Beiträge von Silvers

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    Part IV: Hinterhalt


    Mithilfe der Mamutel war es eine erleichterte Reise. Ob es daher kam, dass sie kurz vor dem Ende ihres Weges standen, konnte Max nicht sagen, doch auf dem letzten Stück zum Lawinenberg drehte der scharfe Wind in Sachen Kälte und Stärke auf. Wenn die Mamutel nicht gewesen wären, würden ausnahmslos alle Erkunder weggeweht werden, Pawo und Eva mit eingeschlossen. Sie alle wanderten im haarigen und muffig riechenden Zelt, dass der stumme Gigant darstellte. Das Licht des Leuchtorbs, den Max vorneweg und leicht erhöht hielt, warf seltsam anmutende Schatten in ihre Gesichter. Das laute Heulen des Windes lieferte sich einen Kampf mit den knirschenden Schritten auf dem Schnee und dem lauten Aufstampfen der Mamutel, in dem sie sich gegenseitig übertönen wollten. Es war schwierig, auch noch die Stimmen der anderen zu vernehmen.


    Eva, die mit Rose recht nah bei Max war, sagte mit anschwellender Aufregung: „Wir sind gleich da, das spüre ich …“

    „Sind wir gleich da?“, röhrte Vane laut von hinten gegen die Geräuschkulisse aus. „Je früher wir von diesem komisch riechenden Mammut wegkommen, desto besser.“

    Ein seltsames Donnergrollen ertönte und von vorne erklang ein seltsamer Laut.

    „Er hat dich gehört“, kommentierte Eva und drehte sich auf Roses Schulter um und versuchte Vane zu erblicken.

    „Ich hoffe wirklich, dass sich unser Trip lohnt und nicht vergebens ist …“, gab Shadow zu bedenken. „Ein bisschen skeptisch bin ich schon noch, ob der Wächter noch lebt … ich meine“, und er sank etwas in sich zusammen, als er Roses strengem Blick begegnete.

    „Er lebt noch, sowie meine Mama, dessen bin ich mir sicher!“, entgegnete Eva hitzig. „Wir müssen einfach nur darauf hoffen!“


    Aus den Augenwinkeln sah Max, dass Shadow dreinblickte, als würde er weiterhin seine Zweifel offen kundtun wollen. Doch er beließ es dabei. In Evas Augen lag eine trotzige Entschlossenheit, worauf sie beinahe glühten.
    „Werden wir eigentlich auch den ganzen Berg an sich erklimmen müssen?“, fragte Max dann Eva. Sie schüttelte sanft den Kopf und wandte sich ihm zu: „Nahe dem Fuß des Lawinenbergs befindet sich eine Höhle, durch die man den größten Teil des Lawinenberges hinter sich lassen kann. Eventuell müssten wir diese erst suchen und dann freilegen müssen …“„Wie meinst du das?“, sagte Max und blickte Eva neugierig und argwöhnisch an. Sie machte große Augen und starrte zurück.

    „Woher, glaubst du, hat der Lawinenberg seinen Namen? In gewissen Abständen rasseln von dort Lawinen herunter.“

    „Beim Fuß des Berges? Auf den wir gerade zusteuern?“, rief Shadow von hinten laut aus. Max sah es ihm an seinen geweiteten roten Augen an, dass ihn diese Nachricht nicht erfreute. Er selbst war nicht erpicht drauf, in die Mitte einer Gegend zu spazieren, die mit großen Schildern umzäunt werden sollte, auf denen Achtung! Lawinengefahr! stünde. Seltsamerweise fand Eva die Reaktion der anderen sehr lustig.

    „Macht euch keine Sorgen! Sie kommen nur einmal am Tag herunter und ich bezweifle, dass sie erst dann herunterkrachen, wenn wir dort sind.“„Nun ja … es ist aber fünf Jahre her, seit du letztes Mal unterwegs warst, oder?“, gab Shadow dann zweifelnd zu erkennen.

    Ehe Eva darauf antworten konnte, ertönte draußen ein neues Donnergrollen, dem ein tiefes, langgezogenes Röhren folgte.

    „Wir sind da!“, rief Eva aufgeregt aus und sie bedeutete Rose, aus dem haarigen Zelt des Mamutel herauszutreten. Als die anderen ihr gespannt folgten, bemerkten sie sofort, dass sie viel weiter als vorher sehen konnten und dass auch der Wind an Stärke nachgelassen hatte. Sofort aber wurden sie in den Bann des Anblicks gezogen, der sich vor ihnen in den Himmel erstreckte.


    Von weitem schon, als das Team Mystery und Team Sternenjäger den Schlangenpass verlassen hatten, hat der Lawinenberg derartig imposant gewirkt. Nun aber wurde Max bewusst, wie schwach seine Vorstellungskraft war.
    Größer, breiter und steiler als in seinen kühnsten Träumen erwartet erhob sich der Lawinenberg in die Höhe. Und obwohl er nach den ersten Metern in Nebelschleiern verschwand, ahnte Max, dass dieser Berg bis in den Himmel hineinzuragen schien. Nicht weniger imposant war die Formation an Felsen, die sich vor ihnen ausbreitete. Es wirkte, als wurden sie bewusst in der Art angeordnet, dass sie wie steinerne Wächter den Weg vor ihnen flankierten, der bis in den Berg zu führen schien. Und tatsächlich erkannte Max ganz weit hinten den Beginn einer Höhle, die sich als klaffendes und doch geformtes Loch in den Berg hinein offenbarte.

    „Sag mir nicht …“, sagte Shadow mit anschwellender Freude, als er wie Max den Höhleneingang darin erkannte. Max wusste, worauf er hinauswollte. Dort drinnen würde es keinen Schnee und nur festes Gestein geben, in das sich Shadow mit seinem Schatten zurückziehen konnte.

    „Irgendwie seltsam …“, verkündete Emil, als er sich umblickte. Währenddessen war Shadow drauf und dran, loszustürmen um in die Höhle zu kommen.

    „Was ist seltsam?“, sagte Rose, die Shadow in seiner ansteigenden Freude beobachtete.

    „Dafür, dass hier regelmäßig Lawinen runterfallen sollten, ist es hier ziemlich schneefrei, nicht wahr?“


    Als Shadow schon losgelaufen war, sahen sich die anderen an. Dann lief es Max eiskalt den Rücken herunter. Sie hatten sich zu früh gefreut.

    „Shadow!“, rief Max. „Du läufst in eine Falle!“

    Zum Glück war Shadow trotz seiner Euphorie über festen Boden noch vorsichtig genug. Er stoppte in seinen Bewegungen und sprang, so gut er es rückwärts konnte, von den Felsen zurück. In dem Moment schob sich eine meterdicke Schicht aus seltsam rötlichem Eis aus dem Boden. Knirschend versperrte sie den Weg in den Lawinenberg hinein. Und damit war es nicht genug. Ein erschrockener Aufschrei von Iro und Vane, die ganz hinten standen, veranlasste die anderen, sich umzudrehen. Überrascht und entsetzt sahen sie, wie die beiden kleineren Mamutel an die beiden herangetreten waren und sie nun von hinten zu Boden drückten, sodass Iro und Vane mit dem Gesicht nach vorne im Schnee lagen.

    „He! Was soll …“, rief Eva aus, doch sie erstarrte augenblicklich. Angst stieg ihr in jähem Anflug in die Augen, als sich mehrere kleine Hügel aus Schnee und Eis zu ihren Seiten erhoben. Und aus diesen brachen Eisskulpturen in Form von Wölfen hervor, die sich aber bewegten und mit ihren rotglänzenden Augen die Erkunder ins Visier nahmen. Sie ähnelten in ihrem bizarren Wirken jener Eule, die sie im Wald mit ihrem roten Licht unheilvoll durchleuchtet hatte, bis sie zersprungen war.

    „Das sind sie!“, kam es sowohl von Eva als auch Pawo. „Das sind die Eisbiester!“


    „Etwas harscher Begriff, meint ihr nicht?“, erklang eine Stimme, die ihr Echo von den vielen Felsen zu den Erkundern warf. Dann fiel aus den Wolken ein großer Schatten herab, der prompt vor der großen Eisschicht landete. Max konnte nicht umhin sich zu wundern, ob soeben ein ganzer, mit Schnee bedeckter Nadelbaum vom Himmel gefallen war. Doch dann erkannte er die Arme und Beine des Rexblisars, dessen rot unterlaufene Augen zu misstrauischen Schlitzen verengt waren. Doch es lächelte, als er dem schockierten Blick Evas begegnete.

    „Dieser Biester sind diejenigen, die die Dinge von nun an im Gleichgewicht halten!“

    „Baumblizz?“, rief Eva überrascht und schockiert aus. „Bist du etwa für diese … diese Wesen verantwortlich?“

    „Sag bloß nicht, du kennst ihn?“, sagte Rose und auch Baumblizz neigte den Kopf, um sich Eva genauer anzusehen.

    „Ich wüsste nicht, dass ich ein kleines Gör wie dich kennen würde …“, sagte er dann schroff und seine Stimme klang nach knirschendem Schnee. Ein dumpfes Brummen hinter ihm ließ Max seine Aufmerksamkeit nach hinten lenken. Iro und Vane sträubten sich gegen das Gewicht der Mamutel, das sie von hinten auf den Boden drückte. Zwar waren sie, wie Rose festgestellt hatte, mager und damit eher kraftlos, doch Iro hatte nur einen Arm und Vane zog offenbar das ganze Gewicht seiner Stahlrüstung noch mehr nach unten. Sie beide hatten Schwierigkeiten, sich dagegen zu wehren. Eva wandte sich mit verwirrtem Blick zu Baumblizz um: „Was hat das alles zu bedeuten? Befehligst du etwa diese Eisbiester!“


    „Muss ich dir darauf antworten?“, entgegnete das Rexblisar kalt. „Es spielt ohnehin keine Rolle, da ihr sowieso euer Schicksal gleich treffen werdet!“

    Und kaum, dass die Erkunder noch eine Chance hatten, sich zu erklären, befahl Baumblizz auch schon den Angriff. Die Eiswölfe stürzten sich auf sie und Max hatte kaum Zeit, seine Laubklingen auszufahren. Doch schon erklangen neben ihm mehrere Kanonenschüsse und mehrere Bälle aus dunkler Energie schossen an seinen Ohren vorbei. Emil und Shadow erwiesen sich als recht treffsicher und durch sie hatte Max genug Zeit, seine Laubklingen immergrün leuchten zu müssen. Schon stürzte sich ein Eiswolf mit weit aufgerissenem Maul auf ihn. Max wusste noch von der Eule, dass sie keine lebenden Wesen waren. Er brauchte sich daher nicht wie sonst immer mit der Kraft seiner Klingen zurückzuhalten. Blitzschnell duckte er sich, entging dem eisigen Biss des Wolfes und schnitt ihm mit einer ausholenden Bewegung den Bauch auf. Jäh leuchteten die Augen des Wolfes in dem geisterhaften Rot auf, ehe dieser in mehrere Eissplitter zersprang. Und sofort holte Max auch schon mit seiner anderen Klinge aus, drehte sich dabei nach links und durchschnitt in einer horizontalen Linie die Schnauze eines anderen Wolfes, worauf dieser wie der erste in mehrere Splitter zersprang.


    Sie schlugen sich gut, Emil und Shadow gelang es mit Distanzangriffen, die Wölfe im Schach zu halten und Max war sehr geübt darin, sich zwischen einer Überzahl an Feinden zu bewegen. Schon als Geckarbor hatte er mit Jimmy auf der Ampere-Ebene mehreren Luxio auf die Art getrotzt. Und selbst Pawo, dem die Rachsucht ins Gesicht geschrieben war, wich immer wieder den Bissen aus und stieß sein stumpfes Horn gegen die eisigen Körper der Wölfe.

    Doch einzig Rose schien keine Erfahrung im Kämpfen zu haben. Es grenzte an ein Wunder, dass die Wölfe bisher sie nicht angegriffen hatten. Sie versuchte, sich unbemerkt aus dem Kampfgeschehen zu schleichen, um sowohl sich als auch Eva in Sicherheit zu bringen, die sich vor lauter Angst in einer Schockstarre befand. Als dann doch letztlich ein Wolf sein Interesse auf sie lenkte, stürzte er sich sofort auf sie. Doch schon schob sich Vane zwischen den beiden und der Wolf zerbiss sich an Vanes Stahlkörper die Eiszähne. Erfreut bemerkte Max, wie er und Iro es doch noch geschafft hatten, sich aus dem Griff der zwei Mamutel zu befreien, die nun wie zuvor auf den Boden geschleudert wurden. Der stumme Gigant Mammoth blickte stumm auf das Kampfgeschehen hinab. Seine Miene war unergründlich und Max konnte nicht klar erkennen, ob er sich wie seine zwei Artgenossen auch noch auf die Erkunder stürzen wollte. Beklommenheit stieg in Max hoch bei dem Gedanken. Dies lenkte ihn kurz von dem eigentlichen Geschehen ab und beinahe hätte er dafür gebüßt, weil ein Eiswolf fast seine Zähne in seine Arme versetzt hätte. Doch Iro schützte seinen Anführer, indem er dem Wolf einen saftigen Hieb mit seiner linken Faust verpasste.

    „Konzentrier‘ dich!“, fuhr Iro Max nur barsch an und dieser gab ihm recht. Doch ein erneuter Aufschrei lenkte ihn fast wieder ab. Er wandte sich um.


    Rose wäre es beinahe gelungen, sich mit Eva vom Kampffeld zu schleichen und sich in Sicherheit zu bringen. Doch hinter den Erkundern taten sich weitere kleine Schneehügel auf, aus denen sich weitere Eiswölfe schälten.

    Sie saßen eindeutig in der Falle. Hatten die Mamutel vielleicht mit Baumblizz paktiert und sie bewusst in die Falle manövriert? Doch Eva schien sich derartig sicher, dass sie mit den Erkundern auf derselben Seite waren.
    Endlich kam sie wieder zu Bewusstsein, doch sie sah ganz danach aus, als würde sie bei dem Anblick der neuen Eisbiester gleich wieder in Ohnmacht fallen. Max wollte den anderen zurufen, dass sie sich um Rose formieren müssten, um sie zu schützen. Doch angesichts der nie enden wollenden Überzahl an Feinden, die sich immer wieder aus dem Schnee schälten, stufte er seine Chancen immer weniger gut ein. Und die anderen waren zu beschäftigt damit, sich die Wölfe vom Leib zu halten, sodass Max‘ Vorschlag kaum gehört wurde. Max wollte dann zumindest selbst Rose zu Hilfe kommen, doch durch die Meute zu kommen erwies sich sowohl schwierig als auch gefährlich, da die Wölfe vermehrt nach ihm schnappten. Rose aber war am ehesten in Gefahr, denn vor Angst und Panik schrie sie laut auf. Kaum hatte Max sich dazu entschlossen, wie einem wahren Klingensturm sich durchzuschneiden, leuchtete es bei Rose auf.
    Ein gleißendes Licht in einem hellen Blau, das Max bekannt vorkam, hüllte Rose und sie alle in Schatten. Augenblick hielten sie alle inne, selbst die Wölfe wirkten wie erstarrt und verdutzt in ihrer Bewegung. Dann grollte es laut auf und eine Welle an Schnee türmte sich vor Rose auf. Doch sie selber schien vollkommen verdutzt über das, was sich vor ihr abspielte.

    Dann sahen sie Eva, wie sie mit geschlossenen Augen sich auf etwas zu konzentrieren versuchte. Und ihr Körper war umhüllt von diesem blauen Licht, dass alle Anwesenden in den Bann zog: Die Erkunder, der Gigant Mammoth, die Wölfe als auch Baumblizz, der schockiert, fast angsterfüllt, zu Eva hinüberblickte.

    „Wölfe! Greift sofort dieses Gör an!“, rief er angstvoll aus. Prompt folgten die Wölfe seinem Befehl und stürmten allesamt auf Eva und Rose zu. Shadow rief noch „Nein!“ vor lauter Entsetzen und die Erkunder wollten selber losstürmen, um Rose und Eva zu schützen. Doch dafür waren sie vom Kampf zu erschöpft, als dass sie die Wölfe überholen konnten. Doch dann öffnete Eva die Augen, die im selben hellblauen Licht leuchten. Und eine kraftvolle Aura stieß sich von ihr ab. Die aufgetürmte Welle aus Schnee brach auf die Eiswölfe vor ihnen ein, die daraufhin verdeckt wurden. Und auch die anderen Wölfe stieß es von Eva weg, worauf sie an die Felsen klatschten und in Splitter zersprangen. Nur die Erkunder und Baumblizz schienen von dieser Aura unberührt.


    Nun standen die Erkunder alleine mit dem Rexblisar dar, das verdattert Eva in Augenschein nahm, deren Leuchten erblasste. Eva sackte daraufhin auf Rose Schulter zusammen und wirkte ohnmächtig, worauf sie von den Erkundern nicht minder perplex betrachtet wurde.

    „Nicht möglich … woher hast du …“, stammelte Baumblizz, dessen Augen sich zu Schlitzen verengten. Dann stieß er einen wütenden Schrei aus und sein hölzener, schneebedeckter zog sich in die Länge und nahm an Breite und Gefährlichkeit zu. Mit einem Poltern stürzte er auf Eva los, stieß dabei Vane zu Seite, der sich zu spät ihm in den Weg stellen wollte. Emil und Shadow setzten ihm ihre Angriffe nach, die Baumblizz aber in seiner Rage nicht zu beachten schien. Als er in Reichweite war, hob er den Holzhammer hoch und Max und Iro würden zu spät reagieren, um Rose davor zu retten, die sich nach Evas verblüffender Aufführung nicht mehr bewegt hatte. Nun sah sie nicht weniger perplex, aber in Todesangst, dem Hammer entgegen, der auf sie herabfiel und weil die anderen nicht schnell genug reagieren konnten, war das definitiv ihr Ende.


    Doch eine schlanke, hundeartige Gestalt schoss an Max vorbei. Er konnte nur verschwommen ein Gesicht erkennen, das vor Konzentration angespannt war, sowie blau schimmernde Pfoten. Ein Pokémon dieser Art hatte er noch nie zuvor gesehen und daher war er wie zuvor perplex, als die hundeartige Gestalt bei Rose ankam, sich blitzschnell zum Hammer drehte und ihm ihre Pfoten entgegen hielt. Ein dumpfes Geräusch erklang, dem das Splittern von Holz folgte. Baumblizz schrie auf, halb vor Zorn, halb vor Schmerz, und kaum, dass Max realisieren konnte, was dieses Pokémon vollbracht hatte, flammte es in seinen Augenwinkeln auf. Verdutzt blickte Max auf das Feuer, das von einem anderen Weg auf sie zuschoss. Er erkannte es, doch es konnte nicht sein. Es war nicht möglich, durch die Sandsturmmauer zu kommen, es sei denn, man ritt auf Castiel. Doch es war Jimmy, dessen war er sich sicher. Wie in Trance, als träumte er, folgte er Jimmys Flammenrad, welcher an sie alle vorbeirauschte und auf Baumblizz zuraste. Dieser war über diese neue Entwicklung so derartig baff, dass er vergaß, über seinen zersplitterten Holzarm wütend zu sein. Doch er schrie dann laut auf, als Jimmy dann sein Flammenrad in ihn versengte. Das Tosen der Flammen, das Max seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gehört hatte, erfüllte die Luft und Max spürte jene vertraute Wärme, von der er befürchtet hatte, sie nie wieder zu erfahren.


    Es ging alles so schnell. Der Holzarm krachte auf den Boden, der schmerzerfüllte Schrei von Baumblizz erstarb und Jimmy löste sein Flammenrad auf. Baum und Schimpanse landeten auf den Boden. Ersterer mit dem Rücken voran und mit ziemlich verkohlten Zweigen, Letzterer auf beiden Füßen. Jimmy blieb eine Weile stehen und hielt den Erkundern den Rücken zugewandt. Dann drehte er sich langsam um und sah dann erst Iro und dann Max in die Augen.






    Part III: Erinnerungen an die Freunde


    Es war an einem morgendlichen Sonnenaufgang gewesen, als Jimmy und Max sich überlegt hatten, ob ihre Existenz unerwünscht war. Darkrai, in seiner Verkleidung als Cresselia, hatte sie beinahe dazu gebracht, sich und ihr Leben zum vermeintlichen Wohle der Welt abzuschreiben. Jimmy erinnerte sich schmerzlich, wie schlecht er sich gefühlt hatte. Zum einen, als er auf die List Darkrais hereingefallen war und sich tatsächlich als verbotene Existenz betrachtet hatte, und zum anderen, dass er dies von sich und Max je gedacht hatte. Fast hätte er angesichts von Darkrais Lüge aufgegeben und diese Erinnerung war es, die ihn bis heute noch beschäftigte. Doch eine Sache hatte ihn davon abgehalten, sich gänzlich de Verzweiflung hinzugeben. Die Erinnerung an Reptain, der ihm einst eine wichtige Frage gestellt hatte, die sich in Jimmys Seele eingebrannt hatte: „Was hat dich angetrieben? Wie hast du es geschafft? Wie konntest du so stark bleiben?“


    In einer nahezu aussichtslosen Situation, die sich in der Dunklen Zukunft ereignet hatte, war Jimmy als einziger in der Lage gewesen, Zuversicht zu finden. Er hatte als einziger nicht aufgegeben. Er hatte Reptain gegenüber etwas gebraucht, um den Grund für diese Zuversicht zu finden. Doch letztlich hatte er ihn gefunden. Es war Max gewesen, der Jimmy Kraft gegeben hatte. Jimmy hatte sich gefühlt, dass er mit Max alles schaffen und erreichen könnte, sofern sie dies zusammen taten. Wie Reptain es dann einige Zeit im Verborgenen Land bemerkt hatte: Er und Max waren das beste Gespann, dass es je geben würde. Und als dann Darkrais Lüge sie beide beinahe zur Verzweiflung getrieben hatte, hatte Jimmy dieses Gefühl beinahe vergessen. Doch durch Max dann war er wieder in der Lage gewesen, nicht aufzugeben. Und das war auch die gute Entscheidung gewesen: Darkrais Plan wurde aufgedeckt, seine Lüge durchschaut und er selber wurde, ohne Erinnerung, in eine unbestimmte Zeit verbannt. Wo auch immer Darkrai war, er hatte es verdient, ohne Erinnerung an sein früheres Leben umherzuirren. Und hoffentlich nutzte er dann die Chance, seine Kräfte für Gutes zu entwickeln, auch wenn dies vielleicht unwahrscheinlich war. Und was Jimmy betraf: So gut und selbstsicher hatte er sich noch nie zuvor gefühlt. Die Welt war ins Lot gerückt und er und Max waren nicht mehr zu trennen gewesen.


    Zumindest war das der Fall, was Einflüsse von außen betraf. Denn letzten Endes hatten Jimmy und Max sich getrennt. Und es war Jimmys alleinige Schuld. So einig sie gegen Darkrai und andere Finsterlinge gekämpft hatten, umso schmerzhafter kam ihm die Erkenntnis, dass seine eigenen Zweifel die Trennung herbeigeführt hatten. Was konnte Jimmy alleine schon bewirken, wenn Max nicht da war? Jimmy brauchte Max an seiner Seite, um sich tapfer zu fühlen, doch war dies bei ihm auch der Fall? Oder war Max in der Lage, auch alleine mutig genug zu sein, um sich Gefahren in den Weg zu stellen? Gewiss half es, dass er sich dabei zu einem Reptain entwickelt hatte. Max könnte die Trennung jedenfalls besser einstecken als Jimmy. Er brauchte nicht Jimmy an seiner Seite. Und was dann Iro betraf, so war sich Jimmy definitiv sicher, dass er ganz gut ohne sie auskommen würde.

    Nein, die beiden traf keine Schuld, das wurde Jimmy klar. Es war seine Entscheidung, sich schlecht gegenüber ihren körperlichen Fortschritten zu fühlen, während er sich zurückgeblieben vorkam. Es war seine Entscheidung, darüber einen Groll zu hegen und sich selbst deswegen fertig zu machen. Und es war seine Entscheidung, alles, was an guten Dingen zuvor passiert war, zu vergessen und nur die schlechten eigenen Gefühle in den Vordergrund zu stellen. Er selber hatte die Trennung herbeigeführt, was sich als vermutlich unentschuldbarer Fehler erweisen sollte.


    Jimmy spürte nur am Rande, wie sich sein Körper bewegte. Er wusste nicht einmal, ob er träumte oder gar schlief. Erst, als eine weiche samtene Pfote sein Gesicht mit einem Tuch abtupfte, schreckte er mit einem Aufschrei hoch. Für einen Moment vergaß er, wo er sich befand. Rasch blickte er sich um und sah in das blasse Gesicht einer Lucario, die ihn mit größter Sorge anblickte. Dann strömten die Erinnerungen an die Momente zuvor ein.

    „Lucy!“, rief Jimmy aus und wollte sich aufrichten. Ihm brannten gerade soviele Fragen auf der Zunge, weswegen er nicht ruhig liegen konnte, doch Lucy hielt ihn sanft am Boden.

    „Es geht mir gut … besser jedenfalls als zuvor …“, sagte sie langsam. Ihre Pfote verkrampfte sich auf seinen Schultern und Jimmy erkannte, dass ihr Tränen ins Gesicht standen.

    „Das hast du … wirklich gut gemacht, Jimmy!“, sagte Lucy dankbar, beugte sich nach vorne und nahm Jimmy fest an den Arm. Perplex erstarrte Jimmy und gerade als er zögerlich die Umarmung erwidern wollte, löste sich Lucy von ihm. Sofort fiel sein Blick auf jene Stelle, die er zuvor mit seinem Flammenwurf bearbeitet hatte. Eine einheitlich rötlich glänzende Oberfläche zog sich von ihrer Hüfte bis zur Mitte ihres rechten Oberschenkels. Obwohl sie Jimmy einen Schauer über den Rücken jagte, sah sie aber wesentlich sauberer und geheilter aus als zuvor, als sich noch Eis über diese gezogen hatte. Jimmy wusste nicht recht, was er über diese sagen sollte. Doch Lucy schüttelte den Kopf, ließ eine blaue schimmernde Pfote über sie fahren fahren und lächelte sanft.


    „Es muss noch etwas heilen … und selbst dann wird das Auftreten eine Weile schmerzhaft sein. Es ist aber zumindest besser als das Bein zu verlieren geschweige zu sterben …“

    Sie lächelte Jimmy sanft zu, dann aber legte sie wieder sorgenvoll ihre Stirn in Falten: „Du siehst nicht gut aus Jimmy, du bist leichenblass …“

    Sie stockte und Jimmy glaubte zu wissen, was ihr auf der Zunge lag. Wenn sie vor ihm erwacht war, hatte sie auch gesehen, dass er ohnmächtig gewesen war. Noch dazu hatte sie ihn wahrscheinlich auf dem Boden zurecht gelegt. Jimmy überlegte eine Weile, was er sagen sollte. Dann aber fand er die Worte: „Ich bin froh, dass ich daran gedacht und es noch geschafft habe, dir die Fragia-Essenz aufzutragen, denn … in meinem Kopf stürmte es …“

    „Das heißt …?“, fragte Lucy vorsichtig und Jimmy blickte ihr in die Augen. Aus irgendeinem Grund lächelte er, auch wenn es gequält war: „Ich habe mich erinnert, Lucy.“


    Weil Lucy sich offensichtlich für ihn freute, dass seine Erinnerungen zurückgekehrt waren, wollte Jimmy ihr von diesen berichten. Doch dann erdrückte ihn der Gedanke, all das noch einmal ihr gegenüber aufzubereiten, was er während des Flammenwurfs und auch vor seinem Aufwachen gedacht hatte. Sie sah es ihm an, dass ihn etwas bedrückte, denn ihre Miene wurde ernster, sagte aber kein Wort. Sie wartete offenbar darauf, ob sich Jimmy ihr äußern würde. Und weil er in dem Moment fühlte, dass er irgendeiner Seele sich anvertrauen musste, fasste Jimmy eine große Portion Mut und erzählte ihr von seiner Vergangenheit und den vorherigen Erlebnissen.

    Sie war eine sehr gute Zuhörerin, mit aufmerksamer Miene nickte sie verständnisvoll und reagierte nicht auf seine Erzählung. Jimmy fühlte sich so gut bei ihr aufgehoben, dass er auch von dem eigentlichen Grund erzählte, weswegen er, Max und Iro zum Lawinenberg unterwegs waren. Ihre Miene verdüsterte sich zwar, als er vom Dämon Kyurem sprach, doch fasste sie schnell wieder Haltung. Und als er von den Umständen berichtete, unter denen sich Jimmy von Max und Iro getrennt hatte, lag ein mitfühlendes Funkeln in ihren Augen. Als Jimmy geendet hatte, vergingen die Minuten, ohne dass einer von den beiden ein Wort sprach.


    „Wie fühlst du dich momentan damit, Jimmy?“, sagte dann Lucy in ruhigem Ton. Er starrte sie an und sie lächelte sanft.

    „Hast du keine Anmerkung zu der Art und Weise, wie ich mich von Max und Iro getrennt habe?“, sagte Jimmy überrascht.

    „Ich mache mir schon meine Gedanken, doch viel mehr interessiert es mich gerade, wie du darüber fühlst“, entgegnete Lucy. Jimmy fuhr sich mit seinen Händen über sein Kopffell und griff so fest rein, dass es beim Loslassen zerzaust war.

    „Du kannst dir doch denken, wie ich mich fühle, oder?“, rief Jimmy bitter aus. „Ich habe aus … aus … nichtigen Gründen von meinen zwei besten Freunden getrennt! Wie, glaubst du, fühle ich mich denn?“

    „Weißt du es? Denn offenbar fühlst du allerlei dabei“, sagte Lucy ruhig. Jimmy wusste nicht, ob er jetzt über ihre gänzliche neutrale Art oder über sich wütend war. Jedenfalls konnte er nicht mehr ruhig sitzenbleiben und dieses Mal ließ Lucy ihn gewähren. Mehrmals tigerte er vor ihr hin und her und versuchte im schwachen Licht des Leuchtorbs seine Gedanken zu ordnen, doch immer entfachte ein Sturm in seinem Herzen.


    „Ich war dermaßen ein Idiot!“, rief Jimmy dann laut aus, doch Lucy blieb gelassen. Offenbar rechnete sie damit, dass er lauter wurde. „Es ist so bescheuert, wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtet: Man fühlt sich schlecht, weil man der kleinste aus der Gruppe ist?“

    „Offenbar macht es dir was aus …“, sagte Lucy tonlos. Jimmy schüttelte den Kopf: „An sich ist es mir egal, vorher hat es mich nicht gestört. Aber seit Max und Iro sich entwickelt haben und ich nicht … irgendwie …“.

    Er versuchte die Worte zu finden, doch weil seine Gedanken so schnell rasten, dass er sie nicht direkt fassen konnte, fand er sie auch nicht direkt. Es überkam ihn wie ein Impuls und mit einem Seitenblick auf Lucy drehte er sich um und machte seiner angestauten Wut freien Lauf. Sein Flammenstoß füllte die Höhle mit wärmenden hellen Licht und klang an sich ohrenbetäubend. Doch Jimmy und Lucy kümmerten sich nicht drum. Jimmy tat es gut, die Wärme im Mund und im Körper zu spüren, die er lange hatte zurückhalten müssen. Dann dachte er an Viridium und wie sie ihn zischend ermahnt hatte, sein Feuer nicht im Geheimnisdschungel anzuwenden. Und er dachte an die erste Begegnung mit ihr im Apfelwald, wie Cephal sie frech grinsend dazu überredet hatte, sowohl Max, Iro als auch ihn mitzunehmen. Und dann dachte er an Cephals aufgeregtes Grinsen, als er Max zu seinem Erzrivalen ernannt hatte. Bei Max und Iro hatte das Knarksel keine Probleme, Stärken zu erkennen. Doch bei Jimmy hatte er zweimal schauen müssen.


    „Es ist … ein mieses Gefühl …“, sagte Jimmy dann langsam und mied es erstmal, Lucy in die Augen zu blicken. Dann tat er es doch und er war froh, dass sie ihm nachwievor aufmerksam zuhörte. Verlegenheit mischte sich zu seinen Gefühlen dazu und zögerlich fuhr er fort: „Es ist ein mieses Gefühl … nicht wie andere beachtet und wahrgenommen zu werden … nur weil ich mich bewusst weigere, mich zu entwickeln?“

    Lucy sagte nichts. Sie schien erst nachzudenken, bevor sie antwortete: „Hat man dich je ignoriert oder gab es schon Anerkennung für das, was du erreicht hast?“

    „Nun …“, sagte Jimmy und mit einem Male fielen ihm jene Momente ein, in denen er durchaus Wichtiges beigetragen hatte: Er hatte mit Chuck den Plan ausgearbeitet, wie sie Max von der Kontrolle des Waldschrates befreien konnten. Er hatte mit Hilfe von Cephal das Skaraborn Herakles endgültig besiegen können. Und auch wenn er eher die Ablenkung gewesen war, so war es doch auch irgendwie ihm zu verdanken gewesen, dass Shadow festgenommen wurde. Dieses Gengar ...


    Hatte Shadow die Wahrheit gesagt, als er Jimmy und Lucy in der Schädelwüste begegnet war? Er konnte es sich nicht vorstellen, dass er gerade Jimmy bis in die Wüste gefolgt war und dass Max und Iro etwas mit ihm zu tun hätten. Doch vielmehr beunruhigte ihn der Gedanke, dass in der Wüste ihre Namen nicht seine Erinnerung erweckt hatten. Jimmy schämte sich fast schon, dass er sich nicht früher an seine Freunde erinnert hatte.

    Er sackte auf den Boden und blickte ins Leere. Lucy blickte ihn eine Weile an, ehe sie dann die Augen schloss. Jimmy beobachte sie nun eine Weile dabei, wie sie etwas zu erspüren wollen schien.

    „Du bist ziemlich durch den Wind, nicht wahr?“, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. Dennoch fühlte sich Jimmy, als würde sie ihn durchleuchten. Weil er jetzt lange genug mit ihr unterwegs war, wusste er, dass sie die Aura an ihn aufwandte.

    „Verzeih bitte … ich wollte nur verstehen …“, sagte Lucy dann schuldbewusst und das Gefühl des Durchleuchtens hörte auf. Fast aber schon wünschte sich Jimmy, sie würde weitermachen. Es tat gut, wenn jemand genau wusste und auch vielleicht nachvollziehen konnte, wie er sich fühlte.

    Eine Weile saßen beide dort, wo sie waren, und schwiegen sich an. Dann, sie tat es aber zögerlich, suchte Lucy Jimmys Blick. Erst nach einigen Momenten erwiderte er diesen.

    „Was willst du tun? Willst du umkehren und deine Freunde in der Wüste suchen?“


    Jimmy war der Gedanke auch schon gekommen. Gewiss juckte es ihn, Max und Iro zu suchen, um sich bei ihnen entschuldigen. Doch würden sie ihm vergeben. Er selber würde es wahrscheinlich nicht tun. Er merkte kaum, wie sein Blick verschwamm und Tränen seine Wange hinunterliefen.

    „Ich habe mich derartig schrecklich ihnen gegenüber verhalten und gemeine Dinge gesagt …“, sagte er mit gebrochener Stimme. Er zitterte am ganzen Körper, sein Herz raste und sein Atem wurde schwerer.

    „Ich könnte es verstehen, wenn sie mir nie wieder verzeihen würden!“

    „Kannst du es?“, fragte Lucy ernst. Er blickte sie mit aufquellenden Augen an: „Was?“

    „Kannst du dir vergeben?“, wiederholte Lucy tonlos ihre Frage.


    Jimmy verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Spielte es eine Rolle, ob er sich selbst vergab? Schließlich mussten Max und Iro ihm seinen Ausbruch verzeihen. Doch für Lucy spielte es offenbar eine Rolle, denn sie richtete sich auf und trat an Jimmy heran. Er dachte zuerst, dass sie ihn von oben herab anschreien würde, doch sie ließ sich dicht vor ihm wieder nieder und fasste ihn mit beiden Pfoten an seinen Schultern.

    „Es ist wichtiger, dass du dir verzeihst! Generell ist es von essentieller Bedeutung, was du von dir hältst! Wenn du auf die Anerkennung anderer angewiesen bist, ohne aber dich selber als derjenige wertzuschätzen, der du bist, wirst du recht lange damit unglücklich sein! Ich kenne viele Pokémon, denen es ähnlich ergangen ist, und sie alle fühlten sich häufiger schlecht und unzufrieden als gut. Auch ich war einst mal so, bis ich gelernt habe, auf mich zu achten und mich so zu schätzen wie ich bin. Denn selbst wenn dann dich alle hassen und dich meiden würden, so hast du immer noch einen Gefährten der zu dir hält: Nämlich du selbst!“


    Sie blickte ihn mit einem Ausdruck von grimmiger Bestimmtheit an. Ihre Worte hallten in Jimmys Ohren nach.

    „Du meinst also, ich denke zu sehr schlecht von mir?“, sagte Jimmy zaghaft, obwohl er sich der Antwort sicher war. Lucy blinzelte. Sie löste ihren Griff von Jimmy und ließ sich etwas nach hinten fallen: „Dass du überhaupt schlecht von dir denkst, finde ich bestürzend. Du bist so ein wundervolles und hilfsbereites Pokémon … wie kannst du überhaupt dabei denken, dass du irgendwem eine Last bist?“

    „Aber … wenn jemand Stärkeres …“, wollte Jimmy einwenden, doch Lucy winkte ab: „Tut mir leid, wenn dasjetzt was überheblich klingen sollte, doch ich gehe davon aus, dass ich dir in Sachen Macht durch die Aura recht überlegen bin, oder?“

    „Absolut!“, bestätigte Jimmy. Lucy lächelte schief, als würde sie dies nicht so toll finden.

    „Und dennoch“, sagte sie dann langsam, aber mit Gewicht in ihrer Stimme, „wäre ich trotz dieser Macht beinahe gestorben. Und wer hat mich letztlich gerettet?“

    „Du musst aber zugeben, dass du nur wegen mir …“

    „Wer hat mich letztlich gerettet, Jimmy?!“, sagte Lucy dann mit so einem Nachdruck, dass dieser zusammenzuckte. Grimmig blickte sie ihn an und er starrte perplex zurück. Dann antwortete er ganz langsam und zaghaft: „Ich …“

    „Wie bitte?“, fragte Lucy laut.

    „Ich!“, sagte Jimmy etwas bestimmter.

    „Und wie konnte das sein?“, fragte Lucy wiederrum laut. Er blickte sie an und auf einmal spürte er eine Art kleines Flämmchen in sich brennen. Lucy sah ihn herausfordernd und wiederholte ihre Frage: „Wie konnte es sein, dass du mich gerettet hast!“

    „Weil …“, sagte Jimmy, doch er zögerte. Lucy aber ließ es dieses Mal nicht zu, dass er innehielt und drängte ihn mit einer unwirschen Handbewegung zur Antwort.

    „Weil ich Kräfte besitze, die du nicht hast, und die waren es?“


    Lucys Blick verengte sich. Von ihr strömte die Aura nun derartig aus, dass Jimmy sie über jedes Haar auf seinem Körper gleiten ließ. Lucy testete ihn darauf, ob er dieser standhalten könnte. Und er musste sich bestimmt gegen diese stemmen, um nicht einzuknicken.

    „Sag es noch einmal, Jimmy!“, forderte ihn Lucy auf und sie erhob sich. Auch Jimmy stand und obwohl ein Größenunterschied zwischen ihen lag, fühlte er sich mehr und mehr auf einer Augenhöhe mit ihr. Auf einmal füllte sowohl Kraft als auch mehr Luft als zuvor seine Lunge und dieses Mal rief er es derartig laut aus, dass selbst seine Hinternflamme wild aufloderte: „Ich verfüge über meine eigene Kräfte! Und diese können anderen eine Hilfe sein!“

    Er spürte, wie er sich fast in Rage redete und er schrie es hinaus, während Lucy begeistert und stolz lächelnd ihn anfeuerte: „ICH BIN SO GUT WIE ICH BIN! UND ICH HABE KEINEN GRUND, MIR DAS SCHLECHT ZU REDEN!“


    Beide blickten sich an. Jimmy atmete schwer, bestürzt darüber, dass er geschrien hat. Dennoch erfüllte ihn ein ungewohnter Stolz seine Brust. Dieser aber ließ sofort nach. Wie Luft aus einem Ballon entwich er aus Jimmy und sein zuvor aufgeregtes Lächeln zerfiel. Sofort, als hätten sich Schleusen in seinen Augen geöffnet, fielen dicke Tränen über Jimmys Gesicht.

    „Ich wünschte … ich könnte mir selber glauben …“, war seine bitteres Geständnis. Da lag sie offen, die Wurzel aller schlechten Gefühle. Doch er war nicht imstande, sie zu packen und herauszureißen. Nachwievor also war er schwach.

    Als sein Körper zu beben anfing, spürte er zwei Pfoten auf seinen Schultern ruhen. Er blickte hinauf in Lucys freundliches Gesicht, welches durch die Tränen verschwommen wahrzunehmen war.

    „Ich schäme mich so richtig dafür …“, brach es aus Jimmy und er schlotterte fast schon. Lucy festigte ihren Griff auf Jimmys Schultern und sie schüttelte den Kopf.

    „Dafür brauchst du dich nicht zu schämen … erst, wenn du dich entschließt, dich dem vollkommen hinzugeben, obwohl du es nun besser weißt … doch ich bin mir bei einer Sache sicher“, und sie hob Jimmys Kopf, um in sein aufquellendes Gesicht zu sehen.

    „Du hast die Fähigkeit und die Kraft dazu, deinen Schatten zu überwinden! Denn du bist wirklich ein besonderes Pokémon, Jimmy!“


    Jimmy ballte die Fäuste. Er wollte es so sehr für sich behalten. Doch der Damm brach endgültig. Jimmy ließ sich nach vorne in Lucys Brust fallen und legte seine beiden Fäuste neben seinem Kopf. Und er fing derartig an zu schluchzen, dass es an den Wänden widerhallte. Und als dann Lucy ihn fest in den Arm nahm und sie beide in dieser Position verharrten, ließ Jimmy alle Hemmungen von sich fallen und heulte wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte. Er spürte, dass er diese Last, die er seit so langer Zeit mit sich trug, fallen lassen musste. Auch wenn dies eine unerträgliche, fast zerstörerische Leistung darstellte.

    Part II: Vertraute Wärme


    Als Jimmy Lucy, die auf dem Boden lag, vorsichtig anstupste, regte sie sich schwach. Obwohl sie vor Schmerzen stöhnte, drehte sie sich zu ihm um und sah ihn mit fiebrigen und leicht getrübten Augen an. Jimmy unterdrückte den Drang, vor Schreck zusammenzuzucken.

    „Jimmy …“, krächzte sie. Der Fluch, der von der Bisswunde auf ihrem Bein ausging, schien in seiner Wirkung schlimmer geworden zu sein. Jimmy ließ nur für einen kurzen Moment seinen Blick zu dieser gleiten. Eine dünne Schicht aus Eis hatte sich mittlerweile über diese gelegt und Jimmy ahnte, dass dies nicht der Heilung förderlich war. Im Gegenteil: Offenbar schien, so wie Lucy Schwierigkeiten hatte, die Augen aufzuhalten, das Endstadium erreicht worden zu sein. Und wieder schämte sich Jimmy dafür, dass er es zuvor nicht über sich gebracht hatte, mit seinem Feuer diesem ein Ende zu setzen.

    „Jimmy … was ist los? Kommt etwas auf uns zu?“, fragte Lucy ihn unter einem beunruhigenden Keuchen.


    Dass sie immer noch nicht daran dachte, ihn für sein Versagen anzuschreien und zu kritisieren, machte Jimmy zunehmend nervös. Er zweifelte daran, dass Lucy einfach bereitwillig ihren Tod akzeptieren würde, obwohl dieser ihm zu verdanken war. Und seine ohnehin grimmige Miene verzog sich zu einer wütenden Grimasse, als er den Blick vorübergehend von Lucy abwandte. Als er ihr wieder in die Augen sah, musterte sie ihn, so gut sie es in dem Zustand konnte. Sie las seinen grimmigen Ausdruck, von dem er hoffte, dass er als das zu lesen war, was er sich vorgenommen hatte.

    „Du …?“, fragte Lucy wiederholt und der Anflug eines Lächelns erhellte ihr angegrautes Gesicht.

    „Ja“, versuchte Jimmy tapfer und entschlossen zu klingen. „Ich werde es tun! Ich will dich vom Fluch befreien! Tut mir wirklich leid, dass es so lange …“

    Jimmy verstummte, als Lucy eine zitternde Pfote ausstreckte und mit dieser seine Hand nahm. Dankbar lächelte sie ihm zu und trotz des Zitterns war ihre Stimme etwas fester: „Ich wusste, dass du es noch einmal versuchen würdest! Und dieses Mal … wirst du es schaffen … da bin ich mir sicher!“

    Weil sie sich gerade bewegt hatte, keuchte Lucy schmerzhaft auf und sie und Jimmy blickten zu ihrem Oberschenkel. Die Eisschicht vermittelte den Eindruck, als wäre es nur sie, die weggebrannt werden müsste. Doch von dem ersten Versuch wusste noch Jimmy, dass er auch die darunter liegende Haut vom Fluch befreien musste. Er versuchte, sich diesen Gedanken immer wieder vor Augen zu führen. Er hatte beschlossen, sie vom Fluch zu befreien. Dass er dabei ihre Haut verbrennen würde, durfte ihm nicht wieder im Weg stehen. Er wollte nicht vom Anderen hören, dass er wieder aufgrund seiner Feigheit versagt hätte.

    Lucy wartete ab, bis Jimmy ihr ein Zeichen gab. Als er ihr dann zunickte, legte sie sich wieder auf den Rücken und Jimmy trat an die Wunde.

    „Komm schon …“, flüsterte er leise vor sich. „Ignorier die Haut … Konzentrier dich auf das Eis. Ignorier die Haut … Ignorier …“

    Jimmy fluchte. Je mehr er versuchte, diesen Gedanken aus dem Kopf zu verbannen, umso mehr nagte sich dieser an ihm fest. Wenn er es zuließen, würde er sich dann so vorkommen, als würde er mit seinem Feuer mutwillig jemandes Körper verbrennen. Und das war ein Gedanke, mit dem sich Jimmy überhaupt nicht anfreunden wollte. Doch Lucys Leben hing wie schon zuvor daran und so wie es aussah, drängte jetzt die Zeit. Wenn er jetzt nicht handelte, würde ihn, das wusste Jimmy, ein anderer Gedanke auf ewig plagen. Er wäre dann für den Tod des Pokémons verantwortlich, das ihm vorher das Leben gerettet hatte. Und es wäre die schlimmste Art von Undank, die Jimmy Lucy erweisen könnte.

    Jimmy schüttelte den Kopf. Er musste sich nun auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Das Eis auf Lucys Oberschenkel war ein neuer Gegner, dem er sich stellen und besiegen musste. Andernfalls würde Lucy sterben.

    Ein paar Sekunden lang noch blickte Jimmy die Stelle an, die er zu bearbeiten hatte. Dann holte er mehrmals tief Luft und war dann mit einem Atemzug gerade dabei, Energie in seinem Bauch zu sammeln, als dann Lucys Stimme schrill ertönte: „STOPP!“


    Jimmy wusste nicht, ob er es dieses Mal geschafft hätte oder nicht. Er war sich auch nicht sicher, ob er jetzt wütend oder erleichtert sein sollte. Verwirrt blickte er auf Lucy, die ihn sorgenvoll beobachtete: „Es tut mir wirklich leid, Jimmy!“

    Beunruhigt stellte er fest, dass Sorge und Verlegenheit in ihrer Stimme lag und schuldbewusst begegnete Lucy seinem Blick: „Ich muss dich noch um etwas bitten, bevor du anfängst …“

    „Das wäre?“, entgegnete Jimmy mit dunkler Vorahnung. Lucy, die vor Aufregung noch mehr keuchte als zuvor, holte tief Luft:

    „Ich werde vermutlich ohnmächtig werden, wenn du mit deinem Feuer arbeitest. Auch wenn du mich vom Fluch befreien wirst … werde ich trotzdem eine große Verbrennung erfahren …“

    Musste sie das jetzt ansprechen? Jimmys Blick verengte sich. Es war schon bedrückend genug, dass er selber daran denken musste. Das aber nun von Lucy zu hören, versetzte ihn nicht bloß in Unruhe, sondern in jähe Aufregung und leichter Panik. Lucy fuhr fort, ehe Jimmy etwas sagen konnte: „Durch den Schock und durch die Schmerzen werde ich ohnmächtig werden. Und deswegen …“, und sie zog unter schmerzerfülltem Keuchen und Zittern ihre Tasche an sich heran, „müsstest du erste Hilfe leisten, was die Brandwunde selber betrifft. Hier ...“

    Lucy öffnete ihre Tasche und zog nach ein paar Handgriffen ein dunkles Tuch sowie eine kleine verkorkte Flasche hervor. Im schwachen Schein des Leuchtorbs schien es, als wäre sie mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt.

    „Fragia-Essenz! Wenn du es schaffst, dieses Tuch mit dieser zu tränken und dann auf meine Wunde zu legen, wird diese beschleunigt heilen. Wenn ich dann aufwache, kann ich dann mit meiner Aura denn Rest erledigen.“

    Jimmy nahm vorsichtig die Flasche und das Tuch und den Händen, betrachtete sie und blickte dann angsterfüllt zu Lucy, die entschuldigend dreinblickte: „Es tut mir wirklich Leid, dass ich dir so viel gerade aufbürde … aber du bist grad derjenige auf den ich zählen kann!“

    Jimmy schnaubte ungläubig: „Du meinst wohl, ich bin der Einzige, auf den du gerade zählen kannst!“

    Lucy schüttelte den Kopf: „Du denkst zuerst an andere, bevor du an dich denkst. Das mag zwar der Grund sein, weswegen du dir so viele Vorwürfe machst, aber letztlich bist du ein Pokémon, der um das Wohl anderer besorgt ist. Du kannst mir glauben, dass …“, und sie hielt inne, weil eine erneute Welle des Schmerzes über sie zu kommen schien. Sie keuchte noch heftiger und Jimmy fragte sich, ob es doch schon zu spät war, sie zu retten.

    Doch Lucy packte ihn mit ihrer letzten Kraft am Arm und sah Jimmy eindringlich an: „Du hast so vielen Pokémon, die ich aus meiner Gilde und von anderswo her kenne, so viel voraus! Wenn du es jetzt schaffst, dich zu konzentrieren, kannst du weitaus Großes erreichen! Und ich zähle auf dich, dass es dir gelingen wird!“


    Mit dem Rücken voran fiel Lucy wieder auf dem Boden. Ihr Kopf wäre sehr hart auf dem eiskalten Steinboden gelandet, wenn Jimmy nicht rechtzeitig an ihrem Arm gezogen hätte. Sanft ließ er sie zu Boden gleiten und Lucy blieb schwer atmend auf diesem liegen.

    Die Zeit war wohl gekommen. Jimmy legte vorsichtig das Fläschen mit der Fragia-Essenz und das Tuch nahe dem Leuchtorb, der auf dem Boden lag, und richtete sich auf. Lucys Worte hallten in seinen Ohren wieder. Auch wenn er sich selber nicht vorstellen konnte, dass die Worte auf ihn zutrafen, so schmeichelte es ihn, dass Lucy doch so viel Vertrauen in ihn setzte.

    „Du bist der Einzige, der gerade hier ist, sie hatte keine Wahl …“, hörte er eine fiese Stimme in seinem Hinterkopf.

    „Hör nicht darauf! Lucy glaubt an dich, und das solltest du auch!“, hörte er die Stimme des anderen Jimmy neben dieser erklingen.

    In Jimmys Kopf rangen gerade Zweifel und Zuversicht miteinander. Und er selber zitterte am ganzen Körper. Jimmy ahnte, dass er es wieder nicht über sich bringen konnte. Und selbst wenn, würde ihm bestimmt die Fragia-Essenz aus der Hand fallen, auf dem Boden zerbrechen. Oder Lucy hatte ihm die falsche Flüssigkeit gegeben, denn wie sicher konnte sie sich in ihrem Zustand sein?

    Dann flüsterte ihm die fiese Stimme zu, dass er es sowohl sich als auch allen, die je Vertrauen in ihn setzen würden, beweisen sollte: „Na los, zeig uns, dass du der Versager bist, für den du dich hältst!“

    Jimmy war dabei, auf ihren Worten Taten folgen zu lassen, indem er tatsächlich alles ruinieren würde, als dann der andere Jimmy vehement dazwischen schrie: „Du schaffst das! Tu es! Jetzt!“


    Und endlich tat Jimmy es. Er sammelte die wohlig warme Energie in seinem Bauch, holte tief Luft und entlud diese Energie in einem Schwall von Flammen. Ihr Licht vertrieb die Dunkelheit der Höhle mit einem Mal so sehr, dass Jimmy fast selber am Licht seines eigenen Feuers erblindete. Das Rauschen des Feuers, dass er unablässig und fast gegen seinen Willen gegen Lucys Oberschenkel richtete, erklang laut in seinen Ohren. Doch dann durchzog Lucys markerschütternder Schmerzensschrei die Luft und übertonte sogar das Rauschen der Flammen. Wie schrillste Alarmglocken, die direkt neben seinem Ohr erklangen, hämmerten Lucys Schreie auf Jimmy ein. Doch er musste ausharren, er spürte, dass er noch nicht die ganze Fläche bearbeitet hatte, die vom Fluch betroffen war. Und während diese wenigen Sekunden zu einzelnen Ewigkeiten wurden, erlebte Jimmy in diesen, wie ihm das Rauschen des Feuers und das warme Gefühl in seinem Mund sehr bekannt vorkamen.

    Und tatsächlich erinnerte er sich: Dieses Feuer der Entschlossenheit, das gegen seine eigene Angst und Unsicherheit ankämpfte, hatte er mehrere Male schon angewandt. Die Bilder der Momente, in denen er diese Entschlossenheit in sich gespürt hatte, strömten auf ihn wie das Feuer auf Lucys Wunde. Und auch bei ihm hinterließen diese Erinnerungen ihre Eindrücke. Jimmy sah sich selbst, wie er todesmutig sein Feuer gegen riesige Pokémon schleuderte, von denen einige sogar Gottheiten waren. Er erkannte sich kaum wieder und Jimmy wurde bewusst, wie sehr er sich seit einiger Zeit wieder unterlegen gefühlt hatte. Es war inspirierend und ermutigend zu sehen, wie tapfer er einst war. Selbst gegen die ärgsten Widersacher erhob er sich und spie ihnen seine Flammen entgegen. Mit Max vollbrachte er einen gemeinsamen Treffer gegen Darkrai und mit Iro ließ er eine Erscheinung des Waldschrats in seine einzelnen Blätter zerbersten.

    „Max! Iro!“


    Jäh brach das Rauschen ab und Jimmy fiel auf seinen Hintern und starrte auf die kahle Wand. Doch sah er Bilder der Vergangenheit auf dieser, die alle in ihm aufgeflammt waren.

    „Nein …“, keuchte er entsetzt über das, was er sah. Doch mit der Hand berührte er etwas Weiches. Jimmy drehte sich verwirrt um und sah ein dunkles Tuch, das neben einem kleinen Fläschen auf dem Boden.

    „Lucy!“, fiel es ihm dann siedend heiß ein. Er suchte ihren Blick, doch Lucy war tatsächlich ohnmächtig geworden, während Tränen ihre Wangen hinunter liefen.

    „Oh nein, nein, nein, nein …“, murmelte Jimmy panisch. Er durfte es nicht wahr werden lassen, was er befürchtet hatte.

    Hastig entkorkte er das Fläschen und beinahe wäre es aus seinen Händen gerutscht. Doch er fing diese rechtzeitig auf und goss den ganzen Inhalt über das dunkle Tuch, dass etwas schwerer wurde. Als er dann sich der Wunde zuwandte, wurde ihm beim Anblick des rötlichen und schwarz-verkohlten Fleisches schlecht. Ohne genau hinzusehen breitete er das angefeuchtete Tuch aus und bedeckte damit die ganze Wunde. Jimmy stand dann eilig auf, rannte zu einer Ecke der Höhle und übergab sich.

    Doch es war nicht nur der Anblick der Wunde gewesen. Er hatte sich endlich wieder erinnert, und zwar an alles. Und Jimmy wusste, dass er einen gewaltig großen Fehler gemacht hatte. Und zwar einen, der vermutlich seine zwei besten Freunde gekostet hatte. Ihm wurde schwindlig, während die letzten Momente auf ihn einprasselten wie stundenlanger Starkregen. Er versuchte, in der Höhle Halt zu finden, doch seine Beine knickten ein und er fiel vornüber auf den Boden und blieb ohnmächtig auf diesem liegen.


    20

    Lawinengefahr


    Part I: Der stumme Gigant


    Man sah es dem Jurob, das sich mittlerweile als Pawo vorgestellt hatte, an, dass er lieber selber das Eis zerschmettert hätte, das den Eingang in die Höhle blockierte. In diesem klaffte nun ein ein fast zwei Meter hohes und recht breites Loch, durch das sie alle ohne Schwierigkeiten passieren konnten. Vane machte seine Arbeit sehr gut, stellte Max lächelnd fest. Die Hoffnung, dass der Wächter noch leben könnte, stimmte ihn zuversichtlich. Das sah er auch den anderen an, besonders Eva. Auch wenn Pawo und Emil ihr immer noch skeptische Blicke zuwarfen, ließ sie sich nicht davon beirren. Shadow war in die Höhle, die Vane freigelegt hatte, gehuscht, um diese für ihn mit einem Leuchtorb auszuleuchten. So mussten die anderen warten, bis beide von einem vollständigen Durchbruch berichten konnten. Mittlerweile erklärte Max Pawo und Eva auch, weswegen er und Iro zum Lawinenberg unterwegs waren. Beide zeigten sich als recht gute Zuhörer und als Max geendet hatte, machten sie große Augen und ihre Miene versteinerte sich.


    „Ihr habt noch einiges vor euch“, kommentierte Pawo dann matt. „Ich hoffe dann für euch, dass der Wächter noch lebt …“

    „Macht dir die Sache mit Kyurem keine Angst?“, fragte Iro verwundert. Pawo schüttelte den Kopf: „Wisst ihr, wenn man fast schon alles verloren hat bis auf seine Rachegefühle, dann schockiert einen nichts mehr. Eventuell werde ich eh schon vorher tot sein, bis dieser … dieses Ding Kyurem eintrifft.“

    „Sag doch sowas nicht!“, fuhr Eva ihn an. Max wunderte sich sehr, dass Eva keine Kindlichkeit mehr aufwies. Sie wirkte wie ausgewechselt und nicht mehr wie das weinerliche Kind, das sie im Wald aufgelesen hatten. Max fand jedoch, dass dieser Wechsel zu plötzlich stattfand. Doch seine Gedanken wurden jäh übertönt von den Streitereien zwischen Pawo und Eva:

    „Ich bleibe dabei, dass der Wächter tot ist. Er hätte sich in den fünf Jahren bestimmt befreien können, oder?“

    „Dennoch müssen wir hoffen, dass dem nicht so ist!“, fuhr ihn Eva hitzig an. Ihre kleinen schwarzen Augen verengten sich zu Schlitzen und mit diesen funkelte sie Pawo finster, der sich schnaubend abwandte. Dann füllte sich ihre Miene wieder mit Sorge und sie blickte zu Max und Iro, der ich an eine Wand gelehnt hatte und seinen bandagierten Arm betrachtete.

    „Wenn Kyurem also nicht rechtzeitig abgewehrt wird … hm … verstehe …“, und sie schloss die Augen und öffnete sie eine Zeit lang nicht mehr. Sie sah aus, als würde sie schlafen, und Max fragte sich, ob sie tatsächlich eingenickt war.

    „Eva?“, fragte Rose, die zur ihrer Rechten saß, vorsichtig und beugte sich langsam runter. Sie hielt einen Huf vor ihr Gesicht und Erleichterung zeigte sich in ihrem Gesicht: „Sie atmet. Ich dachte gerade wirklich …“

    „Wieder eingepennt?“, meldete sich Pawo bissig zu Wort und blickte Eva an. „Dabei hat sie doch angeblich fünf Jahre geschlafen … und ihr habt sie so gefunden?“


    Rose erzählte dann, wie sie im Wald auf Eva getroffen waren. Pawo war mehr daran interessiert, wie sie überhaupt dahingekommen war und wie sie die fünf Jahre überstanden hatte. Als Rose dann auch das erzählte, was sie von Eva erfahren hatten, senkte Pawo nachdenklich den Kopf.

    „Ihre Mutter … muss entweder ein Flugpokémon sein oder eines das sehr schnell rennen kann. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass ich nur die Hexe zum Lawinenberg habe gehen sehen, von einem anderen Pokémon war keine Spur zu erkennen. Aber die Mutter von der Kleinen …“, und er ruckte mit dem Kopf zu Eva, „muss doch bestimmt so aussehen wie sie oder? Und schnell zu Fuß ist die ja nicht, wenn ihr sie tragen müsst, oder?“

    „Das habe ich mich auch schon gefragt“, pflichtete Emil ihm prompt bei. Eva machte noch immer keine Anstalten, auf sie zu reagieren. Emil schien darüber froh zu sein, seinen Gedankengang fertig zu äußern: „Ich frage mich, welche Kräfte ihre Mutter hat, wenn sie dem Wächter zur Hilfe eilen wollte.“

    „Wenn sie diese überhaupt hat“, ergänzte Pawo mit einem Nicken. „Gut möglich, dass sie sich da überschätzt hat.“

    Rose schien davon genug zu haben, denn mit einem Satz stand sie auf ihren Hufen und funkelte Emil und Pawo wütend an: „Ihr beide solltet euch was schämen! Was wenn Eva euch gerade jetzt hören kann, wie ihr über ihre Mutter spricht?“

    „Wir beleidigen sie ja nicht!“, entgegnete Emil entrüstet. „Wir überlegen uns nun mal auch, wie es sonst sein könnte. Wir können nicht all optimistisch sein, Rose.“

    „Solltet ihr aber, ihr zuliebe!“, fauchte Rose zurück.


    Max und Iro blickten sich an und überlegten, ob sie einschreiten sollten, doch das war nicht mehr nötig. Vane und Shadow schoben sich aus dem Loch im Eis hervor und grinsten zufrieden.

    „Es ist getan!“, verkündete Shadow stolz.

    „Der Weg zum Lawinenberg ist freigelegt!“, rief Vane aus. „Wollen wir los?“

    Der im Eis freigelegte Höhlengang war zwar breit genug, dass sie alle passieren konnten, doch mussten sie hintereinander gehen. Auch war die Höhle nur schwach beleuchtet. Ganz vorne führten Vane und Shadow die Gruppe an, wobei Shadow nachwievor einen Leuchtorb in der Hand hielt, und ganz hinten hob Iro mit seinem gesunden Arm einen anderen hoch. Dieser ließ aber mittlerweile an Leuchtkraft nach, sodass Max vor sich seltsam tanzende Schatten und Silhouetten im Halbdunkel erkennen konnte. Zudem war der Boden auch glatt und Max fragte sich, ob die gesamte Höhle, wie groß sie auch sein mochte, mit Eis ausgefüllt war. Doch etwas Gutes hatte es dann doch: Es konnte ihnen kein Feind auflauern, da er sonst mit im Eis eingeschlossen gewesen wäre. Auch von vorne und hinten kamen keine Anzeichen, dass sie erwartet oder verfolgt wurden. Nach einigen Minuten dann hörte Max dann Wind durch die Höhle heulen und er spürte es auch am kalten Luftzug auf seiner Haut, dass sie sich dem Ausgang näherten. Und dann endlich traten sie nach draußen und konnten die Bewegungsfreiheit wieder genießen. Jetzt aber wäre es Max lieber gewesen, sie würden noch etwas enger beieinander sein, denn der Wind war wieder sehr eisig und weil sie dieses Mal nicht von hohen Felswänden umgeben waren, schlug der Wind gegen ihre Körper. Links war der See zu erkennen, dessen anderes Ufer sie erreicht hatten. Auch Pawo warf dem Blick einen wütenden und zornigen Blick zu.


    „Dort in der Mitte … wie gerne würde ich dieses … dieses Ding zerstören …“

    Auf Max‘ fragenden Blick hin schlug Pawo einen Brocken von einem nah gelegenen Stein ab und schleuderte ihn mit seiner Schwanzflosse auf die gefrorene Oberfläche. Sofort schlitterte der Stein in den Nebel und war verschwunden. Doch nun drang aus diesem ein unheimlich lautes und knirschendes Geräusch und Max hörte in der Entfernung das Krachen von etwas, das wie massive Eisblöcke klang. Auch die anderen wirkten wie vor Schreck erstarrt und blickten auf die Oberfläche des Sees.

    „Wäre das einer von uns gewesen“, erklärte Pawo düster, „wäre dieser entweder zu Eis gefroren, zerschmettert oder zu Eis gefroren und dann zerschmettert. Eines von diesen drei Dingen jeweils …“

    „Entsetzlich!“, rief Rose so schwach aus, dass ihre Stimme im Wind fast unterging. Pawo schloss die Augen. Weil Max in nächster Nähe war, hörte er ihn etwas flüstern: „Ich werde euch rächen … Bruder … Mutter …“

    Und ein anderes Wesen schob sich zwischen den beiden. Max bemerkte, wie Eva mittlerweile aufgewacht war und sich nun Pawo genähert hatte. Sie ließ ihren Kopf gegen den seinen fallen und zum ersten Mal, seit sie Pawo getroffen haben, weinte dieser unerbittlich.

    „Es tut mir so unendlich leid, was mit ihnen passiert ist, Pawo“, sagte Eva liebevoll. Sie schmiegte ihren Kopf an und Pawo, der offenbar nicht wollte, dass man seine Tränen sah, vergrub den Kopf im Schnee. Sie ließ erst von ihm ab, als er seinen Kopf wieder herauszog, ihr einen dankbaren Blick zuwarf und dann sich mit grimmiger Miene der Tundra vor ihnen wandte.


    Noch immer schob sich ein undurchdringlicher Nebel in ihr Sichtfeld und Max fragte sich, ob sie in die richtige Richtung blickten. Doch Eva schien sich dessen sicher zu sein. Entschlossen ließ sie sich von Rose aufnehmen und bedeutete ihnen, ihr in den Nebel hinein zu folgen.

    „Wie weit ist es eigentlich noch?“, fragte Shadow, der nun am ganzen Schattenkörper zitterte und mit den Zähnen klapperte. Auch Max hatte das Gefühl, als würde sein Hitzeband an Kraft verlieren. Oder wurde es letztlich kälter, je näher sie dem Lawinenberg kamen?

    „Es ist zwar noch etwas hin“, rief Eva laut von Roses Schulter ihnen zu, „doch wenn wir Glück haben, werden wir hier in der Nähe Hilfe erhalten.“„Hilfe? Was soll das denn sein?“, rief Vane ebenso laut aus.

    Doch nur wenige Augenblicke spürten sie diese sich ankündigen. Mit seinen Füßen, die etwas taub vor Kälte waren, spürte Max den Boden leicht erzittern. Und dann wieder. Und dann erneut. Als würde etwas Schweres im Rhythmus immer wieder auf dem Boden fallen. Der Urheber des Geräuschs schob sich dann wenige Augenblicke hervor und Max stieß fast einen Schrei aus. Ein gigantischer Schatten schälte sich aus dem Nebel vor ihnen, welcher von zwar kleineren, aber dennoch ziemlich großen Schatten begleitet wurde.

    „Oh nein …“, rief Eva dann aus und Max fürchtete schon, dass sie angegriffen wurden. Doch Eva stieß einen traurigen Seufzer aus: „Euch hat es auch erwischt? Nur ihr drei seid noch übrig?“


    Sie sprach wohl mit den Schatten, denn ihr Gesicht war diesen zugewandt. Dann wurde auch, als die Pokémon sich in ihrer nächsten Nähe befanden, deutlich, um was es sich bei ihnen handelte. Kleinere Vertreter dieser Art hatte Max mit Jimmy schon auf den Blizzardinseln gesehen. Sie waren nur einen Meter größer als er gewesen und auch ihre Rüssel waren nicht so lang. Von ihren Stoßzähnen, die lang und gebogen nach vorne wuchsen, wusste Max, dass sie so hart wie Eisen waren. Nun aber traten Mammutel auf sie zu, die an Größe kaum zu übertreffen waren. Während die kleineren nur geschätzt drei Meter maßen, war das größte von ihnen ein Gigant. Allein seine dicken mit dichtem langen Fell bewachsenen Beine waren um die drei Meter hoch und obendrauf ragten vier weitere Meter in den Himmel. Von diesem Riesen fielen vom Rücken an lange Vorhänge von Fell bis zum Boden, sodass es den Anschein hatte, als würde ein haariges Zelt vor ihnen stehen. Auch die Augen des gigantischen Mammutels waren kaum unter dem dichten Gestrüpp zu erkennen gewesen. Dennoch sah Max deren Weiß und er spürte, wie der Gigant auf sie hinabblickte und eindringlich musterte. Eva schien die drei zu kennen, denn sie lächelte schwach und bedeutete Rose auf sie zuzulaufen. Shadow machte schon Anstalten, sie aufzuhalten, doch Eva drehte sich zu ihnen um.


    „Macht euch keine Sorgen, die Mamutel sind freundlich gesinnte Pokémon. Sie sehen imposant und einschüchternd, doch sie würden nie …“, doch Eva musste sofort erkennen, dass sie dieses Mal falsch lag. Denn unter dem stummen Blick des Giganten traten die zwei kleineren Mamutel auf sie und Rose zu und erhoben ihr Haupt zur Seite. Es war zu deutlich, dass sie angreifen wollten, doch Rose und Eva waren zu perplex, um darauf zu reagieren. Und sie hätten die massiven Stoßzähne gespürt, wenn nicht Iro und Vane rechtzeitig zu ihren Seiten gesprungen wären. Iro stemmte sich erst mit seiner gesunden Körperhälfte gegen den herabschwingenden Kopf des Mamutels, ehe er eines der Stoßzähne mit seinem linken Arm im Griff hatte. Vane, der keinen im Gips eingewickelten Arm hatte, wurde nicht derartig eingeschränkt. Mit diamantverstärktem Panzer fing er mühelos die Wucht des zweiten Mamutels auf und fasste dann auch dessen Arm. Dann vollführten beide eine leichte Drehung, sodass sie die riesigen Körper der Mamutel gegeneinander schlugen. Ein röchelndes trötendes Geräusch erklang und die beiden Mamutel blieben sofort reglos am Boden liegen.

    „Aufhören!“, rief Eva schrill aus und Rose trat zu jedem der beiden Erkunder heran und scheuchte sie von den Mamutel.

    „Hätten wir sie euch etwa zermalmen lassen sollen?“, reagierte Vane empört über Roses Kritik, dass sie sich keine Feinde machen sollten. Iro hingegen betrachtete argwöhnisch die auf dem Boden liegenden Mamutel, die sich schwach regten.

    „Vane? Kamen sie dir nicht für ihre Größe etwas zu … leicht vor?“, sagte er und sein Blick verfinsterte sich.


    „Leicht?!“, horchte Rose scharf auf und wandte sich nun den beiden Mamutel zu. Sofort ließ sie sich ihnen auf dem Boden nieder und untersuchte sie. Dass der Wind um ihnen herum heulte und sie scharf in die Körper biss vergaßen sie alle in dem Moment. Max und die anderen beobachteten Rose dabei, wie sie langsam und vorsichtig die Körper der Rüsselpokémon untersuchte. Dann erstarrte sie und durch den feinen Neben erkannten sie gerade noch, wie Rose zitterte.

    „Sie … sind komplett abgemagert! Nur noch Haut und Knochen …“, hauchte sie entsetzt und das laut genug. Max drehte sich der Magen um. Er konnte sich kaum vorstellen, wie die Mamutel unterhalb ihres langen zottigen Fells aussehen mussten und wenn er es versuchte, sah er ein furchtbares und außerirdisches Bild vor seinem Auge. Auch den anderen sah er die Beklommenheit in den Gesichtern an. Iro blickte angewidert zu Vane, der ebenso beschämt dreinblickte.


    Eva gab Rose ein Zeichen, dass sie sich wieder aufrichten sollte, und als sich erhob, wandte sie sich dem gigantischen Mamutel zu, dessen Funkeln in seinen Augen erloschen war.

    „Großer Mammoth! Ich kann verstehen, dass Ihr wütend seid! Doch ich versichere Euch, dass diese Pokémon nichts mit dem Fluch zu tun haben, der sich seit fünf Jahren über die Tundra gelegt hat!“

    Evas Stimme, die viel reifer und erwachsener klang als zuvor, strahlte eine beeindruckende Kraft aus. Selbst Pawo blickte beeindruckt zu ihr auf. Auch das riesige Mamutel wirkte von ihr gebannt, denn es machte keine Anstalten, den Angriff auf seine Artgenossen zu rächen. Stumm und aufmerksam, aber auch mit schwach funkelnden Blick sah er auf Eva herab, die nervös Luft holte und dann weitersprach:

    „Ich kann mir vorstellen, dass dieser Fluch die Lebensweise von uns allen getroffen hat. Dieser ist wohl auch der Grund, weswegen es noch so wenige von euch gibt, oder?“

    Der Gigant sprach abermals nicht, doch als er langsam mit dem Augen blinzelte, schien mit diesem eine Antwort gegeben worden zu sein. Denn als Eva wieder ansetzte, zitterte ihre Stimme und tiefe Erschütterung lag in ihr: „Bestimmt wäre man vor fünf Jahre in der Lage gewesen, all das abzuwenden … doch nun habe ich Verbündete mitgebracht, die in der Lage sind, diesen Fluch zu brechen! Wenn Ihr es uns gestattet, großer Mammoth, dürfen wir auf euren Schutz hoffen, während wir uns auf dem Weg zum Lawinenberg begeben?“


    Während Eva gesprochen hatte, scharrte Max nervös mit den Füßen. Er wusste nicht, wie er so einen Fluch brechen könnte und ob er überhaupt dazu in der Lage war. Zwar fühlte er sich schon geschmeichelt von Evas Aussage, doch in dem Moment ein solches Versprechen gegenüber dem Mamutel abzugeben war doch etwas weit hergeholt. Doch vor diesem wollte er Eva wiederrum auch nicht widersprechen. Sie hatten beschlossen, zum Lawinenberg aufzubrechen, und so wie es Eva hat klingen lassen schien das riesige Mamutel in der Lage zu sein, durch den Blizzard seinen Weg zu finden. In dem Moment richteten sich langsam auch die anderen beiden auf. Iro und Vane machten sich bereit, einen eventuellen Angriff erneut abzufangen, doch dieses Mal wandten sich die Mamutel stumm an ihren Anführer. Die Augen des Giganten glitten über seine Artgenossen, dann hinüber zu Eva und Rose und letztlich blickten sie alle anderen Anwesenden lange an. Dann wedelte der Gigant langsam mit seinem Rüssel und langsam drehte er sich um. Die anderen Mamutel taten es ihm nach. Max wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, doch Eva klärte ihn darüber auf, als sie und Rose sich umdrehten.


    Erleichterung stand in Evas Gesicht geschrieben: „Sie gestatten uns, dass wir unterhalb ihrer Felle uns bewegen dürfen. Auf die Art trotzen wir am besten den starken Winden, die vom Lawinenberg aus uns begegnen werden!“









    Part VI: Der Tod des Wächters


    Du kennst einen sicheren Weg zum und auf den Lawinenberg?“, fragte Emil und beäugte die kleine Raupe argwöhnisch. Diese blickte mit aufgeregtem Funkeln in ihren schwarzen Knopfaugen zurück: „Oh ja! Wie ich schon sagte, meine Mami hat mir von diesem Weg erzählt! Natürlich …“, und verlegen ließ sie den Kopf hängen, „müssen wir ein kleines Stück durch die Tundra und ich kann mir denken, dass es für euch kein Zuckerschlecken wird.“


    Ihr Blick huschte zu Max, der auch verstand. Als Pflanzen-Pokémon würde er Schnee und Eis am allerwenigsten vertragen. Fast automatisch zog er darauf das Hitzeband enger um seinen Hals. Doch Emil schien nicht zufrieden mit der Antwort der Raupe.

    „Du sagtest, deine Mutter ist hoch zum Lawinenberg, um den Wächter dabei zu helfen, das Böse abzuwehren? Ich würde denken, der Wächter wäre stark genug, um sich mit den Eindringlingen zu befassen, meinst du nicht?“

    „Das weiß ich nicht so genau …“, gab die Raupe zu. „Ich habe ihn nur einmal im Leben gesehen. Arktos – das ist sein Name – ist sehr nett. Er summt gerne Lieder vor sich hin. Meine Mami bezeichnete ihn hin und wieder als einen alten seltsamen Kauz, und ich finde dass der Name passt. Aber dass er ein Wächter ist, müsste doch eigentlich heißen, dass er stark ist, oder?“

    „Das frage ich dich“, entgegnete Emil und kratzte sich nachdenklich am Hals. „Wenn sie aber dem Wächter helfen will, wieso hat man auch nach dir gesucht? Schließlich ging die Gefahr für diese Eindringlinge von deiner Mutter aus, da sie offenbar auch recht stark zu sein scheint …“


    „Sie ist sehr stark und das wirst du noch sehen!“, rief die Raupe entrüstet aus, während Tränen in ihren Augen glitzerten. Rose trat heran, warf Emil einen verärgerten Blick zu und wandte sich der Raupe zu: „Sag mal, Kleines … wie ist dein Name eigentlich?“

    „Oh, habe ich den noch gar nicht gesagt? Ich heiße Eva!“, sagte die Raupe erstaunt und wandte sich rasch den anderen zu. Auch sie stellten sich der Reihe nach vor, auch Emil, wenn er dies auch recht zögerlich tat. Es war offensichtlich, dass er skeptisch blieb. Max erinnerte sich an die Worte, die Emil ihm in der Schädelwüste mitgeteilt hatte: Halte dich immer für das Schlimmste bereit und du wirst aufs Neue immer wieder überrascht. Hatte Emil etwa damit gemeint, dass man nicht sofort Vertrauen zu Pokémon finden sollte, die man erst getroffen hat? Max blickte zur Raupe und er fand, dass von ihr keine Gefahr ausging, geschweige denn könnte.

    „Kommt schon!“, rief Eva aufgeregt aus und sie nahm Roses Angebot an, auf ihre Schulter zu krabbeln, um so von ihr getragen zu werden. Rose schauerte, als Eva mit ihrer eisigen Unterhälfte an ihr haften blieb. „Je eher wir losgehen, desto eher treffen wir auf meine Mami und den Wächter!“

    Sie zuckte mit ihrem Kopf in die Richtung, in die die Erkunder gehen sollten. Sie alle blickten sich an und kamen stumm zu der Übereinkunft, dass sie Eva als Wegführerin vertrauen würden. Während sie von der Stelle traten und sich erneut den Weg durch den Wald bahnten, sah Max, wie Emil mit wachsamen Blick auf Eva und auf die Umgebung seine Klappen geöffnet ließ, bereit zum Schießen, wenn dies erforderlich war.


    Auch mit Hitzeband waren die Winde der Firntundra eiskalt und bissen auf der Haut. Auch die anderen hatten sichtlich mit ihnen zu kämpfen. Iro hielt seinen gesunden Arm vor die Stirn und ging leicht gebeugt, sodass die harten Schneeflocken nicht gegen seine Augen schlugen. Bei Shadow, Vane, Emil und Rose sah es nicht anders aus, nur Eva wirkte recht munter, auch wenn Max nicht viel von ihr in dem Schneegestöber ausmachen konnte. Er blickte hoch. Es war kaum auszumachen, ob dieses endlose Grau entweder den Himmel, Wolken oder doch nur einen Nebel darstellte, der die gesamte Tundra zu umhüllen schien. In dem Moment war Max froh, dass sie in Eva eine Einheimische gefunden hatten, die sich tatsächlich auskannte. Sie selber hätten sich ohne Karte bestimmt leicht verlaufen. Sie, auf Roses Schulter sitzend, führte die Gruppe an und rief der Miltank entgegen dem lauten Heulen des Windes die Richtung zu, wenn sie etwas von der abwichen. Wie schon in der Schädelwüste stellte sich das Waten durch den Schnee ebenso als eine Herausforderung heraus. Max fragte sich fast aus Reflex, wie Jimmy sich durch diesen geschlagen hätte. Und obwohl der Gedanke an ihn Max‘ Herzen einen Stich versetzte, spürte er doch, wie er dieses Mal weniger verzweifelt wurde. Der Gedanke, dass es Jimmy gut ginge und er sich in guter Begleitung befand, wie Shadow es beschrieben hatte, beruhigte Max und auch wenn die Schädelwüste ein lebensfeindlicher Ort war: Max glaubte, dass Jimmy es in dieser wesentlich besser hatte als er in der Tundra. Als Feuer-Pokémon müsste sich Jimmy in wärmeren Umgebungen auch besser fühlen als in kälteren.


    Max schüttelte den Kopf. Es war nicht der Zeitpunkt, an Jimmy zu denken, während er seine Energie und Konzentration darauf ausrichten musste, nicht die anderen aus dem Blick zu verlieren. Er konnte nur hoffen, dass keiner in dem Schneesturm verloren ging. Erneut dachte er an Jimmy und wie ein Sandsturm ihn von Max und Iro getrennt hatte. In dem Moment schoss Max ein erschreckender Gedanke durch den Kopf: Was, wenn die Firntundra genauso beschaffen war? Schneestürme, die sie von A nach B und von dort nach C teleportieren würden? Doch Eva hätte etwas gesagt, wenn dem so wäre, oder nicht? Andererseits, wenn sie schon vergaß, sich vorzustellen ...


    Doch zum Glück bewahrheiten Max‘ Sorgen nicht. Als Eva nach einer halben Stunde, die sich wie eine volle angefühlt hatte, laut „Wir sind da“ rief, blickte Max mit zusammengekniffenen Augen in die Gegend vor ihnen. Langsam schälte sich aus dem Nebel das mit grauen Steinen belegte Ufer eines Sees, der sich zugefrorenen in die weitere Tundra erstreckte. Während sich nach links dieses Ufer im Nebel verlor, befand sich rechts eine Art Pfad, der tiefer führte. Als sie diesen eine Weile beschritten hatten, sah Max, dass sie von beiden Seiten von Felsen umgeben waren, die sich immer höher auftürmte. Der Wind heulte nun oberhalb dieser Felsen und schlug ihnen nicht mehr entgegen, sodass sie endlich wieder sich gegenseitig hören konnten. Shadow stieß einen Freudenschrei aus und warf sich auf den Boden.


    Fester Boden!“, rief er mit Betonung auf das erste Wort aus und verschwand in diesen, nur um gleich darauf aus diesem wieder hervorzutreten: „Dieser Schnee war einfach unerträglich zum Begehen! Ich bin gerade über jedes Flecken fester Erde richtig froh!“

    „Sicher, dass du uns nicht alle in deinem Schatten hättest mitnehmen können?“, funkelte ihn Rose erschöpft keuchend und argwöhnisch. Das Gengar schüttelte den Kopf: „Ihr wisst ja, wie kühl es in meinem Schatten werden kann. Hätte ich euch in meinen Schatten gepackt, wäret ihr alle schockgefroren gewesen, denn der Schattenraum passt sich den Außentemperaturen an. Die Wüste war kein Problem, aber so ein bitterkalter Schnee wie hier …“

    „Geht es hier zur Abkürzung, von der du uns erzählt hast?“, rief Emil über das freudige Schluchzen von Shadow hinweg und wandte sich damit an Eva, die sich auf Roses Schulter umdrehte und eifrig nickte.

    „Genau! Wobei …“, und Sorge trat in ihr Gesicht. „Normalerweise ist der See nicht zugefroren. Jetzt denke ich mir gerade, dass man auch durchaus über diesen laufen könnte …“

    „Was wäre die Alternative?“, warf Vane neugierig ein.

    „Ein paar Schritte weiter befindet sich der Eingang zu einer Höhle, die den kompletten See umgeht“, erklärte Eva ihm. „Für jene Pokémon, die keine guten Schwimmer sind, hat man einen Weg durch den kleinen Berg gegraben, den wir gleich sehen werden. Der Eingang ist gleich da vorne um die Ecke!“


    „Das ist mir ehrlich gesagt auch lieber, wenn wir durch die Höhle gehen“, sagte Max mit erleichtertem Lächeln und wandte sich an Iro: „Je weniger wir diese scharfen Winde ertragen müssen, umso besser. Iro, alles in Ordnung?“

    Iros Blick hatte sich verengt und konzentriert blickte der Alligator zu Boden. Dann hob er seinen Arm und gebot alle zu schweigen.

    „Hört doch mal …“, sagte er langsam, als die anderen ihn verdutzt anblickten. Sie horchten in die Luft, in der nur leise das Heulen von oberhalb widerhallte. Dann hörten sie es. Eine Art Klicken, das durch die Luft echote und aus der Ecke vor ihnen kam. Und dann ertönte es wenige Sekunden später erneut und dieses Mal klang es, als würde etwas dadurch brechen. Der Verursacher des Klickens ließ sich nicht davon stören und fuhr unbeirrt fort. Eine Weile lang horchten sie dem Geräusch und stumm sahen sie sich an. Wie sollten sie vorgehen? Und was war es für ein Wesen, das dieses Geräusch verursachte?

    Sie beschlossen, Kampfstellung einzunehmen. Emil ließ seine Kanonen hervorschnellen, Iro und Vane ballten die Fäuste und Max hatte eine Laubklinge im Anschlag. Langsam näherten sie sich der Ecke und wollten um diese Blicke, doch Eva sprang ohne viel Federlesen von Roses Schulter an, sobald sie nahe genug dafür waren, um die Ecke zu blicken. Sie plumpste auf den Boden und das Klicken erstarb. Dann – und die anderen blickten sich entsetzt an – rief Eva munter aus: „Hallo!“

    Sie hatten nur eine Sekunde Zeit zum Reagieren. Max preschte nach vorne und schnappte sich Eva, während Emil so schnell um die Ecke huschte wie er konnte. Von ihm als auch von weiter vorne leuchteten helle, azurfarbene Blitze auf, die aufeinander zuschossen. Sie trafen aufeinander und eine Welle von Kälte goss sich über die Erkunder. Die Blitze prallten dann unter dem Geräusch von zerbrechendem Eis voneinander ab und schlugen auf den Felswänden links und rechts von ihnen ein. Dort, wo die Blitze eingeschlagen waren, formten sich jäh Eiskristalle, die spitz vom Stein ragten.

    „Himmel!“, kam es von vorne. „Ihr habt mich erschrocken! Ich dachte schon, diese Eisbiester würden mich gleich überfallen!“


    Ein seltsam geformter Schatten robbte durch den leichten Nebel auf sie zu. Und das war eine sprichwörtliche Beschreibung, denn ein robbenartiges Pokémon mit weißem Fell und einem kleinen Horn auf dem Kopf kam auf sie zu. In dessen braunen Augen lag sowohl Neugier als auch Argwohn und es sah sich die Ankömmlinge genau an. Ein paar Sekunden länger ruhte dann sein Blick auf Eva und das Jurob schnaubte ungläubig: „Du hast vielleicht Nerven, hier im Feindesland Hallo zu rufen! Wer seid ihr überhaupt?“

    „Feindesland?“, entgegnete Eva in Max‘ Armen überrascht. „Seit wann ist der Eismond-See Feindesland?“

    „Seit wa-?“, prustete das Jurob und sah Eva perplex an: „Du fragst ernsthaft, seit wann die ganze Firntundra Feindesland ist?“


    „Die ganze Tundra?“, rief Eva sichtlich entrüstet. Sie und das Jurob blickten sich eine Weile verdutzt an, dann verengte sich dessen Blick und es wandte sich den anderen zu: „Auch, wenn ihr keine Eisbiester seid, seid ihr dennoch schlechte Pokémon? Ich kann mich wehren, damit ihr Bescheid wisst!“

    „Wir sind keine“, antwortete Emil trocken und sah sich die Stellen, auf die die Eisstrahlen getroffenen waren. Sein Mund verzog sich: „Du wolltest die Eisbiester mit einem Eisstrahl aufhalten?“

    „Zumindest festsetzen, bis ich sie mit meinem Horn zerschmettert hätte!“, entgegnete das Jurob, welches beleidigt über Emils Anmerkung wirkte. Max fiel auf, dass das Horn wesentlich stumpf und eine Spur zu kurz war. Er hatte die Art der Jurob schon einmal gesehen und im Vergleich zu den vorherigen wirkte dieses eher mager und kümmerlich. Max ließ seinen Blick auf die Stelle gleiten, von der es auf sie zu gerobbt kam. Kaum durch den Nebel erkennbar erkannte Max die schattigen Umrisse eines großen Berges und am Ende des Pfades konnte er schwach schimmerndes Eis erkennen, das sich wie ein Felsen vor einem Höhleneingang aufbaute.


    „Einfach nur verdammt!“, grummelte die Robbe, als sie ihren Blick ebenso zu dem Eis gleiten ließ. „Es dauert Monate, bis ich mich durch dieses Eis gebohrt habe!“

    „Aber seit wann …“, meldete sich Eva bedrückt zu Wort. Sie suchte den Blick des Jurobs, räusperte sich und fuhr dann mit kräftigerer Stimme fort: „Ich kann mich nicht erinnern, dass die Firntundra so komplett zugefroren ist. Seit wann ist das denn so?“

    „Du bist doch von hier, oder nicht?“, bemerkte das Jurob scharf und blickte Eva an. „Wie kann es sein, dass du von all dem Mist nichts mitbekommen hast?“

    „Ich habe … nun …“, antwortete Eva mit verlegener Röte im Gesicht. „Ich habe geschlafen in der Zeit …“

    „Fünf Jahre lang?“, prustete die Robbe ungläubig und klatschte den hinteren Teil ihres Körpers auf den Boden. „Du willst mir ernsthaft erzählen, dass du fünf Jahre einfach verschlafen hast, während diese Hexe hier rumgewütet hat?“


    „Hexe?“, meldete sich Rose dazwischen und auch Eva blickte verdutzt auf. Aus irgendeinem Grund spürte Max, wie es sich bei der Hexe um ein sehr mächtiges Pokémon handeln musste. Er dachte zurück an die Garados, die eingefroren aus einem zu Eis erstarrtem Meer herausragten, und an jene geisterhaft leuchtenden Augen der Eiseule, die sie zuvor beobachtet hatte.

    „Noch eine sehr mächtige dazu“, erklärte das Jurob und Max hörte, wie Angst und auch Wut dessen Stimme belegte. „Ich habe sie vor fünf Jahren nur aus der Ferne gesehen, wie sie den See überschritten hat. Ich würde es euch nicht verübeln, wenn ihr es nicht glauben würdet, doch sie hat diesen in nur wenigen Sekunden zu Eis erstarren lassen. Wie ich auch direkt darauf erfahren habe, hat sie dies mit dem gesamten Meer rund um die Tundra gemacht. Die Pokémon im See und im Meer …“, und das Jurob brach ab. Es schloss fest die Augen und neigte seinen Kopf nach unten. Sein ganzer Körper fing an zu beben und ein langgezogener Schluchzer erklang.

    „Darunter waren auch einiger meiner Freunde und Familie. Sie sind nun alle zu Eis erstarrt! Und die wenigen, die dem entgangen waren, wollten sie aus der Mitte des Sees befreien … bis dann dieses … riesige tentakelartige Vieh aus Eis sie alle …“, und wütend stieß es sein Horn in den Boden und die Erkunder traten erschrocken einen Schritt zurück. Das Jurob blickte zornig auf und in Evas Gesicht: „Wie hast du von all dem nichts mitbekommen können? Wo warst du denn, als diese Eisbiester in die Firntundra eingefallen sind?“


    „Ich wurde von meiner Mami versteckt“, entgegnete Eva trotzig aber sichtlich bestürzt über diese Erzählung. „Sie wollte mich in Sicherheit wissen, während sie dem Wächter Arktos zur Hilfe eilen wollte.“

    „Der Wächter!“, rief das Jurob hysterisch aus. „Der Wächter ist tot! Oder warum sonst hat sich nach fünf Jahren noch immer nichts geändert?“



    Eine eisige Kälte breitete sich zwischen ihnen, die jenseits von der Firntundra kam. Max spürte, wie der Boden drohte, unter seinen Füßen weggerissen zu werden. Der Wächter war tot? Das konnte doch nicht sein! Immerhin war der Wächter Arktos doch so etwas wie ein Halbgott, der Kräfte von Arceus selbst erhalten hatte. Und so ein Pokémon sollte jetzt tot sein? Er erinnerte dann, dass Lashon ihnen erzählt hatte, dass die Wächter zwar nicht durch Alter oder Krankheiten sterben, aber trotzdem noch immer getötet werden können. Auch bei Iro sah Max, dass dieser mit versteinertem Gesicht die Robbe anblickte. „Der Wächter … tot?“, hauchte Rose entsetzt und suchte die Blicke der anderen, als würde sie hoffen, dass irgendeiner von ihnen ihr widersprechen mochte. Dann setzte sie sich wankend auf einen Stein, der in ihrer Nähe war. Eva, die starr vor Entsetzen auf Roses Schultern saß, sah danach aus, als würde ihr das Leben mit jeder Sekunde aus dem Körper weichen.

    Dann sprach sie wieder, und ihre Stimme war kaum noch zu vernehmen, denn sie zitterte heftig: „Du … das kann … das kann nicht sein! Der Wächter … kann nicht tot sein! Meine Mami …“ „Wenn sie dem Wächter wirklich zur Hilfe eilen wollte, dann ist sie wahrscheinlich auch tot!“, setzte das Jurob mit vor Wut und Trauer verzerrtem Gesicht nach. „Und ganz ehrlich, ich hoffe es! Denn wenn sie beide uns alle im Stich gelassen haben, dann-“

    „WEDER MEINE MAMI NOCH DER WÄCHTER HABEN IRGENDWEN IM STICH GELASSEN!“, brach Eva nun so laut aus, dass ihre Stimme mehrfach und nicht weniger laut von den Wänden widerhallte. „UND TOT SIND SIE AUCH NICHT!“


    Trotzig blickte das Jurob sie an, dann schnaubte es: „Du hast ja gepennt, du hast nicht mitbekommen, wie diese Hexe … alles hier auf den Kopf gestellt hat. Kaum war sie über den See in Richtung des Lawinenbergs, kehrte sie nach nur wenigen Stunden wieder zurück, vollkommen unversehrt. Es sah nicht danach aus, als hätte sie sich mit dem Wächter und mit deiner Mutter einen großen Kampf geltet … wenn es für sie überhaupt einer war …“

    „Als ob es ein Pokémon gäbe, das es unbeschadet mit einem Wächter plus Unterstützung aufnehmen könnte“, stieß Shadow mit einem gezwungenen Kichern hervor. „Ich meine …“, doch als er dem Blick des Jurobs begegnete, versagte ihm die Stimme. Langsam schüttelte das Jurob den Kopf: „Bei dem, was ich gesehen habe … bezweifle ich, dass das überhaupt noch ein Pokémon war … allein ihre Präsenz war … unbeschreiblich ... aber bedrückend …“

    Wieder breitete sich Stille, die nur von Evas „Es kann nicht sein … es kann einfach nicht sein …“-Geflüster unterbrochen wurde.

    Max spürte Iros große Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um und sah, wie Iro mit dem Kopf nach hinten ruckte. Max verstand und sie entfernten sich von den anderen, doch spürte Max Emils und Shadows Blick ihnen folgen.


    „Was meinst du, Max?“, fing Iro an und Max verstand, worauf er hinauswollte.

    „Ich will es ebenso wenig wahrhaben, doch es sind fünf Jahre vergangen … Vielleicht …“

    „Heißt das dann, wir haben den ganzen Weg, all die Strapazen, all die Gefahren für nichts erdulden müssen?“, fragte Iro düster und Max fiel darauf keine Antwort ein. Der Gedanke, dass sie von Jimmy getrennt wurden, dass sie mehrmals fast den Tod gefunden hatten, nur um am Ende in eine Sackgasse zu geraten, drohte ihn zu lähmen. Zuvor lag der Weg mit Aussicht auf die Spitze des Lawinenbergs klar vor ihnen. Nun aber schob sich eine undurchdringliche Nebelwolke vor ihnen, die die komplette Sicht versperrte.


    „Und was genau hast du vorgehabt zu tun, ehe wir dich unterbrochen haben?“, schallte Shadows erhobene Stimme zu den beiden hinüber. Max und Iro blickten sich und mit ausdruckslosem Gesicht stießen sie wieder zu den anderen.

    „Wonach sieht es wohl aus?“, antwortete die Robbe trotzig. „Ich will mir einen Weg durch die Höhle bahnen, um an Ende zum Lawinenberg zu gelangen!“

    „Obwohl der Wächter tot sein soll?“, hakte Rose mit Betonung auf das letzte Wort nach. Ihr Blick galt dabei Eva, die starr vor Entsetzen ins Leere blickte.

    „Ob tot oder nicht … das ist mir jetzt egal!“, entgegnete die Robbe abermals trotzig. „Ich rechne mir selber die Chancen als nicht hoch aus, doch wenn es eine Möglichkeit gibt, diesen Fluch zu brechen, dann nutze ich die Chance auch!“

    „Wie willst du diesen Fluch brechen?“, fragte Gengar skeptisch. „Ist das ein Fluch, den ein Geister-Pokémon ausgesprochen hat?“


    „Was weiß denn ich?“, rief das Jurob gereizt aus. „Auf jeden Fall hatte die Hexe da oben irgendetwas zu schaffen gehabt. Sie war schließlich für ein paar Stunden dort, ehe sie die Tundra wieder verlassen hatte. Ich bin mir sicher, dass sie dort auf der Spitze etwas platziert hat, das diesen Fluch aufrechterhält. Und deswegen mache ich mich auf den Weg. Denn wenn es aus Eis ist, kann ich mit meinem Horn zerbrechen!“

    „Wenn am Ende noch etwas von diesem da ist …“, bemerkte Vane knirschend. Wütend funkelte die Robbe jetzt ihn an: „Hast du gesehen, wie dick dieses Eis ist, das sich bis in die Höhle erstreckt? Das und dieses riesige Tentakelvieh aus Eis sowie die ganzen Eisbiester sind alles das Werk dieser Hexe. Die sind nicht einfach so da, oder?“

    „Du meinst …“, fuhr Emil nachdenklich fort, „dies sind alles Schutzmaßnahmen?“


    „Um Eindringlinge daran zu hindern, zum Lawinenberg zu kommen. Genau!“, nickte die Robbe energisch. „Noch ein Grund, weswegen ich glaube, dass dort oben auf dem Lawinenberg etwas ist, dass diesen vermaledeiten Fluch aufrecht erhält. Denn wenn der nicht gebrochen wird, breitet sich das Eis immer weiter, bis es irgendwann die ganze Welt bedeckt.“

    „Das würde passieren?“, rief Rose ängstlich aus. Die Robbe machte große Augen: „Es wird passieren, wenn dieser Fluch nicht gebrochen wird. Der Wächter Arktos war der Einzige, der verhindert hat, dass ein ewiger Winter diese Erde heimsucht. Jetzt, wo er tot ist, steht dem nichts im Wege!“


    Plötzlich meldete sich Eva wieder so laut zu Wort, dass sie abermals zusammenzuckten: „Wieso aber dann muss dann etwas installiert werden, das diesen Fluch aufrecht erhält, wenn der Wächter eh schon tot ist? Wäre es dann nicht möglich, dass er gefangen gehalten wird und deswegen werden die ganzen Maßnahmen gegen Eindringlinge wie uns aufgestellt? Um zu verhindern, dass der Wächter befreit wird?“

    Die Robbe starrte sie eine Weile an. Dann fuhr ein sehr schwaches Lächeln über ihre Schnauze: „An dieser Hoffnung habe ich mich anfangs auch noch gehalten … doch je mehr Jahre vergingen, umso weniger glaubte ich daran. Warum sollte man auch überhaupt das Pokémon am Leben lassen, das als einziges dein Vorhaben eines ewigen Winters zunichte machen kann? Das macht keinen Sinn!


    „Zugegeben …“, hörte Max Shadow ganz leise zu Emil sprechen, „diese Logik ist nicht ganz von der Hand zu weisen …“
    Shadow begegnete Max‘ Blick und beide wandten sich um. Max musste ihm leider Recht geben. Aber auch Evas Argument machte Sinn. Es sei denn, diese Hexe war einfach nur kaltherzig. Als sich Max an die Eule erinnerte, die sie durchdringend geröntgt zu haben schien, kam ihm der Gedanke der Sinn, dass die Hexe stets zusah, wenn es irgendwelche Vorkommnisse in der Tundra oder im Wald gab. Und er stellte sich ein Pokémon vor, dass zufrieden und boshaft das Leid der Bewohner verfolgte.Vane hingegen schien sich nicht so aktiv an diesem Gespräch zu beteiligen. Sein Blick galt vielmehr der dicken Eisschicht, die er eingehend betastete. Erstaunt sah Max, dass er lächelte.
    „Das wird leicht“, hörte er Vane sagen, ehe dieser seine beiden Hände hob, deren Krallen funkelten. Dann stieß er seine mit Diamant besetzten Klauen ins Eis und unter unangenehmen Schaben und Knirschen brach er große Stücke des Eises ab.
    „Vane, was …?“, wollte Rose erschrocken wissen, doch Emil bedeutete ihr, ruhig zu bleiben.
    „Wenn sich Vane was in den Kopf gesetzt hat, zieht er es auch durch“, bemerkte er mit andächtigem Lächeln. Unter ihren Blicken und dem erstaunten Raumen der Robbe grub sich Vane Zentimeter um Zentimeter in das Eis ein und hinterließ dabei ein größeres Loch als die Robbe es je verursacht hätte.

    „So geht die Arbeit natürlich schneller …“, kommentierte sie matt aber erleichtert. „Aber das müsst ihr nicht tun … oder habt ihr selber etwas auf dem Lawinenberg zu erledigen?“


    Sie starrte alle an, die sich gegenseitig anblickten. Dann meldete sich Rose zu Wort: „Nun, ursprünglich hofften wir, den Wächter dort oben zu treffen …“, doch unter dem Blick der Robbe fügte sie rasch hinzu: „Das war aber, bevor wir von der … nun … Situation wussten …“ „Wir werden uns aber trotzdem auf dem Weg machen!“, sagte Max dann dermaßen bestimmt, dass es ihn selbst schon verwunderte. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihm breit und er merkte, dass er dieses seit längerer Zeit nicht mehr so intensiv verspürt hatte. Die anderen blickten ihn nicht weniger erstaunt an.
    „Max, du weißt aber, welcher Fall möglich wäre?“, erinnerte ihn Iro mahnend. Doch Max nickte ihm bereits zu: „Ich weiß … doch wie Eva schon sagte …“, und er lächelte der kleinen Raupe zu. „Es kann nicht sein, dass der Wächter tot ist … Es gibt also die Chance, dass er lebt und gefangen gehalten wird. Wenn es die Chance gibt, ihn und Evas Mutter zu retten, so klein sie auch sein mag …“, und Max holte tief Luft, um sich trotz dieser geringen Wahrscheinlichkeit Mut beizubringen. „Wir werden diese Chance nutzen. Ich habe das Gefühl, ich würde es bereuen, wenn wir jetzt umkehren würden, nach allem was wir …“, und der Gedanke an Jimmy ließ ihn verstummen.


    Iro blickte ihn aufmerksam an. Dann nickte auch er langsam. Eva schenkte ihm ein dankbares Lächeln: „Wir werden ihn retten! Und meine Mami!“.

    Rose warf Max ebenso einen dankbaren Blick zu. Einzig Shadow, Emil und auch die Robbe schüttelten den Kopf.

    „Woher ihr eure Hoffnung nehmt … fast schon bewundernswert … oder doch eher naiv?“

    Part V: Der andere Jimmy


    Kaum, dass Jimmy ans Äußere der Höhle getreten war, schlug ihm der Wind derartig hart entgegen, dass der Schnee, den er mit sich trug, wie Hagelkörner auf ihn einwirkte. Doch dieses Mal hatte Jimmy keinen Grund, sich zu beschweren. Er verdiente es, nach so einem Rückzieher derartig bestraft zu werden. Gerne hätte auch mehr ihn peinigen können.


    Wortlos setzte sich Jimmy an die eisige Felswand und blickte hinaus auf das, was er durch den Schneesturm erkennen konnte, auch wenn es nicht viel bis gar nichts war. Nur das Schneegestöber vor einem ewig grauen Himmel konnte er vor sich sehen. Doch er selber sah schon genug Bilder vor seinem geistigen Auge. Es waren immer noch einzelne Fetzen, die wohl aus der Zeit stammten, bevor er seine Erinnerung verloren hatte. Doch noch immer konnte er sich aus ihnen keinen Reim bilden. Doch das war nicht mehr so wichtig. Denn das jüngste hatte sich in ihm eingebrannt. Lucy, wie sie angespannt auf dem Boden gelegen und auf den Flammenwurf gewartet hatte, der sie vom Fluch hätte erlösen können. Und Jimmy hatte es nicht über sich bringen können, obwohl Leben und Tod auf dem Spiel standen. Dass Lucy ihn dann auch noch mitleidig und sogar verständnisvoll angeblickt hatte, konnte Jimmy nicht aus seinem Kopf verbannen. Gleichzeitig verwirrte und regte es ihn auf, denn lieber hätte er es gehabt, wenn sie ihn aus ihrer Enttäuschung heraus angeschrien hätte. Doch dass sie sich wortlos von ihm weggedreht hatte, machte ihn fertig.

    Vermutlich dachte sie, er würde nicht mit einem lauten Gebrüll zurechtkommen. Das musste es sein, dessen war sich Jimmy sicher. Sie schätzte ihn trotz aller Reden als schwach ein und Jimmy fühlte es tief in sich, dass Lucy nicht das einzige Pokémon war, das so über ihn dachte. Das Gefühl, das er bei dem Gedanken hatte, war jedenfalls nicht neu und war mehr wie etwas, das ihn seit geraumer Zeit begleitete. Er fühlte sich mehr bestätigt in einer dunklen Vorahnung als überrumpelt. Der Schnee, der auf seinen Wangen schmolz, vermischte sich mit den einzelnen Tränen und große Tropfen fielen auf den kalten Stein herab. Und dann erklang ein leises Geräusch, das kaum durch das laute Schneetreiben zu vernehmen war. Es klingelte in Jimmys Ohren immer lauter und ein langsames Klatschen erklang neben ihm: „Du hast es wieder einmal vollbracht, nicht wahr?“


    Erschrocken wandte sich Jimmy nach rechts. Er hatte nicht bemerkt, wie ein anderes Pokémon sich der Höhle genähert hatte. Doch als er zu seiner Rechten blickte, sah er nur ein anderes Panflam neben sich, das lässig, vom Schneesturm vollkommen unbekümmert, an der Wand lehnte und auf ihn herabblickte. Jimmy war vollkommen perplex, wie dieses unbemerkt an ihn herangeschlichen war. Er wollte aufstehen, doch irgendeine Kraft hielt ihn auf dem Boden. Auch das andere Panflam schien dies zu bemerken, denn er hob eine Hand: „Bemühe dich bloß nicht! Mein Besuch wird eventuell nicht von kurzer Dauer sein ...“


    „Wer …“, wollte Jimmy wissen, doch in dem Moment spürte er die Antwort schon tief in sich. Er erkannte die Stimme des Panflams, die seine eigene war. Jimmy wusste, wer das neben ihm war und das andere Panflam lächelte zufrieden: „Gut … ich hatte schon Sorge, du verlierst soweit den Überblick, dass du nicht mehr die Realität und Vorstellung auseinander halten kannst …“

    „Was willst du?“, rief Jimmy gereizt aus und wandte sich ab. Er wollte sich nicht mit einem Hirngespinst unterhalten, er wollte lieber allein sein. Doch der andere Jimmy ließ nicht locker. Unabänderlich blickte er Jimmy an und das regte diesen so sehr auf, dass er sich wütend wieder ihm zuwandte.

    „Kannst du mich bitte in Ruhe lassen?! Ich kann deine Anwesenheit wirklich nicht gebrauchen!“

    „Ich bin da anderer Meinung …“, entgegnete der andere Jimmy hingegen ganz ruhig. Aufmerksam blickte er Jimmy an. „Ich bin der Ansicht, du könntest jetzt erst recht meine Hilfe gebrauchen …“

    „Ich komme ganz gut ohne deine Hilfe klar!“, fauchte Jimmy zurück und hielt seine Ohren und Augen zu. Er sah aber immer noch die glatte Miene des anderen Jimmys vor sich in der Dunkelheit und auch seine Stimme drang genauso laut wie zuvor in sein Ohr: „Ich wäre nicht hier, wenn du es dir nicht selber im tiefsten Unterbewusstsein wünschen würdest. Also gehe ich stark davon aus, dass du meine Hilfe brauchst. Es scheint mir, als benötigst du eine andere Perspektive.“

    „Auf was genau?!“, fauchte Jimmy wütend zurück, richtete sich mit einem Satz auf und blickte seinem Doppelgänger ins Gesicht. Allein seine lässige Haltung und die Klarheit seiner Augen machten Jimmy fast rasend. Wäre er gerade nur in der Verfassung, einfach um mit diesem nervigen Jimmy gleichauf zu sein. Doch als würde dieser seinen Gedankengang erspüren, lächelte er belustigt: „Du? Mit mir gleichauf? Träum weiter, Jimmy! Wir wissen beide, dass das so schnell nicht passieren wird.“


    „Und warum nicht?!“, giftete Jimmy zurück und seine Fäuste ballte sich. Der andere Jimmy hingegen blieb seelenruhig an der Wand gelehnt, als bräuchte er rein gar nichts zu befürchten. Jimmy musste es im Stillen zugeben, dass er auch allen Grund dazu hatte. Wie sollte man auch etwas schlagen können, das nur in der eigenen Vorstellungskraft existierte.

    „Ich kann mir schon denken, dass du mich gern wegdenken würdest, aber so wie du gerade drauf bist, werde ich wohl eine Weile bleiben.“

    „Ich habe aber keine Lust, mit dir zu reden!“, rief Jimmy und wandte sich um. Doch wohin er auch blickte, er konnte sein Spiegelbild nicht mehr aus dem Kopf kriegen. Es hatte sich in sein Sichtfeld eingebrannt. Jetzt löste sich dieses Spiegelbild von der Wand und schritt an Jimmy vorbei. Als würde er die Aussicht auf etwas Anderes als Schnee und Grau genießen, blickte er milde lächelnd in die graue Weite.

    „Du kannst sagen und tun, was du willst, meine Worte wirst du dir trotzdem anhören müssen“, sagte dann der andere Jimmy mit leichtem Nachdruck. Und der echte Jimmy konnte dem nichts entgegen setzen. Tatsächlich wollte er es auch nicht. Zufrieden nickte der andere Jimmy, ohne sich umzuwenden.


    „Also …“, begann der andere Jimmy. „Wieso hast du bei Lucy gezögert?“

    Jimmy erwiderte nichts. Wenn sein Doppelgänger wusste, was er fühlte und dachte, dann brauchte er nicht zu antworten. Doch dieser schüttelte den Kopf: „Ich kann dir nur helfen, wenn du es selber nochmal laut aussprichst, Jimmy. Noch einmal: Warum hast du bei Lucy gezögert, obwohl ihr Leben auf dem Spiel steht?“

    „Ich …“, begann Jimmy, doch seine Antwort wehte im Wind davon. Erwartungsvoll blickte ihn sein Doppelgänger an: „Ich warte.“

    Jimmy blieb der Mund verschlossen, denn ihm fiel keine richtige Antwort ein. Und um den Ganzen noch die Krone aufzusetzen, seufzte der andere Jimmy enttäuscht.

    „Aufgrund deiner Lage fällt es mir selber gerade schwer, ein komplettes Bild zu zeichnen, doch ich scheine dich zumindest daran erinnern zu können, dass es nicht das erste Mal ist, dass du wen zu enttäuschen glaubst, oder?“

    Jimmy blickte eine Weile ihn mit ausdruckslosem Gesicht an.

    „Ich kann mich zwar immer noch nicht erinnern … aber ich denke, du hast Recht …“, gab er dann kleinlaut zu. Der andere Jimmy machte eine Geste mit der Hand und bat damit um mehr Informationen. Jimmy seufzte und horchte in sich hinein.


    „Ich habe das Gefühl, als hätte ich vorher schon bestimmte Erwartungen nicht erfüllen können. Und andere wären von mir enttäuscht gewesen …“

    „Und was hat es mit dir gemacht?“

    „Na, was wohl?“, fluchte Jimmy vor sich hin. „Das hat mir zu denken gegeben!“

    „Aber warum? Und über was denkst du?“, fragte der andere Jimmy in gespielt ahnungslosen Ton. An der Schläfe des echten Jimmy pochte eine Ader: „Wenn du ich bist, dann weißt du das ganz genau!“


    Der andere verdrehte die Augen und trat so dicht an Jimmy heran, dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Eindringlich blickte der andere Jimmy dem echten ins Gesicht: „Ich will, dass du es dir selber laut sagst!“

    Nur zu gern hätte Jimmy seinem Gegenüber eine verpasst, doch als dieser sich wieder entfernte, fühlte er sich auf einmal alleine und zurückgelassen. Selbst sein imaginäres Ich scheute ihn. So schlimm also war es um ihn bestellt, dass er sich selber zu meiden schien.

    „Ich …“, sagte Jimmy zittrig und kämpfte gegen den Strom an Tränen, der sich in seinen Augen aufbaute. „Ich … bin … absolut nutzlos und … andere … übersehen mich einfach … oder schätzen mich nicht wert … wie ich es gerade erlebt habe …“


    Er stockte und wandte sich ab in der Hoffnung, der andere Jimmy würde es nicht sehen, wie er schluchzend und schniefend die Tränen wegwischte. Doch er wusste, dass dies wenig Zweck hatte. Eine lange Pause verging, in der der eisige Wind hart gegen die feuchten Stellen in Jimmys Gesicht schlug und diese fast augenblicklich gefrieren ließ. Dann meldete sich langsam der Andere zu Wort: „Ist es das, was du bist … oder ist es das, wie du fühlst?“

    „Was?“, fragte Jimmy perplex und drehte sich wieder um. Er betrachtete das ausdruckslose Gesicht des Anderen, der ihn stumm musterte, doch er sollte mit der Sprache rausrücken, wenn er doch hier war, um ihn zu nerven.

    „Was meinst du damit?“, wiederholte Jimmy fahrig. „Ist doch beides das Gleiche!“


    „Das glaubst du wirklich?“, entgegnete der Andere langsam und ein mitleidiges Lächeln spielte sich um seine Lippen. Der Flammenwurf von Jimmy schoss direkt durch ihn hindurch, ohne dass irgendeine Brandspur zu erkennen war. Er hätte es sich denken können, doch Jimmy wollte den anderen für dieses eine Lächeln, das er so oft schon gesehen hatte, eine verpassen. In dem Moment schob sich ein Bild in seine Erinnerung: Ein riesiges Impergator mit blauem Kamm, das ihn argwöhnisch anblickte. Und er hörte sich selbst etwas rufen, auch wenn die Worte klangen, als würden sie im Wasser ausgesprochen werden: Und wenn … benutzen … es gibt … und mich!


    Was war das nur für eine Erinnerung und wieso fühlte sich diese so an, als wäre sie keine zwei Wochen alt? Doch Jimmy konnte sich nachwievor nicht an mehr erinnern. Dies schien auch der andere zu bemerken, der ihn aufmerksam musterte: „Dieses Bild nervt dich, oder?“

    „Ach!“, winkte Jimmy wütend ab. Er brauchte nicht nochmal die Bestätigung, dass andere ihn als schwach und nutzlos ansahen, doch damit wollte sich der andere Jimmy nicht zufrieden geben: „Bleib bei dem Bild und sag es mir: Bist du nutzlos oder fühlst du dich nutzlos? Denn du weißt es genauso wie ich – weil ich du bin und du ich bist -, dass da ein himmelweiter Unterschied liegt!“


    „Und wenn schon!“, rief Jimmy laut, dass er sogar den heulenden Wind übertönte: „Dann trifft es dennoch auf jeden Fall zu, dass ich schwach und nutzlos bin, für andere eine Last! Ich bekomme es nicht mal fertig … jemandes Leben zu retten … wenn ich doch der einzige bin … der es …“, und Jimmys Stimme verzagte. Er sank auf den Boden und umschlang mit seinen Armen seine Knie. In diesem Moment lag Lucy inmitten der Höhle, gegen Qualen kämpfend, und er saß nun draußen in der Kälte und machte sich Vorwürfe. Auch der andere Jimmy schüttelte den Kopf: „Wow … du hast wirklich ein Problem, und zwar mit dir selbst … Das ist dir klar, oder?“


    Eine lange Zeit verging, in der keiner von beiden ein Wort sagte. Auch der andere Jimmy ging vor dem echten in die Hocke und sah ihn lange und nachdenklich an. Dann war er auch, der das Schweigen zwischen ihnen wieder brach: „Sei ehrlich, Jimmy: Wieso hast du bei Lucy gezögert?“

    Dieses Mal horchte Jimmy in sich hinein und obwohl er mehrere Dinge als unangenehm, sogar recht bedrückend empfand, schaffte er es doch, eine Antwort zu formulieren:

    „Was wäre … wenn ich diese eine Aufgabe ebenso vermassle? Wenn ich irgendetwas falsch mache, wenn ich mein Feuer zu lange darauf halte oder zu wenig? Lucy wäre im Grunde genauso, vielleicht auch schlechter dran als zuvor. Vermutlich würde ich sie sogar umbringen, wenn ich es vermasseln würde. Und ich kann … ich will das nicht auf mich nehmen. Doch nun liegt sie darin und ist fast schon am Sterben! Und ich sitze hier und mache mir Vorwürfe darüber, dass ich sie nicht vorher von ihrem Leiden erlöse! Wie würdest du dich fühlen? Kannst du so einfach die Angst vor dem Versagen vergessen, wenn so viel auf dem Spiel steht, soviel von dir allein abhängt? Das ist … einfach zu viel Druck … und ich komme damit nicht zurecht. Und ich weiß keinen Ausweg daraus! Wie gehst du damit um? Hallo?“


    Jimmy blickte auf und musste verdutzt und auch mit Entsetzen feststellen, dass sein anderes Ich verschwunden war. Hektisch blickte er sich um, doch dieses schien zurück in das Reich seines Unterbewusstseins zurückgekehrt zu sein. Es hatte die Antwort, die es wollte, und offenbar schien er nicht dabei sein zu wollen, wenn Jimmy deswegen fast einen Nervenzusammenbruch hatte.

    „Ganz ehrlich …“, flüsterte Jimmy dann besiegt, „ich kann es dir nicht verübeln … ich würde auch nicht länger mit jemanden wie mir abhängen …“


    Und Jimmy gab sich seinem Leiden hin, während der Wind umso erbarmungsloser auf ihn einschlug.

    Part IV: Die Eishöhle


    Obwohl der Wind den Schnee von der Seite hart gegen sein Gesicht schlug und laut heulte, hörte Jimmy das Keuchen, das Lucy bei der Belastung ihres verletzten Beines von sich stieß. Sie schleppten sich einen steilen Weg hinauf, der von rauen und zerklüfteten Felswänden gesäumt war. Lucy hatte diesen Weg im Schneegestöber des Blizzards erspüren können und Jimmy konnte nachwievor nur über ihr Gespür staunen. Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass er ohne Lucy niemals so weit gekommen wäre geschweige jetzt noch leben würde. Ob in der Schädelwüste oder in der Firntundra, allein wäre er aufgeschmissen gewesen. Nicht einmal diese Wölfe, die vollkommen aus Eis bestanden, hatte er nicht wirklich besiegen können. Und weil Lucy ihn vor ihnen retten musste, hatte sie sich diese Verletzung zugezogen, die ihr Bein nun plagte.


    Als würde sie seinen Gedanken spüren, blickte Lucy, die behutsam auftrat, ihn streng von der Seite an. Jimmy zweifelte, dass sie ihre Warnung, er sollte sich keine solchen Schuldgefühle machen, zum gefühlt zehnten Mal wiederholen würde. Sie hatte bei den neun Malen davor immer recht überzeugend gewirkt. Und doch, wenn sie sich schweigsam und gegen den fiesesten aller Schneestürme ihren Weg durch die Tundra suchten, waren es wieder Jimmys eigene Gedanken, die seine Unzulänglichkeiten zu Tage brachten. Wieso auch hatte er sich dazu bereit erklärt, Lucy in so ein feindliches Gebiet zu folgen, wenn er alles andere als stark und groß war? Es wunderte ihn schon, dass der starke Wind ihn nicht längst fortgetragen hatte. Aber vermutlich wäre er irgendwo anders in der Firntundra gelandet und hätte auch dann wieder seine Erinnerung verloren.


    Jimmy blieb stehen und dachte zurück. Lucy hatte ihn, halb vergraben im Sand, in der Schädelwüste ohnmächtig vorgefunden. Jimmy versuchte es erneut angestrengt. Doch nur ein dichter Nebel zog sich durch seine Erinnerung. Er hatte immer noch keinen blassen Schimmer, wie und warum um alles in der Welt er sich in der Schädelwüste befunden hatte. Es war, als wäre sein Leben vor dem Zeitpunkt, an dem Lucy ihn gefunden hatte, wie weggewischt. Nur unscharfe Restspuren zogen sich durch seinen Kopf. Beim ersten Versuch sich zu erinnern, hatte Jimmy einen großen Raum und zwei große Bretter hingen jeweils zur Linken und Rechten neben einer hölzernen Treppe gesehen. Beim zweiten Mal, als Jimmy nach dem Schlangenpass und einer eher unangenehmen Begegnung mit Garados aufatmen konnte, war eine Art Dschungel und eine furchterregende Fratze aus Blättern in seinen Erinnerungen aufgeblitzt. Doch bei beiden konnte er sich keinen Reim darauf machen, wo und wann er diese Bilder je gesehen haben sollte.


    Lucys Stimme erklang dicht an sein Ohr und Jimmy schreckte aus seinen Gedanken hoch. Er blickte zu ihr auf und bemerkte, wie sie ihn mit sorgenvollem Blick ansah.

    „Es wird schon …“, sagte er matt und im Versuch, zuversichtlich zu klingen. Er warf einen Blick auf Lucys Bein, über dass sich dunkelrote Strähnen zogen.

    „Wie geht es dir mit dem Bein?“

    „Unverändert aber erträglich …“, entgegnete Lucy knapp und ließ ihren Blick von Jimmy nicht ab. Dann aber wandte sie sich dem Weg nach vorne zu. Er begann nun ebener zu werden und die Felswände bauten sich nun vor ihnen in die Höhe auf. Wie eine Mauer aus dunkelgrauem rauen Gestein versperrten sie den Weg und Jimmy fragte sich bestürzt, ob sie in eine Sackgasse geraten waren. Doch Lucy blieb ruhig und schloss ihre Augen. Von ihren spitzen Ohren stemmten sich jeweils zwei schwarze längliche Auswüchse in die Luft und blieben trotz des starken Windes starr. Sie ließ gerade wieder ihre Aura in die Umgebung fahren, stellte Jimmy fest. So ganz verstanden hatte er es immer noch nicht, was es mit dieser auf sich hatte. Lucy hatte sich bemüht, ihm in einer Pause zu erklären, wie sie über ihre Aura mit der Welt verbunden war. Doch es war eine ziemlich bildhafte Erklärung gewesen, die Jimmy mit seinem Denkvermögen nicht direkt verstehen konnte. Was er aber verstanden hatte war, dass Lucy aufgrund dieser Aura nicht zu unterschätzen war. Sie war gerade mal doppelt so groß wie er und hatte an sich eher zierliche Proportionen. Dennoch schaffte sie es, sowohl sehr schnell zu sein als auch kräftige Schläge austeilen zu können. Mit bloßer Hand hatte sie einem Gengar namens Shadow ein blaues Auge verpassen können, dabei gingen physische Angriffe durch Geister-Pokémon hindurch, als wären sie gar nicht erst an Ort und Stelle. Bei dem Gedanken an das Gengar, das Lucys Aussage zufolge ein entflohener Verbrecher war, erinnerte sich Jimmy an die zwei Namen, die dieses genannt hatte: Max und Ironhard.

    Zwar hatte Jimmy das Gefühl, dass er die Namen irgendwo schon einmal gehört hatte, doch für sich konnte er sich nicht vorstellen, dass er mit zwei Pokémon befreundet war, die diese Namen trugen. Bestimmt suchten sie einen anderen Jimmy, denn dieser Name ist auch nicht gerade der seltenste. Auch Max klang eher wie ein Name, den es bestimmt in Hülle und Fülle auf der Welt gab. Dennoch versuchte Jimmy sich vorzustellen, welche Art von Pokémon hinter diesen beiden Namen jeweils zu stecken vermag. Doch es war gerade nicht der passende Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen, denn jäh peitschte ihm der Wind von der Seite ins Gesicht, sodass Jimmy taumelte.


    Gerade in dem Moment wandte sich Lucy ihm zu und wies mit einer schwarzen Pfote zu einem schmaleren Weg rechts von ihnen, der dicht an einer Felswand entlang lief. Während sie sich vorsichtig an diesem entlangtasteten, traute sich Jimmy nicht nach unten zu blicken. Recht steil ging es hinab und weiße Schleier wehenden Schnees verdeckten sie Sicht auf das, was unter ihnen lag. Doch Jimmy konnte noch die scharfen Spitzen mehrerer Felsen ausmachen. Seine Sorge galt auch Lucy, da sie es mit ihrem Bein schwerer hatte. Doch sie vollbrachte es zu seiner Überraschung und Bewunderung, sich im Gleichgewicht auf dem Weg zu halten, während der Wind an Jimmys Körper zog. Jimmy stieß in Gedanken ein Stoßgebet zum Himmel, dass er nicht schon wieder von Lucy gerettet werden muss, wenn er tatsächlich in den weißgrauen Abgrund unter ihnen gezogen werden würde.


    Tatsächlich aber schaffte auch er es und er war froh, dass sie auf einem breiteren Vorsprung angekommen waren. Mit einem Blick zur Felswand stellte er fest, dass Lucy ihn zu dem Eingang einer Höhle geführt hatte, deren Mund wie ein klaffendes Loch wirkte und tief in den Berg zu führen schien. Froh über die Gelegenheit, endlich dem Wind und dem lauten Schneegestöber zu entkommen, traten Lucy und Jimmy in die Höhle ein.

    Nach den ersten Schritten schon merkte Jimmy, dass die Stille der Höhle genauso überwältigend auf ihn einwirkte wie das Getöse draußen. Während er dort nur vereinzelt Lucys Keuchen wahrnehmen konnte und gegen den lauten Wind fast brüllen musste, war es innerhalb der Höhle fast so, erschraken ihn fast den Klang ihrer Schritte, die in der Höhle von den Wänden widerhallten. Es war als würden mehrere Pokémon auf einmal eintreten und wild miteinander reden. Als Jimmy sich zu Lucy umwandte und meinte, dass dies ein idealer Ort zum Ausruhen wäre, fühlte er sich auch bestätigt, als Lucy sich auch schon an eine glatte Wand lehnte und langsam zu Boden glitt.


    Erst spät bemerkte Jimmy, dass Lucy dabei schwer atmete und ihre Augen geschlossen hielt, während sie ihr Gesicht verzog. Und plötzlich sackte sie auch zusammen, als wäre sie von Fäden getrennt, die sie vorher aufrecht hielten.

    „Lucy!“

    Jimmy war mit einem Satz bei ihr. Das blaue und schwarze Fell ihres Gesichts war etwas in seinen Farben verblasst und ihre Stirn glänzte vor lauter Schweiß. Schwach und zittrig fuhr Lucy an ihr Bein. Sie keuchte schmerzerfüllt auf und verzog erneut das Gesicht, als würde ihr Bein unerträgliche Qualen bereiten.

    „Du hast doch gesagt, die Schmerzen seien erträglich …“, sagte Jimmy mit zittriger Stimme. Lucy lächelte so schwach, dass es kaum zu erkennen war. Sie öffnete ihre roten Augen einen Spalt breit und blickte ihn mit einem schwachen Funkeln an: „Mit der Aura habe ich die meisten Schmerzen vorübergehend vertreiben können. Jetzt aber … ah Mist!“


    Ihr Atem wurde nun zu einem durchgehenden schmerzerfüllten Keuchen und mit flackerndem Blick begutachtete sie ihre Wunde. Jimmy konnte diese im trüben Licht, das durch den Höhleneingang fiel kaum erkennen. Sein Blick fiel auf die Tasche, die Lucy zuvor getragen und nun auf den Boden fallen gelassen hatte. Er griff in diese hinein und suchte etwas, das er auch direkt fand. Eine kleine Kugel aus Glas, deren Inneres schwach leuchtete.


    Den Leuchtorb ließ er mit einer kurzen Reibung hell aufleuchten, sodass die Höhle in ihren Details besser zu erkennen war. Zwar wären die Schichten von Eis, die von den Wänden und von der Decke glitzerten, sehr schön anzusehen gewesen, doch momentan war Lucys Bein von größerer Relevanz. Als Jimmy aber dann auf dieses hinabblickte, machte sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend breit. Innerhalb des Blizzards konnte er außer den Rinnsalen an Blut nicht die wahren Ausmaße der Wunde erkennen, die die Eiswölfe Lucy zugefügt hatten. Nun aber betrachtete er angewidert die klaffende Wunde, die sich quer über Lucys Oberschenkel zog. Fast wäre ein gutes Stück von Lucys Bein herausgebissen worden und Jimmy fragte sich, wieso sie nicht eher schon was gesagt hatte, wie schlimm es tatsächlich um ihr Bein bestellt war. Doch Lucy lächelte schwach, als Jimmy sie daraufhin ansprach:

    „Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Für gewöhnlich bin ich durch die Aura auch in der Lage, solche Bisswunden mit der Zeit zu heilen. Ich habe mir selber dabei nicht viel gedacht …“

    „Aber nun?“, fragte Jimmy, der allmählich daran zweifelte, ob die Aura wirklich so eine mächtige Sache war, dass sie gegen Sandstürme, Blizzards und etliche andere Dinge wappnen konnte. Doch erneut wirkte es so, als würde Lucy seinen Gedankengang erahnen. Vehement schüttelte sie den Kopf.

    „Diese Wunde …“, keuchte sie und ließ zwischen den Worten längere Pausen, „ist anders. Es ist … wie eine Art Gift, das sich langsam in meinem Körper ausbreitet …“

    „Dann …“, antwortete Jimmy und sein Blick fiel wieder auf die Tasche neben ihnen. Bestimmt gab es in dieser auch eine Art Gegengift. Abermals jedoch schüttelte Lucy den Kopf: „Das ist kein organisches Gift … mehr wie ein Fluch … und er breitet sich immer weiter aus …“

    Auf einen Blick von Jimmy hin fügte sie hinzu: „Und aus irgendeinem Grund kann ich ihn nicht mit der Aura beheben. Und ich weiß nicht … was sonst dagegen helfen kann …“.


    Sie stieß einen lauten Seufzer aus und drohte von der Wand wegzugleiten. Jimmy fing sie rechtzeitig auf und wollte sie wieder in eine angenehmere Sitzhaltung bringen. Doch Lucy wehrte sich und bedeutete ihm, dass er sie mit dem Rücken voran auf den Boden legen soll. Während Jimmy also damit beschäftigt war, betrachte Lucy unter Zittern ihre Wunde und ließ eine Pfote, von der ein bläulicher Schimmer ausging, knapp über diese wandern.

    „Dieselbe Signatur wie der Wind, der vom Lawinenberg kommt … derselbe Urheber …“, murmelte sie abwesend vor sich hin. Jimmy konnte sich nur ungefähr zusammenreimen, was sie meinte. Endlich schaffte er es, sie auf den Boden zu legen. Er leerte die Tasche aus, faltete sie zusammen und legte sie unter Lucys Kopf. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

    „Jimmy?“


    „Ja?“, sagte dieser, der sich über den zwar zittrigen, aber bestimmten Tonfall in ihrer Stimme wunderte.

    „Ich glaube, ich weiß, wie wir diesen Fluch doch beheben können … genauer, wie du ihn beheben kannst.“

    Etwas in ihrer Stimme klang danach, als würde Lucy zögern, diese Worte auszusprechen. Doch Jimmy achtete nicht drauf und fragte sich, wie er helfen könnte. Aufmerksam hörte er mit nervös pochendem Herzen ihr zu. Lucy fasste ihn mit ihrem Blick, so gut sie es mit halb geschlossenen Augen tun konnte. Dann deutete sie schwach mit zitternder Pfote auf die Wunde: „Siehst du es?“


    Auch wenn Jimmy nicht wohl danach war, so blickte er auf Lucys Bitte hin auf die Wunde. Außer glänzendem rot punktiertem Fleisch konnte er nicht viel erkennen. Dann aber erkannte ein ähnliches Glitzern wie das, das von den Wänden und von der Decke kam. Als er dann genauer hinblickte, erkannte er feine Strähnen von Eis, die sich durch das Fleisch zog.

    „Aber … wie …?“, wollte er von Lucy wissen, doch sie deutete ihm, dass er von nun an aufmerksam zuhören sollte.

    „Wie es scheint …“, begann sie mit schwacher Stimme, „ist der Fluch vom Attribut Eis. Solange dieser in meinem Bein bestehen bleibt, wird dieses weiterhin meinen ganzen Körper infizieren. Gegen sowas … ah verdammt, das tut weh … helfen dreierlei Dinge: Entweder der Urheber hebt den Fluch auf oder das Bein muss langsam in heißen Quellen behandelt werden. Wie du sehen kannst …“, und Lucy hielt inne, um offenbar eine Welle großen Schmerzes über sich ergehen zu lassen. Ihr Gesicht war vor Anstrengung fast bis zum Zerreißen gespannt. Dann atmete sie schwer und blickte Jimmy mit trübem Blick an: „Wie du sehen kannst, haben wir diese beiden Optionen nicht zur Hand. Mit dir aber steht die dritte Option zur Verfügung: Das Ausbrennen dieses eisigen Fluches!“


    Jimmy blickte sie verdutzt und musste erst das Ausmaß ihrer Worte verstehen. Dann stand er plötzlich auf und sah sie entsetzt an: „Nein!“

    „Jimmy …“, begann Lucy, doch Jimmy schüttelte energisch den Kopf: „Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben. Bist du sicher, dass deine Aura nichts dagegen tun kann?“

    „Ich hätte es längst getan, wenn sie dazu fähig wäre …“, entgegnete Lucy mit einem zuckendem Lächeln. „Aber es funktioniert nicht, solange dieser Fluch noch da ist.“

    „Und jetzt verlangst du von mir, dass ich dein Bein verbrenne?“, rief Jimmy fahrig und seine Finger zuckten nervös. Lucy legte eine Pause, in der sie eine neue Welle an Schmerz über sich ergehen ließ.

    „Ich verlange es nicht …“, sagte sie dann zittrig. „Ich bitte dich drum!“


    „Aber …“, wollte Jimmy protestieren, doch Lucy fasste ihn ins Auge: „Wenn du es nicht tust, wird sich der Fluch langsam und qualvoll in meinem restlichen Körper ausbreiten. Und höchstwahrscheinlich werde ich dann sterben dadurch …“

    „Aber wenn ich mein Feuer auf dein Bein anwende … ich meine, ich muss es ja recht lange draufhalten, damit das Eis verbrennt, nicht wahr?“

    „Zehn Sekunden sollten ausreichen …“, murmelte Lucy. „Je mehr Zeit verstreicht umso länger wirst du es müssen … also von daher wäre es sehr lieb von dir, wenn du jetzt-“

    „Aber Lucy!“, rief Jimmy dazwischen und seine Augen waren feucht vor Verzweiflung. „Wenn ich solange mein Feuer aus nächster Nähe darauf anwende, wird das dein Bein ungeheuer schaden!“

    „Im schlimmsten Fall verliere ich es …“, entgegnete Lucy mit trockener und rauer Stimme. Doch die schaffte es, schwach zu lächeln. „Aber es ist immer noch besser als zu sterben …“

    „Dennoch weiß ich nicht, ob ich das auf mich nehmen will … ich will dich nicht verletzen, nachdem du mir nicht nur einmal, sondern gleich zweimal das Leben gerettet hast.“

    „Und du würdest mir das Leben retten, wenn du diese Wunde ausbrennen würdest!“, rief Lucy harsch und Jimmy erschrak. Sofort besann sie sich zu einem ruhigen Ton.

    „Bitte verzeih mir … die Schmerzen sind ziemlich schlimm … aber dürfte ich dich darum bitten, wohlwissend was ich davon tragen würde?“

    „Ich … also …“, stammelte Jimmy und blickte von der Wunde in Lucys Gesicht und dann wieder zurück. Dann, sehr zögerlich, nickte er langsam und ein Lächeln breitete sich auf Lucys Gesicht aus.

    „Danke, Jimmy! Ich verspreche dir, ich werde es dir nicht nachtragen … warum sollte ich es auch, wenn ich deinetwegen am Leben bleiben werde?“


    Damit legte sie ihren Kopf zurück und Jimmy richtete sich zitternd auf. Er blickte nun direkt auf die Bisswunde herab und stellte sich vor, wie er diese mit einem Flammenwurf verbrennen würde. Jetzt schon widerte ihn die Vorstellung an, dass er einem Pokémon bewusst schaden würde. Doch Lucys Leben hing davon ab, auch wenn Jimmy das Gefühl nicht los wurde, dass es noch eine andere Lösung geben musste. Eine, die ihnen noch nicht eingefallen war.

    „Auf drei legst du los, ja?“, holte ihn Lucy aus seinen Gedanken ab. Jimmy nickte zaghaft und konzentrierte sich darauf, Energie sowohl in seinem Bauch als auch in seiner Lunge zu sammeln.

    „Eins!“, sagte Jimmy dann im Versuch, tapfer und entschlossen zu klingen und holte tief Luft. Sofort fühlte er, wie seine Lunge und sein Bauch sich aufblähten und ein Druck machte sich in beiden Organen breit.

    „Zwei!“, setzte Lucy fort und schloss die Augen fest zu. Die Krallen ihrer Pfoten bohrten sich tief in das Gestein unter ihnen. Jimmy ließ nun Energie in seine Organe fahren und er spürte das vertraute wärmende Gefühl, das sie erfüllte. Mit dem nächsten Ausatmer würde er nun Feuer freilassen.

    „Drei!“, rief Lucy dann laut aus und Jimmy selber machte sich darauf gefasst, dass von ihr ein langgezogener Schmerzensschrei kommen würde.


    Doch in dem Moment überkam ihn eine kalte Welle der Angst vor dieser Tat und er spürte sofort, wie das wärmende Gefühl erlosch. Nur kalte und feuchte Luft spie er aus und sein Ausatmer erlahmte innerhalb von Sekunden. Lucys Körper, der vor Anspannung wie erstarrt gewesen war, lockerte sich und sie sah ihn besorgt an. Jimmy versuchte, den Blick zu erwidern, doch seine Sicht verschwamm. Tränen füllten seine Augen und Jimmy spürte die bittere Enttäuschung in sich hochsteigen.

    „Ich kann es nicht …“, sagte er dann leise. In Lucys Blick lag kein Vorwurf, sondern etwas wie Mitleid und Mitgefühl. Und das waren nun Dinge, die Jimmy überhaupt nicht brauchen konnte. „Es tut mir leid, Lucy …“, sagte er noch tonlos und richtete sich auf. Lucy nickte ihm verständnisvoll zu und drehte sich von ihm weg. Er sah nur nur noch ihren Rücken vor sich. Offenbar wollte sie verhindern, dass er ihre Enttäuschung über ihn erblickte. Und in ihrer Nähe zu sein wurde in dem Moment unerträglich. Jimmy drehte sich um und schritt, ohne dass er sich dessen bewusst wurde, auf den Höhlenausgang zu.

    KLEINE ZWISCHENNOTIZ:


    Die Legende ist nicht wieder tot, ganz im Gegenteil. Fünf Teile (Material für 10 Wochen an Updates stehen in den Startlöchern) sind geschrieben ;)


    Ich war die Tage mehr beschäftigt, zum Einen alte Fehler in früheren Kapiteln auszubessern und auch an einer englischen Version zu arbeiten. Das und andere haben etwas das Updaten eingeschränkt.


    Teil 4 von Kapitel 19 wird morgen hochgeladen :)

    Und es wird eines der besonderen Momente dieses Arcs sein :)

    Ich wollte mich auch noch mal zu meinem Post im Feedback-Topic äußern :)

    Ich war zu dem Zeitpunkt was angespannt wegen Klausuren. _Jetzt bin ich gerade frei von diesen und habe daher was mehr

    Dem würde ich vehement widersprechen, weil es meinem Gefühl nach darauf hinausläuft, zu sagen, dass Menschen, die "nur" die entstandenen Geschichten oder Gedichte lesen und kommentieren, keine wirklichen Bereichsuser seien. Dabei sind gerade sie es, die die Motivation schaffen, überhaupt zu schreiben.

    Dem letzten Teil stimme ich ohne Weiteres zu; weil meine allererste Version unterstützendes Feedback bekommen hat, habe ich überhaupt erst das Schreiben zu meinem Hobby gemacht; ich habe es auch symbolisch auf meinen Arm tättowiert um mich daran zu erinnern, dass ich schreiben kann, dass ich die Ideen, und dass ich dann auch gut und unterhaltsam schreiben kann.


    Ich glaube, wenn man sich doch zu sehr in ein Hobby vertieft - und wenn um das eigene Selbstbild es nicht wirklich rosig bestellt ist -, gerät man doch in eine gewisse Abhängigkeit von Feedback und der Zweck des Schreibens verschiebt sich leicht. Das ist mir auch dann bewusst, weswegen ich auch zugebe, dass es mir unangenehm ist zu fragen x)

    Irgendwo bin ich auch da ehrgeizig, dass ich hoffe, irgendwann einen Stammleser zu finden, der es kaum erwarten kann, dass ich denn nächsten Part hochlade. Da muss ich wohl was geduldig bleiben und mich einfach darauf besinnen, dass ich meine Geschichte einfach erzählen kann; einfach auch, weil es mich entspannt und weil das Schreiben eine art Eskapismus von der (enttäuschenderen) Realität darstellt, die ich in Zeiten von Corona einfach wertschätze.

    Erst kürzlich habe ich (relativ spät) entdeckt, dass ein Kommentar in der Art auf Wunsch des FF-Autors gelöscht wurde, vermutlich weil er nicht als konstruktiv genug empfunden wurde.

    Selbst kleinste Einzeiler sind schon motivierend, finde ich; kommt nur drauf an, inwiefern Einzeiler die Beitragsregeln des Forums verletzen, und das im Fanfiction-Bereich. Ich persönlich fände es schön, auch da in den Austausch zu geraten, ganz gleich wie der Initiationspost ausfällt. Irgendwie ist es auch ein Zeichen des homo oeconomicus: Ich biete meine Ware (meine Geschichten) an, und es wäre natürlich in meinem Sinne wenn diese auf positive Resonanz stößt (und sei es auch nur ein Drücken des "Gefällt Mir"-Buttons). Wie gesagt: Das kleinste Anzeichen dafür, dass einem die Geschichte gefällt, kann der Funke für eine aufflammende Leidenschaft sein - wie es bei mir vor 10 Jahren der Fall war :)

    4) ist durchaus im Rahmen des Möglichen :p

    Ich würde eher auf 2) tippen; ich persönlich bin trotz aller Romantik nicht veranlagt, dauerhaft nur Liebesgedichte zu schreiben


    Sollte Aussage 2) doch stimmen, dann Hut ab ;)

    Bis dahin zweifel ich es mal an :)

    Hello :)
    Es ist mir eigentlich schon unangenehm zu fragen

    Steht immer noch xD

    Mittlerweile bin ich froh, dass ich mit meiner Legende weitergekommen bin als zuvor. Und die Ideen für kommende Arcs sind immer noch sehr präsent bzw. nehmen immer mehr Form und ich kann es kaum erwarten, dass ich zu diesen komme :D


    Aber ich irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Geschichte Die Legende des Dämons entweder nicht so gut ankommt oder halt die Zielgruppe hier doch kleiner bis kaum präsent ausfällt. Es ist schon was in der Euphorie ernüchternd, dass einfach kaum ... gar nicht ... Rückmeldung kam.


    Ich will daher einmal noch den Versuch wagen und hier anfragen, ob es vielleicht einen potenziellen Leser oder potenzielle Leserin gibt, die genauso ein Fan des "Mystery Dungeon"-Franchises ist und vielleicht auch Interesse hat, mein erdachtes Sequel zu "Erkundungsteam Zeit/Himmel/Dunkelheit" zu lesen.


    Joa, ich hoffe, wir lesen uns :D

    Part III: Die kleine Raupe


    Das wehklagende Geräusch wurde immer lauter, je weiter sie am Fuß des Hanges entlangliefen. Rose, Max und die anderen blickten immer wieder nach links und rechts. Zum einen waren sie sich sicher, dass sie weiterhin von irgendetwas Finsterem beobachtet wurden. Und zum anderen waren sie der Quelle des Klagens deutlich näher gekommen, denn nun war es so deutlich zu vernehmen, als würde es direkt neben ihnen sein.


    Doch wie oft sie sich auch umschauten, sie konnten kein Pokémon erkennen, weder ein Wildes noch eines, das so kläglich schluchzte. Doch es war sehr nah und Max glaubte, dass dieser Wald verwunschen sein musste, sodass sie dauerhaft von eisigen Gebilden und Phantomschluchzern heimgesucht wurden. Doch Rose schien nicht aufzugeben. Ihre geweiteten Augen funkelten und sie blickte sich immer wieder so schnell um, dass ihr Gesicht nicht mehr scharf zu erkennen war.

    „Schwärmt aus und sucht!“, sagte sie zu den anderen, die nur rumstanden und sich umblickten. „Vielleicht ist es irgendwo im Schnee begraben …“

    „Du kannst den Befehlston gleich mal sein lassen, ja?“, knirschte Vane. Rose warf ihm einen warnenden Blick zu: „Ein Wort noch und du kannst was…!“

    „Was wäre eigentlich, wenn all das nur eine Falle ist?“, rief Emil ein, ehe Roses Gesicht gänzlich rot vor Wut wurde. Sie blitzte ihn an, doch Emil ruckte mit ernster Miene nach hinten in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

    „Ich weiß nicht, wie es dir ergangen ist, doch ich glaube schon, dass wir von dieser Eule da hinten ziemlich eingehend betrachtet wurden.“

    „Du hast es auch gespürt?“, wandte sich Max an Emil, während er einen umliegenden schneebedeckten Busch inspizierte, in dem sich aber nichts versteckt hielt. Rose wollte aber von einer möglichen Falle nichts wissen, denn jäh wandte sie sich einem anderen Buschwerk zu und durchwühlte dieses mit bestimmter Vorsicht.


    Ein paar Minuten des erfolglosen Suchens verstrichen, dann sah Max, wie Shadow seltsam steif einen Baum nicht weit von der Gruppe anstarrte.

    „Was ist los, Boss?“, rief Vane, der dies ebenso bemerkt hatte. Shadow regte sich nicht, doch seine Stimme war konzentriert und ruhig, als er ihnen antwortete: „Da hinten … der schneebedeckte Baum, von dem mehrere Eiszapfen herunterhängen …“

    „Was ist damit?“, riefen Max und Rose ihm zu. Max klang gegen seinen Willen neugierig und er wusste, dass er jetzt nicht die Vorsicht fallen lassen durfte. Rose hingegen klang fast desinteressiert, als wollte sie sich nicht ohne guten Grund von der Suche nach dem Klagen abbringen lassen. Nun trat Shadow ein paar Schritte auf den Baum zu. Auch Max blickte diesen nun genauer an.


    Es war ein schaurig schöner Anblick. Auch wenn die schneebedeckten Zweige der Bäume um und über ihnen auf dem Hang den Himmel verdeckten und der untere Teil des Waldes daher im größeren Schatten verborgen lag, glitzerten die Eiszapfen, als würden sie von innen heraus angeleuchtet werden. Helles Licht flammte hinter Max auf und er sah, wie Emil einen Leuchtorb aus seinem Panzer hervorgeholt hatte. Das Licht wurde abermals von den kristallin wirkenden Eiszapfen und auch vom Schnee auf den Ästen widergespiegelt und es war, als würde ein Meer von Glitzer sich über dem Baum ergießen. Shadow war nun nach genug an den Baum herangetreten und seine schwarze Schattengestalt stellte in der glitzernden Szenerie einen starken Kontrast dar. Er ging vorsichtig unter den Eiszapfen einher und schien diese genauer zu untersuchen.


    „Ja, hier ist etwas!“, rief er begeistert und laut aus. Max spürte sofort, dass dies ein Fehler für ihn war. Etwas rauschte und klirrte und eine Sekunde später fielen sowohl Schnee als auch Eis auf Shadow herab. Vane und Emil erschraken laut und auch Rose blickte bestürzt und panisch auf. Sofort eilten sie zu Shadow und fürchteten um seinen Anblick, doch kurz darauf war Erleichterung in ihren Gesichtern abzulesen. Die Eiszapfen waren, so fest wie sie waren, direkt durch Shadows Schattenkörper hindurch gefallen. Einzig der Schnee lag wie eine weiße unförmige Wollmütze auf seinem Kopf. Nachdem der Schrecken abgeklungen war, kugelte sich Vane fast vor Lachen. Auch Rose atmete erleichtert auf, ehe sie wieder ernst wurde: „Wir haben keine Zeit für diese Albernheiten, Shadow!“

    „Als ob ich mich freiwillig bildlich von Eis durchlöchern und von Schnee begraben lassen würde …“, murrte Shadow verdrießlich und schüttelte sich den Schnee ab. „Tatsächlich habe ich was gefunden. Schaut mal, was jetzt noch als einziges am Baum hängt!“


    Sie traten näher an den Baum und betrachteten den nun einzigen Eiszapfen, der verblieben war. Erst beim genaueren Hinsehen konnte Max erkennen, dass er nicht glatt und spitz, sondern viele eisige Noppen besaß und stumpf war. Zumal schien dieser nicht vom Ast zu wachsen, sondern zu hängen. Eine dünne Schnur aus Eis führte vom oberen runden Ende nach oben. Fast hatte es den Anschein, als befände sich ein seltsames eisiges Pendel vor ihnen. Und nun, da sie diesem nahe standen, hörten sie das Wimmern klar und deutlich aus diesem herauskommen. Aufmerksam und skeptisch blickten sie dieses an.

    „Sagt mir nicht“, begann Emil langsam und sah ganz danach aus, als wollte er vorsichtig seine Kanonen ausfahren, „wir haben uns wegen diesem kleinen Ding hier Sorgen gemacht?“


    „Es sieht aus wie …“ antwortete Vane und hob eine stahlbesetzte Kralle. Bevor Max oder die anderen ihn aufhalten konnten, tippte Vane ein paar mal gegen den Eiszapfen. Sein Nagel verursachte ein Ticken, dass seltsam in der Stille widerhallte, die sie umgab. Und der Eiszapfen begann zu zittern. Mit einem Mal riss die dünne Schnur aus Eis und der Eiszapfen fiel wie ein Stein zu Boden. Rose schrie erschrocken auf und schaffte es noch rechtzeitig, ihn mit ihren Armen aufzufangen. Die obere Spitze schlug Risse und mit einem lauten Knall sprang der Eiszapfen an der Stelle auf. Max, Iro und Emil hoben die Arme, um sich vor den Splittern zu schützen. Sie blickten auf die freigelegte Stelle des Zapfens, der innendrin mit einem weißen Sekret gefüllt schien, die sich regte.


    „Wuäh … was ist das denn?“, stieß Vane angeekelt hervor und trat ein paar Schritte weg. Max fand, dass er in seiner Reaktion übertrieb, musste ihm aber Recht geben, dass es keinen angenehmen Anblick darstellte. Auch Rose schien drauf und dran, den Zapfen doch noch fallen zu lassen, als dann das Wimmern wieder laut aus diesem hervordrang. Rose blickte bestürzt die anderen an, die ihr ratlose Blicke zuwarfen. Sie räusperte sich und beugte sich vorsichtig zu dem Sekret herab: „Ähm … Hallo? Alles in Ordnung?“


    Das Wimmern erstarb mit einem Schlag. Das Sekret begann zu pulsieren und anzusteigen. Es träufelte über den Rand und rann über Roses Hufe. Sie schauerte und verzog angeekelt das Gesicht, doch wollte oder konnte sie den schleimüberzogenen Zapfen nicht loslassen. Etwas festeres und weißes quoll nun aus diesem hervor und winzig kleine Füße waren zu erkennen, ehe sie vom weißen Körper verdeckt wurden. Das Wesen, das herauskam, hatte weiße und fettige Haut, die sich in Falten über den Rand des Eiszapfens schob. Max fand, dass es wie geschmolzene Eiscreme aussah, dessen schwarze Knopfaugen mit Sekret bedeckt waren. Es blinzelte mehrmals, um die Augen frei zu haben, und blickte sich mit seinen dicken und glänzenden Wangen um, bis es Rose erblickte, die es immer vor sich ausgestreckt in den Armen hielt. Es öffnete seinen Mund und prustete dabei Schleim in Roses Gesicht, „Mami?“


    Eine Zeit lang lag Stille zwischen ihnen. Das Wesen schaffte es, seine Augen frei vom Sekret zu bekommen, und blinzelte Rose mehrmals an. Die Augen weiteten sich vor Aufregung und das Wesen rief lauter und fröhlicher aus: „Mami! Mami! Du bist endlich gekommen!“

    „Äh…“, antworte Rose, die völlig perplex von dieser Ansprache war. Mit halb geöffnetem Mund starrte sie das Wesen an, das innerhalb seines Eiszapfens aufgeregt auf und ab zu hüpfen schien. Dann schüttelte Rose den Kopf, als ob sie sich endlich auf die sonderbare Situation eingestellt hatte: „Warte mal! Ich bin nicht deine Mutter!“


    „Aber Mami!“, rief das kleine Wesen hell auf, „du hast gesagt, dass du mich von hier abholen würdest, wenn du fertig bist …“,

    „Ich bin aber trotzdem nicht deine Mutter!“, wiederholte Rose bestimmt. Das kleine Wesen erstarrte und blickte Rose lange an. Sofort standen dem kleinen Wesen Tränen in den Augen, die in kleinen Eiskristallen zu Boden fielen. Rose blickte hilflos auf und die Fassungslosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Das kleine Wesen rief nun lauter aus: „Lass mich sofort runter!“

    „Ich muss wohl sehr bitten!“, entgegnete Rose aufgrund dieses Befehlston, doch das kleine Wesen zitterte nun erregt und schrie nun derartig laut, dass sich Max und die anderen die Ohren zuhalten mussten: „LASS MICH RUNTER! LASS MICH RUNTER, DU GEMEINES ETWAS!“

    Immer wieder plärrte es diese Aufforderung und mit jedem Mal wurde sein Schreien durchdringender.

    „Um Himmels Willen, Rose!“, rief Shadow über das Plärren hinweg. „Tu es schon!“


    Rose tat auch wohl nichts lieber als dieser Bitte Folge zu leisten, denn mit angewidertem Gesicht legte sie das kleine Wesen auf den Boden ab. Sofort hörte es auf zu schreien und blickte die anderen musternd an.

    „Keiner von euch ist meine Mami!“, stellte es dann laut und enttäuscht fest und versuchte, auf dem Boden zu krabbeln. Es schaffte es, sich ein paar Zentimeter nach vorne zu bewegen, dann blieb es stehen und zitterte erneut. Dann schrie es erneut derartig laut auf, dass sie sich alle wieder die Ohren zuhalten mussten: „MAMI! MAMI! WO BIST DU NUR?“


    Abermals blickten sich die Erkunder hilflos an und sie alle stellten sich dieselbe, das wusste Max: „Wo sind wir hier reingeraten?“

    Emil schien bald genug von dem Geplärre zu haben, Genervt ließ er eine Kanone ausfahren und schoss einen Hyperstrahl in die Luft, der laut in der Luft widerhallte. Doch das stellte sich bald als ein Fehler heraus. Es rauschte von oben und eine riesige Schneedecke fiel von den obenliegenden Ästen herab, die alle unter sich begrub. Max fühlte eine kalte Welle ihn von allen Seiten umfassen. Er wühlte sich mit halber Belustigung durch den Schnee und tauchte auf, als sich die anderen ebenso aus diesem wühlten. Sie blickten sich und lachten kurz über deren Schneehüte. Dann krabbelte auch das Wesen auch schon aus dem Schnee hervor.


    „Hörst du nun auf zu schreien?“, fuhr Emil es sofort an. Das Wesen blickte ihn mit wachsamen Augen an und ein finsteres Funkeln lag in ihnen: „Bist du ein Böser? Gehörst du zu denen, vor denen mich Mama gewarnt hat? Du hast mich fast zu Tode erschrocken, ich mag dich nicht! Gehört ihr alle dazu?“

    Und kaum hatte es die Worte gesagt, heulte das Wesen, das sich wie eine Raupe auf dem Schnee bewegte, erneut auf: „MAMI! MAMI! WO BIST DU NUR? ICH BIN ALLEIN VON FREMDEN UMGEBEN!“


    „Was machen wir nun?“, war Shadows Frage, während er sich mit zugehaltenen Ohren zu den anderen wandte. Max fand, dass dies eine durchaus berechtigte Frage. Zwar hatten sie ein Ziel, doch er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, ein solch hilfloses kleines Pokémon allein zu lassen. Es sah schließlich danach aus, als wäre dieses vollkommen hilflos. Den Gedanken hatte auch Rose, denn sie beugte sich zu der kleinen Raupe hinunter und sah ihr mit sorgenvoller Miene in deren Augen: „Wie lange bist du denn hier schon alleine, Kleines? Und wie heißt du?“

    Die Raupe beäugte sie argwöhnisch und Rose erhob daraufhin ihre Hufe, als würde sie sich ergeben: „Wir sind nicht gefährlich! Ich kann dir versichern, das wir dir nichts tun wollen!“

    „Ihr gehört also nicht zu den Bösen?“, fragte die Raupe skeptisch. Rose schüttelte lächelnd den Kopf.

    „Wie sehen diese Bösen denn aus?“, warf Vane ein.


    „Sie bestehen ganz aus Eis und haben einen ziemlich unheimlichen Blick! Deswegen habe ich mich auch in diesem Kokon versteckt!“, erklärte die Raupe aufgeregt. Die anderen wechselten Blicke.

    „Wir haben vorhin so ein Ding zerstört“, erklärte Shadow dann ohne Weiteres. Die Raupe machte große Augen. Sie wandte sich an Rose, die bestätigend nickte.

    „Dann seid ihr wohl nicht die Bösen, oder?“, fragte die Raupe abermals nach, dieses Mal aber lag etwas weniger Skepsis in ihrer Stimme.

    „Wir sind nur Erkunder, die zum Lawinenberg wollen“, erklärte Iro beiläufig. Max fand, dass sie nicht so offenherzig über ihr Reiseziel reden sollten, denn allmählich war er es leid, die Überraschung anderer bezüglich ihres Reiseziels zu sehen. Und wie erwartet machte auch die Raupe große Augen und wandte sich Iro zu: „Hey, da wollte auch Mami hin!“


    Das erstaunte dann Max. Er und Iro tauschten Blicke mit den anderen, die verdutzt dreinblickten.

    „Du sagst, deine Mutter ist zum Lawinenberg unterwegs?“, fragte Rose vorsichtig nach. Die Raupe murrte, als sie sich wieder mühselig umdrehen musste, doch sie war sofort wieder aufgeregt, als sie Rose antwortete: „Genau! Mami sagte mir, ich soll hier auf sie warten, während sie zum Lawinenberg gegangen ist. Das ist schon fünf Jahre her und langsam mache ich mir Sorgen, dass-“

    Fünf Jahre?!“, rief Rose entsetzt aus und stolperte nach hinten. Max drehte sich der Magen um. Instinktiv wusste er, was das zu bedeuten hatte, dass eine Mutter solange ihr Kind zurückließ. Und sie tat es bestimmt nicht freiwillig, dachte Max sich dabei. Dieselbe Reaktion sah er auch den anderen an, einzig Vane schüttelte mit schiefem Lächeln den Kopf: „Ich will nichts sagen, Kleine, aber … bist du sicher, dass deine Mama hierher zurückkommen wird?“

    „Sie hat es versprochen!“, rief die Raupe so laut, dass sie alle fast wieder die Ohren zuhalten mussten. Dann aber senkte sie betrübt den Blick und ein leises Schluchzen kam von ihr: „Es ist aber mittlerweile so lange her … Mami hat gesagt, dass sie nur kurz zum Lawinenberg gehen wollte. Ich habe das Gefühl, dass sie aufgehalten wurde … deswegen kann sie nicht zurück …“

    „Bist du sicher, dass es das ist?“, entgegnete Vane skeptisch und Max spürte in einem Anflug von Panik instinktiv, dass das Stolloss frei heraussprach ohne darauf zu achten, was er sagte.

    „Ich meine, nach fünf Jahren sollte es klar sein, dass deine Mama dich entweder verlassen hat oder get-“


    „Vane!“, rief Rose so scharf dazwischen, dass alle anderen zusammen zuckten. Vane, dem gerade sein Fehler bewusst wurde, verstummte schlagartig, doch die Raupe schien sich den Rest selbst zusammenzureimen. Ihre schleimüberzogene weiße Haut lief rosa an und mit vor Wut bebender Stimme wandte sie sich an Vane: „Meine Mami würde mich niemals im Stich lassen und getötet werden kann sie nicht! Sie ist dafür viel zu stark!“

    Vane ließ beschämt den Kopf sinken, dass er diese Worte angedeutet hatte. Max war froh, dass er nun daraus seine Lektion zog. Er selber war neugierig, was genau es mit der Mutter dieser Raupe auf sich hatte, doch bevor er fragen konnte, kam Rose ihm zuvor: „Was genau ist denn eigentlich passiert? Wieso musstest du dich überhaupt verstecken?“

    Die Raupe antwortete nicht direkt. Sie wandte ihren wütenden Blick von Vane ab und musterte jeden der Erkunder nochmal eindringlich. Sie entschied sich wohl, allen zu vertrauen, denn sie sprach nun ruhiger, aber Sorge und Angst mischten sich in ihrer Stimme:


    „Vor fünf Jahren hat Mami mich in diesen Wald gebracht. Sie wirkte ziemlich aufgeregt, da irgendetwas Böses und Mächtiges dieses Gebiet betreten hatte. Sie wollte so schnell es geht zum Wächter, um ihn dabei zu helfen, das Böse abzuwehren. Vorher aber hat sie mich eindringlich darum gebeten mich hier versteckt zu halten, bis sie wiederkommen würde. Und während sie weg und ich hier versteckte war, habe ich gespürt, wie diese bösen Dinger den Wald nach mir suchten. Ich konnte zwar nicht viel sehen, aber ab und an habe ich sie ziemlich nahe an meinem Baum scharren gehört. Ich hatte dermaßen Angst, dass sie mich erwischen würden. Ich wusste, dass ich sterben würde, wenn sie mich je finden würden! Und obwohl mir meine Mami fehlte und ich am liebsten geheult und nach ihr gerufen hätte, durfte ich keinen Mucks von mir geben!"


    Bei der Vorstellung, irgendwo zu verharren und zu hoffen, nicht von suchenden Feinden gefunden zu werden, überkam Max das Schaudern. Allein im Wald in so einem beengten Raum, nicht groß dazu fähig, sich zu bewegen. Und tagein und tagein bestand für die Raupe die Gefahr, doch noch entdeckt zu werden. Und das für fünf Jahre, die sich wahrscheinlich wie eine Ewigkeit angefühlt haben mussten. Jähes Mitleid stieg in Max auf und auch die anderen wirkten so, als wäre ihnen übel bei dem Gedanken.

    „Dann habe ich vor wenigen Stunden mitbekommen, wie diese Dinge aufgeregt sich entfernt hatten, und kurz darauf habe ich aus der Ferne Kampfgeräusche sowie Schreie gehört. Dann war es still und es war, als durfte ich endlich wieder einmal meine Stimme benutzen. Und dann habe ich es nicht mehr ausgehalten …“


    „Ja … das haben wir gehört …“, nickte Shadow langsam. Rose biss sich auf die Lippen und sah mit feuchten Augen das kleine Ding vor sich an. Iros Blick wirkte starr vor Anspannung und Entsetzen, die Max nur teilen konnte. Abermals wechselten sie Blicke, bis sich Rose dann wieder räusperte: „Es tut mir wirklich leid, was dir widerfahren ist, Kleines!“

    Sie hob einen Huf und wollte andächtig die Raupe streicheln, die erst zurückwich. Dann aber gestattete sie Rose es, dass sie ihre Stirn tätscheln ließ. Sofort brach die Raupe in Tränen aus: „Du streichelst mich genau wie Mami! Sie fehlt mir gerade unendlich!“


    Rose stoppte und ihr Mund verzog sich. Dann konnte sie ihre eigenen Tränen nicht zurückhalten und sie beugte sich hinunter, sodass sie die Raupe vorsichtig in den Arm nehmen konnte. Das Schluchzen beider hallte mehrfach zwischen den Bäumen wieder. Und je mehr es auf sie alle einwirkte, umso fieberhafter dachte Max nach. Dann, nach mehreren Minuten, lösten sich Rose und die Raupe voneinander und diese sprach unter Schniefen wieder zu allen anderen: „Ihr sagtet, ihr wolltet zum Lawinenberg?“

    Kaum, dass Shadow, Iro und Max bestätigend nickten, schüttelte sich die Raupe, um ihre Augen von den Tränen freizubekommen: „Dann nehmt mich bitte mit! Ich will erfahren, was aus Mami geworden bist! Und gegeben falls werde ich sie retten!“


    „Du … was?“, entgegnete Rose völlig baff und betrachte die Raupe mit großen Augen. Diese bentgegnete ihrem Blick: „Lass mich raten: Du hältst mich für klein, schwach und hilflos?“

    „Ist das nicht offensichtlich für alle?“, entgegnete Emil trocken. Auch Max kam nicht drum zuzugeben, dass die Raupe bisher nicht gerade einen Eindruck danach machte, dass sie allein zu irgendetwas imstande war. Doch die Raupe bebte und abermals lief vor Wut ihr weißer Kopf rosa an: „Ich kann trotzdem meine Mami retten! Einer von euch müsste mich nur tragen und mit zum Lawinenberg nehmen. Wäre das möglich?“


    „Ähm … nun …“, entgegnete Shadow, der sich belustigt an die anderen wandte: „Wäre von euch jemand bereit, den … nun ja … Babysitter zu spielen?“

    „Du denkst wirklich daran, dieses kleine Ding mitzunehmen, Boss?“, warf Vane mit Blick auf die Raupe skeptisch ein. „Es könnte gefährlich werden. Und wenn wir uns verteidigen müssen, laufen wir doch Gefahr, es dabei zu verletzen, wenn wir es mit uns herumtragen.“


    „Wenn sollte es wer sein, der sowieso gerade nicht groß kämpfen kann“, sagte Emil und Max entging nicht, dass er einen flüchtigen Blick auf Iro und dessen bandagierten rechten Arm geworfen hatte. Auch Iro schien dies gespürt zu haben, denn er schnaubte verächtlich über der diese Anmerkung, ohne Emil eines Blickes zu würdigen. Rose beugte sich vor und die Raupe blickte sie aufmerksam an.


    „Bist du dir sicher, dass du mit uns kommen willst? Gerne können wir dafür sorgen, dass du hier weiterhin gut versteckt bleibst und wir kommen wieder, sobald wir deine Mama gefunden haben. Denn wenn du mit uns mitkämst –“

    „Ich weiß, dass die Firntundra an sich schon gefährlich ist, doch …“, und ein Lächeln spielte sich über das Gesicht der Raupe, „ich kenne eine Abkürzung, die uns direkt zu dem Lawinenberg bringen kann. Und durch meine Mami weiß ich auch, wie man diesen Berg fast gefahrlos erklimmen kann!“

    Kleine Anmerkung:
    Die Kapitel werden von nun im 2-Wochen-Turnus hochgeladen. Ich bin meinem aktuellen Stand ziemlich nahe und ich will nicht in einen Upload-Zeitdruck geraten. Wir lesen uns in 2 Wochen wieder :)



    Part II: Schneeschleier


    Kaum hatte Rose den Nieser von sich gegeben, rauschte es über den Pokémon und ein Schauer von Schnee fiel von den Ästen der Bäume, die ihren schmalen Pfad flankierten, auf sie herab. Max spürte, wie eiskalt der Schnee auf seinen Kopf und auf seinen Schultern einwirkte, und er schüttelte sich daraufhin. Belustigt sah er, wie die anderen zunächst kleine Schneehügel wie weiße Hüte auf ihren Köpfen trugen, ehe auch sie sich schüttelten. Vane und Shadow schien dies sehr zu amüsieren und sie lachten laut auf. Kaum, dass sie ihren Fehler bemerkt hatten, fielen weitere Schneeschauer von höher gelegenen Ästen auf sie herab. Kurz darauf fanden sie ihre Füße im Schnee vergraben vor. Abermals lachten Vane und Shadow und und auch Max und Iro konnten sich das Grinsen nicht verkneifen.


    „Jetzt hört aber mal auf, bevor wir gänzlich begraben werden!“, sagte Rose im Versuch streng zu klingen, doch sie hatte es schwer, ihr Grinsen zu verkneifen. Emil blickte aufmerksam nach oben die dunkelgrünen und weiß punktierten Baumkronen.

    „Ganz schön empfindlich … Rose hat vielleicht Recht …“, murmelte er langsam und sein Blick wanderte weiter nach vorne in die Richtung des Waldes, den sie alle noch zu begehen hatten. Obwohl nicht viel an hellgrauem Himmel durch die Walddecke zu erkennen war, so half der Schnee, der sich sowohl auf dem Boden, an den Baumstämmen und auf den Zweigen häufte, dabei, dass der Weg relativ klar zu erkennen war. Die Konturen von Buschwerk und Vertiefungen hoben sich gerade noch so vom weichen Pfad ab, der ins fast unendliche Weiß des Waldes führte. Ein Ende oder ein Auflichten des Waldes war nicht zu erkennen, so stapften sie weiter durch den Schnee, wobei Vane und Shadow immer noch drucksten vor Lachen.


    Sie fragten sich, was sie noch erwarten mochte. An der Stelle konnten sie nur mutmaßen, da sie wahrscheinlich die Ersten nach sehr langer Zeit, wenn überhaupt, waren, die den Anfang der Firntundra betreten hatten. Max erinnerte sich an die Male, wo er mit Jimmy in die südlichen Polarkreise aufgebrochen war, um den Erkunder namens Scherox zu retten. Auf der Blizzardinsel angekommen hatten sie sich durch ein dichtes Schneetreiben kämpfen müssen, ehe sie in der darauffolgenden Gletscherhöhle relativ sicher waren. Bis sie es mit einem Eis- und Geist-Pokémon zu tun gehabt hatten. Unter der Maske eines freundlichen Gastgebers hatte dieser Geist ihn und Jimmy zu einer Eisskulptur einfrieren wollen, doch glücklicherweise war Jimmys Feuer in der Lage gewesen, sie davor zu bewahren. Auch das Scherox hatten sie letztlich befreien und von der Blizzardinsel fliehen können. Nie hatten sie dabei den Namen von diesem Erkunder erfahren, doch er hatte ihnen versprochen, dass er sich irgendwann dafür erkenntlich zeigen würde. Er hatte auch davon geredet, ein Ehrenmitglied des Erkunderverbandes gewesen zu sein. Nur war der Verband zu diesem Zeitpunkt aufgelöst gewesen, wie Plaudagei ihnen erzählt hatte. Der Verband war die erste Organisation gewesen, die das Erkunderwesen koordiniert hatte. Nun aber übernahm ein Parlament der Regierung die Regelung von Erkunder- und Gildenaktivitäten, während der Verband gänzlich in diesem verschwunden war. Seither hatten sie das Scherox nicht mehr gesehen und Max fragte sich in dem Moment, was aus ihm geworden war. Doch die Erinnerung an dieses Abenteuer mit Jimmy schmerzte ihn und er besann sich darauf, seine Aufmerksamkeit wieder dem vor sich zu widmen.


    Ihre Stimmen hallten leise von den Bäumen wieder und eine Stille umgab sie, die nur von dem Knirschen ihrer Schritte auf dem Schnee und ihren leisen Gesprächen unterbrochen wurde. Hin und wieder fiel, wenn sie näherkamen, Schnee von den Ästen entweder auf den Weg oder auf sie, doch lässig konnten sie ihn dann wieder abschütteln. Ein schweres näherkommendes Schlurfen hinter ihm verriet Max, dass Iro zu ihm aufschloss, sodass er etwas dicht neben Max ging.

    „Und?“, fragte der Alligator ihn. Max runzelte verwirrt die Stirn.

    „Was sagst du zu unseren Verbündeten?“, fragte Iro neugierig. Max drehte sich leicht um und sah den vier Pokémon dabei zu, wie sie einander Schnee zuwarfen und dabei freudige Mienen zogen. Ein schwaches Lächeln fuhr über Max‘ Lippen und Iro lächelte bei diesem Anblick.

    „Sie haben uns bisher sehr geholfen, nicht wahr?“, fragte Iro abermals. Max spürte, worauf sein Freund hinauswollte. Abermals warf er einen kurzen Blick nach hinten. Als Rose dann diesen erwiderte, blickte er verlegen nach vorne.

    Ohne das Team Sternenjäger wären sie tatsächlich aufgeschmissen gewesen und in der Wüste umgekommen. Doch Max konnte nicht vergessen, dass Shadow und Emil nachwievor gesuchte Verbrecher waren. Zwar fasste er mittlerweile etwas mehr Vertrauen zu ihnen, doch ganz könnte er es nicht, zumal ihm das Gespräch mit Emil nicht aus der Erinnerung verschwunden war. Was hatte er gemeint, dass Max sich immer für das Schlimmste bereit halten sollte.


    „Wer ist da?!“, schallte Emils Ruf durch die Luft wie ein Peitschenschlag und alle zuckten zusammen und wandten sich ihm um. Doch er hatte seinen Anblick angespannt und konzentriert auf einen Punkt hinter den Bäumen gerichtet und seine Kanonen waren geradewegs auf diesen gerichtet.

    „Zeig dich!“


    Sie wandten ihre Blicke um und versuchten, etwas durch die Bäume erspähen zu können. Doch außer schneeweißen Ästen, wo bei einigen in der Ferne der Schnee herabfiel, war nichts zu erkennen. Dann schob sich Emil durch das Gebüsch und verließ den Pfad, Vane und Shadow blickten ihm verdutzt hinterher, bis sie ihm nachsetzten. Rose blieb als Einzige des Teams zurück und wechselte unsichere Blicke mit dem Team Mystery. Und als sie gerade beschlossen hatte, auch zu ihren Kollegen aufzuschließen, kamen diese wieder langsam zu ihnen zurück gestapft. Von allen rieselte der Schnee von Kopf und Schultern.

    „Habt ihr was gefunden?“, erkundigte sich Max angespannt. Er ahnte, dass Emil sich seines Eindruckes sicher war und dass etwas sie alle durch die Äste hindurch beobachtet haben musste. Bevor Emil antworten konnte, wollte er es versuchen, etwas zu erspähen, doch da schüttelte das Turtok schon mit dem Kopf: „Als wir an der Stelle ankamen, wo ich etwas vermutet hatte, war nichts zu sehen. Und der Schnee wirkte auch, als hätte nichts ihn berührt.“

    „Du bist dir sicher?“, warf Rose nervös ein und Emil warf ihr einen verärgerten Blick zu: „Glaubst du etwa, ich könnte kleine Dinge aus größerer Entfernung nicht erspähen?“

    „Nein!“, erwiderte Rose rasch, da ihr gerade bewusst wurde, was Emil so ärgerte. „Vielleicht aber war es nur ein Tier oder dergleichen, das du gesehen hast …“

    „Ich bin sicher, dass ich eine Pokémon-Gestalt gesehen habe“, wiederholte Emil zwar ruhiger, aber mit Nachdruck. Er wandte sich Max und Iro zu: „Ihr habt nichts gesehen oder?“


    Sie beide schüttelten den Kopf. Emils Blick verfinsterte sich. Die Möglichkeit, dass er als Scharfschütze sich eine Erscheinung eingebildet haben könnte, schien bei ihm nicht gerade auf Liebe zu stoßen, schloss Max. Abermals ließ er seinen Blick zu der Stelle gleiten, an der Emil etwas erspäht haben wollte. Wenn da etwas gewesen wäre, so hätte es sich schnell und lautlos davongeschlichen, bevor es wirklich entdeckt werden konnte. Und dieser Gedanke behagte Max nicht und auch ihm kam das Gefühl über, dass etwas Bedrohliches im Wald lauern könnte.


    Wortlos gingen sie weiter, während ihre Blicke immer wieder nach links und rechts schweiften, um etwas zwischen den Bäumen zu erkennen, das ihnen bedrohlich sein könnte. Sie sorgten selbst dafür, dass sie den ganzen Weg lang angespannt waren, denn Emil murrte immer noch, dass er es sich nicht eingebildet hatte, und die anderen glaubten ihm. Doch alles blieb unheimlich ruhig und Emil gab auch keinen Ruf mehr darüber, dass er noch etwas erspäht hatte.

    Auf einmal dann spürte Max eine seltsame Eingebung, worauf er innehielt. Die anderen blieben daraufhin ebenso stehen und blickten verdutzt Max an.

    „Was gesehen?“, kam es sofort von Emil, der sich rasch umblickte. Doch Max hielt eine Hand hoch und bat um Ruhe. Dann hörte er es oberhalb in den Bäumen. Das leiseste Schlagen von Flügeln, das er je gehört hatte. Und das Landen zweier Füße auf einen Ast, von dem etwas Schnee auf den Boden fiel. Sofort hatte Emil sich in die Richtung gedreht und einen starken Schwall an Wasser abgefeuert, bevor die anderen ihn aufhalten konnten. Laut durch die Luft rauschend schoss es in die Höhe und befreite dabei Zweige und Äste von ihrem Schneebefall. Dann hörten sie, wie es gegen etwas klatschte und wie darauf ein seltsam verzerrtes Krachen und Knacken zu spüren. Dann fiel aus der Höhe etwas Großes herunter. Max konnte nicht bestimmen, was es war, denn der Körper lag im Schatten verborgen. Doch er fiel wie ein Stein zu Boden, dem ein unregelmäßiges und immer leiser werdendes Rascheln folgte. Schockiert starrten sie an die Stelle, wo der Körper zu Boden gefallen war. Auch Emil wirkte entsetzt darüber, welchen Effekt seinen Schuss hatte.

    „Oh nein …“, hauchte Rose bange aus und spurtete nach vorne. Auch die anderen folgten ihr direkt.


    Max wusste, dass Emil es nicht beabsichtigt hatte. Kaum, dass er an der Stelle angekommen war, wo der Körper heruntergefallen war, blickte er sich um und sah sofort, dass er einen Hang heruntergerollt war, der sich vor ihnen in die Tiefe erstreckte. Max und Rose warfen sich vorsichtige Blicke zu, ehe sie den anderen vorausgingen. Auch der Hang war mit dichtem Schnee bedeckt und hin und wieder wären sie beinahe über Wurzeln und großen Holzstücken gestolpert, die über dem Boden ragten. Doch sie schafften es, ohne Unfall unten anzukommen. Eilig und in leichter Panik blickten Max und Rose sich um.

    „Sucht nach einem Körper, der hier nicht hinzugehören scheint!“, befahl Rose in ihrer Eile den Umstehenden. Emil, der starr vor sich hinblickte, nickte kurz angebunden und sie schwärmten aus. Doch nach nur wenigen Augenblicken war es Vane, der laut den anderen zurief: „Hier! Ich hab‘ was gefunden!“


    „Ist es verletzt?“, rief Rose hektisch zurück und stolperte fast zu dem Stolloss hinüber. Er aber zuckte nur lässig mit den Schultern und bückte sich, um etwas vom Boden aufzuheben.

    „Um Himmels willen, Vane!“, rief Rose schockiert aus. „Was, wenn es sich bei dem Sturz die Knochen gebrochen hat?“

    Wenn es welche hat“, kommentierte Vane, der beide Arme zu Boden führte und etwas packte. Als Rose eine verwirrte und trotzige Reaktion geben wollte, hob er das Etwas in die Luft, sodass alle es sehen konnten. Rose verstummte augenblicklich und starrte das Ding an, dass Stolloss hochhielt: „Was ist das?“


    Es hatte Ähnlichkeiten mit einer Eule, die in allen Details gänzlich aus Eis zu bestehen schien. Es hatte seine eisigen Flügel ausgebreitet, die an den Spitzen abgebrochen waren. Max hatte keinen Zweifel, dass es das Wesen war, dass sie zuvor gehört hatten. Er hörte Emil hinter sich erleichtert aufatmen, Shadow hingegen beäugte die Eiseule argwöhnisch: „Sicher, dass es das Ding war? Es sieht ziemlich … unlebendig aus …“

    Doch kaum hatte Shadow diese Worte gesagt, leuchteten die Augen der Eule in einem geisterhaften Rot auf. Als die Eule dann auch anfing, sich zu regen, ließ Vane sie überrascht los und prompt fiel die Eule zu Boden. Sie stieß einen gellenden Pfiff aus, ihr Körper bekam Risse, dann zersplitterte sie in tausend Eiskristalle, die wie Regen zu Boden fielen. Sprachlos blickten die Erkunder auf die Stelle, auf der die Splitter wie Glitzer funkelten, und dann einander an.

    „Was war das?“, wollte Emil, der etwas verstört aussah, von den anderen wissen. Doch genauso hätte er fragen können, ob die Firntundra je auftauen würde.


    Max wurde das Gefühl nicht los, dass etwas Bedrohliches von dieser Eule ausgegangen war. Das aufgeleuchtete Rot war derartig durchdringend, dass Max gespürt hatte, wie ein fremdes Augenpaar sie allesamt gemustert hatte. Er blickte sich um und prüfte, ob sie von irgendwo beobachtet wurden. Doch er konnte nichts ausmachen und das Gefühl verschwand nicht. Dafür aber geriet etwas Anderes in sein Konzentrationsfeld. Weil die anderen relativ laut tuschelten, musste er ihnen wild gestikulieren, damit sie still waren.

    „Was ist los?“, rief Iro gereizt, der ungern zum Schweigen gebracht wurde. Doch Max hielt eine Hand hoch und bat abermals um Ruhe.

    „Hört doch …“, bat er die anderen und sie lauschten angestrengt in den Wald hinein. Ein klägliches Wimmern, das kaum zu vernehmen war, drang an ihre Ohren. Sofort stieg Mitleid in Max hoch und er blickte sich um nach der Richtung, aus der das Wimmern kam.


    „Dort lang!“, rief dann Rose aus und war dann als Erste in die Richtung unterwegs. Die anderen folgten ihr sofort.


    19

    Ewiger Winter


    Part I: Lucy


    Als Erkunderin der Glacial Hearth-Gilde war Lucy eigentlich daran gewohnt, dauerhaft im Schnee und in der Kälte unterwegs zu sein. Doch die Firntundra war zum einen ein Ort, der wie die Schädelwüste anders war. In dieser Tundrawaren die Winde, wenn sie aufkamen, schärfer und stärker und so wie es mit Sandstürmen in der Schädelwüste der Fall war, so wirbelten große Massen an festem Schnee und Eiskristallen auf, die nicht weniger als der raue Sand die Körper überfielen. Auch dann war es, als würden hunderte von kleinen Bissen diesen Körper angreifen, bis es dann dankenswerter Weise wieder vorbei war.


    Einmal mehr war Lucy doch froh, dass sie das Grab im Sand, wie die Erkunder der Red Scorpion-Gilde es nannten, verlassen und nun ein Gebiet betreten hatten, mit dessen Natur Lucy einen Heimvorteil hatte. Im Vergleich zu diesen harschen Winden, die ihr peitschend und bitterkalt ins Gesicht flogen, stellten die südlichen Polar-Inseln ein tropisches Paradies dar. Das Gebiet um die Blizzard-Inseln, in deren Nähe Glacial Hearth seit fast zwei Jahren ihren Standort hatte, war gesegnet von Schnee, der im Vergleich zu dem der Firntundra so weich wie Sand am Strand war. Und in diesem schien die Sonne, während sie über der Firntundra sich eher hinter hellen bis grauen Wolken versteckte.

    Die Sicht war auch alles andere als klar. In der Ferne setzte der Wind sein Schneegestöber fort und Lucy konnte nicht weiter als ein paar Meter nach vorne sehen. Doch der Aufenthalt in der Schädelwüste und das Passieren des Schlangenpasses hätte sie eigentlich darauf vorbereiten müssen. Entweder verlor man nach einem Sandsturm die Orientierung oder unerwartete Angriffe aus dem Nebel machten aus dem Aufenthalt auf dem Pass einen eher kurzen. Nun war der Weg verborgen unter einem dauerhaften Winter-Unwetter.


    Doch Lucy redete sich ein, dass dies nur eine weitere Prüfung auf dem Weg zum Lawinenberg war. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass der Wächter des Berges für diese Hindernisse verantwortlich war. Wie genau wusste sie in dem Moment nicht, vor allem was die sonderbare Beschaffenheit der Schädelwüste betraf. Sie glaubte zuerst, dass auf jeden Fall dieses Schneetreiben dessen Werk sein musste. Als Wächter sah er den Lawinenberg bestimmt als sein Refugium und Heiligtum an, zu dem nicht jeder Zutritt erhalten dürfte. All diese Hindernisse wären nur eine Prüfung, um sich letztlich als würdig zu erweisen, den Berg zu erklimmen und dem Wächter gegenüberzustehen. Doch Lucy dachte an jene Garados, die in Schockstarre aus dem Wasser am Schlangenpass herausragten. Es passte nicht zu der Legende, die sie über die Wächter gehört hatte. Die Wächter sollten, gemäß der Legende, das Gleichgewicht der Natur bewahren. Doch wieso würde es sich ein Wächter zur Aufgabe machen wollen, eine Schar wütender Garados einzufrieren?


    Lucy schüttelte den Kopf und schob sich behutsam und mit vorsichtigen Schritten durch die Schneefelder, die sich sowohl vor ihr als auch hinter ins scheinbar Unendliche erstreckten. Das kleine Stück Wald hatten sie vor einigen Stunden ungefähr verlassen. Ein Schauer, der nicht zu der Kälte um sie herum zu gehören schien, fuhr ihr über den Rücken.
    Ihre Schritte hatten in diesem Wald seltsamerweise aus allen Winkeln der dicht beieinanderstehenden Bäume widergehallt. Und sie war das Gefühl nicht losgeworden, dass irgendwer oder irgendwas sie dauerhaft beobachtet hatte. Sie hatte mehrmals ihre Gegend abgehorcht, doch die Anwesenheit eines anderen Pokémons war nicht auszumachen gewesen.

    In ihren Gedanken verloren schob Lucy ihr rechtes Bein etwas weiter als bisher nach vorne, um sich durch etwas dichterem Schnee zu bewegen. In dem Moment aber durchzog ein sprichwörtlich beißender Schmerz ihre rechte Hüfte, sodass sie jäh stehen blieb und schmerzerfüllt das Gesicht verzog.

    „Lucy, alles in Ordnung? Tut es noch weh?“, rief Jimmy hinter ihr.


    Lucy wandte sich ihm zu und senkte ihren Blick nach unten, da Jimmy nur halb so groß war wie sie. Sie begegnete dem großen Augen des Panflams, welches sorgenvoll sie anblickte.

    „Es wird schon wieder“, versuchte Lucy tapfer zu klingen, doch der beißende Schmerz ließ nicht nach und abermals verzog sie das Gesicht.. Sie blickte hinunter zu ihrer Hüfte, die von einem blauen Fell überzogen war. Doch dieses Blau war unterbrochen von dunkelroten Punkten, aus denen immer noch Rinnsale an Blut sickerten.

    Nur knapp hatten sie gemeinsam diese seltsamen Tiere aus Eis zerstören können. Sie hatten ihr und Jimmy im Wald etwas weiter hinten aufgelauert und beide angegriffen. Und während sie sich wie Marionetten bewegt hatten, war eine seltsame Aura von ihnen ausgegangen. So blau leuchtend ihre Augen geglänzt hatten wusste Lucy, dass etwas Lebendiges, also ein Pokémon, diese Wölfe zum Bewegen gebracht hatte. Obwohl ihre Hüfte in Abständen mal leicht, dann aber wieder brennend schmerzte, horchte Lucy in sich hinein und dachte zurück. Die seltsame Präsenz, die sie in den Augen gespürt hatte, war ähnlich der, die von den eingefrorenen Garados ausgegangen war.


    Sie ließ ihren Geist in die Umgebung um sich fahren. Sie fühlte unter dem tiefen Schnee die Ebene, als wäre sie aufgetaut. Sie erspürte deren Unebenheit, ihre Tiefen und Erhebungen. Und dann ließ sie ihren Geist sich in die Luft strecken und diese aufnehmen. Von der Kälte spürte sie gerade nicht viel, tatsächlich war sie in dem Moment mit ihr einst geworden. Sie war der Wind geworden, der ihren und Jimmys Körper umfasste und dann weiterzog. Dann war sie eine andere Windböe, die erst auf sie beide zukam. Und kurz darauf war sie wieder eine andere. Dies führte Lucy fort, bis sie dann eine Böe nahe dem riesigen Berg war, der sich in der Ferne vor ihnen in die Höhe erstreckte. Und von dieser Nähe wurde Lucy geschickt, denn sie hatte einen Auftrag von dem Berg erhalten: Halte jeden auf, der sich mir nähern will!


    Doch es war nicht die Stimme des Berges, der ihr diesen Befehl erteilte. Lucy selbst war ein erzeugter, unnatürlicher Wind. Sie folgte einer Stimme, die vom verlassenen Gipfel des Berges kam. In ihr lag eine Gewissheit, als wäre sie sich dessen sicher, dass auf ihren Befehl nicht nur Folge, sondern auch Erfolg geleistet wurde. Lucy achtete auf die Farbe der Stimme, die nur sehr schwach zu erkennen war. Sie erkannte eine ähnliche Signatur wie bei den Wölfen und bei den gefrorenen Garados. Das verwirrte Lucy, denn sie gewann den Eindruck, dass es diese Stimme war, die die Wölfe kontrolliert hatte, doch schienen beide sowie das Eis um die Garados das Werk einer gänzlich anderen Person zu sein.


    Doch bevor Lucy weiter erhören konnte, was es mit ihnen auf sich hatte, flammte ihre Hüfte abermals auf. Sie verlor mit einem Male die Verbindung zur Firntundra, keuchte auf und fiel auf die Knie. Jimmy trat mit einem Mal an sie heran und blickte sie besorgt, fast schuldbewusst an.


    „Es ist meine Schuld …“, sagte er und war den Tränen nahe. Lucy blickte von ihrer Wunde auf und sah ihn verdutzt an. Bestürzt sah sie, dass Jimmy Tränen ins Gesicht standen.

    „Du hast mich vor deren Angriffen beschützen müssen, während sie zu viert auf mich fielen", sagte er mit brüchiger Stimme. "Ich konnte auch nur vier andere von uns vertreiben, während du die ganze restliche Meute am Hals hattest. Wäre ich doch nur größer …“

    „Machst du dir deswegen etwa Vorwürfe?“, fragte Lucy streng und richtete sich wieder auf, obwohl ihr Bein dabei zitterte.

    „Wäre ich nicht gewesen, hättest du dich nicht verletzt …“, sagte Jimmy mit glitzernden Augen. Lucy schüttelte bedeutsam den Kopf.

    „Wenn du nicht gewesen wärst, hätten sie mich mit ihrer Überzahl überrumpelt. Du hast mir in gewisser Weise das Leben gerettet!“

    „Aber deine Hüfte!“, wollte Jimmy einwerfen, doch Lucy hielt ihm mahnend eine schwarze Pfote hin: „Ich habe es fast gewusst, dass diese Reise nicht spurlos an mir vorbeigehen wird. Und du bist auch in dem Wissen mitgekommen, dass es nicht leicht wird!“


    Sie fand, dass sie etwas zu streng und tadelnd klang und verzog den Mund. Jimmy meinte es mit seiner Sorge um ihr auch nur gut und sie mochte ihn auch dafür. Sie besah sich die kleine Gestalt vor ihr genauer. Wie sie hatte Jimmy ein paar Kratzer von dem Kampf gegen diese Wölfe davongetragen und wie bei ihr war sein Kopf-Fell deutlich zerzaust. Dass er sich aber mehr um ihre Verletzung Sorgen machte rührte sie sehr. Und obwohl sie sich ihrer eigenen Fähigkeiten durchaus bewusst war, hatte sie ihre Antwort ernst gemeint. Die Wölfe waren aus etlichen Winkeln des Waldes gekommen. Sowohl von unten aus dem Schnee kommend als auch von oben von den schneebedeckten Ästen waren diese über sie beide hergefallen. Sie hatten sich in ihrer Angriffslust so sehr mit den feindlichen Winden, die vom Lawinenberg zu kommen schienen, getarnt, dass Lucy ihre Anwesenheit erst dann erahnt hätte, wenn es schon zu spät gewesen wäre. Jimmy war im Wald aufmerksamer als sie gewesen und als hätte er schon Erfahrung gehabt, war sein Blick immer wieder nach oben geglitten, bis er dann die wartenden Angreifer auf den Ästen erblickt hatte.


    Lucy fragte sich in dem Moment, ob sie sich mehr um ihn Sorgen machte als er um sie. Denn sie wusste, warum sie überhaupt bis hierhin gekommen war. Jimmy hingegen hatte keine Erinnerung an das Vorherige. Sie hatte ihn ohnmächtig auf dem heißen Boden der Schädelwüste gefunden und ihr war sofort klar, dass einer der Sandstürme ihn dorthin gebracht hatte. Vom Sand bedeckt hatte Jimmy auch ziemlich angeschlagen gewirkt und erst durch die Zugabe einer Sinelbeere von Lucy hatte er wieder seine Augen öffnen können. Und der Sandsturm hatte mehr getan als ihn seiner Orientierung zu berauben.

    Lucy hatte sich überlegt, ob sie trotz ihres Fortschritts mit ihm hätte umkehren und ihn zur Obhut der Red Scorpion übergeben sollen. Doch es hatte sie dann erstaunt, dass Jimmy so offenkundiges Interesse an ihr und an dem Grund gezeigt hatte, warum sie in der Schädelwüste unterwegs war. Sie hatte ihm von ihrer Tätigkeit in der Glacial Hearth-Gilde erzählt. Sofort war ihr klar gewesen, dass Jimmy ebenso ein begeisterter Erkunder war. Und als sie von ihrem Auftrag erzählt hatte, war er sprichwörtlich Feuer und Flamme dafür gewesen, ihr bei ihrem Auftrag zu helfen. Allein schon als Gegenleistung dafür, dass sie ihn gerettet hatte. Und er hatte sich als angenehme Begleitung erwiesen, auch wenn er etwas nervös und ebenso ängstlich bei größeren Dingen war. Sie blickte ihn abermals an und bemerkte, wie er etwas zitterte. Die Kälte zog wohl beißend an seinen Gliedern. Lucy hatte sich schon gefragt, ob die Firntundra, das Extremste an Eis, einem Feuer-Pokémon wie Jimmy zusetzen würde. Ohne ein zusätzliches Hitzeband war es für ihn doch eine frostige Kälte, wo Finger taub wurden und schmerzten und wo auch das Gefühl in den Zehen irgendwann verschwand.


    Jimmy versuchte, mit ein paar Feuerstößen in seine zusammengefalteten Hände sich zu wärmen, doch diese verschwanden sofort im bösen Wind. Lucy ahnte, dass er und dann definitiv auch sie trotz Hitzezufuhr von Band und Feuer in der Tundra erfrieren würden, wenn sie sich zu lange in dieser aufhielten. Lucy hatte es vorher schon erspürt, dass dieser böse Wind, der einem Befehl vom Berg immerwährend folgte, nicht nachlassen würde. Sie mussten also schleunigst einen Unterschlupf finden.

    Sie versuchte, die aufkommenden und immer stärker werdenden Schmerzen in ihrem Bein zu ignorieren und schloss erneut die Augen. Ihre langen schwarzen Ohren richteten sich von ihrem Kopf ab und abermals ließ sie ihren Geist in die Umgebung fahren.

    Sofort wurden wieder die Umrisse der Firntundra, die unter dem Schnee des ewigen Winters verborgen lagen, vor ihrem inneren Auge sichtbar und sie ließ ihr Sichtfeld sich erweitern. Wie aus einem schwarzblauen Nebel sich schälend wurden mit jedem Meter weitere Details der Tundra erkennbar. Sie erspürte einen Riss im Boden, der tief nach unten führte und über dessen Grund ein kleiner Back floss. Doch je weiter sie ihren inneren Blick nach vorne führte, umso schwieriger wurde es für Lucy, ein klares Bild von der Tundra vor ihnen zu erhalten. Sie schaffte es noch rechtzeitig, den Anfang einer Bergkette nordöstlich von ihrer Position zu erspähen, ehe ihr Bein wieder schmerzte und die Vision abriss, die ohnehin angefangen hatte zu flackern.


    Sie begegnete wieder dem Blick des Panflams und gab ihm ein aufmunterndes Lächeln, doch verzog sie vor Schmerzen ihren Mund, sodass es halb bei Jimmy eher halb ankam.

    „Hast du was … sehen können?“, rief Jimmy etwas lauter, da der eiskalte Wind um sie herum stark heulte. Lucy hörte Unglauben als auch Erstaunen in seiner Stimme, doch sie lächelte dieses Mal fester und nickte. Doch sie hatten einen weiten Weg zu gehen, den sie sofort gehen mussten. Mit der Bergkette, so hoffte Lucy, würden sie auch endlich eine Höhle oder zumindest einen Unterschlupf finden, in dem sie vor dem Wind sicher sein würden. Sie richtete sich mühevoll auf und auch Jimmy nickte eifrig, auch wenn ihm dabei die Zähne klapperten. Dann schlugen sie sich wieder durch den dichten, rauen Schnee.





    18
    Der Schlangenpass


    Mit einer enormen Wucht schlugen die Wellen, die links und rechts vom Meer kamen, gegen die Klippe und die Luft wurde jedes Mal erneut vom salzigen Geschmack feinster Wassertropfen erfüllt. Das Gewässer war wie lebendig und entsprechend launisch. Mal umspülte es nur den untersten Rand der Klippe, dann aber schlug es derartig hoch, dass Wassermassen auf den Weg niederprasselten.


    Abermals spuckte Max salziges Wasser aus dem Mund, seine Zunge war wie betäubt und wie die anderen war er darauf bedacht, keinen falschen Schritt zu tun. Der Weg war schmal und war nur an sehr wenigen Stellen von einer kleinen Felswand umrandet. Ein größerer Wellenschlag würde genügen, um ein unvorsichtiges Pokémon ins Meer zu schlagen.


    „Bäh, allmählich vermisse ich die Wüste!“, rief Rose laut über das Brausen des stürmischen Windes und den lauten Klang der Wellen hinweg. Max konnte sie nur unscharf vor sich erkennen, denn zahlreiche Wasserschleier zogen sich über den Pfad. Auch von den anderen waren fast nur Schemen zu erkennen.

    „Ich auch!“, hörte er Shadow rufen. „Lieber diese Hitze als diese Gewässer!“

    „Wieso benutzen wir nicht deinen Schatten?“, rief Rose ihm zu.

    „Wird nichts bringen! Siehst du all diese Pfützen vor uns?“, antwortete das Gengar. Max wusste, was er meinte. Seine Füße waren schon durchnässt und kalt von dem vielen Wasser, durch das er bereits gewatet war. Manche der Pfützen waren sogar so tief gewesen, dass er fast mit dem ganzen Unterleib in diese eingetaucht war. Shadows Schatten wäre in der Tat sehr vorteilhaft gewesen.

    „Ich kann nicht durch oder über das Wasser gleiten!“, erklärte Shadow laut, sodass alle vor und hinter ihm seinen entschuldigenden Ton hören konnten. „Wenn ein längeres Stück mal ohne Wasser wäre …“

    „So könnte man dich festnageln?“, rief Iro belustigt von hinten. Max konnte sehen, wie Shadows rotes Augenpaar durch die Wasserspritzer zu ihm hinüberfunkelten.

    „Wenn ihr meine Schattenfähigkeit aushebeln wollt … ja, das wäre eine effektive Methode. Im Grunde genommen alles, was nicht fest ist, kann gegen mich verwendet werden!“


    „Feste Materie fällt durch dich hindurch, so war das doch, oder?“, rief Max ihm entgegen. Er konnte erkennen, dass Shadow nickte.

    „Ist mir dann ein Rätsel“, schrie Vane schon fast von ganz vorne, „wie die eine Pute dir dann das blaue Auge verpassen konnte, Boss! Ist doch im Grunde nicht möglich, oder?“

    „Erinnere mich nicht daran!“, entgegnete Shadow mürrisch und laut zurück brüllend. „Es war ein einfacher Faustschlag … ich verstehe es immer noch nicht …“


    In dem Moment schlug eine der hohen Wellen auf sie ein. Erschrocken schrien sie auf und Max spürte eiskaltes Wasser um seinen Unterkörper fahren. Einzig Emil und Iro schienen sich als Wasser-Pokémon nicht an diesem zu stören, wobei Iros sorgenvoller Blick den Bandagen seines rechten Armes galt, der etwas befeuchtet aussah.

    „Na prima!“, rief Rose nun erbost aus und schüttelte sich. „wenn wir in der Firntundra ankommen, werden wir doch direkt schockgefrieren sein, so durchnässt wie wir sind!“

    „Beschwöre es besser nicht!“, rief Emil düster. „Vielleicht haben wir Glück und das Wetter bessert sich auf halbem Weg …“


    Max sah nach oben zum grauen vernebelten Himmel. Dessen Wolken sahen eher weniger danach aus, als würden sie sich so schnell auflösen. Viel mehr wirkte es, als nähme der feine Nieselregen sogar zu. Zwar war er weitaus eher zu ertragen als die Sandstürme und die Hitze der Wüste. Es aber dennoch nicht angenehm, dass sie bis auf die Knochen durchnässt wurden. Und Max fühlte sich auch noch an die Passage in den Geheimnisdschungel erinnert, als er sich den feinen Nebel um sie herum betrachtete. Wie im Trübwald bekam er das Gefühl, dass irgendetwas aus dem Nebel heraus sie alle beobachtete. Er fragte sich, wie lange der Weg sich noch erstrecken mochte und wie weit sie schon gelaufen waren.


    Dann aber ertönte ein mächtiger Knall und die steile Wand des Pfades vor ihnen brach in einer hellen Explosionswolke auf. Geröll rollte knirschend herab und landete platschend im Meer.

    „Was zum…?“, schrie Rose erschrocken auf, doch die anderen blickten bereits angespannt in den Nebel. Dies war der Knall von einem Hyperstrahl, das wusste Max sofort. Sie alle kniffen angestrengt die Augen zu, um etwas in diesem Nebel zu erkennen, doch die feinen Wasserschleier nahmen nach wenigen Metern schon die komplette Sicht. Und das laute Brausen machte es unmöglich, einen Feind auch nur näher kommen zu hören. Lediglich ein gelb aufleuchtender Punkt wurde sichtbar. Max glaubte, unter all dem Tosen ein immer lauter werdendes Brummen zu hören. Und sofort überfiel ihn die erschreckende Erkenntnis, dass dieses Brummen ihnen galt.

    „In Deckung!“, schrie dann Emil sofort. Sofort wichen sie alle von der Stelle, an der sie zusammen gestanden hatten, und spurteten nach vorne. Gerade noch rechtzeitig, denn ein weiterer, viel lauterer Knall ertönte und jene Stelle ging in einer großen Explosion in die Luft hoch. Eine starke Druckwelle erfasste sie und Max, Shadow und Rose warf es auf den Boden.. Die anderen konnten sich erfolgreich gegen diese stemmen. Sofort blickten sie sich nach dem Angreifer um, doch nachwievor war nichts auszumachen.

    „Ist er weg?“, rief Iro angespannt. Auch Emil und Vane stand diese Ungewissheit ins Gesicht geschrieben.

    „Achtet auf gelb leuchtende Punkte!“, erklärte ihnen Emil. „Hyperstrahlen müssen aufladen, ehe sie abgefeuert werden können!“


    Obwohl sie sich sicher sein konnten, dass der Angriff noch nicht vorbei war, blieben diese gelben Punkte in ihrem Sichtfeld aus. Max aber spürte abermals, wie ein Blick sie aus der Ferne zu beobachten schien und erneut spürte er, wie die Luft aus dem Nebel heraus zu vibrieren begann. Plötzlich dann kam ihm die Erkenntnis wie eine einbrechende Welle: „Von hinten!"

    Als sie sich dann alle umwandten, erschraken sie zutiefst, als nicht nur einer, sondern gleich drei gelb leuchtende Punkte durch den Nebel zu erkennen waren. Sie hatten kaum Zeit zu reagieren. In wilder Panik spurteten sie nach vorne und warfen keinen Blick zur Seite. Abermals ertönten drei Knallgeräusche und Max wusste, dass der Weg hinter ihnen soeben ins Meer hinabfiel, und das in Form einzelner Brocken.

    „Was zum Teufel sind das nur für Wesen?“, rief Shadow vollkommen bestürzt aus und kaum, dass er die Frage beendet hatte, fuhr ein mächtiger, länglicher Schatten aus dem Wasser heraus. Er beschrieb einen einzelnen Bogen, während er über sie hinweg glitt, und verschwand dann im Wasser auf der anderen Seite der Klippe. Rose schrie in Panik auf: „Die Seeschlangen!“


    Und wieder flammten zwei weitere Punkte im Nebel auf. Doch dieses Mal lag ein Stück Pfad vor ihnen, der so mehrere Kurven nahm. Dieses Mal würden sie nicht so einfach vom Fleck wegkommen, befürchtete Max. Und als er seinen Blick erneut zur Seite wandte, nahm es ihm fast den Atem vor Schreck, als er zwei helle Lichtstrahlen auf sich zuschießen sah. Doch direkt zu seiner rechten flammten zwei Lichter auf und laut hörte er das Brummen in seinen Ohren. Emil hatte eine konzentrierte Miene aufgesetzt und schickte zwei Lichtstrahlen in Richtung der anderen beiden. Die vier Hyperstrahle trafen in der Luft aufeinander und ein ohrenbetäubendes Krachen hallte in Max‘ Ohren und es riss ihn nach hinten. Doch Iro war zu Stelle und hielt Max auf, bevor er ganz von der Klippe fallen konnte.

    „Gut gemacht, Emil!“, rief Shadow anerkennend, doch er selber wirkte hoch konzentriert. Seine Hände hielt er vor sich und zwischen sammelte sich schwarz-violette dunkle Energie, die knisterte. Diese formte er zu einem Ball, den er einem weiteren Hyperstrahl entgegenschickte, der auf sie abgefeuert worden war. Auch dieser zeigte Wirkung und eine Explosion erfüllte die Luft, deren Licht seltsame Schatten in die Luft warf.



    „Von der anderen Seite auch!“, rief Rose dann auf einmal entsetzt und sie alle erkannten, dass sie Recht hatte. Auch auf der anderen Seite flammten einzelne gelb leuchtende Punkte auf. Auf einmal fühlte sich Max chancenlos. Einer solchen Übermacht konnten sie nicht standhalten.

    Doch Vane hatte sich schon nach rechts zu diesen neuen Lichtern gewandt. Er stampfte mit Füßen, von denen jeweils ein stachelförmiger Diamant wuchs, in den Boden und hielt seine Arme von sich. Weitere Diamanten sonderten sich von diesen ab und wuchsen nach vorne, dann verbanden sie sich eiligst zu einem niedrigen, aber breiten Schild. Die Hyperstrahlen aus der Ferne wurden abgefeuert und Vane hatte nur eine Sekunde Zeit, die er auch ausnutzte. Er hielt den Schild so in der Luft aufrecht, dass alle Strahlen auf diesen trafen. Drei Knallgeräusche erklangen laut und Vane hätte der Aufprall nach hinten gerissen, doch mit seinen Füßen stemmte er sich verbissen vom Boden. Jäh zersprang der Schild und sofort lösten sich die Diamanten in kleine Staubkörner auf, die sofort im Wind davon wehten. Doch Vane wirkte mehr als zufrieden mit sich.


    „So geht es nicht weiter, wir kommen hier noch um!“, rief Shadow aus. Er wandte sich eilig zu dem Weg, der vor ihnen lag. Dann gab er Emil ein Zeichen und als er sich ihm zuwandte, deutete Shadow auf den Weg. Emil schien sofort zu verstehen und jäh richtete er seine Kanonen auf den Weg. Deutlich schwächere Hyperstrahlen wurden abgefeuert und Max fragte sich ob Shadow den Verstand verloren hatte. Was nützte es ihren Fluchtweg derartig zu zerstören?

    Doch ehe er laut seine Bedenken ausrufen konnte, erstarrte er und er spürte sofort, wie ein kalter Griff seine Beine ergriff. Jäh zog es ihn nach unten und er fand sich in einer anderen und vertrauten Welt wieder. Auf einmal umfasste ihn Ruhe, doch Max rauschte der Schlangenpass und die Angriffe laut in den Ohren. Er suchte die roten Fenster, die er beim ersten Aufenthalt gesehen hatte. Und tatsächlich sah er, wie Shadow nun über den Weg glitt, der von Emils Hyperstrahlen ziemlich zerstört wirkte. Doch hatte sich auf diesem noch kein neues Wasser gesammelt und sofort verstand Max, was Shadows Plan war.


    Sofort empfand er Respekt für das Gengar, das in der Gefahr mit so einem Manöver aufgekommen war. Doch die Fahrt dauerte nicht lange.

    Als Shadow dann einige Sekunden später auf einen Teil des Pfades stieß, der nicht von Emils Kanonen bearbeitet worden war, spürte Max jene kalten Hände auf seinen Schultern, die ihn daraufhin nach draußen zogen.


    Sofort, fast ohrenbetäubend, drang das Rauschen der Wellen an seine Ohren, doch Max glaubte zu hören, dass der Wind nachgelassen hatte. Er blickte sich um. Auch Rose, Iro und Vane sahen danach aus, als hätte Shadows Manöver sie überrascht. Doch als sie sich aufrichteten und nervös umblickten, stand ihnen kurz darauf respektvolle Anerkennung ins Gesicht geschrieben.

    „Eine Spur vom Feind?“, fragte Shadow keuchend, der sich halb aus seinem Schatten erhoben hatte.

    „Zurzeit nicht …“, antwortete Emil. Seine Stimme war nun deutlicher zu vernehmen, da der Wind nicht mehr so laut brauste. Sie alle wandten sich erneut um und blickte nervös in den Nebel, der nun auch seltsamerweise lichter wirkte. Zumindest konnte Max viel weiter sehen als zuvor. Das Meer vor ihnen hob und senkte sich in wilden stahlgrauen Wellen. Doch aus diesem Meer hoben sich keine eventuellen Schatten von Angreifern ab. Max richtete sich auf und half auch Rose auf die Beine, die aufgeregt nach Luft schnappte.


    „Alles in Ordnung?“, fragte er sie besorgt.

    Sie nickte, auch wenn ihr Blick anders sprach.

    „Ich hätte nicht gedacht … dass Erkundungen so gefährlich werden können …“, japste sie und rieb sich ihre Knie. „Ist das normal für solche?“

    „Für gewöhnlich nicht“, meinte Iro, der sorgenvoll seinen bandagierten Arm betrachtete. „Für gewöhnlich haben wir es mit weit harmloseren Dingen zu tun, wie…“

    „Wie mir?“, schielte Shadow zu ihm hinüber und lächelte verschmitzt. Auch Iro schmunzelte belustigt. „Ich glaube, dass du für uns nun harmlos wärst, jetzt wo wir deine Schwachstelle kennen. Nämlich Wasser!“


    Alle lachten und Max fühlte zum ersten Mal, dass dieses Lachen echt war. Er blickte zu Shadow hinüber und sofort wusste er, dass es die richtige Entscheidung war, ihn und sein Team sie begleiten zu lassen. Wo wären sie jetzt nur ohne ihn, Emil, Vane und Rose?

    Letztere löste sich was von der Gruppe und blickte auf den Weg, der vor ihnen lag. Sie legte den Kopf etwas zur Seite.

    „Ich glaube, wir passieren gleich eine Art Torbogen. Ich sehe nämlich was im Nebel vor uns …“


    „Heißt das etwa, dass wir angekommen sind?“, rief Vane aufgeregt und trat an ihre Seite. Zusammen gingen sie dann den Weg, der allmählich gerade aus verlief. Auch Max betrachtete nun die schattenhaften Umrisse eines Torbogens, welche in der Mitte durchbrochen wirkte. Je näher sie kamen, umso mehr schälten sich Details bei diesem aus dem Nebel heraus. Offenbar war er in der Form zweier Pokémon geschlagen, die einen seeschlangenähnlichen Körper hatten und deren Köpfe sich fast in der Luft begegneten.

    „Was zum?!“, riefen sie alle erschrocken und verdutzt aus, als sie sich in unmittelbarer Nähe befanden und der Nebel sich immer mehr gelichtet hatte. Max hatte noch nie zuvor eine solche Szenerie gesehen.


    Das Meer war zur Gänze eingefroren, soweit sie blicken konnten. Auch der Pfad vor ihnen lag unter einer dicken Eisschicht verborgen. Und es war kein Torbogen, unter dem sie standen. Dafür waren die Details zu ausgearbeitet. Max erkannte, dass es echte Garados waren, die offenbar mitten in ihrer Bewegung eingefroren worden waren. Sie hatten sich offenbar aus dem Meer erhoben und ihrem erstarrten Blick folgend wirkten sie, als hätten sie ein Pokémon angreifen wollen, das sich auf dem Weg vor ihnen befand. Denn sie hatten ihre breiten Mäuler aufgerissen und auch ihr Blick zeugte voller Zorn, mehr als es für ein Garados typisch war. Während Max sich diese und, wie er jetzt sah, viele andere im Meer eingefrorene Seeschlangen betrachtete, fühlte er sich von einer seltsamen unheimlichen Macht umgeben. Denn er spürte es förmlich, wie ein Pokémon für all dies verantwortlich war. Doch er konnte sich keines vorstellen, dass dazu in der Lage war. Er suchte den Blick der anderen und erkannte, dass auch sie vollkommen verblüfft und sprachlos waren.


    „War jemand vor uns hier gewesen?“, hauchte Shadow beeindruckt, aber auch sichtlich eingeschüchtert.

    „Es muss ein Eis-Pokémon gewesen sein, anders kann ich es mir nicht erklären …“, murmelte Rose und ließ ihren Blick über die gefrorene Szenerie wandern. Sie schritten dann weiter über diese bizarre Landschaft und achteten darauf, nicht auf dem Eis auszurutschen, was aber schwierig war. Je weiter sie kamen, umso mehr spürte Max einen kalten Wind um seinen Körper wehen. Er fand den Zeitpunkt reif, dass er sich das Hitzeband anziehen konnte und sofort durchströmte ein Wärmegefühl seinen Körper bis zu den Gliedern. Auch folgten die anderen seinem Beispiel, selbst Shadow wickelte sich ein Band um eines seiner Arme.

    „Ich bin sehr empfindlich, was Kälte betrifft!“, erklärte er peinlich berührt. „In der Wüste hatte ich keine Probleme, aber jetzt hier …“

    „Seht mal!“, rief Rose aufgeregt aus und deutete nach vorne.


    Sofort wurde Max klar, dass sie an sich nur noch gerade aus zu gehen hatten. Der schwarze Umriss des in der Ferne befindlichen riesigen Berges hob sich als einziger hoch in den dunklen wolkenverhangenen Nachthimmel, sodass dessen Gipfel nicht zu sehen war. Der Pfad hatte sich nun geweitet und mündete in den Anfang eines schneebedeckten Waldes mit hohen Tannen. Auf beiden Seiten war dieser Wald in größerer Entfernung von einer größeren Bergkette umgeben, die aber ziemlich unpassierbar aussahen. Max wechselte einen Blick mit Iro und dann mit den anderen. Auch sie waren beeindruckt von dem Anblick, der sich ihnen bot.


    „Das muss er wohl sein, nicht wahr?“, bemerkte Vane mit Blick auf den großen Berg in der Ferne. „Der Lawinenberg?“

    „Ich schätze schon …“, nickte Shadow und sah dann in den Wald hinein. Max wusste, dass er genauso wenig erkennen konnte wie er, denn die schneebedeckten Zweige wuchsen so nah und dicht am Boden, dass sie die Sicht versperrten. Nur die Anfänge einzelner kleiner Wege, die durch dieses Geäst führten, waren zu erkennen.


    „Also, was meint ihr?“, sagte Shadow dann angespannt und drehte sich zu Max und Iro um.

    „Wir sind bereit … nicht wahr?“, und er blickte zu Emil, Vane und Rose, die zwar nicht gleich aufgeregt waren, aber dennoch nickten. Max blickte noch einmal zu dem großen schattenhaften Umriss des Berges am Horizont.


    Wie Mew es in seinem Brief mitgeteilt hatte, befand sich dort Arktos. Max spürte Aufregung in sich aufsteigen, als ihm bewusst wurde, dass ihr Ziel nicht mehr so weit entfernt war. Er zog sich das Hitzeband fest um den Hals und spürte dessen wärmende Wirkung aufs Neue. Sie könnten es tatsächlich schaffen. Nur noch die Firntundra, die offenbar hinter dem Wald begann und der Aufstieg zum Lawinenberg lagen noch vor ihnen. Dann könnten sie endlich heimkehren und vielleicht auch mit Jimmy wieder zusammenkommen.


    Bei den Gedanken blickte Max nach hinten. Es war nachwievor ein bizarrer Anblick, ein Meer derartig zugefroren zu sehen. Der vereiste Pfad führte in einen grauen Nebel, sodass nicht einmal die Umrisse des Ekunda-Kontinents auszumachen waren. Wie weit hatten sie sich wohl vom Festland entfernt?

    Doch das spielte keine Rolle. Jimmy befand sich in bester Begleitung, so hoffte Max es jedenfalls von ganzem Herzen. Und er vertraute sowohl seiner Vision als auch Shadow Shadow, dass diese bei ihrer Zuversicht auch entsprechend fähig war, sich in der Schädelwüste zurechtzufinden.


    „Warte auf uns, Jimmy!“, dachte Max im Verborgenen zu sich und ballte die Faust. Er wandte sich Iro und den anderen zu und nickte. Dann traten sie in den Wald ein.

    Part IV: Die Mauer


    „Ihr … wollt dahin?“, stammelte Pan sichtlich verdutzt und blickte Max mit weiten Augen an. Er und Iro nickten bestimmt. Geistesabwesend fummelte sie an den Figuren herum, die in ihrem Arm lagen. Sie suchte den Blick von Shadow und den anderen, doch sie blickten gebannt zwischen der Sandamer und dem Team Mystery hin und her.


    „Und?“, setzte Max nach und blickte ihr tief in die Augen: „Könnte Castiel es schaffen, dorthin zu gelangen?“

    „Nun …“, wollte Pan zur Erklärung ansetzen, doch sie fand keine Worte. Erleichterung stieg ihr ins Gesicht, als Nocrow mit Gladius, Sense und Winny zu ihnen stieß. Die Beutel, die um den Körper des Arkani hingen, waren nun deutlich gefüllter mit allerlei Früchten und Gladius hielt diverse Holzscheite in den Händen.

    „Was ist los, Pan?“, fragte Nocrow, als er ihrem Blick begegnete. Sie erklärte ihm darauf, wonach Max und Iro gefragt hatten und auch dem Noktuska war es sofort anzusehen, dass ihn das Reiseziel der Erkunder sehr erstaunte. Er richtete sich auf, sodass sogar seine Stirn unterhalb des grünen Pflanzenhuts zu sehen war und blickte die beiden mit vor Interesse geweiteten gelben Augen an.


    „Um eure Frage zu beantworten: Castiel wäre schon in der Lage dazu …“, begann Nocrow und musste sofort seine Stimme anheben, da Max und Iro laut aufatmeten. „Doch dürfte ich erfahren, was ihr dort zu suchen habt?“

    „Das können wir nicht im Großen und Breiten erklären“, erwiderten Max und Iro im Chor.

    „So?“, sagte Nocrow ernst und verbarg wieder seine Stirn unter dem Hut, sodass seine Augen wieder im Schatten lagen. Ihr gelber Glanz wurde dadurch etwas unheimlicher, vor allem, weil sich seine Augen tief in Max und Iro bohrten.

    „Der Freund von uns beiden, der verloren ging“, erklärte dann Max, „ist mit jemandem dorthin aufgebrochen. Wir wollen ihnen hinterher …“. Max spürte, dass er seine Erklärung schwach abgeschlossen hatte. Dies glaubte wohl auch Nocrow, der seine Miene nicht veränderte. Doch sein Mund verzog sich, als würde er über etwas nachdenken. Doch dann schüttelte er bestimmt den Kopf.

    „Tut mir wirklich leid, doch das ist für mich kein Grund, euch ebenso dorthin zu bringen. Zumal ich es sehr bezweifle, dass euer Freund sowie seine Begleitung dorthin kommen kann …“


    „Wieso sollte er es nicht können?“, meldete sich Iro dazwischen und wirkte dabei recht wachsam. Auch hörte Max eine ungewohnte Strenge in dessen Stimme.

    „Die nördliche Grenze der Schädelwüste zu erreichen wird sehr erschwert durch etwas, was wir als die Mauer bezeichnen. Es handelt sich bei dieser um einen Sandsturm der besonderen Art. Anders als jene, die man in der Schädelwüste antrifft, bleibt dieser an Ort und Stelle bestehen und hört nicht auf. Hinzu kommt noch, dass dessen Winde um ein Vielfaches stärker sind als die der gewöhnlichen Stürme.“

    „Es klingt ganz so, als hättest du bereits Erfahrung …“, sagte Shadow und klang interessiert. Nocrow nickte.

    „Als wir Stahlard und Axel vor vielen Jahren begegnet sind, baten sie uns, dass wir sie durch die Mauer zum Lawinenberg bringen. Cas war zum Glück in der Lage, uns heil durch diese zu bringen“, und Nocrow blickte hoch zu dem Castellith. Max bemerkte nun, wie Gladius, der als Galagladi vom Zweittyp her ein Psycho-Pokémon war, ihm von Weiten Wasser aus dem See zukommen ließ. Dieses wand sich wie eine meterlange Schlange in der Luft, ehe sie Castiel in den Mund floss.

    „Doch die beiden hatten, nachdem wir durchgebrochen waren, recht früh erkannt, dass sie nicht für die weitere Reise gewappnet waren …“

    „Dabei hatten sie doch Hitzebänder für die Firntundra eingepackt …“, entgegnete Max und wechselte einen besorgten Blick mit Iro, der ihn aber nicht erwiderte. Gebannt und angespannt hing er an Nocrows löchrigem Mund.


    „Die Sache ist die, dass zwischen der Wüste und der Tundra sich ein weiteres Stück liegt. Ein schmaler Pfad, der sich über das nördliche Meer hin zur Tundra erstreckt. Und obwohl Stahlard und Axel zuversichtlich gewesen waren, kamen sie kurze Zeit später, nachdem sie auf diesen Pfad gegangen waren, wieder zurück. Sie hatten etwas von Seeschlangen geredet und dass sie gegen diese sich nicht vorbereitet hatten. Wir haben sie kurzerhand dann wieder mit uns durch die Mauer und anschließend nach Süden, zur Nordwüste, gebracht. Ich kann euch sagen, sie waren nicht begeistert, ihre Mission abzubrechen …“, schloss Nocrow düster und blickte Max und Iro an.


    „Ich hoffe, ihr versteht mein Zögern, euch nicht dahin zu bringen, so gern ihr es auch wünscht …“

    „Wieso haben die beiden uns nicht davon erzählt …“, murmelte Iro nachdenklich, doch Max fand, dass es dringenderes gab. Er trat einen Schritt vor: „Wir müssen aber dorthin. Deswegen sind wir überhaupt hierher in die Schädelwüste gekommen.“

    „Und was genau hofft ihr, dort zu finden? Wollt ihr wie Stahlard und Axel einen Wächter herausfordern, der angeblich dort leben soll?“

    „Nicht angeblich!“, erwiderte Iro hitzig. „Wir wissen, dass er dort lebt.“

    „Und wenn schon!“, fauchte Nocrow nun zum ersten Mal seit ihrem Aufeinandertreffen bestimmt zurück. „Ich will euch keine Schwäche zumuten, doch wenn ich mir euren Zustand so ansehe-“

    „Was ist mit diesem?!“, zischte Iro finster. Nocrows Blick glitt auf seinen rechten bandagierten Arm.


    „Ich will es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, euch dorthin zu bringen, während ich genau weiß, dass ihr es nicht weniger schwer als Stahlard und Axel haben werdet. Ihr werdet es sogar noch schwerer haben, bei deinem rechten Arm und bei dir“, und er wandte sich Max zu, „einem Pflanzen-Pokémon. Noch dazu kommt noch die Gefahr durch den Schlangenpass, wie Stahlard und Axel diesen beschrieben hatten. Und das wollt ihr auf euch nehmen, um etwas Ruhm zu erlangen? Weil ihr einen Wächter herausfordern wollt?“ „Es geht uns nicht um Ruhm oder sonst irgendwas!“, erwiderte Max ungeduldig. Je mehr Zeit sie mit Erklärungen verbrauchten, umso mehr rückte Jimmy in größere Entfernung. Und Max hoffte inständig, dass Jimmy noch einzuholen wäre. Nocrow aber blickte ihn an, als würde er wissen, woran Max dachte.

    „Ich bin mir sicher, dass auch euer Freund es einsehen wird, dass er ohne die Hilfe eines Pokémons wie Castiel nicht durch die Mauer kommt. Außer vielleicht, er selbst ist zehn Meter hoch?“


    „Shadow!“, rief Max und wandte sich so schnell dem Gengar zu, dass dieser zusammenzuckte: „Die Begleitung … diese ‚Pute‘, wie du sie nanntest … sah sie nach einem Pokémon, dass durch einen Sandsturm kommen kann?“

    „Ich kenne ihre Fähigkeiten nicht“, sagte Shadow knapp. „Doch vom Äußerlichen her wirkte sie genauso groß wie du, Max, und sah auch nicht gerade nach einem Muskelpaket wie Ironhard aus. Mehr nach der Art von Pokémon, die weggeweht werden, wenn ein ordentlicher Sturm herrscht.“


    Max hatte gehofft, dass Shadow ihnen erklären würde, bei Jimmys Begleitung würde es sich um eine andere Art von Pokémon handeln. Er dachte an seinen letzten Dimensionalen Schrei und aus diesem hatte er den Eindruck gewonnen, dass sie so zuversichtlich über ihr Reiseziel war, dass Jimmy sich aus dem Grund ihr angeschlossen hatte. Max versuchte, nicht an Jimmys Entschluss zu denken, und wandte sich wieder Nocrow zu, der bestimmt den Kopf schüttelte: „Tut mir wirklich leid, doch ich kann euch nicht ohne triftigen Grund diese Orte betreten lassen. Euren Freund werden wir hier schon aufgabeln, denn wie gesagt: Er kann unmöglich durch die Mauer gekommen sein! Wenn wir ihn und seine Begleitung gefunden haben und vielleicht auch der Arm von Ironhard wieder verheilt ist und ihr euch zusätzlich auch auf den Schlangenpass vorbereitet habt, dann können wir nochmal darüber reden. Bis dahin-“

    „Wir haben aber keine Zeit!“, rief Max bestimmt. „Wir müssen so schnell es geht den Wächter Arktos treffen!“

    „Wieso müsst ihr?“, entgegnete Nocrow scharf. „Was habt ihr mit ihm zu schaffen?“


    War nun so ein Zeitpunkt gekommen? Musste Max nun von dem Hintergrund ihrer Mission erzählen? Offenbar war es nun an der Zeit, denn Nocrow sah nicht danach aus, als würde er sie nach Norden bringen, ganz gleich wie er es anders versuchen würde. Max wechselte einen schnellen Blick mit Iro, ehe er dann tief durchatmete und anfing zu erzählen.


    Er benötigte zehn Minuten, um Nocrow und allen Umstehenden von der Legende um Arceus und auch vom Dämon Kyurem zu berichten. Wie dieser Dämon in einem Jahr bald auf die Welt zurückkehren würde und dass es von entscheidender Bedeutung wäre, dass die sieben Wächter rechtzeitig davon in Kenntnis gesetzt werden. Nur diese sieben Pokémon, zu denen auch Arktos gehörte, wären in der Lage, Kyurems Wiederkehr abzuwenden. Max erzählte auch, wie Mew ihnen von Arktos erzählt hatte und dass sie auf seinen Ratschlag hin diesen aufsuchen sollten. Wie Jimmy sich auf dieser Reise von ihnen getrennt hatte, verschwieg Max dann. Doch er spürte die Kälte, die sich in der Oase ausgebreitet hatte. Er blickte zu Iro, der steif und stumm zurückblickte und Max bemerkte, wie auch Shadow und den anderen jegliche Worte fehlten.

    „Ein Jahr …“, flüsterte Rose und ihre Stimme klang seltsam schwach. „Und was würde passieren, wenn ihr es nicht rechtzeitig schafft?“

    „Wir wissen es nicht genau …“, gab Max zu und ließ den Kopf senken. „Lashon, der uns die Legende erzählt hatte, glaubte, dass es für die Welt eine Katastrophe bedeuten würde, wenn Kyurem wieder auf dieser wandeln würde. Kyurem würde es nur nach Seelen verlangen, meinte er, und wenn sich ihm die Sieben Wächter nicht in den Weg stellen, gibt es kein Pokémon, das ihn aufhalten könnte …“

    Rose Gesicht nahm eine gelbliche Färbung an, die der der Schädelwüste Konkurrenz machte. Auch Vane, der meistens ein aufgeregtes Lächeln aufgesetzt hatte, blickte so ernst drein wie nie zuvor. Eine Weile herrschte noch Stille, ehe dann sich Nocrow räusperte, sodass Max seinen Blick zu ihm wandte: „Ein Jahr ist nicht gerade viel an Zeit, die euch bleibt … wenn man bedenkt, wie viele Wächter ihr noch aufzusuchen habt …“


    Sofort wandte sich Nocrow an alle Umstehenden und blickte sie reihum an: „Tut mir leid, Freunde, doch wir werden unseren Aufenthalt an der Oase heute etwas verkürzen. Wir brechen in ein paar Minuten. Pan?“, und sofort trat die Sandamer heran. „Sag Cas, dass wir Kurs gen Norden nehmen. Wir wollen durch die Mauer!“


    Pan nickte eifrig und stürmte wie die anderen Nomaden in Richtung Castiel. Nocrow wandte sich wieder Max und Iro zu: „Was euren Freund betrifft, werden wir unser Wort halten, nachdem wir euch zur Nordgrenze gebracht haben! Wir werden ihn finden und auf eure Rückkehr warten!“

    „Nocrow …“, wolle Max sagen, doch schon wurde ihm ein stachelbesetzter Arm mahnend entgegen gehalten. „Zwar habe ich immer noch Sorge um euch … wenn ihr es aber wirklich derartig eilig habt, werde ich diese solange verdrängen!“


    ***


    Während Cas sich bewegte, rumpelte es leicht in dessen Höhlen. Max hätte nicht auf dem kleinen Steinbett schlafen können, auch wenn er es gewollt hätte. Er und Iro saßen einander gegenüber und schwiegen sich an. Shadow und die anderen waren bei Nocrow außerhalb. Nach längerer Zeit waren beide wieder alleine, doch wussten sie nicht, worüber sie reden sollten. Max fand, dass nur auf dem Boden zu sitzen und die Zeit verstreichen zu lassen eine vergleichsweise interessante Methode wäre. Doch er wollte mit Iro über alles reden, was ihnen in den letzten Stunden widerfahren war. Doch wusste Max nicht, wo er anfangen sollte.
    „Es war die richtige Entscheidung, Nocrow von unserem Auftrag zu erzählen!“, fing Iro dann an, der Max schräg betrachtete. Sein Oberkörper wurde geisterhaft von dem Leuchtstein beleuchtet, dessen Ader über ihn im kreisrunden Höhlenraum wuchs. Max begegnete dem Blick seiner Augen, die im Schatten ihrer Höhlen lagen.

    „Findest du? Sie wirkten ziemlich schockiert. Und jetzt leben sie das nächste Jahr in Sorge damit, dass wir es eventuell nicht schaffen könnten …“

    „Und wenn schon!“, grunzte Iro. „Deren Sorge soll nicht unsere sein, während wir genug solche haben.“

    „Redest du auch von Jimmy?“, entgegnete Max frei heraus und er merkte, dass etwas wie Hoffnung in seiner Stimme lag. Iro zuckte mit den Schultern.

    „Dieser kleine Wicht bereitet mir gerade weniger Kopfzerbrechen. Er scheint ja in guten Händen zu sein, wie Shadow berichtet hat.“.

    Er blickte gerade rechtzeitig zu Max hin, der seinen Blick senkte. Sofort legte sich seine Stirn in strenge Falten: „Du hast noch etwas gesehen, nicht wahr? Oder gehört?“

    „Ich-“, wollte Max abwehren, doch er erkannte sofort, dass Iros scharfes Auge, das er sonst nur für Kämpfe verwendete, ihn richtig ablas. Er seufzte dann und da sie endlich unter sich waren, erklärte er ihm, wie er Jimmy in seinem Dimensionalen Schrei wahrgenommen hatte. Als er endete, blickte Iro ihn eine Weile ausdruckslos an, ehe er dann ein gehässiges Lächeln von sich gab: „Ich sag’s ja: Ein kleiner Wicht, sonst nichts!“

    „Ich bin ehrlich gesagt schockiert, dass er kein Wort über uns verloren hat …“, räumte Max ein und blickte betrübt zu dem dunklen Steinboden. Es kam ihm vor, als würde dieser immer brüchiger werden und es würde nicht mehr lange dauern, bis er durch diesen hindurch fiel. Doch ein Schnipsen holte ihn aus seiner Trance hervor. Iro blickte ihn streng an: „Ich hoffe sehr, dass wir ihm begegnen werden. Dann kann ich dem mal etwas Respekt beibringen, wenn er es wagt, uns zu vergessen!“


    Max konnte nicht die Kraft aufbringen, Widerworte zu leisten. Tatsächlich kränkte Jimmys Verhalten auch ihn, doch er wusste nicht, wie er selbst damit umgehen sollte. Er empfand etwas wie Bewunderung dafür, dass Iro schnell wusste, was zu tun und was zu denken war. Schließlich war er es, der Max eine Weile durch die Schädelwüste getragen hatte.

    „Eine andere Sache“, setzte Iro nun an, dieses Mal war sein Blick erfüllt mit Neugier. „Was hältst du von Shadow und den anderen?“


    Max brauchte eine Weile, um eine Antwort zu finden. Zumal er etwas brauchte, um von dem Gedanken an Jimmy wegzukommen. Doch kaum wollte er eine geben, da klopfte es laut an der morschen Holztür, sodass sie zusammenzuckten. Ohne eine Antwort abzuwarten huschte ein Schatten unter den Türspalt und Shadows schwarzer Körper erhob sich aus diesem. Mit ausdruckslosem Gesicht blickte er die beiden an.


    „Ich soll euch von Nocrow Bescheid sagen, dass die Mauer bald in Sicht sein wird. Er meint, ihr würdet diese gerne sehen wollen, bevor wir durch diese durchbrechen.“

    Und ebenso verschwand er so rasch durch den Türspalt wie er gekommen war. Max und Iro warfen teils empörte, teils belustigte Blicke. Und auch in Iro schien die Neugier zu siegen, denn beide erhoben sich, verließen ihr kleines Zimmer und folgten den Höhlengängen nach oben bis zur Falltür.


    Kaum, dass Max seinen Kopf durch diese geführt hatte, sah er sie in Ferne. Dunkel hob sie sich vom gelben Steinboden ab und Max wurde aus der Entfernung sofort klar, dass die Sandsturmmauer dreimal größer als Castiel selbst sein musste. Wie ein verschwommener dunkelbrauner Streifen zog sie sich über den flimmernden Horizont und Max hörte über das Stampfen und Beben von Castiels Schritten das leise Rauschen, wie das einer tosenden Flut.

    „Der Wahnsinn!“, rief Rose aus, als Max und Iro zu ihr, Emil, Shadow, Vane und Nocrow stießen. Ihrer Miene konnte man ansehen, dass sie sowohl fasziniert über den Anblick als auch davon eingeschüchtert war. Auch Emil und Vane stand die Neugier ins Gesicht geschrieben. Max musste dann bei Shadow stutzen, der tief in Gedanken versunken war und der Szenerie vor ihm eher wenig Beachtung schenkte.

    „Es ist schon ein seltsames Gefühl, dass wir auf diese direkt zusteuern“, gab Vane mit einer Stimme zu, die zittrig vor Erregung war. „Ich frage mich, wie es wohl in diesem Sandsturm ist …“


    „Versuch es besser nicht herauszufinden!“, warnte ihn Nocrow eingehend und wandte seinen gelb glühenden Blick ihm zu. „Ich musste schon damals Stahlard und Axel davon überzeugen, dass sie sich nach unten zurückziehen sollen. Wir alle würden sofort weggeweht werden, wenn wir hier uns hier draußen aufhalten. Ich war nur der Ansicht, dass ihr diesen imposanten Anblick gerne sehen wolltet, bevor wir passieren.“

    „Da hast du richtig gelegen!“, kommentierte Vane begeistert. Auch Rose nickte zustimmend, auch wenn sie immer noch etwas nervös wirkte: „Wird Castiel denn da durchkommen?“

    „Macht euch da keine Sorgen, Cas hat beim ersten Mal schon das mit Bravur überstanden und ihm hat es nichts ausgemacht. Wie ich schon sagte, er dürfte in der Schädelwüste das einzige Pokémon sein, dass dazu in der Lage ist …“


    Abschätzend wandte er sich der Mauer in der Ferne zu, die langsam aber stetig an Höhe zunahm. Auch wurde das tosende Geräusch immer lauter und durchdringender. Sein Blick wurde ernster.

    „Wir sollten uns allmählich in Cas zurückziehen …“, und er bedeutete den anderen Erkundern, ihm durch die Falltür zu folgen. Max und Iro blieben zurück und blickten zu der Mauer. Max verstand nun, was Nocrow meinte. Und insgeheim fühlte er sich beruhigt. Jimmy und seine Begleitung konnten unmöglich von sich aus durch diese Mauer. Endlich fühlte Max, wie er um Jimmy sich weniger Sorgen machen musste, da er nicht in sonderlicher Gefahr zu schweben und in zuversichtlicher Begleitung schien. Er brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande. Als er dann Iro zunickte und sich in Richtung Falltür umwandte, glaubte er eigentlich, dass Iro ihm direkt folgen würde. Doch als er bei der Falltür sich umwandte, stand Entsetzen in sein Gesicht geschrieben: „Was tust du da?!“


    Iro hatte sich nicht bewegt, sondern stand nachwievor der Mauer zugewandt. Sofort trat Max an ihn heran und zerrte an seinem linken Arm.

    „Komm schon! Warum bleibst du stehen?“

    „Der General hat sich in Castiel zurückgezogen …“, sagte Iro leise und Max hörte, wie er mit den Zähnen knirschte. Als Iro dann zu Max hinunterblickte, stand eine Mischung aus Zweifel und grimmiger Entschlossenheit in seinem Gesicht geschrieben. Mit einem Schlag verstand Max.

    „Bist du wahnsinnig? Du glaubst doch nicht, dass du, anders als er, diesen Sandsturm überstehen könntest?!“

    „Es würde ihn in der Hinsicht übertreffen …“, gab Iro grimmig zu und ließ seinen Blick wieder zur Mauer gleiten, die mittlerweile und immer lauter tosend doppelt so hoch wie Castiel gewachsen war. Max fand, dass die Schädelwüste auch von Iro nun ihren Tribut an Verstand einforderte. Umso umso mehr zerrte er an dessen Arm. Auf keinen Fall würde er es zulassen, dass ein weiterer Freund im Sandsturm verloren ging. Doch ihm wurde bewusst, wie viel größer und damit schwerer sein Freund war. Iro rückte nicht von der Stelle und Max brachte nicht genug Kraft auf.

    „Iro, bitte!“, flehte Max verzweifelt und Tränen standen ihnen in den Augen.

    Das Tosen wurde unerträglich laut, sodass Max seine eigene Stimme nicht mehr hören konnte, während er an Iro zerrte und auf dessen Arm schlug.


    Dann spürte er, wie er in seiner Bewegung schlagartig erstarrte. Auch Iro, der sich gegen Max‘ Versuche gewehrt hatte, schien in seinen Bewegungen eingefroren zu sein. Bevor dann dunkelbraune Dunkelheit und tosende Winde sie zu verschlucken drohten, zog es sie fast blitzartig in Richtung der Falltür. Max und Iro stießen in ihrer Erstarrung mit dem Kopf an dessen Rand und Max spürte, wie sein Körper sich wieder löste. Beide rollten die Treppen herab und landeten unsanft und hart an deren Fuß, um den sich Rose, Vane, Emil, Nocrow und Pan versammelt hatten. Während Max sich mit vor Schmerz tränenden Augen den Kopf rieb, wurde unter lautem Poltern die Falltür zugeschlagen und das laute Tosen des Sandsturms drang nur gedämpft zu ihnen herunter.


    „Seid ihr wahnsinnig geworden?“, drang eine Stimme von der Falltür zu ihnen. Max öffnete die Augen und sah, wie Shadow aus seinem Schatten zurückkehrte und mit weiten roten Augen auf sie hinabblickte. Auch in den Mienen der anderen stand Fassungslosigkeit geschrieben.

    „Was lässt euch glauben, dass ihr in der Lage wäret, einem solchen Sturm standzuhalten?“, flüsterte Shadow sichtlich aufgebracht. „Ihr seid sehr starke Pokémon, Team Mystery … doch so stark seid ihr auch wieder nicht!“

    „Shadow hat Recht!“, rief Rose schwer atmend. „Wieso um alles in der Welt …?“

    „Ich …“, wollte Max sich zur Wehr setzen, doch er verstummte. Er warf Iro einen Blick zu, der grimmig zu Shadow hinaufblickte und ihn wütend anfunkelte. Doch obwohl er nichts sage, deutete Shadow wohl seinen Blick richtig. Abschätzig wandte er sich dem Impergator zu: „Du denkst wirklich, du könntest die Grenzen des Unmöglichen sprengen, was? Du hast gesehen, welche Windstärken da gerade über uns herrschen?“

    Wie zur Bekräftigung wurde die Falltür mit einem Mal, wie von selbst, wieder aufgeschlagen und ein Getöse erfüllte die Luft und es war derartig laut, dass sich alle die Ohren zuhalten musste. Shadow griff mühevoll nach deren Griff, schlug die Falltür wieder zu und schob einen kleinen Riegel in das Gestein. Nun blieb sie zu, auch wenn es offensichtlich war, dass der Wind sehr an ihr zog.


    Schweigen erfüllte nun den Raum. Max richtete sich auf und wollte Iro helfen, doch er blieb weiterhin unten und blickte zu Boden. Nun, da sie in Sicherheit waren, war Max auch ganz kurz danach, Iro deswegen anzuschreien. Er hatte gehofft, dass Iro nach dem Kampf mit dem General seine Lektion gelernt hatte. Als er aber dann Iro so vor sich auf dem Boden kauernd sah, besänftigte Max dann doch. Er spürte, wie Iro sein dämliches Vorhaben immer bewusster wurde. Max suchte den Blick von Shadow, der nachwievor fassungslos war. Als Max ihm aber dann dankbar zunickte, schnaubte das Gengar gereizt, sagte aber dann kein Wort mehr. Die ganze Fahrt durch die Mauer über herrschte Schweigen von allen Anwesenden, die hin und wieder Blicke einander zuwarfen.

    Und dann endlich, nach fünf Minuten, die sich sehr lange angefühlt hatten, ließ draußen das Getöse nach und auch die Falltür ließ immer weniger Geräusche von sich vernehmen. Nocrow, der immer wieder von dem Team Mystery zu Shadow hin und her geblickt hatte, lockerte sich und sagte dann leise und bedeutend: „Wir sind da. Kommt mit nach draußen!“


    Als sie aus Castiel ausgetreten waren, wusste Max direkt, dass sie die Schädelwüste verlassen hatten. Anders als in dieser schlugen den Pokémon kühlere Winde und Temperaturen entgegen. Auch schmeckte Max Salz in der Luft und er hörte das permanente Brausen von Wellen, die gegen hohe Felswände schlugen. Er drehte sich um und sah ein vom Wind aufgepeitschtes Meer vor sich. Es fröstelte ihn leicht, als kalte Winde ihn hart umfassten und sein Blätter, die von seinen Arm herabhingen, flatterten. Und in einiger Entfernung sah er den Anfang eines tatsächlich eher kleinen, rauen Felsweges, der über eine kleine Bergkette führte, die etwas unterhalb in Schlangenlinien zum Meer lief. Feuchte Luft hing in Nebelschwaden über dem Meer, sodass man nicht weit in die Ferne blicken konnte. Nocrow trat an ihn heran und wies auf den Pfad: „Geht diesen Weg entlang. Stahlard und Axel waren sich sicher, dass dieser zum Lawinenberg führt!“

    Er blickte Max von der Seite an: „Seid ihr sicher, dass ihr gehen wollt? Vergesst nicht, was die beiden hierüber gesagt haben …“


    Max schwieg eine Weile. Sie waren nun soweit gekommen, doch sollten sie umkehren, wie es einst Stahlard und Axel getan hatten? Er tauschte einen Blick mit Iro, doch er schien nur noch auf Max‘ Entschluss zu warten. Er nahm einen tiefen Atemzug und spürte das Salz des Meeres seine Nasenhöhlen kitzeln.

    „Ja!“, sagte er dann bestimmt. „Wir werden unseren Weg fortzusetzen! Wirst du …?“, und voller Hoffnung wandte er sich Nocrow zu, der ihm zunickte.

    „Ich werde euren Freund in der Wüste finden und wir werden dann hierher zurückkommen und auf eure Rückkehr warten. Darauf gebe ich euch mein Wort!“

    Max nickte dankbar und hielt Nocrow seine Hand hin. Verdutzt wollte dieser sie nehmen, doch Max zog frech grinsend seine Hand zurück. Nocrow unterdrückte ein Lachen.


    „Max?“

    Shadow trat nun heran und Max war erstaunt, als er dessen Blick begegnete. In diesem lag eine noch nie zuvor gesehene Entschlossenheit. Shadow holte tief Luft, blickte noch einmal zu Vane, Rose und Emil, die in einiger Entfernung standen, und wandte sich dann Max zu: „Ich habe mich mit meinen Kollegen unterhalten … wir finden, dass ihr euch eine enorme Bürde aufgelastet habt …“

    Max hörte zu und auch Iro schien interessiert an Shadows Worten zu hingen. Das Gengar wirkte überrascht, dass beide ihm nicht mehr mit dem Misstrauen wie am Anfang begegneten. Dies schien Shadow zu ermutigen, denn seine Stimme klang noch eine Spur entschlossener: „Wenn ihr es euch vorstellen könnt … hättet ihr was dagegen, dass wir euch noch eine Weile begleiten? Ich kann mir denken, dass wir uns auf dieser Reise sehr gut ergänzen könnten statt gegeneinander zu kämpfen …“

    „Willst du dich etwa uns anschließen?“, fragte Max verdutzt und Shadow lief etwas braun an.

    „Versteht mich nicht falsch!“, sagte er rasch. „Es ist nicht so, als würde ich unbedingt mit euch befreundet sein wollen! Wenn ich nur daran denke, dass wir euch quasi gerettet haben … Ich weiß nicht … vielleicht könntet ihr unsere Hilfe auch in dieser Firntundra gebrauchen … Sobald wir den Lawinenberg dann erreicht haben …“, und Shadow wirkte, als kosteten die nächsten Worte ihn viel an Überwindung. Shadow seufzte und blickte Max aufrichtig in die Augen. „Wir wollen uns nicht in eurem Auftrag einmischen, wenn ihr es wünscht. Mit den Wächtern selber kommt ihr wohl gut klar und müsst wohl auch nur mit ihnen reden. Wir vier können dann-“



    „Shadow!“, sagte Max bestimmt und hob die Hand. Shadow verstummte augenblicklich.

    „Ohne euch wären wir in der Schädelwüste verloren gewesen“, sagte Max und warf einen Blick auf Iro, der grimmig zustimmend nickte. „Wenn ihr uns begleiten wollt, hätten wir absolut nichts dagegen. Und jetzt, wo Jimmy gerade nicht bei uns sein kann …“, und Max versuchte, den Schmerz an seinen Freund zu unterdrücken. Er lächelte dann Shadow zu und er spürte, dass es ein ehrliches, fast freundschaftliches Lächeln war.

    „Wir könnten auf dieser Reise eure Hilfe wirklich gebrauchen!“

    Part III: Blüte des Dankes


    Beim Austritt aus Cas‘ Höhle wurde Max deutlich, was mit dem Siwasser gemeint war. Er hatte sich mittlerweile so sehr an das Gelb- und Ockerfarbene der Wüste an sich gewohnt, dass ihm die breite Flut an Grüntönen fast in die Augen stach. Er selber als ein Reptain wirkte schon fast grau dagegen.


    Von einer erhöhten Ebene aus konnten sie auf ein weitläufiges Tal blicken, in dessen Mitte sich ein großer See ausbreitete, um den eine Vielzahl an Palmen wuchs. Max hatte kaum die Ausmaße geschätzt, als auch schon viele Pokémon an ihm vorbei und darauf zu liefen. Nun hatte er auch aus nächster Nähe einen besseren Blick darauf, aus welchen Pokémon der Rest der Nomaden bestand. Erstaunt war er, als ein Pokémon des Typs-Eis an ihm vorbeizischte. Es hatte eine klobige Form eines rötlichen Schrankes, der am Rand violett zu leuchten schien. Hinter ihm, gut auf Abstand, folgte Pan, die nervös darauf bedacht war, diesen einzuhalten. Dann schob sich das Rihorn, das Max zuvor erblickt hatte, an ihm vorbei und warf ihm einen prüfenden sachlichen Blick zu. Dann gesellte auch er sich zu der Truppe, die weiter unten hinter den Palmen verschwand und wenig später in den See sprangen.

    „Nur keine falsche Scheu!“, ermutigte ihn Nocrow, der an seine Seite getreten war und zum Tal hinunter wies. „Erhol dich!“

    „Was ist mit Castiel?“, fragte Max und blickte zu dem riesigen Felsen.

    „Er wird gleich versorgt; es ist für ihn ziemlich anstrengend, sowohl runter zum Tal als auch aus diesem heraus zu gehen. Du siehst ja, wie eng und windend der Weg vor uns ist. Mach dir also keine Sorgen!“

    „Ist das denn so in Ordnung?“, erwiderte Max. „Wir könnten euch auch bei was behilflich sein …“


    „Sprich nur für dich!“, rief Iro ihm zu, während er mit Shadow, Rose, Emil und Vane ebenfalls zu dem See hinunter watete. Max warf ihm einen empörten Blick zu, doch Nocrow lachte auf: „Entspann auch du dich; du siehst ziemlich grau für ein Pflanzen-Pokémon aus! Ich komme auch nachher zu euch, ich mache mit ein paar anderen gerade einen Rundgang.“

    Er rief sowohl ein Arkani als auch ein Sichlor und ein Galagladi zu sich. Um das orange-schwarz-gefärbte Fell des Hunde-Pokémons lag ein Band, von dem zwei Beutel, eines auf jeder Seite, herabhingen. Max erkannte, dass sie dem seinen ähnelten, und das schienen auch die drei Pokémon zu bemerkten,

    „Auch ein Erkunder, nehme ich an?“, sagte das Galagladi feierlich und hielt Max seine tiefgrüne Hand entgegen, die er auch annahm.

    „Gladius, mein Name! Und das sind Sense“ – er deutete auf das Sichlor – „und Windy!“

    „Es heißt eigentlich Winny“, verbeugte sich das Arkani höflich und trat zum Flüstern an Max heran: „Doch weil Gladius denkt, ich sei so schnell wie ein Windhund, nennt er mich so.“

    „Ich verstehe“, sagte Max, doch schon trat Gladius wichtigtuerisch an sie beide heran: „Du hast wirklich Glück, dass ihr uns über dem Weg gelaufen seid! Die Reise in die Schädelwüste ist gefährlich und gewiss nicht leicht zu bewältigen!“

    „Du tust so, als hätten wir keine Schwierigkeiten gehabt!“, sagte die Sichlor namens Sense mit einem schiefen Lächeln. Ihre glitzernden Käferflügel ruhten ruhig auf ihrem Rücken, doch ihre schwarfen Klingen, die auch gleichzeitig ihre Arme waren, blitzten auf, als sie Gladius einen taktierenden Blick zuwarf. Diesen bemerkte er auch und er räusperte sich verlegen: „Verzeih, Sense! Wir als Team hatten wohl auch so viel Glück! Gewiss hattet ihr euch ebenso so gut es ging vorbereitet, doch sobald man die Schädelwüste betritt, kann man diese eigentlich schon über Bord werfen, nicht wahr?“

    Max wusste nicht, was er antworten sollte. Es traf zu, was ihn, Iro und auch Jimmy betraf. Ein scharfer Schnitt, den nicht mal Senses scharfe Arme hätten verursachen können, fuhr durch seine Brust.

    „Genug nun, wir haben noch ein paar Vorräte einzusammeln“, erinnerte Nocrow sie bestimmt. Die vier nickten Max zu, sodass er sich mit gemischtem Gefühl ins Tal begab.


    Die Nomaden sowie Erkunder genossen es sichtlich, im Schatten und kühlem Wasser zu sein. Als Max an den See trat, bemerkte er, wie Iro mit seinem Unterkörper im Wasser saß und darauf bedacht war, nicht seinen bandagierten Arm nass werden zu lassen. Emil indessen hatte sich mit dem ganzen Panzer in den See begeben und hielt sich nun auf dem geschätzt zwei Meter tiefliegenden Grund auf. Shadow war nirgendwo zu sehen, doch Max kam der Gedanke, dass er doch nun vor dem Team Mystery geflohen war, abwegig vor. Stattdessen vermutete er, dass er sich in einem Schatten der Bäume zurückgezogen hatte. Rose und Vane hatten sich zu den Nomaden am restlichen Seeufer gesellt und es wurde schnell deutlich, dass sie alle die Gesellschaft miteinander genossen. Auch Max hätte ein Grund gehabt zu lächeln. Doch der Gedanke an Jimmy schmerzte Max und er merkte, wie sehr er seinen Freund sehnlichst vermisste. Gewiss hätte auch er Freude daran gehabt, an dieser Oase zu sein.


    „Alles in Ordnung?“, fragte eine Stimme neben ihm. Max drehte sich um und sah Pan, die ihn mit ein paar seltsam aussehenden Steinfiguren im Arm besorgt ansah. Max nickte schnell und deutete auf die Figuren: „Wofür sind denn die?“

    „Für den Schrein!“, antwortete Pan lächelnd und wies Max an, ihr zu folgen. Einige Blicke der anderen, darunter Iro, Rose, Vane und auch Emil, der mittlerweile wieder an der Oberfläche aufgetaucht war, folgten ihnen. Die Sandamer führte Max zu einem großen Kaktus, der zwischen all den Palmen stand. Sofort fiel die große Blüte ins Auge, die auf dessen Spitze wuchs. Trichterförmig und in kräftigen Farben funkelte sie förmlich auf sie alle herab. Da die anderen Erkunder diese nun auch bemerkt hatten, traten sie ebenfalls neugierig hinzu, sogar Shadow tauchte aus einem Baumschatten in der Nähe auf.

    Pan legte die Steinfiguren zu Füßen des Kaktus und Max erkannte, dass andere bereits dort lagen. Diese aber nahm die Sandamer auf. Sie wandte sich um und begegnete den fragenden Blicken der Erkunder: „Das sind alles Gaben für eine nächste sichere Reise. Diese alten Figuren werden aufpoliert und dann mit denen eines anderen Schreins einer anderen Oase ausgetauscht.“

    „Was ist denn der Sinn dahinter?“, meldete sich Vane. Pan blickte ihn schweigend an. Rose patschte dem Stolloss mit ihrem Huf auf die Brust: „Das ist ein symbolischer Akt, Stahlhirn! Das sieht man doch!“

    „Na gut, aber was ist so besonders an diesem Schrein oder an den anderen, dass das gemacht wird?“, setzte Vane nach, ohne sich Roses Bezeichnung zu Herzen zu nehmen. Pan begegnete ihm nun mit einem sanfteren Lächeln und drehte sich um. Mit einer Kralle deutete sie auf die Kaktusblüte.

    „Seht ihr sie? Kaktusblüten sind ein wahrhaft seltener Anblick. Und es gibt so eine Legende, dass sie nur blühen, wenn ein Pokémon voller Dankbarkeit stirbt.“

    „Ist hier also jemand gestorben?“, sagte Rose nervös. Max fühlte mit ihr, doch er war erstaunt, wie Pan lächelte: „Nun ja… Cas ist hier gestorben …“

    „Aber …“, sagte Shadow langsam und wandte sich um. Sein Blick galt dem Plateau, auf dem sie den riesigen Felsen von Castiel erblicken konnten. Als sie sich wieder Pan umwandten, sahen sie ein Funkeln in ihren Augen.

    „Es war vor fast 25 Jahren, als Nocrow und ich eine Erkundungstour in die Schädelwüste unternommen haben. Wir wollten damals den Gerüchten von sagenhaften Ruinen nachgehen, die in dieser versteckt waren. Doch genauso wie ihr haben Nocrow und ich uns ziemlich verlaufen und waren auch unserem Ende nahe … Dann sind wir aber auf Cas gestoßen, der noch ein viel kleineres, fast handgroßes Litomith war. Könnt ihr es euch vorstellen, Cas so groß wie ein einfacher Felsbrocken zu sehen?“

    Alle schüttelten den Kopf und Pan lachte.

    „Cas war aber schwach und hatte selber nicht viel Kraft. Er kannte aber den Weg zu einer Oase, zu dieser hier, und hat uns versprochen, dass er uns dorthin führen würde, wenn wir unsere Vorräte mit ihm teilten. Nocrow und ich haben am Anfang gezögert, da wir selber kaum noch was zu essen hatten. Doch haben wir am Ende mit Cas unser Essen geteilt. Wenn wir schon drohten zu sterben, wollten wir noch eine gute Tat machen!“

    Sie lächelte schwach, als sie den Erkundern in die Augen blickte. Auch die anderen Nomaden schienen Interesse an ihrer Geschichte entwickelt zu haben, denn auch sie traten hinzu. Pan, die diese Menge an Zuhörern etwas nervös machte, räusperte sich und blickte gedankenverloren zu der Blüte auf.


    „Tatsächlich hat Cas uns hierhergeführt. Es war nur früher ein viel kleinerer See, deutlich weniger an Palmen und auch dieser Kaktus war nicht groß, wie jetzt heute. Wir waren sehr erleichtert, hier angekommen zu sein. Doch Cas, nun ja … er war klein und schwach und hat am Ende sein Leben ausgehaucht. So dachten wir es anfangs …“

    „Wie meinst du das?“, wollte Max wissen.

    „Kaum dachten wir, dass Cas verstorben war, hatte dieser Kaktus, den wir nun vor uns sehen, seine Blüte geschlagen. Und kaum war sie ganz aufgegangen, hatte Cas‘ Körper aufgeleuchtet. Und dieses Leuchten wurde derartig schnell groß, dass wir von ihm wegmussten. Und als wir dann wieder aufblickten …“, und Pan deutete gewichtig zu Castiel hin, der wie ein großes Monument auf dem Plateau stand.

    „Wir waren einfach baff … dass aus so einem kleinen Kieselstein so ein Berg geworden ist … noch dazu hat Cas uns versichert, dass wir fortan auf ihm reiten dürfen und sogar Behausungen in seinen Stein bauen können!“

    „Und wo habt ihr all die Materialien her, um die ganzen Türen und Ketten für den Innenbau herzustellen?“, fragte Shadow. Pan wies als Antwort über die Palmen.

    „Mit der Zeit ist diese Oase auch nach dem Erblühen der Kaktusblüte fruchtbarer und entsprechend größer geworden. Aus denen haben wir das Holz bezogen. Und die Ketten waren Funde, die wir bei einigen Ruinen in der Schädelwüste finden konnten. Glücklicherweise sind wir irgendwann auf ein paar Pokémon gestoßen, die sich mit sowas besser auskannten als wir.“

    Sie ließ ihren Blick über die anwesenden Nomaden schweifen: „Sie sind entweder als Wache in Cas geblieben oder streunen hier gerade herum … ich sehe sie hier nicht …“

    „Heißt das also“, unterbrach sie Vane aufgeregt, „dass Cas sich sehr gut in der Schädelwüste auskennt? Schließlich habt ihr am Ende die Ruinen gefunden, die ihr aufsuchen wolltet, oder?“


    „Eine von zwei großen“, korrigierte Pan ihn. „Aber tatsächlich, ja, auch wenn ich mich selber frage, wie er den Überblick behält …“, antwortete Pan bestimmt. „Nocrow teilt es ihm mit, wohin wir gehen wollen, und Castiel setzt sich sofort in Gang. Ihn scheinen die ganzen Sandstürme, die einen hin und her teleportieren, nichts auszumachen.“

    „Castiel findet also dorthin, egal um welchen Ort es sich handelt?“, fragte Max mit angespannter Stimme. Pan blickte ihn verdutzt an, dann nickte sie. In Max flammte eine Idee von einer Möglichkeit auf und mit Blick zu Iro wusste er, dass dieser dasselbe dachte:


    „Wäre Castiel dann auch in der Lage, zum Lawinenberg zu gelangen?“

    Part II: Leben im Grab


    Stechende gelbe Augen lugten unter einem dichten Hut hervor, der vom Kopf wuchs. Der Mund war schmal und löchrig und verlieh dem Pokémon eine unheimliche Aura. Eine Art Unnahbarkeit wurde auch dadurch garantiert, dass der ganze Körper des Pokémon durch und durch mit dunkelgrünen Stacheln besetzt war. Das Pokémon der Art Noktuska wandte seinen Blick nach rechts und beäugte jenen zertrümmerten Felsen, den Vane zuvor aus dem Boden schießen gelassen hatte. Und jäh nahm das Noktuska auch das Stolloss ins Visier.

    „Ich nehme an, dir haben wir dieses unvorhergesehene Hindernis zu verdanken?“


    „Ich … ähm …“, stammelte Vane sichtlich verlegen, doch das Noktuska beachtete ihn nicht. Es schritt auf eines der riesigen Beine und Max wusste, dass er jenes suchte, dass zuvor Vanes Felsen zerschmettert hatte. Als es dieses Bein endlich fand, untersuchte er es eingehend. Unterdessen bemerkte Max, wie andere Pokémon sich vorsichtig aus dem Loch nach draußen lehnten und erst Noktuska und dann die anderen beobachteten.


    Es war eine bunt zusammengewürfelte Menge und Max zählte ungefähr sieben, wobei er glaubte, dass innerhalb dieser Burg, wie Shadow sie nannte, noch mehr Pokémon sich aufhalten mussten. Das auffälligste Pokémon von ihnen war ein Sandamer, das aufgeregt an dem steinernen Körper eines Rihorns kratzte und auf Max und die anderen deutete.

    „Ist ja gut, ich sehe sie ja!“, hörte Max dieses Rihorn genervt aufseufzen.


    „Also, wen haben wir denn hier?“, sagte dann das Noktuska laut. Es entfernte sich vom Bein des riesigen Pokémon und trat an die sechs Pokémon heran. Erst aus der Nähe erkannte Max, dass der löchrige Mund sich zu einem Lächeln verzogen hatte, auch wenn dieses etwas grotesk wirkte. Erwartungsvoll blickte es die sechs an, die alle aber zu perplex über diese Szenerie waren.


    „Vielleicht würde es helfen, wenn ihr euch vorstellt? Schließlich habt ihr fast dafür gesorgt, dass Cas einen Beinbruch bekommt.“


    „Cas?“, wiederholte Max und das Noktuska deutete ungeduldig auf das riesige Krabben-Pokémon.

    „Dies hier ist Castiel, und er ist auch unser Zuhause, das ihr beinahe bewegungsunfähig gemacht habt!“

    „Wieso, er hat meinen Felsen gut weggesprengt!“, rief Vane entrüstet. Das Noktuska blickte ihn mit seinen gelb glühenden Augen so scharf von der Seite an, dass Vane tatsächlich zusammenzuckte und zurückwich.


    „Tut uns leid!“, sagte Max dann sofort. „Wir wussten nicht, dass mit dem Sandsturm ein Pokémon auf uns zugelaufen kam.“

    „Wir haben uns nur vor diesem schützen wollen“, setzte Rose nervös an. „Wir wollten verhindern, dass wir fortgewehrt werden …“


    „Hm, verstehe …“, sagte das Noktuska langsam und blickte jedem der sechs eindringlich in die Augen. Dann, nach einigen Augenblicken, streckte es Max, der ihm am nächsten war, seine mit Stacheln besetzte Hand hin. Max wusste, dass er die zum Gruß anbot, war aber wenig erpicht darauf, diese Stacheln zu ergreifen. Doch dies schien das Noktuska durchaus wenig zu stören. Es grinste bei Max‘ Zögern noch breiter und ließ dann die Hand zurückfahren.

    „Ich mache nur meine Späße!“, lachte er kurz auf und wollte Max auf die Schulter klopfen. Dieser zuckte instinktiv zusammen, worüber sich das Noktuska noch mehr amüsierte. Auch Shadow lachte bei diesem Anblick laut auf. Selbst Max kam ein schwaches zögerliches Lächeln.

    „Mein Name ist Nocrow“, stellte sich das Noktuska dann vor. Auch die anderen nannten ihre Namen. Dann verbeugte sich Nocrow andächtig vor ihnen: „Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen! Ich bin Leiter der Wüstennomaden. Seid gegrüßt!“


    Max wechselte rasche Blicke mit Iro und den anderen.

    „Wüstennomaden?“, meldete sich Emil skeptisch. Nocrow sah ihn neugierig an.

    „Du bist verwirrt, nehme ich an?“

    „Nun … ja“, entgegnete Emil. „Wir dachten die ganze Zeit, dass die Schädelwüste unbewohnt sei und dass sich keine andere Seele außer uns hier befindet…“


    „Das liegt daran, dass ihr von außerhalb kommt und noch nicht so mit dem eigentlichen Leben in der Wüste vertraut seid“, entgegnete Nocrow milde lächelnd, warf dann einen Blick nach oben zur Sonne und verengte etwas die Augen.

    „Aber hier draußen ist es doch etwas zu heiß, meint ihr nicht? Kommt mit rein, bestimmt seid ihr nach eurer Reise müde!“


    Zufrieden mit sich lächelnd wandte er sich um und schritt zu der Zugbrücke. Er scheuchte die anderen Pokémon, die sie neugierig beobachtet hatten, wieder nach drinnen und winkte Max und den anderen zu.

    „Ich kann euch sicher hier herausbringen, wenn ihr das wünscht. Aber das ist eure Entscheidung! In einer Minute schließt sich das Tor!“, rief er sachlich Pokémon zu. Max und die anderen blickten sich an und als dann Iros Magen vernehmlich knurrte, beeilten sie sich damit, die Zugbrücke raufzulaufen. Es war eigentlich verrückt, einem fremden Pokémon so zu vertrauen. Doch überall war es besser als draußen in der Schädelwüste unterwegs zu sein


    Unter lautem Rattern und Klirren wurde dieser wieder hochgefahren und ein Beben kündigte wenige Augenblicke später an, dass sich Castiel wieder in Bewegung setzte.

    Nocrow hatte auf sie inmitten einer kleinen Halle gewartet, in deren Wänden kleine Adern an Gestein leuchteten. Max fühlte sich, als wäre er in eine Mine getreten, in der Pokémon nach Gold und anderen Edelsteinen schürften. Nocrow entging der faszinierte Blick nicht; generell wirkten seine Augen, die nicht ein einziges Mal blinzelten, so, als würde ihnen rein gar nichts entgehen.


    „Leuchtsteine“, beantwortete er Max‘ unausgesprochene Frage, als dieser die leuchtenden Adern genauer betrachtete. „Castellith, also die Pokémon-Art von Cas, haben alle verschiedene Erze in sich. Es wäre immer wieder eine Überraschung, welches Erz ein solches Castellith in sich verbirgt.“

    „Und es wird abgebaut?“, fragte Iro, der sich skeptisch und verblüfft zugleich umsah.

    „An sich nur, wenn ein Castellith das Ende seines Lebens erreicht hat. Davor gilt es als Unverschämtheit, ein noch lebendes entsprechend auszubeuten.“

    „Aber…“, wandte Rose und ihr Blick glitt nach oben. Auch Max erkannte, dass Treppen von grober Hand in das Gestein gemeißelt waren und dass auch Nägel und allerlei in dieses geschlagen wurden. Nocrow lächelte, als sie sich ihm wieder zuwandten.


    „Cas ist da eine Ausnahme, aber die Geschichte kann ich euch gleich erzählen. Kommt mit nach oben. Ach, Pan?“, und mit dem Namen wandte sich Nocrow an das Sandamer, das Max zuvor bemerkt hatte. Aufgeregt trat dieses herbei und seine braunen Stacheln richteten sich steif von seinem Körper ab.

    „Wärst du so gut, und bringst du ein paar Erfrischungen zu uns hoch?“


    „Nocrow …“, sagte Pan nun wenig begeistert. Ihre Stacheln sanken wieder nach unten. „Ich mag es nicht, in ihr Zimmer zu gehen. Immer will sie mir den Streich spielen, wo sie mich in ihrem Kühlschrank konservieren will.“

    „Sie weiß genauso, dass sie mit mir Ärger bekommt, wenn sie das wagt. Ich bitte dich darum, ja?“


    „Ich … na gut!“, sagte Pan nicht wirklich überzeugt. Sie warf den Neuankömmlingen einen Blick zu, als wäre das nur deren Schuld, und stapfte vorsichtig die steinerne Wendeltreppe zu einer Ebene hoch. Dort angekommen rollte sie sich zusammen und verschwand in einem Loch in der Wand.


    „Nimmt es euch nicht so zu Herzen“, erklärte Nocrow ihnen lächelnd, als er Max‘ und Iros besorte Miene sah.

    „Motor nutzt es als Rotom gern aus, dass sie ihre Form verändern kann. Meistens aber ist sie als eine Art kühlender Schrank sehr hilfreich, und das weiß sie auch gut gegen uns einzusetzen!“

    Er lachte herzlich auf, räusperte sich und winkte die sechs Pokémon zu sich heran: „Folgt mir! Doch passt auf mit den Stufen. Da Cas sich bewegt, kann es manchmal was wacklig sein!“


    „Aber eines finde ich immer noch seltsam“, sagte Emil, der hinter allen anderen herging und genauso die Höhe des Raumes betrachtete. Es war als stünden sie in einem kleinem Turm. Die Treppe beschrieb im Gesamten eine Spirale, hier und da mündete sie aber in eine kleine Fläche mit einem Felsen, in die eine Tür eingelassen war.

    „Wie kann ein Castellith derartig groß werden, dass eine Hand voll an Pokémon in dieses hineinpasst?“, staunte Emil nicht wenig beeindruckt über diese Geräumigkeit. „Für gewöhnlich werden sie nicht mal zwei Meter hoch, oder?“


    „All das und mehr, dazu komme ich gleich“, sagte Nocrow ruhig, der nun weiter oben eine schmalere und steilere Treppe nahm, die bis zur Decke führte und an einer hölzernen Falltür endete. Diese stieß er auf und helles Sonnenlicht drang durch die Decke herein.

    „Kommt“, sagte er munter und einer nach dem anderen traten die sechs Pokémon durch die Tür.


    Warme Luft, die aber nicht mehr so heiß wie weiter unten wirkte, empfing sie und Max sah sich um. Sie standen auf einer kahlen kleinen fast quadratischen Steinfläche, die auch an manchen Stellen von Venen an Leuchtsteinen durchzogen waren. Über den Rand dieser Fläche hinweg konnte Max die Weiten der Schädelwüste erkennen. Ein nahezu endloses Mehr an rissigem gelblichem Steinboden, der sich träge zu bewegen schien. Doch an dem sanften Beben unter seinen Füßen wusste Max, dass es jenes Castellith namens Cas war. Vorsichtig trat er an den Rand blickte nach unten. Obwohl ihn dieser Anblick mulmig war, so war er doch erstaunt. Die langen und dicken Beine von Cas hoben sich und stießen herab im Takt und von weiter vorn sah Max, wie eine große Staubwolke aufgewirbelt wurde, die die ganze Frontseite des Castellith umfasste. So hatte es gewiss den Anschein, als würde ein riesiger Sandsturm auf jemanden zukommen.


    „Der Wahnsinn…“, hörte Max Shadow kaum durch das Brausen der schweren Schritte sagen. Max trat vom Rand weg und trat wieder zu den anderen.

    „Bitte setzt euch“, rief Nocrow und wies auf eine kleine Einbuchtung inmitten der Felsfläche. Zögerlich und gegen das Wackeln von Cas setzten sie sich hin. Max hörte ein Knarren. Die Sandamer namens Pan trat zu ihnen und ihren Klauen hielt sie eine große Feldflasche sowie kleine Holzbecher, die sie ihnen reichte.

    „Vielen Dank, Pan“, sagte Nocrow mit einem Lächeln. „War Motor nett zu dir?“

    „Hmpf“, sagte sie mürrisch. Wasser tropfte von den Spitzen ihrer Stacheln herunter. Nocrows Grinsen wurde noch vergnügter.

    „Sie hat dich wenigstens nicht ganz eingefroren“, zwinkerte er der Sandamer zu. „Willst du nicht was zu uns setzen?“

    „Es ist ziemlich eng“, entgegnete Pan. „Am besten, die anderen lernen sie kennen, wenn wir unseren Halt erreicht haben.“


    „Halt?“, fragte Rose verwirrt. Nocrow lächelte nun ihr zu: „Denkst du, wir alle würden rein ziellos durch diese Einöde waten? Man sollte für dieses Gebiet schon einen Plan haben, wohin man will, bevor man sich verläuft.“


    „Und was habt ihr … wie nanntet ihr euch? … Wüstennomaden hier zu tun?“, fragte Emil scharf. Er betrachtete eingehend das Gestein um sich herum und fuhr dann fort: „Es hat ganz den Anschein, als könntet ihr jederzeit diesen Ort verlassen…“

    „Das könnten wir durchaus …“, nippte Nocrow gelassen an seinem Drink. Als Max seinen Becker an den Mund fuhr, spürte er eine eiskalte Flüssigkeit seine Zunge benetzen. Sie schmeckte wie eisgekühltes Obstwasser.

    „Wenn dir dies aber tun würden“, fuhr Nocrow fort, „wer würde dann Pokémon wie euch aufgabeln?“


    „Heißt das also…“, schloss Rose dann direkt. „Ihr rettet Pokémon aus der Schädelwüste?“

    „Seid ihr alle Erkunder?“, antwortete Nocrow ihr und Rose stutzte. Sie blickte zu Shadow, Emil und Vane. Doch Shadow nickte direkt: „Sozusagen, ja …“, und er warf Max und Iro einen flüchtigen Blick zu. Nocrow aber schien diese Antwort zu genügen: „Dann hattet ihr bestimmt einen Grund hierher zu kommen, musstet aber dann recht früh einsehen, dass ihr die Schädelwüste schnell unterschätzt habt?“

    Nur Max und Iro warfen sich betroffene Blicke zu, während Shadow und die anderen recht entspannt dreinblickten. Nocrows gelbe Augen huschten zu ihnen hinüber.

    „Ich sehe“, sagte er, nachdem er sich Max und Iro genau angesehen hatte, „ihr seht eindeutig aus, dass ihr beinahe es nicht überstanden hättet … was war es bei euch?“


    „Wie meinen?“, fragte Max perplex.

    „Was euch gerettet hat. War es vielleicht ein Sandsturm, der euch zu einer der beiden Ruinen gebracht habt?“

    „Woher-?“, wollte Iro verdutzt wissen, doch Nocrow kicherte.

    „Bei mir, Pan und ein paar anderen war es genauso. Wir hatten enorme Schwierigkeiten mit der Hitze und wussten nicht, wie wir hier rauskommen sollten. Dann aber hat uns ein Sandsturm zu einer Ruine gebracht und wir konnten einen sicheren Ort finden.“


    „Aber ihr seid doch … ich meine, dieses Castellith … Cas …“, stammelte Vane verwirrt. Nocrow warf ihm einen erstaunten Blick zu, während er sich mit einem seiner Kaktusarme am Kopf kratzte.

    „Habt ihr in eurer Heimat nicht davon gehört, dass sieben Erkundungsteams in die Wüste gegangen waren und nur zwei Pokémon je zurückgekehrt sind?“

    „General Stahlard und Axel?“, fragte Max sofort. Nicht nur Nocrow warf ihm einen erstaunten Blick zu, sondern auch Shadow.


    „Sieh an, Stahlard ist General geworden?“, sagte Noktuska.

    „Max, du kennst den General?“, rief Shadow fast erschrocken. Max wandte sich an Shadow: „Ist das so besonders? Viele kennen ihn doch …“


    „Er hat sich also wirklich einen Namen gemacht“, sagte Nocrow und grinste, als würde er sich rührselig an eine vergangene Zeit erinnern. Dann aber blickte er wieder auf: „Aber genau, diese beiden meine ich. Zwei junge Burschen, die ebenso die Herausforderung unterschätzt hatten, wie jene, die vor ihnen kamen.“


    „Aber sie haben es überlebt“, entgegnete Iro und ballte seine linke Faust. „Die anderen sechs Teams haben es nicht herausgeschafft und sind umgekommen…“


    „Ach, ist das so?“, entgegnete Nocrow in einem Ton, der keineswegs besorgt war. Auf die verdutzten Blicke der anderen grinste er und trank erneut aus seinem Becher: „Nur weil diese sechs nie herausgekommen sind, heißt das nicht, dass sie tot sind. Tatsächlich leben sie alle … und zwar hier!“


    „Du meinst, in Cas?“, hauchte Rose ehrfürchtig. Nocrows Blick verfinsterte sich.

    „Ich muss mich korrigieren, nur fünf haben es damals überstanden. Bei dem sechsten Team kamen wir zu spät … und um deine Frage zu beantworten, Rose: Ja, wir retten Pokémon aus der Schädelwüste und eskortieren sie aus dieser hinaus, sofern sie nicht eine Weile bei uns bleiben und die Schädelwüste von Cas aus kennenlernen wollen. Die meisten aber wollten bleiben, nachdem sie sich an das Leben hier gewöhnt haben, aber der Platz reicht nicht aus, um weitere sechs dauerhaft aufzunehmen …“


    Nocrow sah bestürzt aus und sein Blick wirkte entschuldigend. „Nichtsdestotrotz sind unsere Ressourcen beschränkt und wir steuern nur einmal die Woche eine Oase an, um die Vorräte aufzufüllen.“

    „Oase?!“, rief Vane begierig. Nocrow nickte.


    „Da sonst kaum Pokémon von außerhalb der Schädelwüste hierher kommen, haben wir uns sehr gut mit Öko-System hier arrangiert. Es gibt so um die sechs Oasen in der Schädelwüste, doch diese allein zu erreichen ist ein schwieriges Unterfangen. Ihr wisst ja, wie tückisch diese Sandstürme sein können …“


    „Oh ja …“, entgegneten die sechs Erkunder einstimmig. Max fand es immer weniger seltsam, auch Shadow und die anderen als solche zu bezeichnen. Doch nachdem er Nocrow zugehört hatte, fiel ihm etwas ein. Doch bevor er seinem Gedanken länger nachhängen konnte, meldete sich Iro zu Wort: „Wieso haben die beiden uns nicht gesagt, dass ihr hier unterwegs seid? Uns haben sie davon abgeraten, in die Schädelwüste zu gehen. Sie haben es uns nicht wirklich zutrauen!“, und erbost schlug er mit der Faust auf den Boden. Nocrow blickte ihn eine Weile fasziniert an, bis er antwortete:

    „Wie du bestimmt jetzt von hier oben sehen kannst, ist die Schädelwüste ein sehr großes Gebiet der Trockenzone. Und obwohl Cas gigantisch für seine Art, ist er von hoch oben betrachtet nur ein kleiner Fleck … Wenn Pokémon anfangen würden, motivierter Erkundungstouren in die Schädelwüste zu unternehmen und dabei hoffen, uns über dem Weg zu laufen … Was meinst du, wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist?“


    „Die dürfte nicht gerade groß sein, wenn man bedenkt dass die Sandstürme einen an einen anderen Ort bringen“, antwortete Rose nachdenklich. Nocrow nickte.

    „Es ist besser, wenn die Schädelwüste im Hören-Sagen weiter als solch ein gefährlicher Ort bestehen bleibt. Denn sie ist es nachwievor. Uns zu begegnen zeugt von enormen Glück; andere werden nicht so viel davon wie ihr haben. Ich habe euch ja gesagt, dass von den sieben Erkundungsteam einzig das sechste es nicht überlebt hat. Stahlard und Axel haben wir darum gebeten, nichts von uns Wüstennomaden zu erzählen. Es würde nur falsche Hoffnungen in angehende Reisen erwecken und ich will nicht nochmal Leichname in der Wüste bergen …“


    „Es hatte aber nicht gerade den Anschein, als hättet ihr uns mitnehmen wollen …“, warf Shadow ein. Wir wären ja fast von eurem Cas überrannt worden, wenn wir nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen wären.“

    „Das stimmt. Selbst uns über dem Weg zu laufen ist mit einem gewissen Risiko verbunden. Noch ein Grund also, weswegen nicht allzu viele Pokémon hier unterwegs sein sollten. Aber wir hätten euch nicht übersehen, wenn du darauf hinauswolltest. Wir haben ein wachsames Auge unter uns, das mir mitgeteilt hätte, wenn wir Pokémon passiert hätten.“


    „Wo wir gerade dabei sind!“, meldete sich Max rasch und Nocrow blickte ihn verdutzt an.

    „Seid ihr vielleicht zwei anderen Pokémon begegnet?“

    „Ihr seid die ersten sechs Pokémon nach Wochen, denen wir begegnen“, antwortete Nocrow kurz angebunden und legte den Kopf schief: „Sucht ihr Freunde von euch?“


    „Eines von denen ist unser Freund“, erklärte Max und achtete nicht darauf, wie Iro kaum merklich die Augen verdrehte. „Wir haben uns verloren, als wir allein in der Wüste unterwegs waren.“

    „Was heißt allein?“, fragte Nocrow erstaunt und blickte jeden der sechs Erkunder an. „Ich habe gedacht, ihr seid alle zusammen hierher gekommen?“


    „Wir haben uns sozusagen hier in der Wüste bei einer Ruine getroffen“, erklärte Shadow. Das Noktuska blickte ihn neugierig an und Max fragte sich allmählich, ob er sich daran erfreute, so viele andere Pokémon als die anderen Nomaden vor sich zu sehen. Auch glaubte er fast zu spüren, wie Nocrow eine bestimmte Frage auf seinem löchrigen Mund lag: Was habt ihr eigentlich in dieser Wüste zu suchen?         


    Doch bevor Nocrow tatsächlich eine Frage stellen konnte, drang ein tiefes, langgezogenes Röhren zu ihnen herauf und Max spürte, wie das sanfte durchgehende Beben unter sich nachzulassen begann. Nocrow wirkte hellwach und richtete sich auf: „Wir sind am Siwasser angekommen! Ich nehme an, ihr wollt euch dort etwas erfrischen?“