, wenn es „nur“ eine sehr gute Freundin war. Selbst Arabiki‑kun hatte ich gebürstet und gestriegelt. Nur auf Großmutter mussten wir heute Nachmittag verzichten. Ihre Freundin Kaede-chan war auf das Skateboard ihres kleinen Enkels getreten und prompt gegen eine Mauer gefahren. Dabei hatte sie sich wohl den Knöchel verletzt. Großmutter war sofort zu ihr ins Krankenhaus gefahren um ihr beizustehen.
So stand ich meinem ersten Besuch einer Freundin alleine gegenüber und war dementsprechend nervös. Würde ich eine gute Gastgeberin sein? Brühte ich den Tee auch nicht zulange auf? Machte mein Zuhause einen guten Eindruck? Menschenskind, wie viele Drähte waren in meinem Kopf eigentlich falsch verdrahtet? Watanabe-san wusste doch über mich bereits bestens Bescheid. Wenn meine Lebensgeschichte sie nicht abgeschreckt hatte dann doch wohl auch nicht mein Heim. In erster Linie durfte ich mein Ziel nicht aus den Augen verlieren, die Identität ihres Bruders in Erfahrung zu bringen.
Es klingelte. Wah, wo war die Zeit nur abgeblieben?! Ohne dass ich es bemerkt hatte war es bereits halb zwei geworden. Watanabe-san war die Pünktlichkeit in Person. Noch einmal tief durchatmen bevor ich die Tür öffnete. Moment, roch mein Atem auch frisch? Nur die Ruhe bewahren. Ich öffnete die Tür und ließ Watanabe-san herein. Noch bevor ich überhaupt zu einer Begrüßung ansetzen konnte setzte bereits ihr berüchtigter Redeschwall ein.
„Ai-chan, wie schön dich zu sehen. Du hast mir die letzten Tage so gefehlt. Hier wohnst du also? Es ist genauso wie du es beschrieben hast. Ich muss sofort deine Großmutter begrüßen. Ist sie etwa gar nicht da? Dabei habe ich mich schon so darauf gefreut sie kennenzulernen.“
„Nein, sie …“
„Ist das dein Hund?! Der ist ja sowas von niedlich. Hallo, mein Kleiner. Du musst Arabiki-kun sein. Ich hab‘ ja schon so viel von dir gehört. Am liebsten würde ich dich mit zu mir nachhause nehmen. Ja, du bist ein ganz Feiner …“
Selbst Arabiki-kun, der es gewohnt war Besuch mit fröhlichem Gebell zu begrüßen, kam nicht zu Wort. Dementsprechend verwirrt blickte er jetzt mich an. Aber ich wusste mir in dieser Situation auch nicht zu helfen, geschweige denn ihm. Sicher war es unhöflich andere Menschen zu unterbrechen, aber ansonsten käme ich wohl keinen Schritt voran. „TEE!“, sagte ich einigermaßen laut um einen Fuß in die Tür zu bekommen. Watanabe-san blickte mich nun ebenso verwirrt an wie Arabiki‑kun kurz zuvor.
„Entschuldige, was hast du gesagt?“
„Tee. Ich meine, ich habe welchen für uns zubereitet. Darf ich dir davon servieren?“
„Ja, gerne. Natürlich. Aber der Aufwand wäre wirklich nicht nötig gewesen. Ein stilles Wasser hätte völlig ausgereicht. Du bist sicher die perfekte Hausfrau. Dein Hideaki kann sich einmal glücklich schätzen.“
„Damit triffst du einen wunden Punkt …“
„Wieso?! Was ist denn los?! Nach allem was ich gehört hab war die Aufführung doch ein voller Erfolg für dich?! Komm, erzähl. Was bedrückt dich?“
So erzählte ich auch Watanabe-san von den Ereignissen am Schicksalstag, wie sie sich für mich darstellten. Ein wenig erstaunten mich ihre Fähigkeiten als Zuhörerin. Immerhin war ansonsten sie es, die das Wort führte. Aber sie hörte sich meine Geschichte Wort für Wort geduldig an ohne mich auch nur einmal zu unterbrechen. Dabei war eigentlich ich es, die sie über ihren Halbbruder befragen wollte.
„Ich verstehe deine Zweifel. Natürlich würdest du jetzt gerne mit ihm sprechen um zu sehen woran du bist. Andererseits kommt im Moment nicht einmal seine Cousine an ihn heran. Das ist natürlich ein Problem.“
„Eben. Ich wünschte, ich hätte mich nach der Vorstellung anders verhalten. Wenn ich gleich auf ihn zugegangen wäre hätte sich die ganze Situation vielleicht ganz anders entwickelt. Der Gedanke daran treibt mich seit vorgestern um.“
„Ich kann dir leider auch keinen Rat geben wie du deine Situation verbessern könntest. Aber ich verspreche dir dich nach Kräften zu unterstützen, soweit ich kann. Komm her.“
„Deine Umarmung tut gut, Watanabe-san.“
„Was soll die übertriebene Höflichkeit?! Damit stehst du dir nur selbst im Weg. Willst du Ito-san dein Leben lang auch nur beim Nachnamen nennen?! Damit schaffst du nur eine unnötige Mauer zwischen euch. Das mag ja in der momentanen Situation noch angehen, aber auf Dauer willst du ihm doch näherstehen als jeder andere. Wenn du ihn nach dem Kuss nicht einmal mir gegenüber beim Vornamen nennen kannst wird das nie was mit euch. Man liebt zwar mit dem Herzen, aber der Kopf muss auch dabei mitmachen.“
„Ja … Du hast recht. Ach, warum konnte ich mich nicht einfach in jemanden verlieben, der in meiner Liga spielt?“
„Aber das hast du doch …“
Akiras letzter Satz kam dermaßen von Herzen, dass mir (wieder einmal) die Tränen kamen. Alle um mich herum brachten mir soviel Liebe entgegen. Warum verwehrte ich mir bloß sie anzunehmen? Auch Akira war eine so herzliche Person. Dabei war sie erst vor kurzem in mein Leben getreten. Ich hatte so viel Glück und war ihm die ganze Zeit blind gegenüber. Ich begann mich zu schämen, dass ich ihr nicht gleich offen gegenüber getreten war was meine Absichten anging.
„Akira, ich möchte mich entschuldigen. Ich war dir gegenüber nicht ganz ehrlich. Als ich dich gestern anrief, wollte ich mit dir eigentlich über deinen Bruder sprechen.“
„Meinen Bruder?! … „Wieso das?“
„Ich habe natürlich keinen Beweis. Aber das war am Freitag doch dein Bruder, der überraschend bei unserem Stück aufgetreten ist. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.“
„Wie kommst du darauf? Ich meine, Gesichter gibt es viele und ich habe ein ziemliches Dutzendgesicht, weißt du?!“
„Keine Sorge, niemand trägt ihm nach, dass er unser Stück durcheinandergewirbelt hat. Ganz im Gegenteil. Erst durch ihn ist es ein richtiger Erfolg geworden. Und ich weiß nicht, ob es ohne ihn den Kuss zwischen Hideaki und mir jemals gegeben hätte.“
„…“
„Aber eine Sache beschäftigt mich. Hast du damals nicht erzählt, er sei ein Hikikomori?! Dass er dann dazu bereit ist mich vor Publikum zu unterstützen finde ich ganz erstaunlich. Umso mehr, da wir zuvor noch kein Wort miteinander gewechselt haben. Das Band zwischen euch muss ungeheuer stark sein, wenn er so über seinen Schatten springt.“
„Ach, weißt du, was das angeht stehen wir uns wirklich sehr nahe. Er würde mir nie einen Gefallen abschlagen oder ich ihm. So sind Zwillinge halt.“
„Aber hast du nicht erzählt, ihr wärt ‚nur‘ Halbgeschwister?“
„Ach, das. Damit wollte ich vermutlich sagen, dass wir beide quasi wie zwei Hälften sind, die zusammen ein Ganzes ergeben. Ein Versprecher halt.“
„Hast du zufällig Fotos von euch beiden auf deinem Handy? Ich liebe Familienfotos. Ich kann dir auch welche von mir und Masao zeigen, auch wenn wir eigentlich keine „richtigen“ Geschwister sind.“
„Kannst du sie mir gleich zeigen? Ich würde zu gerne einmal sehen, wie du als kleines Mädchen ausgesehen hast. Du warst bestimmt ganz bezaubernd.“
„Eigentlich sind mir meine Fotos von damals jetzt doch ziemlich peinlich. Aber ich würde euch beide zu gerne einmal miteinander sehen. Bestimmt seht ihr euch noch ähnlicher, als ich aus dem Gedächtnis heraus annehme.“
„Weißt du, was das angeht … Mein Bruder hasst Familienfotos. Genau. Er mag eigentlich überhaupt keine Fotos, auf denen alle in die Kamera grinsen. Er findet Fotos, die überraschend geschossen werden viel besser. Darum gibt es auch so wenige mit uns beiden darauf. Eigentlich hab‘ ich, wenn überhaupt, nur welche von ihm allein.“
„Ach so?! Schade. Ist ja auch nicht so wichtig. Weswegen ich eigentlich mit dir über ihn sprechen wollte hat einen anderen Grund. Es geht dabei um Amuro-san.“
„Ist sie dich nach dem Stück etwa wieder angegangen?“
„Keine Sorge, ganz im Gegenteil. Sie war mir gegenüber fast wie ausgewechselt. Aber sie hat ziemlichen Liebeskummer. Eben wegen deinem Bruder. Ich mache ihm keinen Vorwurf. Ich habe mich Ito … Hideaki gegenüber nicht besser verhalten. Aber dass er sie einfach zurückgelassen hat setzte ihr ziemlich zu.“
„Dass du dich nach allem was sie dir angetan hat noch um sie sorgst ehrt dich. Du hast wirklich ein gutes Herz, Ai-chan.“
„Weißt du, es war nämlich nicht ihre erste Begegnung. Schon vor Monaten sind sie sich in einem Familienrestaurant begegnet. Auch damals hat er ziemlichen Eindruck auf sie (und auch mich) gemacht.“
„Du warst auch dort?! Daran kann ich mich gar nicht erinnern.“
„Du warst doch gar nicht dabei?!“
„Ich meine, ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass mein Bruder mir von dir berichtet hätte. Du wärst ihm doch sicher aufgefallen. Aber er hat mir erzählt, dass ihm ein Mädchen begegnet sei, von dem er ziemlich beeindruckt war. Leider hätte ihr aber noch der Blick für die wesentlichen Dinge gefehlt.“
„Und sie trauert nun deinem Bruder nach. So sehr, dass sie sogar Hideaki dafür zu vergessen bereit ist. Ich glaube, sie ist wirklich tief verletzt. Könntest du nicht dafür sorgen, dass er wenigstens noch einmal mit ihr spricht? Ich glaube, da gibt es dringend Klärungsbedarf. Ihm mag der Kuss vielleicht nicht viel bedeutet haben, aber ihr dafür umso mehr.“
„Ich glaube, dein Hideaki war sowieso nur eine fixe Idee von Ryoko. Aber wenn es ihr wirklich so schlecht geht werde ich ihm dringend raten sich mit ihr aussprechen. Ich hätte nie gedacht, dass er derart viel in ihr bewegen können würde. Da habe ich sie wohl unterschätzt.“
„Vielen Dank, du nimmst mir zumindest eine gewaltige Last vom Herzen. Ich kann einfach niemanden leiden sehen. Vielleicht spricht aber auch nur der egoistische Wunsch aus mir, eine Konkurrentin weniger zu haben.“
„Ich glaube du weißt selbst am besten, dass das nicht der Fall ist. Für derlei Verhalten bist du einfach nicht der Typ. Aber das ist genau das, was ich so an dir mag, Ai-chan. Und glaub mir, für dein Problem mit Hideaki finden wir auch noch eine Lösung.“
„Das wäre zu schön um wahr zu sein. Oh nein, jetzt ist über unser Gespräch der Tee ganz kalt geworden. Ich setze schnell neuen auf.“
„Lass mich dir helfen, Ai-chan. Gemeinsam geht es schneller. Außerdem hast du mir den Rest des Hauses noch gar nicht gezeigt.“
Akira war wirklich zu lieb. Ich würde sie definitiv noch einmal zu mir einladen. Aber beim nächsten Mal sollten alle dabei sein: von Masao und Sato-chan über Großmutter bis hin sogar zu Kazuki und Kazuko. Alle waren sie mir lieb und teuer. Auch wenn die Zwillinge sicher wieder für die eine oder andere peinliche Situation sorgen würden …
8
MONTAG
Langsam wurde es zur Gewohnheit, dass ich mit wild klopfendem Herzen zur Schule ging. Wie auch schon unmittelbar nach den Sommerferien war ich früher gekommen um mit Hideaki allein sein zu können. Genau wie damals hoffte ich, dass wir miteinander sprechen würden um uns näher zu kommen. Ich dachte, mit der Zeit würde ich mutiger werden, aber ich fühlte mich immer noch wie ein verängstigtes (pummeliges) Häschen.
Ich betrat das Gebäude, wechselte meine Schuhe und steuerte direkt auf meinen Klassenraum zu. Ob Hideaki wohl zu beschäftigt sein würde um mit mir zu reden? Das wohl nicht gerade, aber vielleicht wollte er es auch einfach nicht. Zu verdenken wäre es ihm nicht. Ich drückte den Griff nach unten und öffnete langsam die Tür. Langsam trat ich ein, aber es war niemand außer mir hier. Kein Hideaki, keine Amuro-san oder sonst jemand. Es war einfach nur ein leerer Raum in den ich blickte. Dass noch niemand hier war war an sich betrachtet nicht so ungewöhnlich. Es war noch ziemlich früh am Morgen. Aber eigentlich war Hideaki sonst immer schon zugegen, gewissenhafter Klassensprecher, der er war.
Wahrscheinlich ahnte mein Liebster bereits, dass ich ihn erwartete und wich mir aus. Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich mir. Ich hatte die Chance meines unglücklichen Lebens durch mein Verhalten vertan. Ich konnte wohl noch von Glück reden, wenn man mich jetzt nicht noch mehr ächtete als früher. Aber das war mir egal. „Hideaki, es tut mir leid … Ich wollte dich nicht verletzen …“ Meine Worte kamen aus der Tiefe meine Seele, aber niemand außer mir konnte sie hier vernehmen.
Ich fühlte mich scheußlicher, denn je zuvor. Nicht gemocht zu werden war ich ja gewöhnt. Ich wünschte mich in die Zeit vor dem Valentinstag zurück wo ich nie damit gerechnet hätte, dass mein Traum in Erfüllung gehen könnte. Hätte ich damals nicht angefangen Hoffnung aufkeimen zu lassen wäre mir die heutige Situation erspart geblieben.
Ich ließ beide Fäuste auf mein Pult niedersausen und schluchzte laut auf. Es war alles einfach so ungerecht. Ich hatte einen Fehler begangen und bekam nicht einmal die Chance ihn wiedergutzumachen. Jedem schien alles so leicht von der Hand zu gehen, Sato-chan, Akira und sogar Masao. Jeder schien alles im Griff zu haben, nur ich nicht. Warum war ich bloß so unfassbar unfähig?!
Es ging einfach nicht mehr und ich musste nur noch raus. Egal, ob es ein Schultag oder sonst etwas war, aber ich musste nur noch nach draußen, einfach weg von hier, meiner Unglücksstätte. Niemand sollte mich so verzweifelt sehen und ich wollte ebenso wenig einer Menschenseele begegnen. Ich lief noch in meinen Hausschuhen nach draußen, schwang mich auf mein Fahrrad und radelte davon. Einfach irgendwohin, wo ich mit meinen Gefühlen allein sein konnte.
Es gab unweit von meinem Zuhause ein kleines Stück unberührter Natur, in das ich mich schon als Kind zurückgezogen hatte, wenn ich mich überfordert fühlte. Kaum hatte ich es erreicht, legte ich mein Fahrrad ins hohe Gras und setzte mich zu Füßen einer großgewachsenen japanischen Lärche. Einige Leute hatten gemeinerweise ihre Namen in sie eingeritzt und so ihre Rinde beschädigt. Aber sogar das war mir im Moment egal.
Ich hockte mit angezogenen Beinen da und hielt sie fest umklammert. Es war beinahe so, als wäre ich ein Igel, der sich eingerollt hatte um sein Innerstes zu schützen. Naja, so war es ja eigentlich auch. Wenn es mir schlecht ging fühlte es sich meistens so an, als hätte man mir in den Bauch geschlagen oder getreten. Einfach gesagt, es fühlte sich so scheußlich an wie es klang. Gerade in solchen Zeiten war ich hier am liebsten. Hier stand nichts Schlimmes zu befürchten, hier war ich einfach nur ein Teil von Mutter Natur.
In dieser heilen Welt schien die Zeit einfach stillzustehen, dabei schritt sie auch hier unbarmherzig voran. Vögel, die hier eben noch gebrütet und ihre Jungen aufgezogen hatten ließen ihr nunmehr leeres Nest zurück. Nur ein paar wenige Monate genossen sie Glück als Familie, dann zogen sie ihrer Wege. Auch ich hatte nur ein paar wenige glückliche Momente mit Hideaki verleben dürfen und ihn dann einfach stehen gelassen. Warum verhielt ich mich immer nur so entsetzlich kindisch. Warum machte es mir solche Probleme offen zu meinen Gefühlen zu stehen? Gerade, weil sich mir die Chance auf dem Silbertablett geboten hatte verstand ich meine Selbstsabotage am wenigsten. Warum war ich nur so verkorkst?
Da ereilte mich ein seltener Moment der Klarheit . Ja, ich war in Hideaki verliebt, solange nicht die Möglichkeit bestand, dass mein Traum tatsächlich wahr würde. In meinen Phantasien mit ihm in einer Beziehung zu sein war mir die Wonne auf Erden. Tatsächlich aber hatte ich eine Heidenangst vor ihm wenn es um die Realität ging. Und nicht nur vor ihm. Nein, vor Beziehungen überhaupt. Ich hatte Angst vor den Veränderungen, die mit ihnen einhergingen. Eine Beziehung hieß erwachsen zu werden. Kindern und Jugendlichen sah man Fehler im Großen und Ganzen nach. Als Erwachsene einen Fehler zu begehen konnte unaussprechliche Konsequenzen nach sich ziehen. Selbst meine Liebe zu Hideaki würde sich über die Jahre wandeln. Von wegen „… und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“. Das gegenseitige Bekunden von Gefühlen war nicht das Ziel, nein, bestenfalls die erste Etappe. Zuneigung konnte reifer werden, sich aber auch nur als pubertäres Gehabe herausstellen. Ungeachtet meiner Komplexe lebte ich jetzt im Grunde genommen ein ziemlich bequemes Leben. Großmutter und meine Freunde hielten weitestgehend alles Unbill von mir fern. Wenn ich aber nicht lernte selbst über mein Leben zu bestimmen würde es über kurz oder lang ein übles Ende mit mir nehmen. Ich würde weder in der Lage sein, Verantwortung im Beruf zu übernehmen, geschweige denn für eine Beziehung oder gar eine Familie. Das Leben war mit Enttäuschungen gespickt und nicht alles auf ein Happy End ausgerichtet. Es bestand immer die Möglichkeit zu scheitern, aber wenn ich mich weiter so kindisch benahm würde ich es garantiert.
Es war bereits einige Zeit vergangen, aber mir war es noch nie mit etwas so ernst im Leben wie jetzt. Ich stieg prompt auf meinen Drahtesel und radelte zurück zur Schule um mit Hideaki reinen Tisch zu machen. Egal, was die Konsequenz daraus wäre. Sein Kuss bedeutete mir nach wie vor die Welt, aber selbst, wenn er mir mein Verhalten nicht verübelte, würde ich ihm sagen, ich sei für eine Beziehung noch nicht bereit. Wenn er für mein schrittweises Herantasten keine Geduld aufbrächte, verstünde ich es, aber um gleich in die Vollen zu gehen, dazu war ich noch nicht bereit. Ich fühlte mich, als wäre mein bisheriges Leben nur ein Traum gewesen, aus dem ich endlich erwacht sei. Erwachsen zu sein hieß auch harte Entscheidungen zu fällen, die schmerzen konnten. Aber gerade solche hatten langfristig oftmals positive Auswirkungen.
Ich kam gerade rechtzeitig zur Pause wieder an der Schule an. Als ich meinen Klassenraum betrat herrschte bereits ein reges Gesprächsklima. Einzig Hideaki war nach wie vor nicht anzutreffen. „Das hätte ich nie gedacht.“ „Da muss etwas Gravierendes vorgefallen, sonst kann ich es mir nicht erklären.“ Ich wusste zwar nicht, worüber meine Klassenkameraden gerade sprachen, aber ich entschied mich spontan dazu, sie nach Hideaki zu fragen. „Entschuldigt, wisst ihr zufällig, wann Ito‑san wieder zurück ist?“ „Du bist gut. Hast du es denn nicht mitbekommen? Ito wurde von unserer Schule genommen. Angeblich soll er jetzt auf ein Internat in Tokio geschickt werden. Vermutlich wird er nie wieder hierher zurückkehren.“
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Hier jetzt das sechste Kapitel in Überlänge. Viel Spaß.
Kapitel 6 - Die neue Mitschülerin
Kapitel 6 - Die neue Mitschülerin
Es war der erste Morgen nach den Sommerferien. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten hatte ich nicht auf Masao gewartet und war früher als üblich zur Schule aufgebrochen. Meine Ungeduld hatte ihren Ursprung in Ito-san. Seit unserem Ausflug ans Meer hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Dementsprechend sehnte ich mich nach ihm. Während unseres gemeinsamen Ausfluges war bei mir schiefgegangen was nur schiefgehen konnte und dennoch gab es da diesen Moment der Vertrautheit, als er sich von mir verabschiedete. Mein Kopf sagte mir, dass es sich dabei nur um eine Höflichkeit gehandelt haben musste, aber mein Herz gab mir anderes zu verstehen. Selbst, wenn wir nur Freunde wurden, war das schon mehr als ich je zu hoffen wagen durfte. Er war der unumschränkte Prinz an meiner Schule und mich verglich man seit Jahr und Tag mit einer Kröte.
Ito-san war äußerst pflichtbewusst und von daher als Klassensprecher stets als Erster zugegen. Seine Cousine und meine Freundin Mimi Sato, ebenfalls Klassensprecherin einer Parallelklasse, arbeitete ihre Aufgaben dagegen lieber nach Schulschluss ab. Da ich heute ebenfalls früher als alle anderen ankommen würde wäre ich sicher ein wenig mit ihm allein. Ich hoffte dort anknüpfen zu können wo unser Ausflug endete. Zumindest ein einfaches Gespräch sollte möglich sein.
Mein Herz begann wie wild zu klopfen, als ich durch das Schulportal schritt. Ich selbst war auf dieser Mission mein schlimmster Feind. Die Hoffnung, die mich beseelte, wurde nun von Selbstzweifeln eingerissen. Egal, wie oft ich mir einzureden versuchte, dass ich mindestens genauso viel wert wäre, wie alle anderen, es fruchtete nicht, außer wenn meine Freunde mich umgaben und mir Mut machten.
Am liebsten hätte ich stehenden Fußes kehrt gemacht und wäre wieder nachhause gefahren, damit Masao mich begleiten konnte. Aber aus irgendeinem Grund tat ich es nicht. Es wäre auch zu albern gewesen. Wenn ich nicht meine Frau stand würde ich irgendwann noch bei Masao und Sato-chan einziehen müssen, sofern Masao diesbezüglich endlich einmal klare Zeichen setzte. Ich war Ai Nakamura und hatte bereits einmal an Ito-sans Schultern geschlafen, ohne dass es ihm etwas ausgemacht zu haben schien. Wollte mein Schwarm trotzdem nichts mit mir zu tun haben konnte ich eben nichts machen. Aber es war mir klar, dass man im Leben jene Dinge am meisten bereute, die man nicht versucht hatte.
Ich stellte meine Straßenschuhe im Spind ab und bewegte mich entschiedenen Schrittes auf meinen Klassenraum zu, den Ort meiner größten Niederlagen. Ich würde lügen, wenn ich sagte, mein Körper hätte nicht gezittert, aber da musste ich durch. Zu meinem eigenen Besten. Beherzt griff ich nach dem Türknauf und zuckte zurück. Eine statische Aufladung hatte mir einen leichten elektrischen Schlag versetzt. Wenn das mal kein schlechtes Omen war …
Ich drehte den Knauf und betrat das Zimmer. Ito-san brütete gerade über ein paar Unterlagen und saß mit dem Rücken zu mir. Wahrscheinlich hatte er mich noch nicht einmal bemerkt. Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu und nahm all meinen Mut zusammen um ihn anzusprechen.
„Gu … Guten Morgen, Ito-san. Es ist schön dich wiederzusehen.“
Er sah von seinen Papieren auf und drehte sich zu mir um. Er stand von seinem Stuhl auf und begrüßte mich ebenfalls.
„Oh, guten Morgen, Nakamura. Ich freue mich auch dich zu sehen. Gibt es einen Grund, warum du schon so früh gekommen bist?“
Ja, dich. Aber das konnte ich ihm beim besten Willen nicht einfach so vor den Latz knallen.
„Ich wollte … sehen, ob ich dir vielleicht ein wenig zur Hand gehen kann. Um die Wahrheit zu sagen ist mir mein Auftritt bei unserem Strandausflug immer noch ziemlich peinlich. Außerdem hattest du damals ziemlich unter mir zu leiden. Dafür möchte ich mich bei dir noch einmal aus tiefsten Herzen aufrichtig entschuldigen.“
„Stimmt. Da war ja was. Aber es braucht dir nichts leid zu tun. Ich habe es damals absolut ehrlich gemeint, dass ich mich auf unseren Trip ziemlich amüsiert habe. Deine natürliche Art war wirklich herzerfrischend.“
Wie damals wusste ich auch jetzt wieder nicht ob ich mich über dieses Kompliment freuen sollte.
„Wie gesagt, du brauchst dich deswegen wirklich nicht zu grämen. Aber wenn du mir dennoch ein wenig helfen möchtest freue ich mich natürlich.“
„Zur Stelle … ich meine natürlich.“
Sofort musste Ito-san wieder ein wenig über meinen Versprecher lachen. Aber das machte mir nichts, weil ich fühlte, dass er sich damit nicht über mich lustig machen wollte.
„Du bist wirklich eine Nummer für sich. Hier habe ich unsere Unterlagen für unseren Schulausflug nach Kyoto in einiger Zeit. Die Liste der Teilnehmer, unsere Besichtigungsroute sowie die Freizeitaktivitäten, die von unseren Mitschülern vorgeschlagen wurden. Die Teilnehmerliste könntest du noch mit unserer Klassenliste auf Vollständigkeit abgleichen beziehungsweise auf etwaige Fehler bei den Namen. Eine kleine Unachtsamkeit und die Rektorin lässt mich alles noch einmal von vorne aufsetzen. Du wärst wirklich ein Schatz, wenn du mir zumindest diese Aufgabe abnehmen könntest. Ehrlich gesagt bin ich schon mit dem Rest gut zugange.“
„Gerne.“
Zumindest dieses Wort brachte ich ohne Versprecher heraus.
So saß ich denn am Pult neben Ito-san und nahm ihm von seiner Last. Es war zum Glück nicht die anspruchsvollste Aufgabe, also konnte ich auch nur relativ ungefährlichen Schaden verursachen. Aber so alleine mit ihm in einem Raum an einem gemeinsamen Projekt zu arbeiten, das hatte etwas. Mir fiel auf, dass er seine Stirn in Falten legte, wenn er angestrengt über etwas nachdachte und sich dabei auf die Unterlippe biss. Ob das sonst noch jemand von ihm wusste? Vielleicht seine Eltern und Sato-chan, aber außerhalb von seiner Familie? Mir gefiel der Gedanke, dass es nicht einmal Amuro-san wusste, die sonst ständig um ihn herumscharwenzelte.
Apropos Amuro-san: mittlerweile war ich auf der Liste bei ihrem Namen angekommen. Wenn ich diesen einfach verschwinden ließe, ob ich dann auf unserer Klassenfahrt wohl von ihr verschont würde?! Der Gedanke war reizvoll, aber im Endeffekt müsste mein Schwarm dann meine Bosheit ausbaden. Vielleicht ließe er sich als Entschädigung dann zu einem Rendezvous mit ihr nötigen. Nein, das war es wahrlich nicht wert. Lieber eine nervtötende Mitreisende ertragen als Ito-san in ihre Arme treiben.
Wie üblich hatte er bereits erstklassige Arbeit geleistet und meine Überprüfung war müßig. Er war das geborene Organisationstalent. Höflich, freundlich, korrekt und dabei über die Maßen gutaussehend. Ach, wenn dich meine Gefühle doch erreichen würden …
„Nakamura? Hallo, Nakamura?!“
„Wie? Ito-san, entschuldige. Ich war ein wenig geistesabwesend.“
„Du scheinst dich wirklich schon sehr auf unsere Reise zu freuen, so glückselig wie du gelächelt hast. Ist die Liste soweit korrekt?“
„Ja, absolut. Von A bis Z sozusagen.“
„Vielen Dank. Du bist wirklich ein Schatz. Dann kann ich später die Unterlagen einreichen.“
Irrte ich mich oder hatte Ito-san mich heute Morgen schon zum zweiten Mal einen Schatz genannt? Danke ihr höherstehenden Wesen, die ihr über mein unwertes Schicksal richtet.
„Weißt du, du scheinst Mimi wirklich am Herzen zu liegen. Wenn man sie nicht kennt kann sie ziemlich abschreckend wirken, aber ihre Freundschaft ist Gold wert. Wenn jemandem, der ihr wichtig ist, etwas zustößt, wird sie zur Berserkerin. Ich habe aber das Gefühl, dass sie dich sehr gern hat. Es ist auch richtig schwer, ihr einen Wunsch abzuschlagen. An jenem Tag hatte ich eigentlich keine Lust etwas zu unternehmen, aber sie meinte bloß, dass es mir gut tun würde mit euch einen Ausflug zu unternehmen. Und sie hatte recht.“
Die Berserkerin hatte ich auch schon zu spüren bekommen. Was aber wichtiger war: Ito-san sprach mit mir über Dinge, die nichts mit der Schule zu tun hatten und das richtig ausgelassen. War er früher noch eher wortkarg, so plapperte er jetzt geradezu. Gut, das war etwas übertrieben. Ich konnte nicht anders, als mich einfach in meinem Glück zu sonnen und zu lächeln. Auch wenn es unbeabsichtigt war schien ich bei unserem Ausflug etwas in ihm bewegt zu haben. Zum ersten Mal kam es mir nicht dumm vor in ihn verliebt zu sein. Auch wenn es nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, so nahm er mich doch nun zumindest als Mensch wahr, mit dem man sprechen konnte.
„Ito-san, du kannst mit mir über alles reden. Egal, was dich bedrückt, ich werde immer für dich da sein.“
Diese und noch weitere (kitschige) Worte wollte ich ihm mitteilen. Aber ich kam nur bis „Ito-san …“. Dann öffnete sich die Tür zum Klassenraum und zerstörte unsere vertrauliche Stimmung. Amuro-san trat herein.
„Guten Morgen, Hideaki-kun. Wie üblich bist du es, der als Erster vor Ort ist. Ganz wie wir es von unserem geliebten Klassensprecher erwarten. Du bist zu Recht der strahlende Stern am Firmament unserer Oberschule. Ich weiß, welche Last auf deinen Schultern ruht. Aber du weißt: ein Wort genügt und ich stehe an deiner Seite um sie mit dir zu tragen.“
„Amuro-san, bitte. Lass es gut sein. Ich möchte keine Annäherungsversuche mehr von dir. Wir sind Klassenkameraden und damit Schluss. Verwende deine Verführungskünste lieber auf jemanden, der sie auch zu schätzen weiß. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe noch ein paar Unterlagen zu kopieren.“
Mit diesen Worten verließ Ito-san den Raum und ließ mich alleine mit der Bestie zurück.
Da war er wieder, Amuro-sans Blick, mit dem sie töten konnte. Ihr wurde ihr Leben lang alles zu Füßen gelegt, was ihr Herz begehrte. Ablehnung kannte sie nicht und war sie von daher auch nicht gewöhnt. Ich wagte mir gar nicht auszumalen, wozu sie im Stande war, wenn man ihre Zuneigung ablehnte. Und ich war im Raum und hatte ihre Niederlage miterlebt. Vielleicht hatte sie mich auch gar nicht bemerkt. Immerhin war ich so auffällig wie Vanilleeis auf einem beigen Teller. Sie biss sich wütend auf ihre Unterlippe. Diese begann dabei sogar ein wenig zu bluten. Mein Atem ging ganz flach und ich zuckte nicht einmal mit meinen Augenbrauen. Wenn Ito-san bloß schnell zurückkam. Von mir aus auch jemand anders. Alles war besser als mit Amuro-san in einem Raum zu sein, wenn es keine Augenzeugen gab.
Mit einem Mal wandte sie ihren Blick in meine Richtung. „Krötenmädchen …“
Hilfe!!! Würde sie mich schnell und schmerzlos über die Klinge springen lassen oder vorher noch ihren Zorn an mir ausleben wollen?
„Du warst die ganze Zeit hier und hast alles beobachtet.“
Ihre Stimme klang erschreckend kalt und kontrolliert.
„Wir wollen doch nicht, dass es in der Schule einige ‚Gerüchte‘ gibt, die meinem tadellosen Ansehen schaden könnten. Das verstehst du doch sicher …“
Ich nickte vorsichtig. Wenn man einem Raubtier gegenüberstand war es meistens am besten unnötige Bewegungen zu vermeiden.
„Weißt du, ich kann mich da noch sehr gut an einen gewissen Vorfall erinnern. Wir sind uns kurz vor den Prüfungen doch einmal vor diesem schäbigen Familienrestaurant begegnet. Wie sich herausstellte, waren wir beide nicht ganz zufällig da, oder?!“
Ich schluckte mehrmals tief und nickte vorsichtig.
„Siehst du?! Ich meine es nur gut mit dir. Wenn du weiterhin sicher sein willst, dass niemand etwas von deinem kleinen Nebenjob erfährt, muss ich sicher sein können, dass du genauso verschwiegen bist wie ich. Du verstehst?!“
Der Ton, in dem sie sprach ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Das Mädchen hatte eindeutig Probleme. Unvermittelt fiel mir die Sendung über wahre Mordgeschichten wieder ein, die ich einmal gesehen hatte. Wenn ich nicht aufpasste wurde darin vielleicht noch von mir berichtet. Ihre Hand kam meinem Kopf immer näher. Wollte sie mich hier und jetzt unschädlich machen, mich erwürgen?! Nein, sie tätschelte nur sanft meine Wange.
„Brav …“
Sie drehte sich um und begab sich an ihren Platz. Dann nahm sie ein Buch heraus und begann darin zu lesen. Ich rührte mich nach wie vor nicht vom Fleck. Erst als auch andere Mitschüler eintrafen begann sich meine Starre zu lösen und ich begab mich langsam selbst an mein Pult. Irgendwie war meine harmlose Unterhaltung über die Sommerferien zu einem Psychothriller verkommen. Ich konnte nicht einmal Masao und die anderen zu Hilfe rufen. Was hätten sie auch tun sollen?!
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Zutiefst beunruhigt saß ich an meinem Platz. Dies änderte sich auch nicht, als sich die Klasse immer mehr füllte. Erst als der Sensei den Raum betrat kehrte ein wenig die Ruhe in mich zurück.
„Guten Morgen, Schüler. Ab heute wird eine neue Mitschülerin unseren Unterricht besuchen. Akira, stellst du dich bitte vor?“
Neben den Sensei stand ein vergleichsweise großgewachsenes Mädchen mit langen, glatten, braunen Haaren. Ich weiß, am Strand hatte ich mir noch selbst eingeredet, Neuem gegenüber offener zu sein. Aber ich fürchtete, dass sie bloß eine weitere meiner Mobber werden würde. Selbst wenn dies nur dem Gruppendruck geschuldet sein würde, es war eine Möglichkeit, die sich meinem schwachen Geist aufdrängte. Lieber hätte ich sie als eine Freundin gewonnen, aber ich fürchtete ansteckend zu sein und sie damit ebenso unbeliebt werden zu lassen wie mich selbst.
Es war merkwürdig, aber tatsächlich kam mir ihr Gesicht ein wenig bekannt vor. Waren wir uns schon einmal begegnet?! Es war zum Auswachsen mit mir. Gesichter konnte ich mir absolut nicht merken. Es kam öfter vor, dass ich irgendwo jemanden erblickte, den ich zumindest vom Sehen her kannte. Allerdings konnte ich beim besten Willen nie sagen, woher. Ich sollte den Mut aufbringen, sie später danach zu fragen. Vielleicht. Das Mädchen, Akira, hatte ihre Hände vor ihrem Bauch ineinander verschränkt und ihren Kopf gesenkt. Noch hatte sie kein Wort gesagt. War sie etwa genauso schüchtern wie ich?
„Hallo, mein Name ist Akira Watanabe. Ich bin siebzehn Jahre alt und vor kurzem in diese Gegend gezogen. Mein Vater war im führenden Management bei einer renommierten Firma in Tokio angestellt, hat aber einen ziemlichen Bock geschossen. Deswegen wurde er hierher strafversetzt. Meine Mutter hat vor meiner Geburt ebenfalls in derselben Firma gearbeitet, wegen mir aber auf Hausfrau umgesattelt. Es war aber kein Verhältnis zwischen einem Vorgesetzten und seiner Sekretärin, keine Sorge. Ich habe noch einen Halbbruder, Akito. Der ist ein erhabener Hauswächter[1] und geht nicht zur Schule. Meine Mutter versucht ihn stets umzustimmen, aber er hockt nur in seinem Zimmer und spielt Videospiele. Er besitzt viele Mangas für Volljährige. Ich selbst bin das komplette Gegenteil von ihm und möchte viel mit euch allen gemeinsam unternehmen. Meine Blutgruppe ist AB und ich bin 1,80 m groß. Mein Geburtstag ist der 1. Dezember. Wenn ihr etwas wissen wollt fragt mich nur. Ich habe keine Geheimnisse. Ich hoffe, wir werden bald alle miteinander gute Freunde sein.“
„…“ Keiner, nicht einmal der Sensei, konnte dazu etwas sagen. Von wegen schüchtern. Ganz im Gegenteil. Watanabe-san hatte unserer Klasse in den letzten Augenblicken mehr Informationen zukommen lassen, als wir in der Kürze überhaupt verarbeiten konnten. Selbst, wenn ihr Leben als Seifenoper umgesetzt werden würde, wären das genug Handlungsstränge für mehrere Monate gewesen. Wer weiß, was sie erst von sich (und ihrer Familie) preisgab, wenn man zu ihren Freunden gehörte?!
„Ähm … nun gut, Akira, such‘ dir bitte einen Platz. Ich glaube, neben Nakamura ist noch etwas frei.“ Sofort begannen die ersten Stimmen zu tuscheln.
„Oje, die Arme.“
„Wenn sie bloß nicht abfärbt …“
Ich hätte mir natürlich einreden können, dass meine Mitschüler um mich besorgt waren, aber das war Blödsinn. Watanabe-san war diejenige, die sie bemitleideten. Allerdings schien ich sofort ihr Interesse geweckt zu haben, denn kaum hatte sie sich hingesetzt lächelte sie mich an. Hatte sie die Schmährufe nicht gehört oder stand sie über so etwas? Unsicher, wie ich diese Geste erwidern sollte versuchte ich zurückzulächeln. Da ich so etwas allerdings nicht gewohnt war könnte ich auch so gewirkt haben, als verzöge ich mein Gesicht wegen eines Wadenkrampfs. Schnell senkte ich meinen Blick auf mein Buch und zog mich in mein Schneckenhaus zurück. Es war gar nicht nötig, dass die Anderen mich schlecht redeten. Einen schlechten Eindruck zu machen war quasi mein Tagesgeschäft. Es war auch für sie besser, wenn ich keinen Kontakt zu ihr aufnahm.
„Gibt es schon Pläne, was diese Klasse zum diesjährigen Kulturfestival beitragen möchte?“
Der Sensei sprach ein weiteres für mich unliebsames Thema an. Üblicherweise übertrugen meine „Kameraden“ die unangenehmen Begleiterscheinungen des Festivals an mich und hatten dafür selbst den größten Spaß dabei. Dazu gehörten unter anderem die Materialbeschaffung, der Aufbau und der größte Teil der Arbeit während des Festivals. Die Planung übernahm dankenswerterweise zwar immer Ito-san, der Rest wurde größtenteils mir aufgebürdet. Meine Mitschüler schafften es sich vor ihm aber immer so darzustellen, als wären sie emsig an der Arbeit beteiligt.
Früher hatte ich ihm gegenüber kein Wort herausgebracht, geschweige denn die Missstände aufgezeigt. Heute war unser Verhältnis zueinander deutlich persönlicher. Vielleicht konnte ich mich dieses Jahr wenigstens gegen die Ausbeutung zur Wehr setzen. Mal abwarten.
„Wollen wir dieses Jahr ein Maid-Café veranstalten?“
Es erfolgte eine eindeutige Ablehnung des weiblichen Anteils unserer Klasse.
„Wie wäre es mit einem normalen Café? Die Mädchen könnten Kuchen und Crêpes zubereiten.“
„Wieso läuft es ständig darauf hinaus, dass die Mädchen ausgebeutet werden sollen?!“
Es erfolgte eine weitere Ablehnung. Meine Mitschülerinnen waren gerade dabei den Feminismus für sich zu entdecken. Bravo, Schwestern!
Da erhob sich meine neue Nachbarin Watanabe-san von ihrem Stuhl.
„Warum führen wir nicht einfach ein Theaterstück auf? Das war in meiner alten Schule ein Heidenspaß. Außerdem wäre das eine gute Gelegenheit uns alle näher kennenzulernen.“
Wieviel willst du denn noch von dir preisgeben? Außerdem konnte ich nicht recht einschätzen, was ein Theaterstück für mich zur Folge hätte. Auf die Bühne würde man mich glücklicherweise nicht stellen. Müsste ich etwa die Kulissen herstellen oder die Kostüme nähen? Wer schriebe wohl das Drehbuch?
„Ich melde mich freiwillig.“
„Das ist sehr löblich, Ryoko. Was möchtest du machen?“
„Ich schreibe selbstverständlich das Drehbuch. Weiters melde ich mich gleich freiwillig für die weibliche Hauptrolle.“
„Das ist nicht wenig, das du dir da aufbürden möchtest. Denkst du, du schaffst das, ohne das deine Noten darunter leiden werden?“
„Natürlich ist das viel Arbeit, aber wenn ich eine persönliche Assistentin bekomme, sollte das kein Problem sein.“
„Hast du da bereits jemand bestimmtes im Auge?“
„Ich denke dabei an das Herz und die Seele unserer Klasse: Ai Nakamura.“
Sofort ging ein Raunen durch den Klassenraum. Lediglich Watanabe-san drehte sich begeistert zu mir um und klatschte ihre Hände zusammen.
„Toll, Ai-chan. Ich bin sicher, dass du das großartig meistern wirst.“
Woher nimmst du deine Zuversicht? Überhaupt: Wir haben noch kein Wort miteinander gewechselt. Du kennst mich überhaupt nicht. Am schlimmsten jedoch war die Aussicht die nächsten Wochen quasi Tag und Nacht Amuro-sans Leibeigene zu sein zu werden.
„Ja, Nakamura macht das schon.“
„Wenn die beiden das Ruder übernehmen kann überhaupt nichts schiefgehen.“
„Nakamura ist ideal für diese Aufgabe.“
Plötzlich kennt ihr also meinen Namen?! War ich bis heute nicht nur das „Krötenmädchen“?! Ihr elenden Drückeberger und Wendehälse. Verschachert einfach meine Seele an den Teufel.
„Gut, dann steht es fest. Für das Drehbuch und die weibliche Hauptrolle zeichnet Ryoko Amuro verantwortlich. Assistieren wird ihr dabei Ai Nakamura. Gibt es bereits Vorschläge, wer den männlichen Hauptpart geben soll?“
„Das kann nur Hideaki sein.“
„Ja genau, unser Aushängeschild.“
„Hideaki wird uns nicht im Stich lassen.“
„Hideaki, Hideaki!“
War das ein Witz? Ito-san und Amuro-san würden miteinander auf Tuchfühlung gehen und ich sollte, nein, müsste dabei zusehen?! Da es der (beinahe) einstimmige Wunsch der Klasse war konnte sich ihm Ito‑san nicht einfach entziehen. Amuro-san musste das vorhergesehen haben, als sie sich freiwillig meldete. Sie war wahrlich eine Teufelin.
„Ich bringe nicht viel Erfahrung als Schauspieler mit. Zudem werde ich nicht viel Zeit für die Proben aufbringen können. Meine Pflichten als Klassensprecher haben selbstverständlich Vorrang gegenüber allem anderen. Seid ihr sicher, dass ihr nicht lieber jemand anderen für die Hauptrolle haben wollt?!“
„Du machst das schon.“
„Es gibt nichts, was du nicht schaffen kannst.“
„Ryoko und Hideaki werden ein absolutes Traumpaar abgeben.“
Letzterer Ausruf stammte natürlich von Amuro-sans Handlangerinnen Rin und Suki.
„In Ordnung. Ich beuge mich der Mehrheit. Ich Hideaki Ito werde im Theaterstück unserer Klasse die männliche Hauptrolle übernehmen.“
Ito-san wusste, was er der Menge schuldig war. Irgendwie jedoch wirkte er mit seiner Bürde gar nicht einmal so unglücklich. Nach außen hin schien er zwar normal, aber es umgab ihn so eine Art inneres Leuchten. Ich mochte mir darauf keinen rechten Reim machen.
Auch die restliche Zuteilung der Aufgaben ging ziemlich flott von der Hand. Die Jungs begeisterten sich in erster Linie für das Bauen von Requisiten und des Bühnenbildes, den Mädchen wurde das Schneidern der Kostüme aufgedrängt. Auf die Bühne selbst drängte allerdings beinahe niemand. Kein Wunder, es war bekannt, was Amuro-san für ein Besen war. Das machte die Proben zum Lauf auf Eierschalen. Nur Watanabe‑san meldete sich freiwillig als Schauspielerin. Die Ärmste hatte ja keine Ahnung.
Aufgrund dessen wurden aus dem Überschuss an Bühnenbildnern und Schneiderinnen Streichhölzer gezogen um zusätzliche Schauspieler zu akquirieren. Aber deren Leid war mir egal. Ich war es, die Amuro-san zur Verfügung stehen musste. Da wäre ich fast noch lieber unter dem Schauspielvolk gewesen.
Ich musste mir dringend den Kummer von der Seele sprechen. Einmal mehr wäre ich lieber einer anderen Klasse zugehörig gewesen als der meinen. Der, in der sich all meine Freunde befanden …
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„Eure Klasse führt ein Theaterstück auf? Das klingt doch gar nicht mal so übel.“
Masao machte sich die Sache ziemlich einfach.
„Hideaki will wirklich die Hauptrolle übernehmen? Das freut mich für ihn.“
Auch Sato-chan übersah den Kern meines Problems. Ließen meine Sorgen sie alle so kalt oder war ich bloß hysterisch?
„Das Theaterstück ist mir doch schnurz. Ito-san hat Amuro-san vor meinen, und nur meinen, Augen erneut einen Korb gegeben. Wenn ich ihr die nächsten Wochen zur Hand gehen muss, wird sie mich diese Schmach bitter auskosten lassen.“
„Ai-chan, erinnerst du dich eigentlich noch an den Rat, den ich dir in den Sommerferien gegeben habe? Wenn du deine Feinde nicht besiegen kannst, musst du dich an ihre Seite stellen. Das Wichtigste ist nur, dass deine Stimme lauter ist als ihre.“
Erinnern konnte ich mich schon daran, aber ehrlich gesagt hatte ich ihn schon damals nicht zur Gänze verstanden.
„Das ist gut. Der Rat könnte glatt von mir sein.“
Masao verstand sofort was Sache war. Ich war für derlei Vergleiche wohl manchmal zu begriffsstutzig.
„Verstehst du nicht? Wenn Amuro-san …“
Masao flüsterte mir die Lösung für meine Probleme ins Ohr.
„Ach so. Na klar. Aber könnte sie dafür nicht an mir Rache nehmen wollen?“
„Wollen sicher, aber sie hätte keine Handhabe dafür. Immerhin würdest du schließlich nur deine Aufgaben ernst nehmen.“
„Siehst du, Ai-chan? Manchmal übersehen wir einfach die offensichtlichsten Lösungen für unsere Probleme. Wenn diese Amuro-san dir blöd kommt musst du einfach nur das tun, was sie dir sagt. Buchstabengetreu.“
„Danke. Ihr seid die Besten. Was plant eure Klasse eigentlich für das Kulturfest?“
„Ach, wir wollen …“
„Ai-chan! Hier steckst du also. Alle suchen schon nach dir.“
Watanabe-san?! Was wollte sie denn in meinem Refugium?!
„Amuro-san braucht dich um die Einzelheiten für unser Theaterstück abzuklären. Seid ihr Ai‑chans Freunde? Ais Freunde sind auch meine Freunde. Hallo, ich bin Akira Watanabe. Ich bin siebzehn Jahre alt und bin vor kurzem in diese Gegend gezogen. Mein Vater war im führenden Management bei einer renommierten Firma in Tokio angestellt, hat aber einen ziemlichen Bock geschossen. Deswegen wurde er hierher …“
„Genug! Ich meine, du willst doch nicht die ganze Spannung vorwegnehmen. Wenn Amuro-san nach mir schickt will ich sie nicht warten lassen. Bis dann. Wir sehen uns.“
„Bis dann!“
Auch Watanabe-san verabschiedete sich artig. Es war nicht nett, ihr dazwischenzureden. Aber ich konnte nicht einschätzen, ob sie wieder vorhatte, ihr wildfremden Menschen ihre ganze Lebensgeschichte anzuvertrauen. Ihre Offenheit wirkte ziemlich irritierend auf mich und ich hatte Angst, dass meine Freunde es ebenso sehen würden. Zumindest standen ihnen ob dieser ersten Begegnung die Münder offen. Watanabe-san schien jedenfalls kein schlechter Mensch zu sein, aber ein wenig unbedarft. Für jemanden von Amuro-sans Charakter war sie ein gefundenes Fressen. Jetzt mochte sie sie nur dazu verwendet haben mich einzuberufen. Aber wer weiß, ob sie nicht ein weiteres Opfer aus ihr machen wollte.
„Was hat denn so lange gedauert? Wird Zeit, dass du antanzt, Nakamura. Es gibt viel vorzubereiten. Zunächst einmal wirst du den Einkauf der Stoffe übernehmen. Für mein Kostüm ist selbstredend nur das Beste gerade gut genug. Auch Hideaki darf neben mir nicht wie Gelumpe aussehen. Für die Anderen tun es auch Reste vom Grabbeltisch. Das Material für das Bühnenbild musst du ebenfalls organisieren. Sieh zu, dass es einigermaßen kostengünstig ist. Hermachen muss es natürlich trotzdem etwas.“
„Aber wie soll ich das denn alles transportieren? Selbst du musst doch verstehen, dass …“
„Dann lass es eben liefern. Aber auf deine Kosten. Wir haben nur ein äußerst knappes Budget. Es kann ja auch nicht angehen, dass unsere Klasse für deine Unfähigkeit aufkommen muss. Und jetzt unterbrich mich nicht mehr. Wir haben noch einiges zu besprechen. Du wirst …“
„Willst du nicht auch etwas dazu leisten, damit unser Stück ein Erfolg wird? Ai-chan ist viel besser, als dir deine Sachen hinterherzutragen. So wie du dich benimmst bist du bestimmt äußerst unbeliebt in der Klasse. Wenn du dich immer so verhältst hast du bestimmt auch keinen Freund oder sonst jemanden, der in dich verliebt ist. Aber das weißt du ja selbst am besten.“
„…“ Was war gerade geschehen? Hatte Watanabe-san mich gerade in Schutz genommen? Hatte Watanabe-san Amuro-san mit ihrer kindlich-unschuldigen Art gerade die ungeschönte Wahrheit um die Ohren gehauen? Rin und Suki, die sich gerade ein Bento teilten, waren ihre Häppchen aus den Stäbchen gefallen. Selbst Amuro-san staunte. So hatte man sicher ihr Lebtag lang noch nicht mit ihr gesprochen. Watanabe-san selbst schien sich gar nicht bewusst zu sein, dass sie gerade einem Tiger auf den Schwanz getreten war. Sie lächelte so fröhlich und unbeschwert, wie sie es schon die ganze Zeit über getan hatte seitdem ich sie kannte. War sie eine sehr gute Freundin oder einfach nur ausgesprochen dumm? Amuro-san bewegte zwar ihre Lippen, formte aber keine Worte damit. Sie wirkte wie eine Katze, der man die Krallen gezogen hatte. Noch bevor sie sich wieder fangen konnte nahm mich Watanabe-san beiseite und führte mich zu unseren Plätzen.
„Weißt du, Ai-chan, ich kann es einfach nicht haben, wenn eine Freundin ausgenutzt werden soll. Dann muss ich einfach dazwischen gehen.“
Zuerst sah ich die immer noch fassungslose Amuro-san an, dann die unschuldig lächelnde Watanabe-san. Dann wieder Amuro-san. Watanabe-san. Amuro-san. Schließlich setzte ich mich einfach hin, holte mein Bento heraus und nahm noch schnell einige Bissen, bevor die Pause beendet war. Es kam mir beinahe so vor, als betrachtete ich die Szene von einem Punkt außerhalb meines Körpers. Angeblich sollten Nahtoderfahrungen ähnlich verlaufen.
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Die Tage vergingen und die Vorbereitungen für unser Theaterstück nahmen Formen an. Amuro-san hatte tatsächlich ohne meine Unterstützung das Skript dazu verfasst. Im Grunde genommen war sie eine sehr fähige Person, allerdings hatte das Geld ihrer Eltern sie ziemlich verkorkst. Allerdings merkte man dem Text stark an, dass er ihrer Feder entsprungen war. Hier ein kleiner Auszug:
Amuro-san (Prinzessin): „Ach weh mir. Werden ich denn nie einen Prinzen finden der meiner ebenbürtig ist?“
Watanabe-san (einfache Zofe): „Ihr wisst, edle Prinzessin, dass dieser Suche kein Glück beschieden sein kann. Selbst mir einfacher Zofe leuchtet eure Erscheinung derart hell, dass ich erblinde.“
Amuro-san: „Du magst von einfachem Stande sein, doch du sprichst wahr. Mein erhabenes Äußeres und meine Herzensbildung sind wahrlich einzig auf dieser Welt. Ach gäbe es doch jemanden, und sei es nur ein einziger Mann, der meiner Person wert ist. Oder bin ich gar dazu verdammt als schönstes aller Wesen ein ungeliebtes Dasein zu fristen? Es gibt sicher viele, die Meiner begehren, doch weiß ich um meinen Wert auf diesem kargen Erdenrund und bin nicht gewillt mich unter diesem herzugeben.“
Watanabe-san: „Wisset, oh Weise, es gibt da eine Sage von einem Manne, der entfernt an euch heranreichen könnte. Er lebt entfernt in einem Schloss, das mehr als fünfzehn Tagesritte von hier entfernt erbaut wurde. Er soll wie ihr von unvergleichlicher Anmut sein und dabei klug, als habe er sich tausende und abertausende Jahre dem Studium der Menschheit verschrieben. Er könne zumindest als Anwärter in Frage kommen um eure holde Hand.“
Amuro-san: „So sei es. Schicket meine Ritter um diesen Mann. Sollte er euren Äußerungen entsprechen, so werde ich ihm die Gunst erweisen mir vorstellig werden zu dürfen. Ich werde mir eine List einfallen lassen, ihn zu prüfen.“
Diesen Senf musste ich mir jetzt mehrmals täglich anhören. Watanabe-san nahm ihre Rolle mit Humor („Es gibt keine kleinen Rollen.“) Der weitere Verlauf des Stücks gestaltete sich dahingehend, dass Amuro-san weiterhin mit ihrem Dasein als ebenso perfektes wie einsames Wesen haderte, während ihr abwechselnd Rin und Suki das Haar wuschen und bürsteten, ihr Zimmer mit Blumen schmückten und ähnliche devote Aufgaben übernahmen. Das Setting war übrigens auf eine europäische Sagenwelt angelegt. Das fand Amuro‑san wohl schick.
Selbst Ito-san durfte erst kurz vor Schluss die Bühne betreten um sich ihrer als würdig zu erweisen. Dies tat er, indem er Watanabe-san, die sich zwecks seiner Prüfung als Prinzessin ausgab, von sich stieß, wobei sie mit ihrem Kopf in einem Putzeimer landen sollte. Billigste Comedy. Dann fiel er auf seine Knie und machte Amuro‑san einen Antrag, den sie mit einem Kuss besiegelten. Ja, genau, einem Kuss. Zwischen (meinem) Ito‑san und Amuro-san. Im Scheinwerferlicht. Vor aller Augen. Und ich hatte das Ganze zu überwachen. Genauer gesagt sogar dafür zu sorgen, dass er so inniglich wie nur irgend möglich rüberkam. Bis dato war jener Teil des Stücks, Gott sei Dank, noch nicht geprobt worden. Ito-san meinte, dass es sich nicht schicken würde. Wahrscheinlich, nein hoffentlich, hatte er einfach keine Lust seine Lippen auf die ihren zu pressen. Zurücktreten war für ihn keine Option. Hatte Ito-san einmal sein Versprechen gegeben hielt er es auch ein. Egal, wie unangenehm die Konsequenzen für ihn auch ausfallen mochten. Allerdings …
„Hideaki, es kann nicht angehen, dass wir die wichtigste Szene meines Lebens … meines Stücks nicht wenigstens einmal geprobt haben.“
„Amuro-san, bitte. Ich denke nicht, dass Proben bei deinem Schund … deinem Stück groß einen Unterschied machen werden.“
Ito-san blieb standhaft. Es klingt gemein, aber jemanden von derart geringer innerer Schönheit zu küssen, war nun einmal nicht besonders angenehm. Auch, wenn es nur vorgetäuscht war.
„Hideaki, das ist äußerst unprofessionell. Auch wenn es letztlich eine Aufführung ist, die zum größten Teil mit Laien besetzt wurde sind Proben unabdingbar. Gerade bei der Schlussszene. Ich muss dich daher dringend auffordern, deiner Pflicht als Hauptakteur nachzukommen und deinem Part Leben einzuhauchen.“
Ito-san schien sich einzureden, dass er seinem Schicksal nicht entkommen würde können. Auch wenn er sein Pokerface behielt rang er im Inneren schwer mit sich.
„Also gut. Ich bin eine Verpflichtung eingegangen, derer ich mich nicht entziehen werde. Wir werden die Schlussszene proben. Hier und jetzt.“
Bitte nicht! Ito-san, das kannst du mir doch nicht antun. Gut, du kennst meine Gefühle für dich nicht, aber das Kulturfest ist es doch nicht wert.
„Mein Prinz, woher wusstet ihr, dass meine Zofe eine Betrügerin war?“
„Mein Herz erkannte die Wahrheit von Anfang an. Ein derart gewöhnliches Geschöpf konnte niemals die von allen geliebte und bewunderte Prinzessin sein, von der man auch in Generationen noch sprechen würde. Ihr seid einzigartig und meine Liebe für euch kann niemals groß genug sein. Dennoch bitte ich euch, nehmt diesen Ring als Zeichen meiner unerschöpflichen Liebe und Unterwerfung an. Gewährt mir einen Kuss und ich bin auf ewig der Eure.“
„So sei es. Ich nehme euer bescheidenes Kleinod als Zeichen unseres Bundes an und besiegle ihn mit einem Kuss als Zeichen der Verschmelzung unserer Seelen.“
Amuro-san sah mir kurz triumphierend in die Augen bevor sie die ihren schloss, um das Zeichen ihres Sieges von Ito-san zu empfangen. Seine Lippen näherten sich gefährlich jenen Amuro-sans und es war nur noch eine Frage weniger Augenblicke, bevor sie sich benetzten. Im Moment schierster Verzweiflung konnte ich nicht mehr anders und schrie einfach „STOPP!!!“.
Ich muss derart nachdrücklich geklungen haben, dass sogar Amuro-san vor mir erschrocken war. Sie sah mich mit großen Augen an, als könne sie nicht fassen, dass gerade ich es gewagt habe, ihren großen Moment zu unterbrechen. Auch Ito-san wirkte einigermaßen konsterniert, aber auch irgendwie erleichtert. Leider fing sich Amuro-san entsprechend ihrem Charakter schnell wieder und zischte: „Was soll das? Hast du etwa den Verstand verloren? Vergiss nicht, wo sich dein Platz befindet!“
Am liebsten hätte ich mich wie ein Igel zusammengerollt um Schaden von mir abzuwenden, aber dann erfuhr ich einen Geistesblitz. „Genau deswegen musste ich die Szene ja unterbrechen. Das Licht war für eine derart intime Szene gerade viel zu hell. Du hast mir die Aufgabe übertragen dafür zu sorgen, dass alles reibungslos über die Bühne geht. Es liegt nur in deinem eigenen Interesse, dass die Umstände ideal sind.“
„Jetzt wird mal nicht übermütig, du Krö …“
„Sie hat recht. Du selbst hast gerade eben noch von mangelnder Professionalität gesprochen. Du solltest Nakamura dankbar sein, dass sie alle Details so sehr im Auge hat.“
Amuro-san wäre mir jetzt am Liebsten wohl an die Gurgel gegangen, allerdings war Ito-sans Argumentation schlüssig. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und schrie den armen Teufel an, der für die Beleuchtung zuständig war.
„Dimme gefälligst das Licht ein wenig. Siehst du nicht, dass hier große Kunst entsteht?!“
Der Beleuchter schien zum Glück ein dickes Fell zu haben und drehte lediglich das Licht ein wenig herunter, ohne sich überhaupt mit Amuro-san auseinanderzusetzen.
„Wie ist es jetzt?“
„Perfekt.“, antwortete ich. „Vielen Dank.“
„Dann können wir jetzt ja wohl weitermachen.“
Amuro-san knurrte deutlich.
„So sei es. Ich nehme euer bescheidenes Kleinod als Zeichen unseres Bundes an und besiegle es mit einem Kuss als Zeichen der Verschmelzung unserer …“
„Stopp!“
Abermals unterbrach ich Amuro-san vor ihrem Kuss.
„Was ist denn jetzt wieder?! Bild dir bloß nicht ein, dass du ständig ...“
„Die Akustik war eben ganz besonders mies. Das müssen wir umgehend in den Griff bekommen, sonst macht die ganze Probe keinen Sinn. Du klangst beinahe wie eine … KRÖTE!“
Einige unserer umstehenden Klassenkameraden konnten ihr Gelächter nicht mehr unterdrücken. Ich mochte gerade mit dem Feuer spielen, aber dass das Krötenmädchen unserer Klassenprinzessin gerade die Stirn bot, musste einfach zu lustig wirken.
„Duuuu …“
Normalerweise hätte ich verschüchtert meinen Schwanz eingezogen und wäre davongelaufen, aber die Liebe verlieh mir gerade unglaubliches Selbstvertrauen.
Den ganzen Nachmittag ging es so weiter. Nach dem Mikrofoncheck musste schließlich Amuro-sans Makeup erneuert werden. Dann behauptete ich, dass Amuro-san zu sehr nuscheln würde und zu guter Letzt tat ich so, als sei eine Maus in unserer Aula unterwegs gewesen. Das gab ihr schließlich den Rest und Amuro‑san war die Lust aufs Küssen vergangen. Entnervt zog sie mit ihren Dienerinnen im Schlepptau von dannen. Ito-san lachte dagegen von Herzen auf, als Amuro-san verschwunden war.
„Vielen Dank, Nakamura. Du hast mich heute wirklich gerettet. Scheint, als wärst du mein Schutzengel.“
Dabei tätschelte er einmal zärtlich meine Wange. Ein leises „Kyaaaaah!“ entfuhr meiner Kehle. In dem Moment wusste ich genau, wie es Sato-chan damals im Game Center gegangen war: Unbeschreiblich gut …
Sato-chans Ratschlag war wirklich Gold wert. Ich hatte mich an die Seite meiner Feindin gestellt, indem ich mich ihr augenscheinlich beugte und war doch die Siegerin, weil ich ihre eigenen Befehle gegen sie verwendete. Ich tat schließlich nichts anderes als die Pflicht zu erfüllen, die sie selbst mir aufgetragen hatte. Der reibungslose Ablauf des Stücks war meine Aufgabe. Es war doch nicht meine Schuld, wenn Amuro-san die Anforderungen nicht erfüllte.
8
Obwohl ein neuer Tag mit Proben anstand war ich mit der Welt im Reinen. Nicht ich musste nach Amuro‑sans Pfeife tanzen, sondern sie nach meiner. Sie selbst hatte mich in eine Position gebracht, in der ich alle Fäden in der Hand hielt und die Geschehnisse auf der Bühne nach Gutdünken lenken konnte. Das heißt, in meinem und Ito-sans Sinne. Ich war zwar die halbe Nacht auf gewesen, hatte die Zeit aber dahingehend genutzt ausreichend Gründe zu finden, warum Amuro-sans heißersehnter Kuss nicht zustande kommen konnte.
Das einzige Problem, das ich noch lösen musste, war, wie ich ihn während der eigentlichen Vorstellung verhindern konnte. Dann konnte ich verständlicherweise keine Einwände mehr vorbringen. Die Angelegenheit war wirklich verzwickt. Trotz allem war die Aufführung eine Gemeinschaftsaktion unserer Klasse, in die alle viel Zeit und Mühe gesteckt hatten. Sie hatten mich zwar nicht immer sonderlich pfleglich behandelt, unter Amuro-san litten wir aber alle gleichermaßen. Insofern wollte ich nicht zu nachtragend sein und eine Farce daraus machen. Das wäre einfach nur gemein gewesen.
Als ich in die Aula kam hatten sich sämtliche Mitwirkenden bereits um Amuro-san herum versammelt. Anscheinend wollte sie ein Meeting abhalten, von dem ich ausgeschlossen werden sollte. Da ich derlei gewohnt war fühlte ich mich nicht mehr verletzt als sonst auch. Alles eine Frage der Gewöhnung.
„Was? Aber von überall her werden ehemalige Schüler kommen um unserem Kulturfest beizuwohnen. Da dürfen wir uns nicht blamieren.“
„Das denke ich auch. Warum gerade sie? Sie hat doch überhaupt keine Erfahrung und auch nicht geprobt. Jetzt noch eine weitere Figur einzuführen wirbelt doch nur alles unnötig auf.“
„Kein ‚aber‘. Sie war die ganze Zeit anwesend und glänzte stets durch höchste Professionalität. Sie hat es verdient mit uns anderen auf der Bühne stehen zu dürfen und ihr Können unter Beweis zu stellen.“
Von wem sprach Amuro-san da bloß? Doch nicht etwa von …
„Ah, da ist ja die Frau der Stunde. Nakamura-chan, komm doch bitte zu mir.“
Unwillig ging ich durch die Öffnung, die mir die Anderen bildeten. Aber davor stehen zu bleiben hätte mir auch keinen Deut geholfen.
„Nakamura-chan, lass mich dir als erste gratulieren. Für deinen kompromisslosen Einsatz während unserer Proben hat unsere Klasse beschlossen, für dich eine Rolle in unser Stück zu schreiben, die du gestalten darfst. Ich weiß, du fühlst dich im Augenblick völlig überfordert, geradezu eingeschüchtert und erdrückt, aber bedenke, von deinem Wirken wird zu großen Teilen der Erfolg unserer Klasse abhängig sein. Nakamura-chan, deine Klasse vertraut und baut auf dich.“
Mit diesen Worten legte Amuro-san ihre Arme um mich. Noch mehr als ihr aufdringliches Parfum raubte mir die Aussicht darauf den Atem, dass ich im vollen Scheinwerferlicht die Aufführung mitbestreiten sollte. Während meine Kameraden zögerlich Applaus spendeten, wurde es mir hundeübel. Allein die Vorstellung dermaßen viel Aufmerksamkeit zu bekommen, ließ meinen Magen auf Achterbahnfahrt gehen.
Nach und nach lichteten sich die Reihen und alle gingen wieder an ihre Arbeit. Nur Amuro-san blieb noch kurz neben mir stehen und flüsterte mir hässliche Worte ins Ohr.
„Wenn du dachtest, ich ließe mir von dir den Wind aus den Segeln nehmen hast du dich geschnitten. Bild dir mal bloß nichts ein, du KRÖTE.“
Warum war sie bloß so erpicht darauf, mich als Amphibie zu sehen? Aber ich gab mir selbst die Schuld an meinem Unglück. Leute meines Schlages waren dazu geboren, dass andere sie dominierten. Es geschah mir recht, wenn ich etwas anderes dachte. Allein die Vorstellung mich vor anderen produzieren zu müssen, sorgte dafür, dass ich meinte, wieder Fieber zu bekommen. Genau wie damals, als Sato-chan meine Pralinen für Ito‑san zertreten hatte.
Das war wahrscheinlich gar nicht mal das Schlechteste. Ich konnte zuhause im Bett liegen, hätte mit der Produktion nichts mehr am Hut und müsste nicht einmal mitansehen, wie mein Schwarm meine Erzfeindin küsste. Das klang doch ganz gut. Ja, ein schweres Fieber war genau das, was ich jetzt brauchte. Ich müsste sicher bloß abwarten und …
„Ai-chan, ist das nicht toll? Jetzt können wir zusammen auf der Bühne stehen und unser Bestes geben.“
Watanabe-san? Die hatte ich ja völlig übersehen. Sie mochte ja eine gute Seele sein, aber sie kannte mich eben nicht einmal ansatzweise.
„Watanabe-san, mir geht es gerade nicht so gut. Sei mir bitte nicht böse, aber …“
„Ich war mir nicht sicher, aber ich fand eben auch schon, dass du ein wenig blass aussiehst. Komm, ich begleite dich auf die Krankenstation.“
Ich nickte bloß stumm. Auch, wenn es mir nicht so schlecht ging, bestand sie darauf, dass ich mich auf ihre Schulter stützte.
„Weißt du, ich habe mich ursprünglich total darüber gefreut, jetzt mit einer Freundin gemeinsam spielen zu können. Aber ich verstehe. Du stehst nicht so gerne im Rampenlicht, weil die anderen dich immer so schlecht behandeln.“
Das hatte sie mitbekommen? Scheinbar reagierte sie doch sensibler als ich dachte. Watanabe-san, es tut mir leid, dass ich dich so unterschätzt habe.
„Vielleicht habe ich selbst dich auch überfordert. Weißt du, in meiner alten Schule wurde mir oft vorgehalten, dass ich viel zu aufdringlich sei und keine Grenzen einhalte. Aber so bin ich eben. Wenn ich jemanden auf Anhieb mag, will ich unbedingt mit ihm befreundet sein und tue alles, damit ich auch gemocht werde. Ich weiß schon, dass ich damit den Bogen gerne einmal überspanne.“
„Aber warum hast du dir gerade mich ausgesucht?“
„Warum denn nicht? Du hast etwas an dir, was dich ungeheuer sympathisch macht. Das können nicht viele von sich behaupten. Ich finde, du stellst dein Licht viel zu sehr unter den Scheffel.“
Das hatte ich doch schon einmal von Sato-chan zu hören bekommen und davor von Masao. Konnte es tatsächlich sein, dass es einfacher war mich zu mögen als ich dachte? Allein der Gedanke zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. „Du bist wirklich schwer in Ordnung.“ Im selben Moment sprachen wir beide diese Worte aus und fingen auch gleichzeitig an darüber zu lachen.
Als wir das Krankenzimmer betraten bekam die Schulschwester als sie mich wiedererkannte einen ordentlichen Schreck. Sofort legte sie ihren heutigen Schundroman, übrigens die Fortsetzung des letzten, beiseite und begleitete mich an ein Bett. Sie geriet so in Panik, dass sie mir gleichzeitig Tee einflößen und das Fieber messen wollte. Ich musste ihr beim letzten Mal wirklich einen gehörigen Schock versetzt haben. Watanabe-san und mir gelang es aber sie einigermaßen zu beschwichtigen. Gemeinsam überzeugten wir sie davon, dass ich einfach etwas Ruhe bräuchte und im Gegensatz zu letztem Mal nichts Schlimmes zu befürchten stand.
Watanabe-san blieb treu an meiner Seite sitzen und wir fingen zum ersten Mal an uns richtig miteinander zu unterhalten. Sie erzählte mir von ihrer alten Schule, an der man ihre Freundlichkeit oft missverstand. Auch von ihrer Familie berichtete sie ausführlich. Mehr noch, als sie es bereits getan hatte, als sie in unsere Klasse gekommen war. Man sollte es nicht für möglich halten. Aber auch ich erzählte viel aus meinem Leben und den Personen, die es in bunteste Farben tauchten. Von Großmutter und Masao, von Sato-chan und den Zwillingen. Auch Arabiki-kun sparte ich nicht aus. Ich sprach von meiner Leidenschaft für die Naturwissenschaften und von dem Augenblick, als Amuro-san mir meinen Spitznamen anhexte. Ich verlor sogar soweit meine Scheu, dass ich ihr von meiner unerwiderten Liebe zu Ito-san erzählte.
„Weißt du, so ein großes Geheimnis ist das eigentlich nicht. Mir ist schon während des Unterrichts häufig aufgefallen, dass du gerne einmal zu ihm rüber linst. Er sieht aber auch wirklich unheimlich süß aus.“
Vor Scham vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen.
„Keine Sorge, es gibt bereits jemanden, auf den ich mein Auge geworfen habe. Hideaki gehört ganz allein dir.“
„Wer ist es?“
„Du wirst es schon zu gegebener Zeit herausfinden.“
Trotzdem war es ein zutiefst ehrliches und vertrauliches Gespräch. Wir kamen uns wirklich nahe und ich fühlte mich von Sekunde zu Sekunde besser. Mit einem Mal wandelten sich Watanabe-sans Lippen zu einem spitzbübischen Lächeln.
„Weißt du, Ai-chan, ganz um einen Auftritt auf der Bühne wirst du wohl nicht herumkommen können. Allerdings habe ich da so eine Idee, wie wir dein Schicksal wahrscheinlich ins Positive verkehren können …“
Ich wusste nicht, wie sie das meinte, aber sie wollte noch keine Details nennen. Dennoch fühlte ich, dass sie nur mein bestes wollte. Vielleicht war sie doch verschlagener, als es einen der erste Eindruck erahnen ließ.
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Damit unsere Klassenkameraden nicht auf die Idee kamen mich von der Bühne abzuziehen stellte sich Amuro-san scheinheilig auf meine Seite, als ich am nächsten Tag die Proben aufnahm. In jeder anderen Situation hätte sie mich für meinen Ausfall wahrscheinlich einen Drückeberger oder ähnliches geheißen, aber sie wollte mich nun einmal um jeden Preis vor aller Augen demütigen.
Alleine der Text, den sie mir auf den Leib geschrieben hatte, spottete jeder Beschreibung. Ich war so eine Art Zofe, ähnlich jener, die von Watanabe-san verkörpert wurde. Wie Amuro-san war auch ich unheimlich in den Prinzen verliebt, machte mich aber dabei nur zum Narren. Im Prinzip war es eine Darstellung tatsächlicher Fakten. Im entscheidenden Moment müsste Ito-san dann ungefähr folgendes sagen:
„Höret, es grenzt an Blasphemie, dass sich eine gewöhnliche Magd zwischen von den Göttern gewundenen Liebesbanden zu stellen vermag. Nimmer könnte eine Kreatur von derlei niederem Stand das Augenmerk von mir erringen. Allein meine geliebte Prinzessin vermag mein Herz zum Schlagen zu bringen. Hinfort mit dir, gemeine Dirne, verlasse Sie unseren Hof und kehre niemals wieder. Möge ihr Äußeres noch grässlicher werden als ihr Inneres.“
Wie gesagt, es war eine einzige Liebeserklärung von Amuro-san an Amuro-san. Ito-san war trotzdem ganz Gentleman und begehrte auf.
„Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein. Willst du dein Mobbing jetzt sogar auf die Bühne bringen? Dabei mache ich nicht mit. Meine Liebe zum Schauspiel hin oder her. Das hat doch nichts mehr mit einem Beitrag zum Kulturfest zu tun. Wenn du das nicht sofort änderst steige ich aus und fordere alle anderen auf es mir gleichzutun.“
Amuro-san war bis zu diesem Augenblick wohl selbst nicht klar gewesen, dass derlei sogar für ihre Befugnisse zu weit ging. Ohne ein Wort der Entschuldigung allerdings lenkte sie ein wenig ein.
„Nun gut, ich werde mein Möglichstes tun.“
Ich weiß, eigentlich hätte ich mich darüber freuen sollen, dass mein Schwarm so für mich Partei ergriff, aber mittlerweile war meine Chuzpe gegenüber Amuro-san meinem ursprünglichen Respekt, soll heißen Angst, gewichen.
Amuro-san war einfach ein gemeines Biest, dass es genoss auf anderen, vor allem mir, herumzutrampeln und ihre Macht auszuspielen. Sie wollte einen Kuss von Ito-san erzwingen und das sollten alle, besonders aber ich, sehen. Weil sie sich aber auf ihn eingeschossen hatte, war er der einzige, der ein wenig Einfluss auf sie nehmen konnte. Selbst wenn meine Rolle jetzt charmanter werden mochte, war da immer noch das Problem, dass sie ihren Willen bekam.
Darüber hinaus wusste ich ebenso wenig wie ich vor Publikum sprechen sollte, erst recht, wenn es Fremde waren. Das einzige, was ich wusste, war, dass ich auf ein ziemliches Debakel zusteuerte, wenn nicht ein Wunder geschah, ein Wunder namens Watanabe-san. Aber konnte sie mir wirklich aus der Bredouille helfen? Sie war schließlich auch nur ein gewöhnliches Mädchen, wenn auch ein ziemlich tolles. Wenn sie Amuro-san in die Suppe spuckte, waren die Konsequenzen für sie unabsehbar. Das sollte sie nun wirklich nicht für mich riskieren müssen. Ich wollte am liebsten nur noch alles vergessen und laut schreien, aber das war mir nicht gegeben.
Alles was ich tun konnte war mein Bestes zu tun. Für meine Klasse, für Watanabe-san, und für Ito-san. Ich durfte ihn nicht blamieren, egal wieviel Angst ich auch bekommen würde, wenn die Lichter auf mich gerichtet waren. Ich wollte eine Flucht nach vorne antreten, aus allen Rohren feuern und mich danach aus der menschlichen Gesellschaft zurückziehen. Ach, wenn das vermaledeite Fest doch bereits vorüber wäre …
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Schließlich kam der (große) Tag und unser Kulturfest war besser besucht denn je zuvor. Von überallher waren Ehemalige und Besucher aus anderen Schulen gekommen, die daran teilnahmen. Ich glaube nicht, dass ich jemals dermaßen vielen fremden Gesichtern auf einmal begegnet war.
Auch meine Großmutter hatte mir fest ihre moralische Unterstützung und ihr Kommen zugesichert. Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie meine Schmach nicht mitansehen hätte wollen, aber vielleicht war es wirklich nicht schlecht, in wenigstens ein vertrautes Gesicht während der Vorstellung sehen zu können. Masao und Sato-chan waren zu diesem Zeitpunkt leider fest für die Veranstaltung ihrer eigenen Klasse eingeteilt und konnten mir nicht Hilfestellung geben. Ich freute mich aber dennoch für Sato-chan, dass sie mit Masao gemeinsam arbeiten durfte. Vielleicht durften wenigstens die Beiden ihr Liebesglück erfahren. Gib alles, Sato-chan! Masao, vermassle es nicht!
Die Stühle in der Aula waren bereits sehr gut gefüllt, nur wenige Plätze in der hinteren Reihe waren noch frei. Unsere Kostümbildnerinnen hatten ganze Arbeit geleistet, allen voran Watanabe-san. Neben ihrer Aufgabe als Darstellerin hatte sie noch die Zeit gefunden, unseren Schneiderinnen hilfreich zur Hand zu gehen. Darüber hinaus brachte sie auch häufig selbstgemachte Süßigkeiten zu den Proben mit. Von denen hätte ich nur zu gerne probiert, aber ich fürchtete Amuro-sans Bemerkungen zu meiner Leibesfülle. Watanabe-san war wirklich wahnsinnig talentiert und geschickt.
Wir alle hatten uns bereits in unsere Kostüme geworfen und waren bereit unseren Rollen Leben einzuhauchen. Ich eigentlich immer noch nicht, aber das war ja nichts Neues. Die einzige Person, die nicht angetreten war, war ausgerechnet Watanabe-san, die den Anstoß zu allem gegeben hatte.
„Wo steckt Watanabe? Ich wusste, es war ein Fehler, einen Neuling zu besetzen. Leider ist ihre Rolle unabdingbar für das Stück. Ich fürchte, wir werden sie neu besetzen müssen. Nakamura, du wirst für sie einspringen.“
Eigentlich hätte ich laut Protest einlegen müssen, aber da ich ein Feigling war reichte es nur zu: „Das geht doch nicht. Das ist viel zu viel Verantwortung.“
„Deine Rolle ist die einzige, die überflüssig ist, weil ich sie nachträglich eingefügt habe. Du bist doch so dicke mit dieser treulosen Tomate und warst bei allen Proben dabei. Entweder du oder wir müssen das Stück absagen. Willst du es dir wirklich mit allen verderben?“
„Jetzt ist es aber gut, Amuro-san. Wir alle haben viel Arbeit in die Inszenierung gesteckt. Dass du alles wieder Nakamura ausbaden lassen willst geht zu weit. Wenn wir nicht vollzählig sind müssen wir eben absagen.“
Eigentlich hätte ich schon bei der Beleidigung Watanabe-sans einschreiten müssen, geschweige denn bei meiner Neubesetzung. Aber ich wagte nicht zu widersprechen. Ito-san war wirklich mein Ritter in schimmernder Rüstung, dass er es für mich tat. Aber ich wollte mich nicht immer nur auf andere verlassen. Ich musste lernen, selbst meine Meinung auszusprechen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
„Vielen Dank, Ito-san, aber sie hat recht. Ich war neben Amuro-san wirklich die einzige, die von Anfang an bei allen Proben dabei war und den Text daher genauso gut kennt, wie Watanabe-san selbst. Ich weiß zwar nicht warum sie heute fehlt, aber ich bin sicher, es gibt einen guten Grund dafür. Sie war mir die ganze Zeit über immer eine gute Freundin. Wenn ich mich ihr gegenüber jetzt einmal erkenntlich zeigen kann, werde ich es tun.“
Ich war toll! Was denn, es stimmt doch. Auch wenn ich den Text sinngemäß sicher einmal in einem Anime gehört habe, so kam er mir nun sehr zupass. Egal, ob ich meine ursprüngliche Rolle bekleidete oder in jene Watanabe-sans schlüpfen sollte, es war letztendlich auf die eine wie die andere Art äußerst unangenehm für mich. Aber irgendwie kam es mir ein wenig leichter vor, weil ich es für Menschen tat, die mir etwas bedeuteten. Nicht Amuro-san, Gott bewahre. Aber für Ito-san und Watanabe-san, die sich immer für mich einsetzten und eine gute Aufführung spielen wollten. Ich wusste zwar nicht, wie ich es überstehen sollte, aber ich wollte niemanden im Stich lassen. Bühne frei!
Auch wenn unsere Ausstattung nicht die beste war, so konnten wir damit doch einiges umsetzen. Kaum, dass das Licht in der Aula verloschen war tauchten unsere Techniker die Bühne sogleich in adäquates Tageslicht. Die Kulisse stellte das Zimmer der Prinzessin dar, sprich Amuro-sans. Alles war in Tüll und Spitze gehalten, sogar ein Vogelbauer existierte. Wir verwendeten zwar keinen richtigen Vogel, allerdings ließ es der Zauber der Technik so aussehen, als sei unsere Attrappe lebendig. Das Gezwitscher kam zwar vom Band und stammte vermutlich von anderem Geflügel, aber den Unterschied bemerkte niemand.
Amuro-san lag in edler Nachtkleidung in ihrem Himmelbett und tat so als wäre sie gerade am Erwachen.
„Guten Morgen, kleiner Freund. Ist es nicht ein herrlicher Tag, den wir da begrüßen? Wo bleibt denn nur die Zofe mit meinem Gewand? Ach, es ist furchtbar, dass auf niemanden Verlass ist.“
Dann ergriff sie die Klingel auf ihrem Nachttisch um nach der Zofe, sprich mir, zu läuten.
„Zofe, hörst du nicht? Spute dich. Mach geschwind.“
„Ich eile, meine Gebieterin. Ich eile.“
Der Text ging mir, abgesehen vom Inhalt, noch leicht von den Lippen, da ich ihn abseits der eigentlichen Bühne sprach und daher niemanden sehen musste.
„Da bist du ja endlich. So kleide sie mich denn endlich an, auf dass ich über das Volk recht und gütig herrschen möge.“
Ich trug tatsächlich einige Kleidungsstücke mit mir und begab mich mit Amuro-san hinter eine spanische Wand, die dem Publikum alles der Phantasie überließ. Normallerweise wäre ich schon beim Betreten des Schauplatzes gestorben, heute rettete mich aber das grelle Scheinwerferlicht, das verhinderte, dass ich einen Blick auf das Publikum erspähen konnte. Eigentlich gab es auch hinter der Umkleide nichts zu sehen, da Amuro-san ein derart aufwendiges Mieder trug, dass wir den Kleiderwechsel auch vor Kindern hätten vollziehen können. Aber so schlug die Vorstellungskraft mancher (männlicher) Zuseher eben Blasen.
„Ach Zofe, hat mein Vater auch heute noch keinen geeigneten Heiratskandidaten für mich gefunden? Es ist arg einsam, wenn man über allem thront. Gelänge es ihm doch nur endlich, die mir vom Schicksal auserwählte Seele zu finden, deretwegen sie auf das Erdenrund getan wurde. Manchmal fühle ich mit dir, mein liebster Freund.“
Amuro-san wandte sich der Vogelattrappe zu und ließ mich mit ihrem abgelegten Nachtgewand dumm rumstehen, wie bestellt und nicht abgeholt.
„Wie ich verbringst du dein Leben in einem Käfig. Du musst nicht Hunger leiden und man zollt dir für deine Anmut Bewunderung. Aber es ist ein einsames Leben. Wir sind nicht frei dorthin zu gehen, wohin es unser Herz verlangt. Wir müssen an einem Ort verweilen, der uns zwar schützt, aber auch Freude und Leben von uns fernhält. Es ist ein grausames Spiel, das höhere Mächte mit uns spielen. Allen ist es nur gestattet uns aus der Ferne zu bewundern, niemandem ist es vergönnt unsere Liebe zu empfangen. Ach, manchmal ist es mir, als möcht‘ ich mir eine Natter an die Brust legen und den Weg zu meinen Ahnen gehen.“
Der letzte Teil war eindeutig geklaut.
Jetzt kam Watanabe-sans, sprich mein Part und ich zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub.
„Wi … wisset, da ist dieser M … Mann. Er lebt entfernt von hier … Er könnte an Euch heranreichen … Viele Tagesritte von hier …“
Gut, der Text war ein wenig verknappt. Aber alles Nötige war drin. Hauptsache, ich hätte es bald überstanden. Ihr könnt ihn gern mit dem ursprünglichen vergleichen. Es lohnt sich aber nicht. War eh nur Schund. Nicht, dass Amuro-sans eigener Part es nicht war.
„So sei es. Schicket meine Ritter um diesen Mann. Sollte er euren Äußerungen entsprechen, so werde ich ihm die Gunst erweisen mir vorstellig werden zu dürfen. Ich werde mir eine List einfallen lassen, ihn zu erproben. Nun geht und trefft die Vorbereitungen für den heutigen Tag. Hinfort, sage ich. Auch ich muss meine Dinge tun, um euren Kandidaten dereinst zu prüfen.“
Endlich wurde der Vorhang geschlossen und ich durfte mich zurückziehen. In Windeseile wurden alle Utensilien, die das Schlafgemach ausmachten, weggebracht und ein Thron herangetragen, auf dem der vermeintliche Monarch seinen Allerwertesten setzte. Ein Junge aus unserer Klasse hatte das kürzeste Streichholz gezogen und musste den Part daher ausfüllen. Viel zu sagen hatte er nicht. Auch in dieser Szene hatte sich Amuro-san wieder den meisten Text zugeschanzt.
Im Endeffekt geschah nicht viel. Der Monarch hatte so seine Bedenken, dass eine gemeine Magd einen passenden Prinzgemahl in Erfahrung gebracht hätte, während seine Weisen daran gescheitert seien. Amuro‑san faselte etwas davon, dass ihr Herz zu ihr riefe, dass der designierte Gemahl der Richtige sein könne, einzig, er müsse ihre Prüfung bestehen um ihre Liebe zu erringen.
Dann wieder ein Szenenwechsel, der einzig dazu da war, dass Rin und Suki Amuro-sans Schönheit pflegten, während sie wieder einen Monolog darüber hielt, wie sie sich nach der großen Liebe verzehrte und sie mit ihr über das gemeine Volk zu herrschen hätte, welches ihren Wert gar nicht kennen könne, da ihm der feine Sinn abginge. Ich hätte Verständnis dafür gehabt, wenn das Publikum mindestens zur Hälfte noch während der Vorstellung seiner Wege gegangen wäre, aber es war zu höflich. Mir tat vor allem Großmutter leid, die extra deswegen den Weg von zuhause auf sich genommen hatte.
Schließlich kam mein Moment der Angst, da ich wieder Watanabe-san vertreten, sprich ich wieder raus auf die Bühne musste. Im Gegensatz zu meinem bescheidenen Kostüm am Anfang war ich nun in prunkvollste Kleidung gehüllt. Kunststück, ich sollte den Prinzen ja auf eine falsche Fährte führen, bevor er mich angesichts der echten Prinzessin als Betrügerin verstieß. Da Ito-san dann Amuro-san küssen würde fühlte ich mich einfach nur erbärmlich. „Weite das Kostüm doch nicht so sehr aus. Es verliert ja völlig seine Form.“ Amuro‑san zischte mir noch diese motivierenden Worte ins Ohr, dann musste ich raus. Das machte die ganze Angelegenheit um kein Jota besser. Aber ich wollte zum Wohle der Klasse meinen Beitrag leisten. Einzig, ich konnte nicht für meine Gefühle garantieren.
„Prinzessin, ihr seid von gänzlich anderer Gestalt, als es mir meine Boten zugetragen haben. Sicher, ihr seid umhüllt von den Gewändern, die euch gebühren und tragt edle Geschmeide. Einzig mir fehlt der Glaube, dass ihr diejenige seid, von der euer Volk stets in höchsten Tönen schwärmt.“
Ich weiß, es war nur gespielt, aber dennoch machten mich Ito-sans Worte traurig.
„Ich … ich …“
Da waren sie wieder, meine alten Freunde, die Tränen. Eigentlich hätte ich jetzt Überzeugungsarbeit leisten und Ito-san beschwören müssen, mir Glauben zu schenken, aber stattdessen schluchzte ich nur laut. Der Druck vor all den Fremden auftreten zu müssen war für mich einfach zu viel. Da plötzlich betrat ein weiterer Charakter die Szene, der im Stück nicht vorgesehen war.
„Höret, Prinz, die Person, die ihr sucht ist nicht die die sie vorgibt zu sein. Ja, sie vermag mit Worten umzugehen. Mit schöner Poesie, die dem Ohre schmeichelt und es in Entzücken versetzt. Aber sie spricht unwahr, in eitler Eigenliebe. Die Person, die vor euch steht, mag nicht von Adel sein, doch ist sie echter als jene, die um euch schicken ließ. Die Prinzessin, so teuer sie sich auch verkaufen mag, sie ist ihren Preis nicht wert. Seht jene Frau, die vor euch steht. Sie versteht mehr von der Liebe als so mancher Weiser. Falschheit kennt sie nicht, Argwohn wäre fehl am Platze.“
Watanabe-san? Die unbekannte Gestalt sah ihr sehr ähnlich, aber ich konnte sie aufgrund der dicken Schminke nicht eindeutig identifizieren. Anstelle ihres charakteristischen langen braunen Haares war dieses eher kurz gehalten, wie jenes eines Jungen. Auch die Stimme war irgendwie nicht ihre. Außerdem trug sie wie Ito-san eindeutig die Kleider eines Prinzen. Konnte sie sich derart gut verkleiden? Ich war vollkommen perplex. Moment, diese Stimme, diese Gesichtszüge. Dieser Junge war doch … Auch Ito-san wusste zunächst nicht, wie er mit der Handlungsänderung umgehen sollte. Jedoch schaltete er blitzschnell um und begann zu improvisieren.
„Kerl, ihr seid meinem Auge fremd. Dennoch spüre ich große Weisheit in euren Worten. Es ist wahr: ein Mensch, der durch Täuschung großer Taten harrt und Lug und Trug im Herzen trägt, der ist meiner Liebe nicht wert. Dies junge Mädchen ward von ihr in einen Abgrund gestoßen, ein dunkles Spiel mit ihr gespielt. Ich fühle große Reinheit in ihrem Herzen, so klar, wie sie nur Wenigen gegeben ist. Den Grund meines Hierseins mag ich einer Lüge danken, einzig, ich bin der Wahrheit hörig. Vernehmt, meine edle Magd. Meine Gefühle für Euch gehen über alle Stände hinaus. Mein Herz ist Eurer wegen entbrannt. So lang ich euch an meiner Seite weiß, ist mir nicht bange. Ich bitte euch, nehmt diesen Ring als Zeichen meiner unerschöpflichen Liebe und Unterwerfung an. Gewährt mir einen Kuss und ich bin auf ewig der Eure.“
„So sei es.“
Was geschah hier gerade? Was hatte ich gerade gesagt? Bekam ich jetzt tatsächlich meinen ersten Kuss? Von Ito-san? ITO-SAN?!?! Oh Gott, meine Knie wurden weich. Mein ganzer Körper bebte. Hatte ich auch nichts Ekliges gegessen? Roch mein Atem gut? Ich … ich …
Ein großes Raunen zog sich durch das ganze Publikum. Mädchen schrien auf. Jungen gröhlten. Mein Herz schlug derart heftig, dass ich befürchtete, es gäbe gleich den Geist auf. Mir liefen unaufhörlich Tränen des Glücks über meine Wangen. Mochte Amuro-san mich hiernach meinethalben am Spieß braten und über glühende Kohlen laufen lassen. In jenem Moment war ich einfach nur glücklich, so unsagbar glücklich. Es war als würde alles Gift meinen Körper verlassen, als bekäme ich nun den Lohn für das viele Leid, das mir widerfahren war. Ich und Ito-san waren im Kuss eins geworden. War es auch nur für diesen Moment, es war mir egal.
Da begann der Unbekannte sich verlegen zu räuspern. Wieviel Zeit mochte wohl vergangen sein? Sekunden? Minuten gar? Richtig, wir waren noch auf der Bühne und das Stück noch nicht zu Ende gebracht. Das hatte ich vollkommen vergessen. Der Sturz in die Realität war aber weniger heftig als erwartet. Ich war vollkommen betäubt und benebelt von der Schönheit, die ich gerade erfahren durfte. Ich öffnete meine Augen und sah direkt in jene Ito-sans. Hatte er mich die ganze Zeit über angesehen? Mich? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er löste seine Umarmung und wandte sich unserem Gönner zu.
„Fremder, ihr verdient es wahrlich Freund genannt zu werden. Ihr habt uns vor großem Ungemach bewahrt. Sagt, wie kann ich es euch vergelten?“
„Euer Glück allein, wäre mir schon Lohn genug. Einzig, ich tat es nicht ohne Eigennutz. Wisset, auch mein Herz ist der Liebe wegen entbrannt. Sie ist nicht ohne Falsch, Lug und Trug sind ihr Schwert und Schild. Ich weiß nicht, ob sie fähig ist wahr zu lieben. Dennoch möchte mein Herz ich ihr schenken. Komme Sie heraus und gebe mir ihre Antwort.“
War das eine Liebeserklärung an Amuro-san oder die Rolle, die sie spielte? Da Amuro-san sich nicht von selbst dazu entschließen konnte wieder ins Rampenlicht zu treten, ging ihr Galan hinter die Kulissen und schob sie mit sanfter Gewalt nach vorne. Amuro-san machte ein derart verbiestertes Gesicht, als finge sie gleich an zu schäumen. Aber angesichts der Zuschauer bewahrte sie die Contenance. Offenbar war ihr noch nicht klar geworden, wer da mit uns dir Bühne teilte.
„Ich sehe, eure Gefühle sind gar übermächtig und ihr ringt um Fassung. Der Mann, den ihr zu lieben glaubtet, ist einer anderen zugetan. Meine Gefühle blieben euch unvermittelt. Einzig einen Weg kenne ich den Zugang zu eurem Herzen zu finden. So gewähret mir die Berührung eurer Lippen mit den meinen.“
Wollte mein Gönner jetzt tatsächlich Amuro-san küssen? Meine Erzfeindin? Noch bevor ich es mir überhaupt vorzustellen wagen konnte folgten den Worten Taten und die Beiden teilten einen Kuss. Amuro‑san war zuerst völlig fassungslos. Schließlich aber schloss sie ihre Augen und schlang ihre Arme um den Unbekannten, wie ich es zuvor auch mit Ito-san getan hatte. Offenbar hatte ihr Herz noch vor ihren Augen den Jungen wiedererkannt.
War das hier überhaupt noch ein schulkonformes Theaterstück geschweige denn überhaupt eine Aufführung? Oder hatte die Realität längst Einzug gehalten, auf den Brettern, die die Welt bedeuteten? Ich verstand die Welt nicht mehr. Amuro-san schien es ebenso zu ergehen. Als sich beider Lippen trennten wirkte sie ebenso konsterniert wie von sich selbst überrascht. Wieder war es der Unerwartete, der dem Stück ein Ende setzte, damit wir die Geschehnisse sortieren konnten.
„Vier Herzen haben ihr verdientes Glück gefunden. Ihr Schicksal führte über einen schweren Pfad. Nicht leicht ist es wahre Liebe zu finden. Erfährt man sie gibt es nichts schöneres. Sucht auch selbst nach eurem Glück, egal, wo es sich verbirgt. Unser Stück ist nun zu Ende, aber bewahrt die Erinnerung daran. Geht euren Weg ohne Lug und Trug bis zum Schluss und werdet glücklich. So lebt wohl.“
Der Vorhang fiel und bevor ihm jemand eine Frage stellen konnte hatte sich der Fremde davongemacht. Noch bevor ich ihm danken für das Glück, das er mir schenkte. Ich wette, auch Amuro-san hätte ihm noch etwas zu sagen gehabt, aber sie sah ihm nur errötet nach wie er entschwand. Es musste Watanabe-sans Bruder sein, der den Tag rettete. Aber hatte Watanabe-san von ihm nicht als Hikikomori erzählt? Und wo war Watanabe‑san selbst? Es waren zahllose Fragen offen. Für mich war mein Retter jedenfalls beinahe wie ein Geist gewesen, geboren, um den Tag zu retten …
[1] Slangausdruck für einen „Hikikomori“, jemanden, der sich für sehr lange Zeit in seine vier Wände zurückzieht und nur mit seiner Familie in Kontakt kommt
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Hier nun das fünfte Kapitel. Viel Vergnügen.
Kapitel 5 - Wir fahren an den Strand
Kapitel 5 - "Wir fahren an den Strand"
„Lass uns am Wochenende zusammen ans Meer fahren, Nakamura-Chan.“
Nanu? Hatte Sato-san nicht schon einmal in ähnlicher Weise einen Wunsch an mich geäußert?!
„Es ist Sommer. Da gehört sich das für Jugendliche so. Außerdem liegen die Prüfungen jetzt hinter uns. Da kann man schon einmal ein wenig in der Sonne liegen.“
„Du willst aber nicht nur Masao in der Badehose sehen.“, flüsterte ich Sato-san zu.
Sie lief prompt krebsrot an.
„Was denkst du eigentlich von mir?“
Vielleicht hatte ich keinen Volltreffer gelandet, aber ganz daneben lag ich wohl auch nicht.
Ans Meer wollte sie, ausgerechnet. Leider hatte Sato-san noch immer nicht begriffen, dass Dinge, die normale Menschen taten, nicht unbedingt für mich geeignet waren.
„Du siehst doch, was für helle Haut ich habe. Früher sagte man mir schon, dass ich eigentlich im Dunkeln leuchten müsse. Ein Tag an der Sonne ist nicht unbedingt das, was zu mir passt.“
Sonne bedeutete für mich zweierlei: a) ich verbrannte sehr schnell und b) ich bekam am ganzen Körper Sommersprossen. Beides war mir nicht sonderlich angenehm.
„Dann spannen wir dir eben einen Sonnenschirm auf. Wir sollten in jedem Fall rechtzeitig nach Bademode Ausschau halten gehen, Nakamura-chan.“
„Ein weiterer Punkt auf der Liste, warum ich nicht ans Meer will.“
Ich hatte eine unmögliche Figur, die ich nicht zeigen mochte. Der Sommer hatte so seine Tücken für eine Kröte wie mich.
„Wir könnten eine Melone spalten. Wäre das nicht nett?“
Masao fiel mir wieder einmal in den Rücken.
„Ist das nicht mehr etwas für Kinder?“
Sofort versuchte ich ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen um größeres Unheil zu vermeiden.
„Melonen spalten und Feuerwerk. Das wird toll.“
Kazuki und Kazuko waren sofort wieder Feuer und Flamme. Sie waren wirklich einfach zu begeistern. Natürlich hatte Sato-san die Beiden für unseren Ausflug nicht mit eingeplant. Wer hat eigentlich etwas von Feuerwerk gesagt? Überhaupt: Wo kamen die Beiden eigentlich auf einmal her? Da zurzeit Sommerferien waren lud mich Sato-san in ein neueröffnetes Café ein, dass in den letzten Wochen bereits lautstark Werbung für sich gemacht hatte. Wenn ich wollte konnte ich gerne noch jemanden mitbringen … Es war glasklar, an wen sie dabei dachte. „Warum eigentlich nicht?!“, hatte ich mir noch gedacht. Hätte ich gewusst, worauf die Einladung hinausläuft wäre ich wahrscheinlich zuhause geblieben und hätte nur Masao geschickt. Den Zwillingen aber hatte weder ich noch Sato-san Bescheid gesagt.
„Ein Ausflug unseres Klubs ist sowieso schon lange überfällig.“
Masao spielte die Karte des Klubchefs aus.
„Ist ein Ausflug an den Strand nicht genau das Gegenteil davon wofür unser Klub steht? Mangas bekommt das Meerklima sicherlich auch nicht gut.“
„Unser Klub erforscht Realitäten und die unsere haben wir bis dato außen vorgelassen. Das geht schon klar.“
Masao bog sich die Sachlage eindeutig zurecht.
„Komm schon Nakamura-chan. Ohne dich wäre es kein richtiger Ausflug.“
„Missbrauchst du mich vielleicht als Babysitter für die Zwillinge, während du mit Masao am Strand flanierst?“
Nein, ich musste mir angewöhnen weniger misstrauisch zu sein. Auch bei unserem letzten Ausflug meinte ich die Welt gegen mich zu haben. Vielleicht wäre es sogar ganz nett ein Stück Melone zu essen, während ein laues Lüftchen meine Haut streifte. Die Sommer in Japan waren mörderisch, da war der Gedanke an ein Bad im Meer schon verführerisch.
„Na gut, meinetwegen. Aber ich will irgendwohin, wo bestenfalls keine fremden Menschen hinkommen.“
„Natürlich. Wir werden sehen was sich machen lässt.“
Die Anderen willigten ein. Damit war mein Schicksal besiegelt …
8
Am Tag vor unserem Ausflug hatte ich mich tatsächlich von Sato-san dazu überreden lassen Badekleidung einzukaufen. Dabei entspann sich nachfolgender Dialog:
„Was hältst du von diesem Modell, Nakamura-chan?“
„Für dich oder mich?“
„Wenn er dir gefällt lasse ich dir gerne den Vortritt. Aber ich finde, er hat etwas.“
„Wenn es nach mir geht würde ich unseren Ausflug am liebsten ganz ohne Badekleidung bestreiten. Moment, das habe ich jetzt unglücklich ausgedrückt. Was ich eigentlich sagen wollte, ist …“
„Schon klar. Dir ist es peinlich etwas Figurbetontes zu tragen. Dabei hast du dazu doch gar keinen Grund. Du stellst dein Licht viel zu sehr unter den Scheffel.“
„War das jetzt sarkastisch? Ich weiß, welche Figur ich dabei abgeben würde.“
„Fällt es dir wirklich so schwer ein Kompliment anzunehmen? Noch dazu, wenn es von einer Freundin kommt?“
„Ich weiß eben, was ich weiß. Und was ich weiß ist, dass ich für die meisten Menschen nur eine Witzfigur bin.“
„Dann lach eben lauter.“
„?“
„Wenn du deine Dämonen nicht bezwingen kannst, stell dich an ihre Seite. Du musst nur zusehen, dass deine Stimme lauter ist als die der anderen.“
„Was soll das heißen?“
„Wenn dir etwas nicht passt hilft sich einzuigeln wenig. Damit zeigst du im Endeffekt nur, dass deine Mobber Macht über dich haben. Wenn du aber im Gegenteil selbstironisch mit deinen vermeintlichen Schwächen umgehst nimmst du ihnen den Wind aus den Segeln.“
„Ich denke jemanden wie Amuro-san würde dies eher nur beflügeln noch mehr über mich herzufallen.“
„Lassen wir Amuro-san einmal außen vor. Mach einfach das, womit du dich wohl fühlst.“
„Ich denke, ich werde einen Hut brauchen. Ansonsten wird meinem Gesicht ein Unglück passieren.“
„Denk nicht immer so zweckmäßig. Sieh dich hier um. Was gefällt dir von der ganzen Auswahl am besten?“
„Wenn es schon etwas strandmäßiges sein muss, glaube ich, könnte ich mit einem Badekleid noch am ehesten leben. Mit dem lässt sich einiges kaschieren. Aber ein schattenspendender Hut ist Pflicht. Ich will keinen Sonnenbrand im Gesicht.“
„Das ist doch schon einmal ein Anfang. Welches Modell sagt dir am meisten zu?“
„Wie wär’s mit diesem hier? Der Rock ist angemessen lang und das Muster trägt nicht unnötig auf. Zudem ist es sehr preiswert, dafür, dass ich es im Leben wohl nie wieder trage. Ein echtes Sonderangebot.“
„Ein wenig schlicht, aber das passt schon. Was hältst du von diesem hier?“
„Masao wird sich sicher nach dir umdrehen. Aber vergiss nicht, dass die Zwillinge dich auch zu Gesicht bekommen werden.“
„…“
„Ich denke, man soll immer das machen womit man sich am Wohlsten fühlt?!“
„Ich nehme ihn. Schließlich ist ein Badeanzug dazu da, um gesehen zu werden. Übrigens plane ich eine Überraschung für unseren Ausflug.“
War das eine positive Ankündigung oder nicht? Ich nahm Sato-sans Worte hin ohne nachzuhaken. Meistens waren Überraschungen für diejenigen, die sie betrafen weniger angenehm, als für jene, die sie organisierten. Da ich keinerlei Interesse zeigte ihr das Geheimnis zu entreißen wirkte sie ein wenig eingeschnappt.
Im Endeffekt entschieden wir uns jede für das Modell, welches uns am besten gefiel. Sato-san nahm übrigens einen dunklen, ärmellosen Badeanzug im Lolitastil mit Schnürrüschen, der ein wenig an ein Kleidungsstück aus einem Anime erinnerte. Masao würde sicher hin und weg sein, auch wenn er sich nicht anmerken ließe. Er hatte einfach das perfekte Pokerface …
8
An diesem Abend tat ich etwas, was ich sonst höchst ungern tat. Vorsichtig zog ich die Tür meines Zimmers zu, damit Großmutter mich nicht ertappte. Dann zog ich mein neuerworbenes Badekleid an und posierte damit ein wenig vor dem Spiegel. Dieser hatte schon einiges erlebt, also würde er wohl auch mit meinem Anblick klarkommen. Ich muss zugeben, das Stück hatte es mir aus irgendeinem Grund angetan. Ich mochte die Farbe dunkelblau schon immer. Um genau zu sein war es meine Lieblingsfarbe. Auch das tropische Muster war meinen Augen wohlgefällig. Früher war ich mit Masaos Familie oft am Strand gewesen, jedoch im Eva‑Kostüm. (Ich war drei allerhöchstens vier Jahre alt, also macht mir keinen Vorwurf. Mir war heiß und das Wasser machte mir Angst. Da blieb mir nur sämtliche Hüllen abzustreifen.) Irgendwann würde ich wohl in Masaos Haus einsteigen um die dortigen Aufnahmen aus jener Zeit zu vernichten.
„Ist das Wetter nicht schön, Ito-san? Es war eine tolle Idee von dir ein Picknick am Strand zu veranstalten. Jeder Tag, den ich mit dir verbringen darf, lässt mich dich nur noch mehr lieben.“
„Ai, wenn ich in dein Gesicht sehe kommt mir die Zeit vor dir öde und bedeutungslos vor. Lass uns nie mehr voneinander lassen.“
„Ach Ito-san … hi hi.“
„Ai, telefonierst du? Ich kann den Sake nirgendwo finden.“
Von einem Augenblick auf den anderen wurde ich aus meiner Phantasie gerissen und landete unsanft in der Realität.
„Ai, hörst du nicht?“
Großmutters Schritte auf dem Flur kamen immer näher. Geistesgegenwärtig konnte ich gerade noch die Tür verschließen, ehe sie mich so sah.
„Ai, was sperrst du denn ab?“
„Ich ziehe mich nur gerade um, Großmutter. Der Sake ist übrigens alle. Den letzten hast du gestern zusammen mit Kaede getrunken.“
„Ach ja? Hmpf. Dabei war ich gerade so schön in Stimmung darauf.“
„Tut mir leid?“
„Ach, Schwamm drüber. Du kannst ja nichts dafür.“
Puh, das war gerade noch einmal gutgegangen. So peinlich verhielt ich mich sonst selten absichtlich. Meistens nur, wenn ich alleine war. Mit sich selbst Liebesschwüre auszutauschen und die Stimme zu verstellen war allerdings selbst für mich ein ganz neues Level des Schamgefühls.
Apropos Ito-san: bis heute war es ein Mythos, warum er seine übliche Leistung in den Prüfungen nicht erbringen konnte. Manche meinten, er habe sich schlicht zu viel zugemutet. Andere sagten, dass es wohl einfach einmal passieren musste, dass er vom Thron gestoßen würde. Ein anderes Gerücht besagte seinerseits, er habe wegen unglücklicher Liebe versagt. Letztere Annahme wiederum würde mein Herz in tausend Stücke zerschellen lassen. Aber das war ohnehin Unsinn. In unserer ganzen Schule gab es kein Mädchen, Sato-san ausgenommen, das nicht seine Freundin hätte werden wollen. Fakt war, Ito-san selbst hatte sich mit keinem Ton dazu geäußert und würde es wohl auch nicht tun.
8
Es war Samstag. Masao, Kazuki, Kazuko und ich warteten am Bahnhof auf Sato-san. Gemeinsam wollten wir von dort aus zu einem nicht allzu weit entfernten Strand aufbrechen, der mangels Attraktionen nur schwach bis gar nicht frequentiert war. Die Fahrt würde uns circa eine Stunde kosten, also lag sie im Bereich des Erträglichen. Ein wenig Sorgen machte mir allerdings die Überraschung, die sie mir angekündigt hatte. Da ich in allem und jedem Unbekannten eine potentielle Bedrohung sah bereitete mir die Ungewissheit Bauchgrummeln. Außerdem schleppten die Zwillinge eine ungewöhnlich große Schachtel mit sich herum, die, in ihren eigenen Worten, ebenfalls „für Aufsehen“ sorgen sollte. Ich hätte einfach reinsehen sollen, war aber in Gedanken mit Sato-sans Vorhaben beschäftigt. Nun, diese Bürde sollte mir bald abgenommen werden.
„Hallo, Nakamura-chan, Takahashi-kun und ihr anderen. Seht mal, wen ich überreden konnte mitzukommen.“
Der Junge, der da neben ihr stand, war das nicht … Ito-san? Ito-san?! ITO-SAN! Ich fiel beinahe in Ohnmacht. Ito-san würde mit uns mitkommen?! Ich würde einen Tag mit meinem großen Schwarm verbringen können ohne Schikanen von Amuro-san befürchten zu müssen?! Wir würden gemeinsam am Strand liegen und im Meer baden?! Ich würde ihn in der Badehose sehen und … er mich im Badeanzug?! Ihr Götter und alle Himmelsboten, bitte nicht!!! Er sah sicher umwerfend aus und ich dagegen wie ein unförmiges Meerestier, das die Flut an den Strand gespült hat.
„Hideaki kann etwas Ablenkung gut gebrauchen, deswegen habe ich ihn gebeten mitzukommen. Hideaki, das sind Takahashi-kun, die Zwillinge …“
„He, kennst du unsere Namen etwa nicht?!“
„… und Nakamura-chan muss ich dir wohl nicht extra vorstellen.“ Ito-san musterte mich eingehend.
„Ach ja, wir besuchen doch dieselbe Klasse. Du bist doch das …“
Mir stand der Verstand still. Bedachte mich Ito-san etwa gleich mit dem gleichen unseligen Spitznamen wie der Rest unserer „Kameraden“? Ito-san, ich hatte immer so eine hohe Meinung von dir.
„… Mädchen, das in Naturwissenschaften so hervorsticht. Ai Nakamura, richtig?“
„Jaaaaaaaaaaa … ich meine, ja, das bin ich. Guten Tag, Ito-san.“
Ich wusste, du würdest mich nicht enttäuschen. Du kennst sogar meinen Namen. Jetzt konnte ich in Frieden in die Welt der Geister übertreten. Mein Leben hatte seinen Höhepunkt erreicht.
„Wir werden den Tag mit einer Berühmtheit verbringen.“
Hey, Kazuki und Kazuko. Zerstört nicht meinen großen Augenblick. Oder kannte er meinen Namen etwa nur, weil er mein Klassensprecher war? Dieser Gedanke war niederschmetternd. Es hätte nicht viel gefehlt und meine Seele wäre tatsächlich meinem Körper entschwebt.
Im Zug ergaben sich dann aufgrund der Zusammensetzung unserer Gruppe folgende Paarungen: Sato-san nahm sich „zufällig“ den Platz gegenüber Masao. Die Zwillinge hatten sich ein Kartenspiel mitgebracht, bei dem es darum ging sich gegenseitig mit Monstern und Magie den Garaus zu machen und wählten zu diesem Zweck ebenfalls gegenüberliegende Sitzplätze. Das hieß, dass zwangsläufig Ito-san und ich das letzte Pärchen bilden würden. Pärchen?! Allein das Wort ließ mein Herz erbeben. Es war verblüffend, wie nah beieinander manchmal Himmel und Hölle liegen konnten. Ito-san zeigte keinerlei Anstalten, ein Gespräch zu beginnen und sah nur nachdenklich aus dem Fenster. Hilfesuchend blickte ich zu Sato-san, die mir hoffungsvoll zunickte. Was sollte ich bloß sagen? Worüber sprach man mit einem gefallenen Star? Am besten nicht über die Prüfungen. Aber ich hatte keine Ahnung darüber wofür er sich abseits der Schule begeisterte. Er war immer so aufmerksam und korrekt, aber daraus ließ sich kein angemessenes Thema ableiten.
„Schönes Wetter heute. Richtiges Badewetter.“
Ai, du Nuss. Klar war Badewetter, sonst würden wir doch nicht an den Strand fahren. Außerdem: das Wetter? Fällt dir echt nichts Besseres ein? Wie alt bist du? Siebzehn oder doch vielleicht eher siebzig?! Ito‑san sah mich kurz an und blickte gleich wieder gen Himmel. Vielleicht war es auch besser sich schweigend der Fahrt hinzugeben. Er hatte vermutlich das erste Mal in seinem Leben den Kürzeren gezogen. So etwas zu verdauen war nicht einfach. Ich war die Mittelmäßigkeit in Person. Deswegen waren Pleiten für mich nichts Neues. Am Strand würde er vielleicht auftauen. Bis dahin wollte ich ihn seine Wunden lecken lassen. Allerdings …
… bemerkte ich jetzt erst, dass ich entgegen der Fahrtrichtung saß. Das war mir vor lauter Aufregung bisher entgangen. Dabei wurde mir so während der Fahrt immer gründlich schlecht. Sollte ich Ito-san fragen, ob er mit mir den Platz tauschte? Aber was würde er von mir halten, wenn zu befürchten stand, dass ich ihm mein Frühstück präsentierte? Meine Not wurde immer größer und mir war bald alles egal.
„Ähm … Ito-san, würdest du vielleicht …“
„Nakamura, möchtest du den Platz mit mir tauschen? Du siehst etwas blass um die Nase aus. Ich denke, es bekommt dir besser, wenn du richtig herum fährst. Mir macht es nichts aus rückwärts zu fahren.“
Ich nahm dankbar an. Andere Jungen hätten sich in Ekel von einem Mädchen wie mir abgewendet, aber er bot mir sogar seinen Platz an. Rot hätte ich werden können, aber ich vermute trotz allem behielt ich noch eine Weile mein grünes Gesicht.
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„Mensch! Wir haben den ganzen Strand für uns allein. Was für ein Luxus“
Die Zwillinge hatten recht. Obwohl wir wunderbares Wetter hatten war die Gegend so unbeliebt, dass sie menschenleer war.
„Nakamura-chan, lass uns gleich umziehen gehen.“
„Eigentlich finde ich es ganz nett so. Ich muss auch nicht unbedingt ins Wasser gehen.“
„Bange machen gilt nicht. Wozu hättest du dir denn sonst dein wunderschönes Badekleid gekauft?! Die Jungs sollen sich doch die Köpfe nach uns umdrehen.“
War der letzte Satz an Masao gerichtet? Masao und die Zwillinge war ich gewöhnt und Sato-san von vorneherein ein Mädchen. Das war nicht das Problem. Aber meinem Schwarm meine Figur zu präsentieren, die ansonsten von meiner Schuluniform ganz gut kaschiert wurde, stand auf einem anderen Blatt. Sato-san hatte ihren Arm auf meine Schultern gelegt und so musste ich gezwungenermaßen mit zu den Umkleidekabinen. Ihre Freundlichkeit war wirklich entwaffnend.
Obwohl ich dabei war mich umzuziehen überlegte ich fieberhaft, wie ich ungesehen den Tag überstehen konnte. Wo kam denn dieser Lichtschein überhaupt auf einmal her? Hier musste irgendwo ein Loch in der Wand sein. Wurden hier früher etwa die Mädchen beim Umziehen bespannt? Unverschämtheit. Selbstverständlich waren unsere Jungs über jeden Verdacht erhaben derlei zu tun. Allerdings: ein Loch, durch das man rein sehen konnte war auch dazu geeignet, einen Blick nach draußen zu werfen. Die Jungs waren gerade damit zugange unser Lager am Strand aufzubauen. Wenn ich mich beeilte, dann …
Ich öffnete so leise ich konnte die Tür und flitzte los. So schnell meine lahmen Beine mich trugen rannte ich von der Umkleidekabine über den Strand direkt hin zum Meer und stürzte mich in die Fluten, sodass mein problematischer Leib sich vom Hals abwärts unter dem Meeresspiegel befand.
„Seht doch. Nakamura-san ist bereits ins Wasser gegangen. Wir wussten gar nicht, dass sie so eine Wasserratte ist.“
Die Zwillinge staunten in ihrer Unschuld nicht schlecht. Aber fürs erste war ich in Sicherheit.
Das Meer war angenehm warm, Quallen gab es keine. Ich war lange Jahre nicht mehr schwimmen gewesen, also fühlten sich die Bewegungen für mich anfangs ziemlich ungewohnt an. Fürs erste paddelte ich wie ein Welpe ein wenig vor mich hin. Mir war es peinlich, dass ich nie das Kraulen erlernt hatte und maximal das Brustschwimmen beherrschte. Deswegen hielt ich mich ein wenig abseits von den anderen auf. Kazuki und Kazuko waren wie üblich äußerst übermütig und spritzten die Anderen mit Meerwasser voll. So gesehen war mein Exil eine weise Entscheidung. Nicht nur aus diesem Grund …
Eines stand bei mir immer von vorneherein fest, es war quasi mein festgeschriebenes Schicksal. Das, was schiefgehen konnte, ging in schönster Regelmäßigkeit auch den Bach hinunter. Ich trieb gerade ein wenig auf dem Rücken und genoss das warme Klima. Konnte das Leben nicht immer so angenehm sein? Nanu? Was war das? Wieso fühlt sich mein Rücken mit einem Mal so anders an? Ich griff nach hinten und stellte fest, dass sich der hintere Teil meines Badeanzugs verabschiedet hatte. Taugte seine Verarbeitung etwa nichts? Das durfte bei Badekleidung nun wirklich nicht vorkommen. War sie deshalb ein Sonderangebot? Das Vorderteil klebte durch die Feuchtigkeit an meinem Oberkörper. Setzte ich allerdings zum Brustschwimmen an würde sich auch dieser Teil wohl von meinem Körper lösen und Ito-san sähe mich vollends na … Du liebe Zeit. Masao konnte ich nicht zu Hilfe rufen, Kazuki und Kazuko schon gar nicht. Sie alle waren Jungen. Blieb mir nur Sato-san. Wie lockte ich sie jetzt zu mir herüber, ohne dass die anderen den Grund mitbekamen?
„Sato-san. Psst. Ich brauche Hilfe.“
„Nakamura-chan, komm doch zu uns herüber. Immer nur alleine sein Ding zu machen ist nicht gut.“
Vielleicht. Jetzt aber war es goldrichtig. Offensichtlich hatte ich zu leise gesprochen.
„Sato-san, du musst die Jungs weglocken.“
„Was? Ich verstehe dich so schlecht? Ich komme mal rüber.“
„Mimi, wo willst du hin?“
„Nakamura-chan hat etwas. Ich will mal nach ihr sehen.“
„Am besten, ich komme mit. Vielleicht ist sie von einer Qualle gestochen worden. Die sind hier zwar ziemlich selten, aber ein paar verirren sich doch hierher.“
Ito-san war wirklich so etwas wie ein Ritter in schimmernder Rüstung, der zu Hilfe eilte, wenn ein Fräulein in Nöten war. Jedoch war er als Mann in dieser Situation eine absolute Fehlbesetzung.
„Nein, wartet. Kommt nicht näher.“
Ich geriet ziemlich in Panik.
„Was ist mit dir, Nakamura-san?“
„Geht es dir nicht gut?“
Jetzt waren auch Kazuki und Kazuko auf mich aufmerksam geworden.
„Geht bloß weg. Kommt ja nicht näher.“
„Warum? Was ist denn los?“
„Ist dir etwa ein kleines Malheur passiert? Sollen wir deshalb nicht zu dir kommen? Das macht doch nichts.“
„HABT IHR SIE NOCH ALLE?! IHR SPINNT WOHL?!“
Stellten die mich glatt als inkontinent hin. Vor Ito-san.
„Ai, kann es sein, dass …“
Masao, nicht!
„… dir ein Teil deines Badeanzugs abhandengekommen ist?“
Masao, hast du übersinnliche Kräfte? Woher weißt du so etwas bloß immer?
„Hier ist gerade ein Stück Stoff angespült worden, dass deinem Badeanzug zum Verwechseln ähnlichsieht.“
„Kyaaaaah!“
Ich tauchte unter und beschloss fürderhin auf dem Meeresgrund zu leben. Wenn es sein musste, auch nackt …
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„Lasst uns die Melone spalten.“
„Jaaaa!“
Die Zwillinge waren auch hier wieder äußerst motiviert. Sollten sie sich diese Einstellung auch später im Arbeitsleben bewahren können würde sie nichts jemals aus der Bahn werfen. Die Jungs waren vorhin so zuvorkommend den Strand zu räumen, damit ich aus dem Wasser kommen und mich wieder in meine Sommerklamotten werfen konnte. Sato-san ging als mein Schutzschild vor mir her, falls doch ein Außenstehender den Strand aufsuchen hätte wollen. Mein Leben als Meerjungfrau war damit (vorerst) abgeblasen.
„Können wir sie nicht einfach so aufteilen?“
„Ach, Nakamura-chan. Was wäre ein Sommer ohne Suikawari[1]?“
„Ich meine ja nur. Ich habe so ein ungutes Gefühl, als wüsste ich, wer sich gleich zum Deppen machen muss.“
„Wenn man schon Gefühle hat soll man sie auch ernst nehmen. Wenn du anfängst hast du es gleich hinter dir, Ai.“
„Masao. Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob wir wirklich befreundet sind. Vielleicht siehst du mich eher als dein persönliches Spaßäffchen.
„Ich würde es dir nicht vorschlagen, wäre ich nicht sicher, du hättest Spaß dabei.“
„Das sehe ich auch so, Nakamura-chan. Wenn du es nicht hinkriegst ist ohnehin der nächste von uns dran. Ein bisschen peinlich wird es doch für jeden von uns. Unter Freunden macht das doch nichts.“
Keine Ahnung, warum, aber ich ließ mich breitschlagen. Vielleicht, weil Sato-san mich erneut als Freundin bezeichnete.
„Halt still, Ai, sonst kann ich dir die Augen nicht richtig verbinden.“
„Autsch! Nicht so fest.“
Dann begannen meine Freunde damit mich im Kreis zu drehen, damit ich die Position der Melone aus den Augen verlor. Das Drehen war normalerweise kein Bestandteil dieses Spiels. Kazuki und Kazuko wollten damit nur den Schwierigkeitsgrad erhöhen. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob mir tatsächlich von der Dreherei schwindlig wurde oder von den vielen Berührungen an meinem Körper. An dermaßen viel Körperkontakt war ich nicht gewöhnt, eigentlich an gar keinen. Außerdem fasste mich (vielleicht) auch Ito-san an, was mein Blut zusätzlich in Wallung brachte.
„Dreht sie schneller.“ Das war Kazuki. (Vielleicht auch Kazuko, ich konnte die Zwei nach wie vor nicht auseinanderhalten. Erst recht nicht ohne Sehvermögen.)
„Übertreibt es nicht. Nicht, dass ihr noch schlecht wird.“ Das war Sato-san. (Langsam nahm ich sie wirklich als Freundin wahr. Oder wollte sie bloß eine Szene wie im Zug vermeiden?)
„Es ist genug. Schicken wir sie auf die Reise.“ Das war Masao.
Völlig meiner Orientierung beraubt torkelte ich los. Anfangs ging ich im wahrsten Sinne am Stock, sonst wäre ich vermutlich umgekippt. „Mehr nach links.“ „Nein, geradeaus.“ „Nicht einschlafen.“ Die Stimmen gingen derart durcheinander, dass ich nun nicht mehr eindeutig sagen konnte, wer mir welchen Hinweis zurief. Ich schlug mit meinem Stock ehrenhalber ein paar Mal mit Schwung vor mich in den Sand. Es sollte zumindest so aussehen, als ob ich mich ernsthaft bemühte. Im Endeffekt wollte ich meine Pflicht nur schnell hinter mich bringen und den Stab weiterreichen.
„Nein, völlig falsch. Du musst dich umdrehen.“
„Etwa eine Vierteldrehung im Uhrzeigersinn.“
„Hör nicht auf sie, Nakamura-chan. Du bist auf der richtigen Spur.“
Es war mir ehrlich egal. Ich setzte alles auf eine Karte. Ich machte ein paar schnelle Schritte nach vorne …
… stolperte über die Melone, anstatt sie zu zerschlagen, und fiel der Länge nach hin. Dabei riss ich noch jemanden mit mir um. Dieser Jemand lag nun begraben unter mir. Schmerzverzerrten Gesichtes nahm ich meine Augenbinde ab und sah Ito-san unter mir im Sand liegen. Wenn es nur so einfach gewesen wäre. Ich lag auf ihm und drückte ihm meine ohnehin kaum vorhandene Oberweite mitten ins Gesicht.
„Ito-san, es tut mir leid. Das wollte ich wirklich nicht.“
„Ist schon gut, aber könntest du bitte von mir runtergehen? Nichts gegen dich, aber die Position ist alles andere als bequem für mich.“
So schnell ich konnte stand ich auf und bemerkte eine rötliche Substanz, die an meiner Brust herunterlief. Ich musste dem Ärmsten voll gegen die Nase geprallt sein, denn sie blutete fürchterlich. Sofort tastete ich meine Kleidung nach einem Taschentuch ab, aber ich hatte verabsäumt überhaupt welche mitzubringen. Mann der Stunde war wieder einmal Masao, der geistesgegenwärtig zu unseren Habseligkeiten lief. Von dort brachte er gleich eine ganze Packung mit, mit der Ito-san die Blutung stillen konnte. Danach versuchten noch Kazuki und Kazuko ihr Glück, aber es gelang schließlich Sato-san die Frucht in ihre Einzelteile zu zerlegen. Sie hatte genau die richtige Temperatur und war auch ansonsten sehr schmackhaft, aber ich fühlte mich trotzdem einfach nur elend. Ich wollte nachhause zu Großmutter und Arabiki-kun, wo ich keinen Schaden mehr anrichten konnte …
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Masao und Ito-san machten sich nun daran einen provisorischen Grill aufzubauen. Essen war etwas, bei dem sogar ich nicht viel falsch machen konnte und was ich leider wirklich gut beherrschte. Ito-san versicherte mir zwar keinerlei Groll gegen mich zu hegen, dennoch hielt ich mich erst einmal abseits.
„Am besten legen wir einen mittelgroßen Kreis aus Steinen um die Feuerstelle.“
Die Beiden wussten, was sie taten.
„Das Feuerholz sollte eigentlich ausreichen. Wer hat die Streichhölzer?“
„Ich hole sie schon.“
Es hatte etwas Urtümliches wie die Männer sich um das Feuer kümmerten. In diesem Fall eben Ito-san und Masao.
„Hoffentlich sind sie von der Meeresluft nicht zu feucht geworden. Dann hätten wir ein ernsthaftes Problem.“
Es brachte mein Herz zum Klopfen, wie kundig mein Schwarm die Organisation unseres Mahls übernahm. Gekonnt brachte er das Holz zum Lodern und platzierte einen kleinen klappbaren Grillrost darüber. Ich glaube, so etwas nannte man einen Campinggrill.
„Was soll als Erstes auf den Rost?“
„Wagyu[2]!“, schrien die Zwillinge.
„Dafür fehlt unserer Klubkasse das Geld. Wir müssen uns mit Tintenfisch bescheiden. Dazu haben wir aber Shiitake[3], Paprika, Kohl und Sojasprossen.“
Masao machte den Grillmeister.
Der Duft des gegrillten Tintenfisches vermischte sich herrlich mit jenem des Gemüses und wirkte absolut appetitanregend. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass wir unter freiem Himmel aßen, aber es schmeckte einfach vorzüglich. Die Teriyaki-Sauce verband sich mit dem Grillgut zu einem herzhaften Geschmack und es schmeckte einfach immer nach mehr. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal derart gut gegessen hatte und ich war wahrlich keine schlechte Köchin. Aber es war eine Tatsache, dass es das Geschmackserlebnis verstärkte, wenn man in fröhlicher Runde zu mehreren Personen aß. Sonst speisten immer nur Großmutter und ich alleine. Freunde zu haben mit denen man derartiges unternehmen konnte war einfach etwas Tolles.
Ich konnte mir in der Situation gar nicht mehr erklären warum ich immer so störrisch war, wenn man mich zu einem Ausflug überreden wollte. Es schadete mir absolut nicht meine Welt zu vergrößern und wollte in Zukunft ein wenig offener sein. Ich nahm mir fest vor an diesem Vorsatz festzuhalten.
So köstlich das Essen auch schmeckte, es machte auch gehörigen Durst.
„Masao, haben wir noch kalte Getränke?“
„Es müsste noch Sprudel in der Kühlbox sein.“
„Kein stilles Wasser?“
„Nein, der Sprudel war im Angebot.“
„Kohlensäure mag ich eigentlich nicht besonders.“
Meiner Meinung nach verdarb sie den eigentlichen Geschmack von Getränken. Aber mir klebte die Zunge am Gaumen, also nahm ich was ich kriegen konnte. Schon nachdem ich den Verschluss entfernt hatte kitzelten mich die Bläschen in der Nase. Nur mit Mühe gelang es mir ein Niesen zu unterdrücken. Ich nahm ein paar große Schlucke und versuchte den Geschmack der Kohlensäure weitestgehend zu ignorieren indem ich schnell trank. Nicht meine beste Idee, da ich dabei auch viel Luft in meinen Magen beförderte.
„Nakamura, reichst du mir bitte die Teriyaki-Sauce?“
Ito-san sprach mich an. Der Grund war zwar nicht sonderlich romantisch, aber dennoch. Wenn es mir gelang jetzt normal mit ihm umzugehen, konnte ich das Melonenspalten und alles andere vielleicht ein wenig vergessen machen.
„Hier, bitte. Büüüüüüüüüüüürp!“
Ohne dass ich es wollte war mir ein heftiger Rülpser entwichen. Die Zwillinge mussten laut auflachen. Sato-san starrte mich an. Masao aß davon ungerührt weiter. Ito-san … saß mir leider gegenüber und wurde von der Gaswolke voll getroffen. Ich wollte etwas dazu sagen, brachte aber nur ein zaghaftes „Ito-san …“ heraus, weil ich spürte, dass mein Magen noch mehr Gas beinhielt.
Von diesem Moment an schienen mir die folgenden Ereignisse wie in Zeitlupe abzulaufen. Ich stand auf und rannte so schnell ich konnte davon. Einerseits, weil ich den Anderen nicht mehr in die Augen schauen konnte. Andererseits, weil ich den nächsten Rülpser unter Ausschluss der Öffentlichkeit entladen wollte. Jeder Schritt meines Laufs dauerte gefühlte Minuten und ich konnte nichts anderes mehr denken, als was ich doch für eine Peinlichkeit war. Ich wusste wieder, warum ich mein Leben lieber im kleinen Kreis verbrachte und mich von neuen Bekanntschaften fernhielt. Seinem Schwarm ins Gesicht zu rülpsen, das war wohl in der Geschichte der Menschheit einzigartig. Erst nach etlichen Metern kam ich zum Stillstand und verzauberte mehrmals lautstark die Luft.
Ich hatte im Zug beinahe mein Innerstes nach außen gekehrt, mein Badeanzug hatte sich im Wasser(!) aufgelöst, ich hatte Ito-san meine Oberweite so stark ins Gesicht gedrückt, dass er Nasenbluten bekam und ihm schließlich noch ins Gesicht gerülpst. „Wirklich gut gemacht, Ai. Du hattest schon recht damit bisher ein Leben wie ein Einsiedler zu führen. Du bist eine einzige Peinlichkeit auf zwei dicken Beinen. Ihr Götter, hört ihr mich?“ Ich begann mein Leid in den Himmel emporzurufen. „Warum habt ihr mich als Mensch zur Welt kommen lassen? Als echte Kröte wäre ich wahrscheinlich glücklicher geworden, denn als menschliche.“ Dann versagte meine Stimme und ich schluchzte nur noch lautstark.
„Ai, was läufst du denn weg?“
„Nakamura-chan, das kann doch jedem einmal passieren. Komm doch wieder zu uns.“
Masao und Sato-san waren mir nachgelaufen.
„Geht weg … ich will niemanden sehen … nicht einmal euch …“
„Lässt du uns kurz einmal allein, Takahashi-kun? Ich glaube, in dieser Situation kann ein Junge nicht allzu viel ausrichten.“
Masao nickte und ging dann zurück an den Strand.
„Nakamura … nein, Ai-chan … komm her.“
Tröstend legte Sato-san ihre Arme um meinen unflätigen Körper.
„Tut es so weh, weil es dir gerade bei Hideaki passiert ist?“
Ich nickte nur vorsichtig.
„Ich glaube, dass du ihn ziemlich falsch einschätzt. Das war zwar ein wenig unangenehm, aber er ist nicht der Typ, der auf solche Sachen etwas gibt.“
Ich begann mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
„Weißt du, meine und Hideakis Eltern sind ziemlich erfolgreiche Geschäftsleute und gerade bei Hideaki sind unsere Eltern sehr daran interessiert, dass er einmal in ihre Fußstapfen tritt. So wurde schon als Kinder von uns manchmal ein Schaulaufen veranstaltet, bei dem wir durch die feinen Künste und besonders gute Manieren glänzen sollten. Während Hideaki Gedichte rezitieren sollte wurden von mir einige Takte auf der Violine erwartet. Jedenfalls, ich weiß es noch wie heute, gab es da einmal dieses Abendessen, bei dem unter anderem Grünkohl eine Zutat war. Da meine Mutter mich den ganzen Tag für meinen Auftritt drillte blieb entsprechend wenig Zeit etwas zu mir zu nehmen. So nahm ich mein Abendessen umso begieriger zu mir.
Zwischen unseren Eltern und Herrn Tamenaga, so hieß der Mensch, dem wir Kurzweil verschaffen sollten, entwickelte sich alles bestens. Die Speisen wurden mit gutem Appetit verzehrt und auch gewisse Getränke flossen in Strömen. Schließlich kam Hideakis und mein ‚Auftritt‘. Während Hideaki mit seiner Poesie unterhielt, machte sich in meinem Magen, was Wunder, ein gewisses Unwohlsein breit. Als ich dran war ein Stück zum Besten zu geben, spürte ich bereits ein starkes, auf Distanz noch nicht hörbares, Brodeln in mir. Unangenehm, aber noch kontrollierbar. Sicherheitshalber spielte ich besonders laut auf. Alles war mir recht. Hauptsache, ich musste mir keine Blöße geben. Wenn ich so sagen darf, war ich damals gar nicht schlecht. Allein, der Drill, den meine Mutter mir auferlegte nahm mir den Spaß an der Sache. Aber ich schweife ab.
Ich hatte die letzten Töne gespielt und nahm mein Instrument von der Schulter. Leider ist es die Schuld eines Künstlers sich nach getanem Werk vor seinem Publikum zu verbeugen. Hideaki war so freundlich meine Violine in ihrem Kasten zu verstauen und so beugten wir uns beide vorneüber. Was dann passierte zählt mit Sicherheit zu den peinlichsten Momenten meines Lebens. In dem Moment, in dem mein Bauch sich krümmte, entwich meinen Eingeweiden das wohl lautstärkste Geräusch, dass man sich vorstellen kann. Weder Hideaki, noch Herr Tamenaga und schon gar nicht meine Eltern konnten glauben, was sie da zu hören bekamen.
Ich war dermaßen perplex, dass ich nicht wusste, wie ich die Situation noch retten sollte. Ich schämte mich so dermaßen und hatte keine Ahnung, wie ich meiner Familie jemals wieder in die Augen sehen sollte. Schließlich sprang Hideaki mir beiseite. Er nahm die Schuld auf sich und rettete mich damit. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob Herr Tamenaga ihm die Geschichte abgekauft hat. Jedenfalls bewahrte er mich und meine Familie davor unser Gesicht zu verlieren. Herr Tamenaga war jedenfalls aufgrund seines Alkoholkonsums allerbester Laune, sodass er kein großes Ding daraus machte. Für mich jedenfalls hatte es die Konsequenz, dass ich danach nie wieder zur Violine greifen musste. Heimlich tue ich es manchmal immer noch um in Übung zu bleiben. Jedenfalls ist Hideaki ein richtiger Gentleman, der sich niemals wegen so einer Lappalie vor den Kopf gestoßen fühlen würde. Erst recht nicht, wenn so ein Unfall einem Mädchen geschieht, das so toll ist wie du.“
Mehr denn je liefen mir Tränen über mein Gesicht. Sato-chan drückte mich fest an sich um mir die letzten Zweifel zu nehmen. Sie war wirklich wie die Schwester, die ich mir mein Leben lang gewünscht hatte. Ich war überglücklich, dass sie Teil meines Daseins geworden war …
Gemeinsam ging sie mit mir zurück zu unserem Lagerplatz. Die Jungs unterhielten sich gemäß unserem Klub angeregt über Manga und Anime. Ito-san konnte mit diesen Themen wohl nicht wirklich etwas anfangen und lag stattdessen mit dem Rücken im Sand und betrachtete nachdenklich den beginnenden Sonnenuntergang. Als sie uns erblickten verloren sie kein Wort über den Vorfall und witzelten stattdessen über die schlechte Qualität irgendeines unbekannten Anime. Ich setzte mich zu ihnen und konnte sogar schon wieder ein wenig lächeln. Es war ein wenig so, als legte sich ein schützender Kokon um mich, wenn ich bei ihnen war. Das war ein wunderbares Gefühl …
8
Der Abend kam und es dämmerte bereits.
„Lasst uns endlich das Feuerwerk entzünden.“
Sato-chan war sehr euphorisch. Beinahe wie ein Kind lief sie ein wenig überdreht umher und tanzte mit den Wunderkerzen herum. Dabei waren diese noch gar nicht entzündet.
„Ohne Feuerwerk ist es kein richtiger Sommerausflug.“
Masao war zwar ruhiger als Sato-chan, aber auch er bestand darauf, den Feuerzauber zu entfachen.
„Wo sind eigentlich Kazuki und Kazuko?“
„Die Beiden sind losgezogen um ihre mitgebrachte Schachtel zu holen.“
„Was sie wohl hergeschleppt haben? Irgendwie habe ich gar kein gutes Gefühl. Man sollte ständig ein Auge auf die Beiden haben.“
Wie aufs Stichwort betraten die Zwillinge wieder die Szene. Ich musste mehrmals hinsehen um die ganze Dimension ihrer Überraschung auf meine Netzhaut zu bannen.
„Ist das …“
„Ja, der größte Feuerwerkskörper, den wir für Geld auftreiben konnten.“
Die Zwei bekamen eindeutig zu viel Taschengeld. Die Größe allein war absurd. Die Rakete wirkte wie aus einem Tom und Jerry-Cartoon. Einer von uns hätte sich gut auf sie setzen können und mit ihr zum Himmel aufsteigen bis man gemeinsam in Funken aufging. Gut, das war vielleicht etwas übertrieben, aber ein derartiges Gerät musste unter den Augen einer fachkundigen Person abgebrannt werden, wenn es keine Verletzten geben sollte.
„Möchte einer von euch …“
„Abgelehnt!“
Ein solches Angebot konnte nur eine einstimmige Ablehnung nach sich ziehen. Masao, Ito-san, Sato-chan und ich nahmen sie den Zwillingen weg und versenkten sie im Meer. Das Gefahrengut musste ein für alle Mal unschädlich gemacht werden. Nicht auszudenken, wenn sie in Kinderhände geriet und noch funktionstüchtig wäre. Dies geschah auch zum Schutz von Kazuki und Kazuko, die nur körperlich reifer als ein Schulkind waren.
„Aber die hat ein Vermögen gekostet.“
„Unsere Gesundheit ist kostbarer.“
Manchmal fühlte ich mich wirklich wie die Mutter der beiden Kindsköpfe.
Nachdem das geklärt war entzündeten wir die Wunderkerzen.
„Wenn ich so etwas sehe fühle ich mich direkt in meine Kindheit zurückversetzt.“
„Mir geht es genauso.“
Sato-chan fühlte ähnlich wie ich.
„Wie die Funken aufleuchten und in alle Richtungen ausbrechen ist einfach ein zu schöner Anblick.“
Ob Sato-chan bewusst war was sie gerade tat weiß ich nicht, aber sie hatte sich an Masao angelehnt und beobachtete das Feuerwerk in seinen Händen. Ich wünschte den beiden wirklich, dass sie zueinander fänden.
Ich selbst saß sogar neben Ito-san, allerdings kam es zu keinerlei Berührung zwischen uns. Es wäre nach all den Vorfällen an diesem Tag auch zu voreilig gewesen, geschweige denn angemessen. Immerhin waren wir nur zwei Klassenkameraden die über einen gemeinsamen Kontakt zu einem kleinen Sommerausflug aufgebrochen waren. Nichts weiter …
8
Meinethalben hätte der Abend nie zu Ende gehen müssen, aber die Gesetze von Zeit und Raum bedingten dies.
„Wenn wir unseren Zug noch erwischen wollen sollten wir langsam los.“
Masao war ein Spielverderber, aber er hatte recht. Zumindest ich und Sato-chan hätten wohl ziemlichen Ärger bekommen, wenn wir ohne Aufsicht die Nacht mit Jungs verbrächten. Sato-chan hatte wenigstens ihren Cousin als familiären Aufpasser dabei, aber ich? Nun ja, Großmutter war auch nicht gerade kein Kind von Traurigkeit. „Was? Du warst die Nacht über mit einem Jungen zusammen? Hö hö hö, endlich wirst du erwachsen.“ Ja, es konnte gut sein, dass Großmutter tatsächlich so frivol reagierte. Aber mein Ruf war mir wichtig. Selbst wenn es meinen Schwarm betraf hatte ich gewisse moralische Grundsätze, gegen die ich nicht verstoßen würde.
„Mimi und Nakamura, ihr bedeckt das Feuer mit Sand, bis es vollständig erloschen ist. Takahashi trägt die leere Kühlbox und ich nehme Nakamuras Sonnenschirm. Wenn wir jetzt losgehen, sollten wir problemlos zur Abfahrtszeit ankommen.“
Ito-san war ein echtes Organisationstalent. So musste man als Klassensprecher auch sein. Emsig packten wir unsere verbliebene Habe zusammen und gingen den Weg zur Bahnstation zurück. Ein leichter Wind wehte, während die Zikaden im Hintergrund lautstark von ihrer Anwesenheit zeugten. Die Nacht hatte schon immer etwas Beruhigendes für mich. Es mochte viele geben, die sich von der einsetzenden Dunkelheit bedroht fühlten. Ich für meinen Teil empfand es eher so, als würde ein schützender Umhang um mich gelegt. Erst recht, da ich heute in guter Gesellschaft war. Wir erreichten bequem unsere Verbindung und stiegen ein, bevor sie losfuhr. Erst jetzt, als wir in einem leeren Abteil Platz genommen hatten, merkte ich, wie die drückende Schwüle ihren Tribut forderte. Dazu kam das sanfte Rütteln der Schienen. Es dauerte nicht lange und ich dämmerte weg. Gute Nacht …
8
„Aufwachen, Schlafmütze. Wir müssen gleich aussteigen.“
Was? Wo war ich? War es schon Zeit für die Schule? Ich musste spät dran sein, wenn Masao mich wecken kam. Ach, Unsinn. Ich war ja im Zug eingeschlafen. Masao, der Gute, hat mich die ganze Zeit an seiner Schulter schlafen lassen. Die musste ihn jetzt entsetzlich schmerzen. Ich hoffte, Sato-chan bekam das nicht in den falschen Hals.
Masao rüttelte mich an meiner Schulter, damit ich endlich richtig wach wurde. Ich öffnete die Augen und erhob meinen Kopf von meinem Lager. Ich sah mich um und stellte fest, dass eigentlich Ito-san als mein Kopfkissen hergehalten hatte. Im selben Moment als ich dies realisierte sprang ich auf und machte eine tiefe Verbeugung vor ihm um mich für mein Verhalten zu entschuldigen. Da die Bahn noch fuhr verlor ich aber beinahe das Gleichgewicht und er musste mich auch noch auffangen.
„Wah! Entschuldige bitte. Ich wollte das nicht. Es tut mir leid. Du hättest mich jederzeit wecken können.“
Er sah mich kurz an und sagte bloß: „Schon gut.“ Ich war wirklich eine Landplage. Die Zwillinge erwachten jetzt erst aus ihrem Dornröschenschlaf.
„Gähn! Ist etwas passiert?“
„Oh, das ist schon unsere Haltestelle.“
Sato-chan sagte gar nichts und lächelte mich bloß verschmitzt an. Wir packten unsere Siebensachen und verließen den Zug.
„Mimi und ich müssen auf einen anderen Bahnsteig um nachhause zu kommen.“
Ich war so beschämt, dass ich Ito-san nicht anschauen konnte (noch weniger, als ohnehin schon).
„Macht es gut und schöne Träume.“
Sato-chan war sichtlich gut aufgelegt. Bei dem Wort „Träume“ zwinkerte sie mir spitzbübisch zu. Ich wollte im Erdboden versinken.
„Der Tag war wirklich sehr lustig. Es hat gut getan auf andere Gedanken zu kommen. Vielen Dank, Nakamura. Du bist wirklich einmalig.“
War das sarkastisch gemeint? Bei diesen Worten jedoch sah ich Ito-san zum ersten Mal lächeln. Und was noch wesentlicher war: er lächelte MICH an: die Otaku-Prinzessin, das Krötenmädchen, nein, das Mädchen Ai Nakamura. Ich konnte es nicht fassen. So glücklich hatte ich mich mein Lebtag lang nicht gefühlt. Dann gingen er und Sato-chan ihrer Wege.
Plötzlich drehte sich Ito-san noch einmal zu mir um.
„Ach ja, Nakamura, …“
„Ja?“
„Du sabberst ein wenig, während du schläfst.“
Konnte sich bitte der Erdboden auftun und mich verschlingen? Daraufhin boxte Sato-chan ihn mit der Faust gegen die Schulter. Ich schämte mich unendlich, war gleichzeitig aber auch irgendwie glücklich über seine Aufmerksamkeit.
Als die beiden außer Hörweite waren schlug Masao den letzten Nagel in meinen Sarg.
„Du schnarchst übrigens auch ganz ansehnlich.“
„Nicht dein Ernst. Warum bloß immer iiiiiiiiich?“
Ich schlug mit meinen Fäusten leicht gegen Masaos Oberkörper und stützte meinen Kopf an seiner Brust ab.
„Hätte ich dich etwa wecken sollen? Ich glaube kaum, dass du mir das je verziehen hättest.“
„Unter diesen Umständen ist Untätigkeit aber auch nicht besser.“
„Ich glaube, du hast bei Ito-san heute echt Eindruck hinterlassen.“
„Aber was für einen?! Ich bin eine Katastrophe“
„Es schien, als hättest du ihn heute wirklich aufgemuntert. Deine Schusseligkeit war genau das, was er gebraucht hat.“
„Soll ich das als Kompliment auffassen?“
Masao schwieg kurz und lächelte dann verschmitzt. „Ja!“ Dann sagte er noch:
„Wer weiß, ob sich deine Karten nicht wahnsinnig verbessert haben …“
Ich war mir dessen nicht so sicher. Dennoch fühlte ich mich bei Masaos Worten mit einem Mal ganz warm und wohlig und das kam nicht von der üblichen Sommerhitze …
[1] Wassermelone-Spalten
[2] besonders aromatisches und zartes Rindfleisch aus Japan
[3] Pilzsorte