Miracle
Aufzeichnung 1. März 1999
Ich bin mittlerweile seit mehr als zwei Wochen im Südwesten Japans.
Auch wenn Professor Utsugi eine Anfrage an meine Forschungsstelle geschickt hatte, wollte ich schon seit längerem selbst in diesen Teil Ostasiens reisen.
Der Grund für die Anfrage des Professors war so simpel wie rätselhaft. Das Ökosystem sei in diesem Teil Japans wesentlich schnelleren und unvorhersehbareren Änderungen unterworfen als erwartet. Und in die generelle Erwartungshaltung ist die sich rasant ausbreitende Transfauna bereits miteinbezogen.
Dem Professor haben die Ressourcen gefehlt, um seinen Zuständigkeitsbereich im Land ausreichend nach den Pokémon, wie dieser Zweig des des Stammbaums der Eukaryoten hier im Volksmund mittlerweile genannt wird, abzusuchen.
Mein aktuelles Ziel befindet sich in der Wildnis im Westen. Die Gegend liegt in den Bergen, ist von dichten Wäldern umgeben. Im Zentrum des Gebiets liegt ein See, der aufgrund von jahrzehntelangem Rohstoffabbau zu verschmutzt sein sollte, als dass sich dort viel Leben niederlassen könnte. Dennoch häufen sich in letzter Zeit Berichte über Pflanzen, Pilze und Pokémon, die sich dort angesiedelt haben. Sogar einige Tiere sollen dort wieder heimisch sein.
Die Wanderung ist beschwerlich, da ich alleine unterwegs bin und versuche, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen. Morgen sollte ich den See erreichen und dort mein Camp aufschlagen können.
4. März 1999
Ich habe die Wasserproben untersucht. Es sind auf jeden Fall noch Verschmutzungen vorhanden, aber wesentlich weniger, als es eigentlich sein sollten. Ich verstehe nicht, wie das sein kann. Es gibt keine Technologie, mit der das Wasser so großflächig gefiltert werden kann. Es muss sich um eine nicht bekannte Art von Pokémon handeln. Wenn ich es finde und erforsche, werde ich sehr vielen Menschen helfen können. Der See wird mein Fokus bei dieser Expedition bleiben.
7. März 1999
Endlich habe ich einen Ansatzpunkt! Da ich tagsüber nichts erkennen konnte, hatte ich gestern in einem Gebüsch in Ufernähe einen Beobachtungsposten eingerichtet. Als ich in der letzten Nacht das Ufer beobachtete, sah ich ein großes Wesen, das mit rasanter Geschwindigkeit aus dem Wald an den See trabte. Als es am Ufer stehen blieb, konnte ich kurz einen Blick auf einen schlanken, pelzigen Körper erhaschen. Im fahlen Mondlicht wirkte das Fell beinahe bläulich. Auch wenn diese Ausdrücke aus der Zoologie mittlerweile zunehmend sinnlos erscheinen, möchte ich versuchen, es mit den mir vorhandenen Begriffen zu beschreiben: Die Bewegungen und der grundlegende Körperbau waren dem einer großen Raubkatze nicht unähnlich. Vor Jahren sah ich in einem zoologischen Garten einen der letzten Geparden, und die eleganten Bewegungen und Proportionen haben mich unwillkürlich an diese Erinnerung denken lassen. Es schien ein ausgeprägtes Geweih zu haben, das sich von der Stirn her fächerförmig ausbreitete. Wie bei manchen Ziegenarten war das Geweih aber so lang, dass sich die Hörner an manchen Stellen ineinander verhakt haben, was dem ganzen eine eigentümliche Form, an einen Edelstein erinnernd, verlieh. Zudem hatte es auch eine lange Mähne, länger als bei einem Löwen. Ich möchte morgen, wenn ich ausgeschlafen bin, die Stelle nach möglichen Spuren untersuchen.
8. März 1999
Die Fußabdrücke des Wesens erinnern auf jeden Fall mehr an eine Raubkatze als an einen Paarhufer. Aufgrund des Geweihs und der langen Mähne war ich mir nicht sicher, ob es bei diesem Pokémon, denn kein Tier weist eine derartige Merkmalskombination auf, eher um ein katzenartiges oder ein pferdeartiges handeln würde. Weitere Spuren konnte ich an Land nicht finden, doch im Wasser waren wesentlich weniger Öl- und Schlickablagerungen zu erkennen, als noch vor wenigen Tagen. Das Wesen war gestern so schnell wieder weg, dass ich gar nicht genau erkennen konnte, was es am Seeufer getan hat. Ernährt es sich auf irgendeine Weise von den verschmutzen Elementen?
Morgen muss ich für einige Tage in die nächste Stadt aufbrechen, um meinen vorläufigen Bericht abzuschicken und Vorräte aufzustocken. Auch wenn die Leute mir als Fremdem womöglich nicht vertrauen, vielleicht kann ich etwas herausfinden.
12. März 1999
Wie erwartet waren die Leute mir gegenüber schweigsam. Die Stadt ist sehr traditionsreich, und es wirkt beinahe so, als ob die älteren Bewohner versuchen, ihre Vergangenheit aufrechtzuerhalten, indem sie alle aktuellen Veränderungen ignorieren.
Professor Utsugi, mit dem ich telefonieren konnte, hat in seinen Aufzeichnungen kein Tier, kein Pokémon, kein bekanntes Lebewesen gefunden wie das, was ich am See gesehen habe.
Durch Zufall habe ich erst bei meinem Imbiss vor dem Verlassen der Stadt ein interessantes Gespräch mit einigen Jugendlichen führen können.
Wie die Vorbilder aus den Medien haben auch sie sich Pokébälle gekauft und versucht, mit Pokémon zusammenzuleben, um im Sport reich und berühmt zu werden. Aufgrund dieses Ziels waren sie sehr an den in ihrer Gegend auftretenden Pokémon-Arten interessiert und vor allem daran, wenn Neuankömmlinge im Ökosystem Fuß zu fassen versuchten. Sie meinten, als vor ein paar Monaten Teile einer alten Turmruine eingestürzt sind, hätten einige Bekannte von ihnen zum ersten Mal Pokémon gesehen, die dem aus meiner Beschreibung ähnelten. Gibt es mehrere solcher Wesen? Wieso waren sie bei einem alten Turm? Gerne hätte ich mehr über die Historie der Stadt erfahren.
17. März 1999
Das Wesen, das ich nun, wie auch die Jugendlichen der Stadt es tun, Suicune nennen möchte, lässt mich nicht mehr los. Tagsüber habe ich kaum noch Kraft, ich habe mich nicht mehr rasiert, und generell leidet meine Körperhygiene hier in der Wildnis. Nachts starre ich aus meinem Versteck wie gebannt auf den See. Alle paar Tage kommt Suicune, wie von einer persönlichen Motivation getrieben, ans Ufer gerannt. Es scheint nur am Wasser zu stehen und zu trinken. Kann es sein, dass es in seinem Körper Entzyme hat, die die Verschmutzung auflösen? Womöglich besitzt es auch eine Art symbiotische Lebensweise mit Bakterien, die sich von den verschmutzenden Elementen ernähren, und dafür dem Wirt selbst reines Wasser für die Erhaltung seines Körpers verschaffen? Doch, wie konnte so ein Wesen entstehen? Wie kann so eine Symbiose funktionieren? Ist das Pokémon entstanden, weil im Ökosystem eine Nische für die Vertilgung von Verschmutzung übrig war, die es alleine ausfüllen konnte? Ist es eine neue Mutation, oder gibt es ganze Rudel dieser Spezies? Falls es das einzige ist, geboren von einem ähnlichen, aber doch ganz anderen Pokémon, dann müsste ich es unbedingt fangen und schützen.
Zwanzigster März
Ich musste es konfrontieren. Als Suicune heute Nacht an den See kam, bin ich aus dem Gebüsch gesprungen und auf es zugerannt. Ich weiß, dass mein Verhalten komplett waghalsig war, denn Suicune könnte eine karnivore Lebensweise führen, und auch wenn die meisten Pokémon Menschen aus dem Weg gehen, gibt es doch so einige, die bei einem wahrgenommenen Eindringen in ihr Revier aggressiv reagieren.
Suicune hat mich nicht angegriffen, aber was ich sah, kann ich mir überhaupt nicht erklären. Es starrte mich zunächst einfach an, während ich versuchte die Distanz zu ihm zu überwinden. Es starrte einfach, nicht wie ein Tier oder Pokémon, sondern wie ein Mensch jemand anderen anschauen würde, der ihn auf der Straße in ein unerwünschtes Gespräch zu verwickeln versucht. Die Augen, sie hatten kein bloßes animalisches Starren, dahinter hat eine Art Bewusstsein gesteckt. Und dann... Vielleicht habe ich halluziniert, aber ein Teil von mir ist doch überzeugt, dass ich es gesehen habe: Suicune ist übers Wasser davongerannt. Nicht durch das Wasser. Über das Wasser. Quer über den See. Es gibt Insekten, die so leicht sind, dass ihre Beine nicht die Oberflächenspannung von Wasser durchbrechen. Aber Suicune ist wohl zwei Meter lang und entsprechend schwer. Es ist unmöglich. Es kann nicht sein. Und doch habe ich es gesehen.
Anfang April
Ich habe das Gefühl, dass ich es langsam verstehe. Meine Kleidung löst sich auf. Mein Körpergeruch ist ein Teil der Umgebungsluft geworden. Ich muss sprinten, um mir eines der wenigen kleinen Säugetiere oder der schwächeren Pokémon zu erlegen, wenn ich essen will. Ich trinke mittlerweile aus demselben See wie Suicune. Ich bin hauptsächlich nachts aktiv. Ich will es wiedersehen. Und vielleicht hat Suicune, ähnlich wie ich, einen inneren Drang?
Den Drang, Seen zu reinigen? Vielleicht wandert es von Gewässer zu Gewässer und reinigt so die Flüsse und Seen in seinem Einzugsgebiet? Verspürt es Freude, wenn es sieht, wie das Wasser täglich klarer wird? Oder ist es ihm doch egal, nur ein Nebeneffekt seines eigenen, einzigartigen Stoffwechsels? Auch wenn meine Forschungen eigentlich vorüber und die Gelder erschöpft sind, ich werde hier bleiben. Ich möchte Suicune wiedersehen, und ich werde ihm auch an alle anderen Orte folgen. Diese Aufgabe ist es wert, dass ich ihr, falls nötig, den Rest meines Lebens widmen werde.
Ende der Aufzeichnungen.