Kapitel 2: Schmetterlingseffekt
Zwölf Jahre, nachdem die junge Giulia ihr Heimatdorf verlassen hatte, sitzt sie in der Stadt Thengen im Gefängnis. Die Aussicht auf den Henker stehen gut, doch die Priesterin eines Naturkultes bietet ihr die Möglichkeit, diesem Schicksal zu entgehen. Dann bekommt Giulia die Chance zur Flucht - wird sie sie nutzen?
Hinweis: Im letzten Abschnitt spielt Gewalt eine zentrale Rolle.
Müde und angespannt schleppte Giulia sich durch die Gassen. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, fürchtete, von irgendjemandem erkannt und gefasst zu werden.
Ihre Lage wurde zunehmend düsterer. Auch, wenn man den heutigen Morgen eigentlich als gegenteiliges Omen deuten könnte.
Sie hatte die Gelegenheit zur Flucht sofort erkannt und keinen Moment gezögert. Instinktiv war sie aufgesprungen und auf das offene Fenster zugerannt. Noch bevor die Anhängerin des Rosenordens nach den Wachen rufen konnte, war Giulia auch schon aus dem Fenster gesprungen. Die Landung war zwar sehr unsanft gewesen, aber da sich die Wachstube des Gefängnisses nur gut einen Meter über dem Boden befand, hatte sie das in Kauf genommen und durch geschicktes Abrollen ihren Schwung genutzt, um im richtigen Moment wieder auf die Beine zu springen. So schnell sie konnte war sie in dem Labyrinth aus Gassen und Abzweigungen verschwunden, das Thengen wie ein feines Netz durchzog.
Die Ausweglosigkeit ihrer Situation war nach der anfänglichen Euphorie mit aller Macht auf sie eingestürzt.
Sie schuldete beinahe jeder Untergrundbande der Stadt Geld, hatte sie bestohlen oder anderweitig verärgert. Außerdem war klar, dass der Orden, der sie offenbar für irgendeine dubiose Aufgabe hatte anheuern wollen, sie nun bestimmt nicht mehr freikaufen würde.
Feinde an allen möglichen Ecken, niemand, der ihr Schutz bieten würde, nur das bisschen Proviant und Geld, das sie auf dem Markt gestohlen hatte - wie hatte bloß so vieles so furchtbar schiefgehen können?
Verzweiflung drohte sie zu übermannen. Ihr Atem ging stockend und sie musste sich an einer Mauer abstützen, um nicht zusammenzubrechen.
„Eine Möglichkeit habe ich noch“, flüsterte sie leise. Immer wieder, wie ein Mantra, wie einen Zauberspruch, um sich Mut zu machen.
Ganz langsam beruhigte sich ihr Herzschlag, bis sie ihren Weg fortsetzen konnte.
Ja, eine Möglichkeit gab es noch: Sie musste unbedingt jemanden finden, der ihr half, aus der Stadt zu fliehen. Und es gab eine Person, die sicherlich großes Interesse an ihrem Verschwinden hatte.
Ein paar letzte, aufgeplatzte Stufen stieg die hinunter, dann befand sie sich in einem alten, vergessenen und verwilderten Hinterhof. Ein Ort, der ihr so vertraut war, als wäre sie erst kürzlich hier gewesen - obwohl tatsächlich fast zwei Jahre seit dem letzten Mal vergangen waren.
Sie bewegte sich langsam auf die kleine Mauer zu, die ganz unscheinbar am anderen Ende des Innenhofes entlanglief und hockte sich nieder. Das gesamte Mauerwerk, das in der späten Abendsonne wie in Flammen getaucht zu sein schien, war von Schlingpflanzen im Laufe der Zeit so stark überwuchert worden, was die darunter liegenden Steine kaum noch erkennbar waren. Geschweige denn das schmiedeeiserne Tor, das genau in der Mitte eingelassen war.
Giulia tastete hinter den Ranken nach dem schmalen Loch, das sich direkt neben dem verborgenen Tor befand, und steckte ihre Hand hindurch. Mit geübten Fingern formte sie das komplexe Erkennungszeichen, dann wartete sie.
Ganz deutlich konnte sie das Blut in ihren Ohren rauschen hören, wie die Wellen des Meeres, die sich an einer unnachgiebigen Steilküste brachen.
Plötzlich erklang ein leises, metallisches Klimpern, und Giulia stieß erleichtert die Luft aus.
Schnell schlüpfte sie durch den schmalen Spalt, der sich zwischen den Ranken aufgetan hatte und fast lautlos wieder hinter ihr schloss.
Hinter dem natürlichen, grünen Vorhang war es finster und angenehm kühl. Kein Lichtstrahl schien durch die Schlingpflanzen zu dringen, doch für Giulia war das keineswegs furchterregend. Es war eher ein vertrautes Gefühl, das sie beruhigte und ihr eine Form von Sicherheit gab, wie sie sie lange nicht gespürt hatte.
Eine plötzliche Bewegung zu ihrer Linken ließ sie unwillkürlich zusammenzucken. Aus einer Öffnung in der Wand kam ein wahrer Hüne von einem Mann, über dessen Handfläche eine kleine, leuchtende Kugel schwebte. Giulia musste ihre Augen mit dem Arm abschirmen, um mehr erkennen zu können. Der Mann trug eine alte Weste, die aus verschiedenen Tierfellen zusammengenäht war, und die Muskeln unter seiner gräulich schimmernden Haut ließen keinen Zweifel daran, dass man sich mit ihm nicht anlegen sollte. Was an ihm aber am meisten hervorstach, war, dass er nur ein Auge besaß. Es prangte in der Mitte der Stirn und blickte mit ernstem Blick auf Giulia hinab.
„Danke Sam“, stieß sie mit einem leichten Seufzer hervor, „aber du hättest mich fast zu Tode erschreckt!“
Der Angesprochene schnaubte. „Dank mir nicht zu früh, kleine dessa“, erwiderte er mit besorgtem Unterton in der Stimme. Dessa, ‚Gänseblümchen‘ in der Muttersprache des Zyklopen ... Giulia musste lächeln. So hatte er sie früher auch immer genannt.
Als er das Licht etwas dimmte, nahm sie den Arm runter und legte ihn in einer, wie sie hoffte, beruhigenden Geste auf den des Torwächters.
„Ich hätte mir auch gewünscht, dich unter besseren Umständen wiederzusehen“, entgegnete sie mit mattem Lächeln, „aber es ist leider ... kompliziert.“
Sam nickte langsam. Natürlich hatte er von dem gehört, was ihr widerfahren war, seit sie die Bande der Falter hatte verlassen müssen.
„Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dir viel Glück zu wünschen, Kleines.“ Sein Gesicht hatte einen sehr ernsten Ausdruck angenommen und die Falten über seinem Auge sich bedenklich vertieft.
‚Ich hätte nicht gedacht, dass meine Chancen so schlecht stehen‘, dachte sie. Doch es gab jetzt kein zurück mehr.
Giulia drückte noch einmal den Arm den Zyklopen und wandte sich schnell ab, damit Sam die Tränen in ihren Augen nicht sah.
„Es wird schon“, sagte sie leise. Sie wusste nicht, wen sie damit beruhigen wollte: Ihn oder sich selbst.
Es war erstaunlich, dass die meisten Thengener nichts von dem Wunder ahnten, das sich direkt unter ihren Füßen befand.
Als vor hunderten von Jahren die Raubritterkriege im Reich gewütet hatten, hatte es hier noch keine größere Siedlung gegeben. Dennoch waren die umliegenden Dörfer des Tales bei herannahenden Armeen und anderen Gefahren in das damalige Dorf Thengenheim geströmt. Denn dieser kleine Ort barg ein Geheimnis - eine Stadt, verborgen unter tiefen Schichten aus Erde und Gestein. Ein komplexes Geflecht aus Tunneln und zahlreichen Hohlräumen erstreckte sich auf mehreren Ebenen unterhalb der Erde. Bereits vor Ankunft der ersten Siedler war die weitläufige Anlage in den weichen Stein gehauen worden und diente seit ihrer Entdeckung den Dörflern als Zufluchtsstädte. Wer oder was diese unterirdische Stadt geschaffen hatte, wusste niemand. Vielleicht handelte es sich um eine verlassene Siedlung der sagenhaften Erdvölker - oder etwas vollkommen anderes. So oder so, im Laufe der Jahre war das alles in Vergessenheit geraten und nur noch Teile der thengener Unterwelt wussten von der Existenz des Tunnelsystems.
Giulia seufzte und massierte sich den Nacken. Es war nicht überraschend, dass Missani sie warten ließ. Es war auch nicht überraschend, dass sie nicht in den ausladenden Raum mit dem beeindruckenden Steinthron geführt worden war, den der Anführer der Bande für den Empfang wichtiger Gäste nutzte. Aber allmählich machte sie das Warten nervöser, als ihr lieb war. Die Tatsache, dass das bevorstehende Wiedersehen mit dem Anführer der Falter ihr verräterisches Herz schneller schlagen ließ, machte es nicht besser. Und sich in der Geschichte dieses Verstecks, das einmal auch ihr Zuhause gewesen war, zu verlieren, schien ebenfalls nicht zu helfen.
Giulia schloss die Augen. Sie erinnerte sich noch gut an die Nacht, die alles verändert und dazu geführt hatte, dass sie aus der Bande geworfen worden war - obwohl sie wohl dankbar sein sollte, dass es dabei geblieben war. Jene Nacht, in der die Mutter von Missanis kleinem Sohn Milano zu Tode gekommen war. Sie verfolgte sie oft bis in die Träume, in einsamen, kalten Nächten, wenn sie schreiend aufwachte, wie ein gehetzter Steinbock durch die Straßen rannte, bis sie an irgendeiner Mauer erschöpft in sich zusammensackte und endlich ihren Tränen freien Lauf ließ-
„Giuuuuu!“
Der plötzliche, hohe Schrei riss Giulia so abrupt aus den Gedanken, dass sie sich beinahe beim Luftholen verschluckt hätte.
Ein kleiner Junge, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, rannte mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu.
Die haselnussbraune Haut des Kleinen schimmerte im Licht der Fackeln und sein schwarzer Lockenkopf wippte aufgeregt auf und ab, als er ihr auch schon in die Arme fiel - oder eher Giulias Beine fest umklammerte.
„Giulia, wo warst du, wo warst du?“, rief er halb aufgeregt, halb vorwurfsvoll. „Papa hat gesagt, du wärst weggegangen!“
Giulia beugte sich zu dem kleinen Jungen hinab, der sich nur widerstrebend von ihr löste.
„Es tut mir Leid, mein kleiner-“, begann sie, doch als sie sah, wie sich sein Blick verfinsterte, korrigierte sie sich schnell. „Mein großer Freund“, berichtigte sie sich mit ernster Stimme und strich ihm behutsam durchs Haar. „Es tut mir Leid ... ich habe dich auch sehr vermisst.“
Bei dem Gedanken, dass sie Milano, den sie bereits nach kurzer Zeit ins Herz geschlossen hatte, nie wieder sehen würde, schien ihr Herz in tausend Stücke zu zerspringen.
Sie wollte ihm sagen, dass sie sich bald wohl gar nicht mehr sehen würden, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken.
Sie überlegte angestrengt, was sie erwidern könnte, als Milano schon weiterplapperte: „Ich habe so viele tolle Ideen, Giulia! Papa hält sie für Kinderträume, obwohl ich doch schon groß bin, und will mir gar nicht zuhören, aber dir muss ich alles erzählen! Guck Mal!“ Er zog ein zerknitterten Stück Papier aus der Hosentasche, das wohl einmal ein Plakat gewesen sein musste, und reichte es ihr. „Das habe ich für dich gemacht!“, rief er mit glitzernden Augen und deutete auf die Zeichnung, die er mit einem Stück Kohle auf die Rückseite gemalt hatte. Sie zeigte etwas, das man am Besten als Ball mit Armen und Klauen beschreiben könnte. Ein rundes Objekt, an dessen Seiten kleine Striche nach außen liefen und in tödlich aussehenden Krallen endeten.
„Das“, raunte Milano verschwörerisch, „wird meine erste große Erfindung, wenn ich mal groß- noch größer bin! Ein automatischer Diener, oder so, der Name steht noch nicht fest! Ich werde ihn aus Holz und Metall und Glas und Stein und ganz harten Sachen bauen, damit er alle beschützen kann und uns hilft - ist das nicht toll?“
Giulia betrachtete das Bild mit einem traurigen Lächeln. „Eine wundervolle Idee“, erwiderte sie. „Du wirst bestimmt einmal ein großartiger Erfinder sein.“
Der vor Freude fast platzende Junge wollte offensichtlich noch etwas hinzufügen, doch er kam nicht dazu.
„Wie ich sehe, müssen wir ein ernstes Wort zum Thema Gehorsam wechseln, junger Mann“, sagte eine tiefe, ruhige Stimme unvermittelt. Eine Stimme, die Giulia heiße und kalte Schauer über den Rücken jagte.
Mit zitterndem Atem hob Giulia den Blick.
Massani war noch immer so atemberaubend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Haut war dunkler als Milanos, wie glatt gestrichener, bitter-süßer Kakao, der im Schein der Fackeln verführerisch glänzte. Sein Haar, das noch wilder gelockt war als das seines Sohnes, fiel ihm in Wellen auf die Schultern.
Heiße Schauer jagten durch Giulias Körper und ließen ihr Herz wild in ihrem Brustkorb galloppieren. Sie hatte gedacht, sie hätte mit der Zeit gelernt, den Mann zu vergessen, den sie heiß und innig geliebt hatte, ihn aus ihrem Herzen verbannt zu haben. Offensichtlich war das ein Irrtum gewesen.
Der Blick seiner bernsteinfarben Augen hatte etwas Hartes, Unnachgiebiges, das das höfliche Lächeln, mit dem er sich an seinen Sohn wandte, falsch erscheinen ließ.
„Milano“, sagte er sanft, „Giulia und ich müssen etwas Wichtiges besprechen.“ Als er die enttäuschte Miene seines Sohnes sah, beugte er sich hinab und wuschelte ihm durchs Haar. „Du kannst ja schauen, was unser guter Schmied so macht. Vielleicht darfst du wieder helfen?“
Milanos Augen leuchteten und Giulia musste unwillkürlich lächeln, als er auf und ab hüpfte und ganz schnell den Raum verließ. Die Begeisterungsfähigkeit des Jungen war immer noch so herzerwärmend, wie sie in Erinnerung hatte.
Als Milanos fröhliches Lachen im Gang verhallt war, wandte Missani sich zu Giulia um. Einen Moment schwiegen beide, dann schnaubte er und schüttelte den Kopf.
„Du musst wirklich verzweifelt sein, wenn du wieder hier auftauchst“, sagte er und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
Verzweiflung brodelte langsam immer stärker in Giulias Innerem. Früher hatten die Augen des Schmetterlingskönigs vor Leidenschaft und Zuneigung geglüht, wenn er sie angesehen hatte. Jetzt lagen nur noch Kälte und Verachtung in seinem Blick.
„Dir ist hoffentlich bewusst, dass Milano der einzige Grund ist, warum du überhaupt hier stehst?“
Ein weiterer Stich, doch sie zwang sich, die Schultern zu straffen und ihren ehemaligen Geliebten gerade heraus anzusehen.
„Ja“, erwiderte sie und konnte nur mühsam das Zittern in ihrer Stimme unterdrücken. „Und ich weiß auch, dass du ... mich lieber heute als morgen aus der Stadt verschwinden sehen willst. Wenn du mir hilfst, erfüllt sich dieser Wunsch vielleicht.“
Ausdruckslos starrte Missani sie an und mahlte angestrengt mit den Kiefern. Der Gedanke, Giulia einen Gefallen zu erweisen, schien ihm nicht gerade Freude zu bereiten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit nickte er schließlich doch.
„Na schön. Um Milanos Willen - ich möchte nicht, dass er irgendwann deiner Hinrichtung beiwohnen muss oder mitbekommt, dass deine Leiche in irgendeiner Gosse gefunden wurde. Ich werde dir helfen, aus der Stadt zu verschwinden, und du wirst nie wieder zurückkommen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Von Milano wirst du dich nicht verabschieden. Er hätte dich hier erst gar nicht sehen dürfen.“
Er setzte sich ohne weitere Worte in Bewegung und bedeutete ihr mit einem knappen Kopfnicken, ihm zu folgen.
‚Ich habe erreicht, was ich wollte, ich kann die Stadt verlassen und hingehen, wo mich niemand kennt‘, dachte Giulia und folgte Missani wie in Trance durch die Gänge des Verstecks.
Warum fühlte es sich nur so an, als würde sie innerlich zerreißen?
In der fernen Hauptstadt Rasenna blickte Magister Di Caie missbilligend auf das kleine, leblose Wesen auf seinem Seziertisch. Die vier zarten, zerbrechlich wirkenden Flügel waren entweder zerrissen oder mit kleinen Nägeln auf dem hölzernen Tisch festgemacht worden. Der feingliedrige, an einen Menschen erinnernde Körper war übel zugerichtet, die Haut zerfetzt von zahlreichen Stichen und Schnitten.
Wieder schüttelte der Gelehrte den Kopf und wandte sich schließlich mit kritischem Blick seinem Schüler zu, der abwartend neben der schweren Metalltür lehnte, die den Eingang zum Labor sicher verschloss.
„Was hast du dir dabei gedacht, Lariś?“, fragte Di Caie herrisch und deutete auf das kleine Wesen, das kaum größer als ein Handteller war. „Weißt du, wie schwer es ist, Feen als Versuchsobjekte zu bekommen? Und du Stümper bringst eines der letzten Exemplare um, das wir hatten!“
Schnaubend wanderte er zu den wenigen Glasröhren, die noch in einem Regal an der Wand aufbewahrt wurden. In zweien von ihnen hockten apathisch wirkende Feen auf dem Boden, als hätten sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden und erwarteten das Unvermeidliche. In der dritten befand sich ebenfalls eines der kleinen Zauberwesen, das sich allerdings nicht mehr rührte und in besonders desolatem Zustand zu sein schien.
„Kein Sinn für den Umgang mit wichtigen Ressourcen“, murmelte der alte Mann und kritisierte seinen Assistenten damit nicht zum ersten Mal.
Seit er den Jungen vor einigen Jahren bei sich aufgenommen hatte, hatte dieser enorme Fortschritte gemacht, blieb aber leider ein enttäuschendes Landei, ohne Visionen und den nötigen Sinn für die größeren Zusammenhänge. „Vielleicht sollte ich mich langsam nach einem neuen Mitstreiter für meine Forschung umsehen, nach jemandem, der-“
Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Heißer, stechender Schmerz bohrte sich plötzlich zwischen seine Rippen und betäubte seine Gedanken mit einer Welle aus Ungläubigigkeit und Schmerz.
Ein grauenhaftes Gurgeln und Röcheln entfloh Di Caies Kehle und etwas Feuchtes, Warmes rann sein Kinn hinab, während sein Blickfeld langsam verschwamm.
Doch er fiel nicht zu Boden - noch nicht.
„Du hast dich einmal zu oft wie ein hochnäsiger Arsch verhalten“, flüsterte sein Assistent mit Genugtuung in das Ohr seines ehemaligen Meisters. Es war das letzte, was dieser je hören sollte. „Ab jetzt werden sich hier einige Dinge ändern. Ich werde Erfolg haben, wo du schon viel zu lange im Nebel stocherst. Ich werde Siegen, wo du gescheitert bist, alter Narr.“
Er wartete, bis der alte Mann nur noch leblos in seinen Armen ging, dann ließ er ihn achtlos fallen und wischte den Dolch an dessen hellroter Tunika ab. Dann spuckte er mit aller Verachtung, die er aufbringen konnte, auf den leblosen Körper.
Ein befreiender Seufzer entschlüpfte den Lippen des Lehrlings. „Jetzt bin ich am Zug“, flüsterte er lächelnd und dachte an den alten, schon etwas muffigen Filzhut, den er vor langer Zeit in seiner Kammer versteckt hatte. Sein Lächeln vertiefte sich. „Ich sollte meine neue Freiheit nutzen, um ein paar alte Rechnungen zu begleichen.“
Da, wo der blaue Punkt ist, befinden wir uns immer noch. Der grüne weiter im Westen markiert die Lage Rasennas, der Hauptstadt des Reiches Navalis, die wir im letzten Abschnitt des Kapitels kurz betreten haben. Wer sich noch an den Prolog erinnert, wird nun auch sehen können, woher der Schriftsteller Nicolo DiSpassivo stammt. „Rasenna“ nannte sich laut Dionysos von Halikarnassos das altitalienische Volk, das wir als Etrusker kennen, selbst. Auch die Namen des Wissenschaftlers und seines Assistenten sind bis auf das ‚Di‘ dem Etruskischen entlehnt.
Das ist der Wurf für dieses Kapitel, für den die reizende Kaios die Würfelsets bestimmt hat!