Beiträge von Pika!

Wir sammeln alle Infos der Bonusepisode von Pokémon Karmesin und Purpur für euch!

Zu der Infoseite von „Die Mo-Mo-Manie“

    [tabmenu][tab=Yay]Hehe, erster Platz *freu* Muss ehrlich sagen, ich hab zwischenzeitlich nicht einmal mehr gehofft, Gold zu erringen xP Danke an alle Votes und die Kommentare; hab mir hierbei ziemlich Mühe gegeben und habs auch noch im Urlaub verfasst, wo ich so gut wie kein Internet hatte o0 Wie gut, dass ich noch rechtzeitig rausfand, dass a) Pikachu keinesfalls als Zweittyp Fee dazubekommen hat, und b) Fee auch nicht sehr effektiv gegen Stahl ist. Denn das hat jemand mir gegenüber behauptet und ich habs auch noch geglaubt (wobei ich das bei a) nicht glauben wollte, ne?). Denn Knakrack war ursprünglich ein Stahlos, das musste ich dann umschreiben xP Auch war die Zekrom-Ebene vorher die Magnelektro-Ebene mit Elektro- und Stahlpokés !___! So weit kommt man, wenn man jemandem vertraut... >-<
    Glückwunsch natürlich auch an Wollust und Molnija! Bin leider nicht mehr zum Voten gekommen, aber eure Abgaben fand ich echt toll ^^


    Pikachu (":pika:")[tab=Rekommis]

    [tab=Ein spezielles Dankeschön]... an alle, die geschrieben und gevotet haben. Das Wettithema war meine Idee, und ich freu mich wie ein Honigkuchenpferd, dass es diesen Anklang gefunden hat <3[/tabmenu]

    [tabmenu][tab=Konfusion]Zum ersten Mal an einem PC im BB... auch nich besser als am Smartphone @__@ Und hallo, im Quellcode kann ich keine Funktionen anwenden? Like seriously? -___-


    Ursprünglich wollte ich meinen Vote mit Anspielungen an die Powerpuffgirls spicken (so nach dem Motto: Pika! macht den fünften Vote und rettet den Tag blabla), aber da Superheldinnen keine Nackenschmerzen haben sollten, lasse ich es lieber ma...
    Ja, schade, dass so wenig gevotet wurde, vielleicht trödeln aber noch ein paar Voter gegen Schluss ein so wie ich ^^

    Zitat von Sawyer

    Also, haut nochmal richtig in die Tasten und lasst was hören!

    Ist das Absicht oder ein Formfehler? Kannst du hören, wie meine Tasten klappern? Müsste das nicht "lasst was lesen" heißen oder bin ich einfach nur zu penibel? xP (zum dritten Mal musste ich das x klein machen, weil hier wohl irgendein Programmierer sich gedacht hat, hier einen Großschreibautomaten einbauen zu müssen. Ich bin zu alt für so tiefgreifende Veränderungen *fuchteltmitgehstock*)


    *nichtmehrvorhandener:pika:smiley* ;___;


    PS:

    Zitat von Kanra

    Auffällig war, dass die Abgaben zum Großteil traurige Themen hatten bzw. den Tod und wie die Hinterbliebenen damit umgehen.

    Aber echt. Würde mich mal interessieren, woran das liegt. Sind wir solche Emos, dass wir solche Lieder hören und hier anwenden, oder nicht solche Lieder hören, aber die angewendeten doch so traurig umsetzen?[tab=Geschwätz]Kurz und knapp. Nur zu denen, die ich auch bevote...


    5) Let her go
    Es fanden sich leider so einige Rechtschreibfehler grade am Anfang, die einfach nicht hätten sein müssen. Am Ende "betet" Jennys Zunge um Einlass, aber solange Marc kein Gott ist, sollte sie doch eher darum "bitten". Nichtsdestotrotz ein schöner Schreibstil. Der Traum gibt am Anfang einen ziemlichen wtf-Moment, lässt einen an Fantasy denken und damit unpassend zu den Lyrics. Umso größer die Überraschung und die Erleichterung. Dass Jenny wieder in ihren Traum zurückwill, kann ich nur zu gut nachvollziehen. Die Handlungen am Frühstückstisch sind so herzlos, so kalt - und damit so passend zur Stimmung.


    7) Halbkind
    Da denkt man sich, man hat eigentlich eine ganz passable Abgabe zusammengetippt, da kommen doch bestimmt ein paar Punkte zusammen, vielleicht, mit Glück, gewinnt man sogar - und dann kommt ein anderer Kandidat daher und knallt einem so einen Text mit einer Wucht ins Gesicht, dass man direkt in einen Minderwertigkeitskomplex-Pfuhl geschleudert wird. Hab ich deswegen auch kein zweites Mal gelesen - wegen Komplexen und auch, weil ich beim ersten Lesen nix gefunden hab, was ich aussetzen könnte, und nur zwecks Kritik auch nicht mehr danach suchen will << Schreibstil top, Wortwahl topper, Einbau der Lyrics am toppigsten, gerade weil nicht aus den Lyrics zitiert wurde. So und nicht anders sollte eine Abgabe in einem Wettbewerb dieser Art aussehen!


    10) Haunted Heart
    Muss zugeben, der Psychiater klingt tatsächlich sehr nervig - aber ich bin der Ansicht, solchen Phrasen muss man sich auch öffnen und sie nicht nur zerdenken. Schreibstil ist an sich gut, auch die Story bzw der Konflikt der PoV gut dargestellt. Wie es zum Tod der drei Freunde kam, ist aber dann doch ganz schön hochgegriffen. Erinnert mich an Türkisch für Anfänger. Einfach nur unrealistisch, dafür, dass hier eigentlich so gut wie keine Fantasy enthalten zu sein scheinen sollte müsste hätte könnte =/ Wenns hier darum ging, eine individuelle Storyline zu kreieren, ist das ziemlich misslungen... Auch der Einbau der Zitate aus den Lyrics (was ich sowieso unpassend in diesem Wetti finde, siehe Kommentar zu Abgabe 7) war ziemlich nervig und insgesamt schlechter als in 5.


    11) Memories
    Das einzige Lied, das ich aus dem Musical kenne, und ich find es so schön traurig. So ist auch diese Abgabe. Hab gedanklich das Lesen mit der Melodie unterlegt, obwohl es hier ja eigentlich nur um die Lyrics gehen sollte... Naja, dadurch wurde der Effekt des Textes nur verstärkt. Wie das nun mit der Beziehung des PoV zu der Toten und dem Typi am Ende steht, keine Ahnung, wo nun Liebe war und ist und sein wird - war ganz schön verwirrend. Ist vielleicht auch nich sooo wichtig. Die ständigen Zitate waren sehr ärgerlich, als wolle der Autor sagen: "Schau, diese Zeile baue ich jetzt im nächsten Abschnitt ein, siehst du? Die daa. Dann die." Nur am Ende, die letzte Zeile, ist passend eingebaut. Aber das wars auch schon.[tab=Zugabe]A5: 2
    A7: 4
    A10: 1
    A11: 2[tab=Abgangsbund]Appell an alle, die auch abgegeben haben: Votet! Ich weiß, das sagt grad die Richtige, die so selten votet, aber in diesem Fall ist es doch echt wichtig. Kann euch nur zum Vorteil gereichen. Und es verhindert, dass wir alle dem Abgangsbund zum Opfer fallen D=


    (und gar nicht aus eigennützigen Gründen =|)
    [/tabmenu]

    Da fällt mir ein, ich hab auch noch einen Haufen Vorschläge xP Muss ihn mal abarbeiten...


    Was wird bleiben, wenn wir gewesen sind?
    Eine etwas andere Art der Dystopie: Nicht eine untergegangene Welt, in der die letzten Menschen ums Überleben kämpfen, sondern eine Welt, in der gar keine Menschen mehr existieren. Wie in der N24-Doku Die Erde nach dem Menschen ist der Grund, aus dem wir ausgestorben sind, an sich nicht wichtig. Wichtiger ist, was mit dem geschieht, was wir zurücklassen: Städte, Straßen, Satelliten. Und es soll aus der Perspektive eines intelligenten Geistes geschrieben werden, beispielsweise evolutionäre Nachfahren einer unserer heutigen Tierspezies, die die Erbschaft der Menschheit antreten, oder außerirdische Besucher. Oder eine ganz andere Wesenheit; wichtig ist nur, dass es ein Verstand ist, der sich Fragen zur Welt stellen kann wie auch der Mensch es tut/tat.


    Kontrafaktuale
    Wie auch in der entsprechenden TBBT-Folge (die vorhin lief, deswegen ist mir das wieder eingefallen lol) geht es hier darum, eine Welt zu beschreiben, die sich in einem Aspekt von der unseren unterscheidet. Was wäre, wenn so viel Geld und Begeisterung in Forschung investiert wird wie in die großen Sportevents? Wenn Wissenschaftler gefeiert würden wie Stars? Wie würde unsere Welt aussehen, wie sich unsere Geschichte entwickelt haben? Dabei sollte es möglichst realistisch sein, also von wegen Riesenbieber, der die Welt regiert xD


    Die Glitches sind los!
    Pokémonspiele sind ja nie perfekt gewesen, immer findet sich irgendwo ein Programmierfehler, mehr oder weniger fatal für den Spielstand. Nach einer Glitch-Liste wie zum Beispiel diese hier sollen die Wettbewerbler sich einen Glitch aussuchen und sich davon zu einem Text inspirieren lassen. Natürlich muss der Name des Glitches genannt werden, doch es sollte im Text auch erkennbar sein, welcher gewählt wurde.


    Pokémon-Crossover
    Der Titel sagt schon Einiges: Unsere Taschenmonster sollen in diesem Text mit einem anderen Franchise gecrossovert werden. Das muss sowieso laut Regelwerk angegeben werden, aber ich hebe das hier nochmal hervor. Ich persönlich würde sagen, ein Fan, der ein Pokémonspiel spielt und dann einen Harry Potter liest, ist (von der Langeweile dieser Handlung abgesehen) kein wirkliches Crossover, also dass sich die Charaktere der beiden Franchises in einer gemeinsamen Welt begegnen, eher ein Crossover darstellt, aber das soll die Wettbewerbsleitung festlegen.


    :pika:

    [tabmenu][tab=Le Rest?]Wie gesagt, kommen hier zwei Geschichten, die noch übrig sind in meiner Anhäufung. Zusätzlich dazu noch was anderes, was ich seit einiger Zeit vergessen habe… oo


    Zum Ersten! Die Kindergeschichte „Sieben Schwarze Federn“ ist mal wieder für die Heimatgenossenschaftszeitschrift meiner Mutti entstanden, die dieses Jahr zum Muttertag erschien. Dementsprechend gibt es hier eine kleine Lehre zum Thema Mütter. Ganz besonders, was sogenannte „Rabenmütter“ betrifft, die in unserem Kulturkreis so schrecklich verschrien sind. Tatsächlich gehören Rabeneltern aber zu den besten Eltern im ganzen Tierreich! Sieben Kinder sind es aufgrund des wunderschönen japanischen Kinderliedes Nanatsu No Ko


    Zum Zweiten!! Meine Abgabe für den Original Character Wetti, für die ich sogar Platz 2 ergatterte oo Ich hab mich echt lange abgeplagt mit einer guten Idee, hab das Schreiben immer wieder aufgeschoben bis zum Samstag, an dem ich auch noch mit meiner Mutti im Kino war. Konnte grad noch so abtippen und abschicken, hab buchstäblich in den letzten Minuten abgegeben. Das ließ wenig Zeit für literarische Finessen, aber auch Jirachis Charakter sollte ja so gepolt sein. Natürlich ist Jirachi an sich jetzt kein Original Character, aber ich legte mehr Wert auf den Charakter, also seine Wesenszüge, denn auf eine Beschreibung. Und, weswegen ich weniger Hoffnung hatte, dass ich gut abschneiden würde, auf eine Handlung << Daneben ist diese KG eine Hommage an die WiFi-Funktionen der Spiele, die sie seit diesem Tag verloren haben. Ich habe euch viel zu wenig gewürdigt und zu selten benutzt!


    Zum Dritten!!! Diese KG musste ich erst herauskramen aus einem älteren Wettbewerb, weil die Originaldatei mit dem letzten Datenabsturz meines Computers verloren gegangen ist. Aufgabe war es, ein individuelles Märchen zu schreiben. Das Thema hat mir sehr gefallen, aber mir kamen lange keine guten Ideen. Auch die habe ich schnell noch am letzten Tag abgetippt, weswegen sie ein paar Logikfehler enthält.[tab=Zum Ersten!]Sieben Schwarze Feder


    Die Sonne warf pfirsichfarbene Lichtbahnen durch die zum Teil belaubten, zum anderen Teil noch relativ kahlen Baumkronen. In der Nähe zwitscherte ein Vogel als letzter am heutigen Tag sein Liedchen. Delia lauschte darauf, wie es sich veränderte, wenn sie dicht an Baumstämmen vorbeiflog, oder es sich in tiefem Unterholz brach. Die Waldfee war zwar erschöpft, aber insgesamt zufrieden mit dem, was sie heute geschafft hatte.
    Wie jede Waldfee hatte sie die ehrenvolle Aufgabe, den Wald durch die vier verschiedenen Jahreszeiten hindurchzuführen. Das konnte so aussehen, dass sie den Früchten im Sommer zum Reifen verhalf; im Herbst die Blätter bunt werden ließ oder überwinternden Tieren bei der Nahrungssuche beistand; und im Winter Tümpel und Teiche auf der Oberfläche einfror, damit die Fische und Frösche darin die kalte Zeit gut überstanden. Pflanzensamen verteilen und ihre Wurzeln hervorlocken, Schmetterlingen den Kokon öffnen, Gräser und Blätter mit frischem Raureif einhüllen, und vieles mehr. Es gab immer etwas zu tun! Dabei nutzten die Feen den magischen Sternenstaub, der alles tun konnte, wenn sie nur fest genug daran dachten. Für eine Waldfee gab es nichts Wertvolleres als die Kristallflasche, in der sie ihren Sternenstaub aufbewahrten.
    Am liebsten von allen Jahreszeiten hatte Delia den Frühling, wenn alles im Wald aus dem tiefen Schlaf des Winters erwachte. Eine der Aufgaben zu dieser Zeit war es, die Blattknospen der Bäume zum Öffnen zu bringen. Zwar hatten sie sich schon unter Eis und Schnee von selbst gebildet, aber alleine konnten sie nicht aufbrechen, um sich als grüne Blätter in der Sonne auszubreiten. Delia hatte heute an einer Hainbuche zu tun gehabt; es war ihr tatsächlich gelungen, alle Knospen des Baumes zu öffnen. Oft war es nämlich so, dass der Sternenstaub in der Kristallflasche für einen ganzen Baum nicht ausreichte. Doch diese Buche war noch recht jung und deswegen eher klein. Dennoch hatte es Delias ganzen Vorrats an Sternenstaub bedurft, ihre Arbeit zu erfüllen.
    Und sie war sogar früher fertig geworden als üblich. Sie freute sich auf einen entspannten Abend in ihrer Höhle im Heimbaum, eine uralte Weide am Ufer eines großen Sees, in dem die Waldfeen schon seit ewigen Zeiten wohnten. Sie würde sich eine Tasse Baumsaft machen, die müden Flügel an dem magischen Bernstein ausruhen, der angenehme Wärme spendete, und dabei den See überblicken, in dem sich Mond und Sterne spiegelten.
    Delia hielt kurz an, um einen Blick auf ihren Dienstplan zu werfen, auf dem stand, was sie als nächstes zu erledigen hatte. Nach der Buche von heute sollte sie die Blütenknospen eines Pfirsichbaums zum Erblühen bringen. Auf der Karte des Waldes, die zum Dienstplan gehörte, waren ihre Einsatzorte als kleine Kreuze markiert. Überrascht stellte sie fest, dass jener Pfirsichbaum nicht weit von hier war. Sie würde nur einen kleinen Umweg fliegen müssen, um sich für morgen schon mal umzuschauen, und könnte danach gleich weiter nach Hause.
    So dauerte es auch gar nicht lange, bis Delia den Pfirsichbaum erreichte. Er hatte eine größere Baumkrone als die Buche, wie sie mit Unmut feststellte. Hieran würde sie bestimmt mehr als einen Tag arbeiten müssen. Die Knospen saßen rund, rosa und reif auf den Zweigen und warteten nur darauf, dass man sie mit Sternenstaub bestreute. Allerdings entdeckte Delia zwischen ihnen auch viele Pfirsiche vom Vorjahr, die einmal die Farbe von Sonnenuntergangsstrahlen gehabt hatten, jetzt aber runzelig und schwarz waren. Die würde Delia erst entfernen müssen, bevor sie sich um die Knospen kümmern konnte. Aber dafür war ja morgen genug Zeit.
    Um die vom vielen Fliegen taub gewordenen Flügel etwas zu schonen, setzte Delia sich zu einer kleinen Pause auf einen Ast. Während sie da saß und ihren Tagesablauf für morgen plante, hörte sie über sich ein trockenes Knacken. Verwundert blicke sie auf – eine der alten Pfirsiche fiel aus der Krone genau auf sie zu! Panisch wollte sie wegfliegen, aber sie war zu müde, um schnell reagieren zu können. Schon hatte das Trockenobst sie erreicht, schlug gegen sie und warf sie den Ast hinunter.
    Dielia schrie vor Angst, wollte mit den Flügeln flattern, doch sie wurde im Fallen herumgeschleudert und wusste nicht, wo oben und unten waren. Glücklicherweise landete sie schon bald in einem Strauch, der unter dem Pfirsichbaum wuchs und ihren Sturz dämpfte. Noch etwas benommen rappelte die Waldfee sich auf, schüttelte Staub aus ihrer Kleidung. Sie warf einen bitterbösen Blick zu dem vertrockneten Pfirsich, der nicht weit von ihr zu Boden gegangen war. Blödes Ding!
    Plötzlich kam ihr etwas in den Sinn, und Delia öffnete schnell die Umhängetasche, in der sie die Kristallflasche für den Sternenstaub transportierte. Glücklicherweise war der wertvolle Gegenstand bei ihrem Unfall nicht zerbrochen!
    Erleichtert wollte sie sich in die Lüfte erheben, um ihren Heimweg fortzusetzen, doch ihr einer Flügel ließ sich nicht bewegen. Erschrocken musste sie feststellen, dass er eingeknickt war, vermutlich, als der Schrumpfpfirsich sie getroffen hatte. Das war das zweitschlimmste, was einer Fee passieren konnte! Allzu tragisch war es nicht; mit einer Prise Sternenstaub ließ sich der Knick ganz leicht wieder reparieren. Dumm nur eben, dass sie nichts mehr von dem magischen Pulver bei sich hatte, nur die leere Kristallflasche. Um diese wieder auffüllen zu können, musste sie bis zur Nacht warten, und bis dahin dauerte es noch. Die Zeit konnte sie eigentlich genauso gut nutzen, um zu Fuß nach Hause zu laufen.
    Ein Wind kam auf, der ihr Haar durcheinanderwirbelte, und plötzlich landete etwas mit schwerem Donnern neben ihr. Es ragte viele Male größer als Delia über ihr auf und schien nur aus Dunkelheit zu bestehen. Der mächtige Körper wurde von Füßen gestützt, die in furchterregenden Klauen endeten. Eine Krähe!
    Kreischend wandte Delia sich um, wollte um ihr Leben rennen – doch der unheimliche Rabenvogel beugte sich zu ihr herab und packte sie mit dem Schnabel am Kragen ihrer schönen Holunderwollbluse! Gegen ihren Willen wurde sie vom Boden angehoben. Im nächsten Moment breitete das Ungetüm die pechschwarzen Schwingen aus und flog los.
    Delia wimmerte vor sich her. Das war das Ende! Jede Waldfee lernte von Kindesflügeln an, dass Krähen alles fraßen, was der Wald ihnen hergab – auch seine Wächter, die das ganze Jahr über für ihn sorgten. Vor allem in der Frühlingszeit fingen sie viele Insekten, um sie an ihre Jungen zu verfüttern. Als Waldfee hatte Delia zarte Flügel, die an die von Libellen und Schmetterlingen erinnerten. Und an ihr war auch wesentlich mehr dran als an einer kümmerlichen Eintagsfliege. Sie gab eine perfekte Mahlzeit für heranwachsende Krähenkinder ab!
    Wie sie befürchtet hatte, verfrachtete die Krähe Delia zu ihrem Nest. In dem Bauwerk aus Ästen und Zweigen kauerten ganze sieben Jungtiere, alle mit drahtigem Gefieder, breiten Schnäbeln, gierigen Augen – und nicht zuletzt leeren Mägen! Der Altvogel setzte am Nestrand auf und beugte sich mit seiner hilflos zappelnden Beute hinab. Voller Angst flehte Delia: „Bitte, bitte! Fresst mich nicht!“
    Sanfter als erwartet wurde sie auf dem Nestboden abgelegt. Noch immer vor Furcht zitternd, hörte Delia eine freundliche Stimme belustigt fragen: „Aber warum sollten wir dich denn fressen?“
    Erst brauchte sie einen Moment, bis sie erkannte, dass diese Stimme der großen Krähe gehörte. Überrascht blickte sie um sich. Die Vogelkinder beschnupperten sie von allen Seiten, anstatt mit Schnäbeln nach ihr zu picken, und ihre Augen waren gar nicht gierig, allenfalls neugierig. Plötzlich kamen sie Delia gar nicht mehr wie Monster vor, jetzt, da sie genauer hingeschaut hatte. Sie sah zu der Mutter auf. „Weil Krähen doch alles fressen. Auch Feen!“, beteuerte sie.
    „Willst du das denn haben? Kein Problem“, meinte der schwarze Vogel und lachte über Delias geschockte Miene. „Nein, keine Sorge. Das war ein Witz. Krähen, die Feen fressen… wer erzählt denn so was! Ich habe gesehen, wie du aus dem Baum gestürzt bist, und wollte dir helfen.“
    Delia war zu baff, um darauf etwas zu erwidern. Eines der Krähenkinder stupste sie vorsichtig mit der Schnabelspitze an und fragte: „Warum bist du denn gefallen, wenn du Flügel hast? Kannst du nicht fliegen wie wir?“
    „Du Spatzenhirn!“, schimpfte ein anderes und drängte sich durch die anderen Küken vor. „Man kann doch sehen, dass ihr einer Flügel kaputt ist. Du hast echt von nichts eine Ahnung!“
    Das andere plusterte gereizt das flaumige Gefieder auf. „Achja? Zumindest zapple ich bei den Flugübungen nicht so rum wie du, Hupfdohle!“
    Auch das andere Junge wurde daraufhin stinkig und fiel über sein Geschwisterchen her. Die beiden rangen heftig miteinander und verursachten in dem engen Nest schnell Chaos. Auch Delia wurde von den Bewegungen der beiden Krähenkinder herumgeschubst, die beide so groß waren wie sie.
    „Schluss jetzt!“ Die vorher so freundliche Stimme der Rabenmutter donnerte jetzt barsch über das Nest hinweg. Sie schlug den Schnabel zwischen den sich raufenden Jungen hindurch, um sie so voneinander zu trennen. „Wir haben einen Gast hier, also benehmt euch gefälligst. Und entschuldigt euch beieinander, sonst gibt es nach dem Abendessen keine süßen Blattläuse zum Nachtisch!“
    Sie verharrte, bis ihre beiden Kinder ein stures „‘tschuldigung“ murmelten, und richtete sich dann wieder auf. Kaum, dass sie kurz wegsah, streckten sie sich gegenseitig die Zungen raus.
    Dem Schauspiel hatte Delia verwundert zugesehen, als sich die Mutterkrähe wieder an sie wandte und fragte: „Warum schaust du denn so perplex?“
    Die Waldfee musste ein paar Mal schlucken, bevor sie antwortete: „Ich habe gedacht, du würdest sie jetzt beide aus dem Nest werfen, wie es alle Krähen mit unartigen Kindern tun …“
    Wieder lachte die Rabenfrau. „Hast du denn je eine Krähe dabei gesehen, wie sie das tut?“
    Etwas kleinlaut antwortete Delia: „Naja… nein, aber… das weiß man doch …“
    „Man sollte nicht alles glauben, was Märchen einem erzählen. Krähenkinder sind oft übermütig und unvorsichtig, wie du siehst, und manchmal mag es passieren, dass sie dabei aus dem Nest fallen. Das ist dann immer sehr traurig für die Eltern und Geschwister. Aber nie würden wir sie mit Absicht aus dem Nest werfen“, erklärte der große schwarze Vogel gutmütig. „Mein Name ist übrigens Cora. Und dies sind meine sieben Kinder.“ Während sie die Namen aufzählte, deutete sie mit dem Schnabel der Reihe nach auf jedes von ihnen. „Melina, Flori, Sina, Marc und meine jüngste Maria.“ Diese war noch deutlich kleiner als ihre Geschwister und die niedlichste von allen. „Und die beiden Streithähne sind Moni und Ben, die ältesten. Seit sie gleichzeitig geschlüpft sind, machen sie aus allem einen Wettbewerb.“
    „Das war gar nicht gleichzeitig“, behauptete Ben fest. „Ich war schneller als sie, das weiß ich ganz genau!“
    „Wie willst du das wissen?“, fragte Moni sauer. „Wir waren da beide noch blind!“
    Bevor erneut ein Streit unter den beiden ausbrechen konnte, schob sich ihre kleinste Schwester Maria zwischen ihnen hindurch. Sie blickte Delia aus großen Augen an. „Mama erzählt uns immer ganz viel von den Waldfeen, die zaubern können. Stimmt es, dass ihr Blumen zum Blühen bringt. Ich habe noch nie Blumen gesehen! Sind sie schön?“
    „Ähm… ja, sehr schön sind sie“, versicherte Delia, der die Aufmerksamkeit der Krähenküken unangenehm war. Bis vor wenigen Minuten hatte sie noch schreckliche Angst vor ihnen gehabt, das konnte sie nicht einfach vergessen!
    „Wie kannst du eigentlich wieder fliegen?“, wollte Maria jetzt wissen.
    Die Fee schluckte die Furcht vor Rabenvögeln, die ihr ihr ganzes Leben lang beigebracht worden war, hinunter, und erklärte: „Ich muss auf die Nacht warten. Dann kann ich nämlich Sternenstaub aus dem Licht der Sterne ernten, und mit dem meinen Flügel heilen. Vorher kann ich nicht nach Hause.“ Sie schaute in den Himmel. Es dauerte noch etwas, bis die Sonne ganz untergegangen sein würde.
    Cora beugte sich wieder zu ihrer Besucherin herab. „Wenn du möchtest, kann ich dich zu dir nach Hause bringen. Wenn du mir sagst, wohin ich dich tragen muss, mache ich es gerne.“
    Delia wollte das Angebot dankend annehmen, als unter den sieben Rabenkindern Protest laut wurde: „Nein, geh noch nicht!“, bettelten sie die Waldfee an. „Bleib noch ein bisschen und spiel mit uns!“ Vierzehn schwarze Augen schauten sie erwartungsvoll an in der Hoffnung, dass sie sie noch nicht verließ.
    Eigentlich hatte Delia sich doch einen schönen Abend in ihrer Baumhöhle machen wollen. Mit Baumsaft, magischem Bernstein und Ausblick auf den See. Aber irgendwie konnte sie den niedlichen Küken ihren innigen Wunsch nicht ausschlagen … „Na gut“, entschied Delia schließlich. „Ich bleibe noch etwas.“ Die Krähenkinder jubelten, und Cora freute sich, dass sie glücklich waren.
    Zusammen mit den Sieben spielte Delia ein Spiel, das sie noch nicht kannte. Es hieß Stöckchenziehen und war ganz ähnlich wie das bekannte Mikado. Als Waldfee mit Händen hatte sie dabei einen klaren Vorteil gegenüber den Jungvogeln, konnte sie schließlich besser zugreifen. Nach ein paar Runden machten die Kinder einige Flugübungen, die zurzeit nur daraus bestanden, mit den Flügeln zu flattern und so die Flugmuskulatur zu trainieren. Dabei erzeugten sie so einigen Wind, ganz wie die Mutter. Erst später würden sie die richtige Schlagtechnik erlernen, um auch abheben zu können.
    Als es immer dunkler wurde, flog Cora aus, um Käfer und Insekten zu sammeln. Als sie zurückkam, hatte sie auch süße Blattläuse als Nachtisch dabei, und auch Moni und Ben bekamen von diesen etwas ab. Sogar für Delia hatte die Krähe etwas gefunden: Waldfeen aßen zwar keine Insekten, aber alle Arten von Früchten. So hatte Cora ein paar Beeren gefunden, die den Winter fast frisch überstanden hatten und nicht im Mindesten so verdorrt waren wie der Pfirsich.
    Während Delia zwischen den wärmenden, federflauschigen Körpern der Küken saß, mit einer leckeren Beere in der Hand, dabei Geschichten lauschte, die Cora zu erzählen wusste, erkannte sie, dass sie auch ohne Baumsaft und Bernstein einen schönen Abend hatte. Ja, er war sogar der beste, den sie je gehabt hatte!
    Doch wie alle Abende musste auch dieser irgendwann zu Ende gehen. Gerne wäre Delia noch geblieben, aber sie musste zurück zum Heimbaum, bevor man sich dort Sorgen um sie machte. Die Sonne war untergegangen, Sterne funkelten am Himmel. Nach ihrer Einschätzung mussten es genug sein, um Sternenstaub herzustellen. Mit beiden Händen hob Delia ihre Kristallflasche hoch über sich und konzentrierte sich auf deren Inneres. Zuerst geschah nichts, und die Krähen, sogar die Mutter, beobachteten die Waldfee gespannt.
    Endlich zeigte sich etwas: In der Luft um die Kristallflasche herum bildeten sich winzige, silberne Pünktchen. Wie von einem Magneten angezogen bewegten sie sich alle auf die Öffnung der Flasche zu. Immer mehr von ihnen entstanden wie aus dem Nichts und sammelten sich in dem durchsichtigen Gefäß. Alsbald war es vollgefüllt mit dem leuchtenden Pulver. Delia schüttete eine kleine Menge davon auf ihre Hand, bevor sie den Hals mit einem Stopfen verschloss. Was sie aus der Flasche entnommen hatte, streute sie über den Knick in ihrem Flügel und stellte sich dabei vor, wie er vor dem Unfall ausgesehen hatte. Der Sternenstaub haftete sich an die beschädigte Stelle, leuchtete hell auf – und als das Licht verlosch, war Delias Flügel wieder wie neu!
    „Wow!“, entfuhr es den sieben Kindern, und auch Cora machte große, faszinierte Augen. Sie alle sahen für Delia nun gar nicht mehr furchteinflößend aus. Sie waren ganz im Gegenteil sogar richtig freundlich!
    „Vielen Dank, dass ihr mir geholfen habt“, sagte Delia aufrichtig, als sie die Kristallflasche in der Umhängetasche verstaute.
    Cora lächelte freundlich und erwiderte: „Ich glaube, ich sollte eher dir danken! So brav wie heute Abend war meine Kükenschar noch nie. Du solltest öfter zu Besuch kommen.“ Sie zwinkerte, um zu zeigen, dass sie nicht nur häufiger solche Zeiten wollte, in denen ihre Kinder keinen Radau machten. Vor allem war es eine Einladung für Delia, sie wieder zu besuchen und mit ihnen zu plaudern und zu spielen.
    Delia nickte dankbar. „Ihr habt eine sehr nette Mutter und solltet ihr nicht so viele Schwierigkeiten machen!“, tadelte sie die sieben Rabenküken. Dann lächelte sie. „Aber es hat mir wirklich viel Spaß gemacht mit euch.“
    Die Kinder stimmten ihr freudig zu. Als sie verstummten, verkündete Maria, die Kleinste: „Ich habe eine tolle Idee! Schenken wir Delia doch jeder eine unserer Federn, damit sie immer an uns denkt!“ Die Geschwister befanden dies als guten Einfall, und so zupften sie sich je eine flauschige Feder aus dem weichen Brustgefieder, um sie Delia zu überreichen. Diese nahm sie entgegen und dankte jedem einzelnen Kind persönlich. Sie befestigte die Geschenke am Gurt ihrer Umhängetasche, sodass sie bald wirkte, als trüge sie eine schwarze Federboa.
    Beim Anblick der so beschmückten Waldfee stutzte Cora und lachte: „Du siehst fast so aus wie eine Krähe!“
    Delia sah überrascht an sich hinab. Entfernt und mit viel Fantasie konnte man das tatsächlich sagen. Wie würden ihre Arbeitskollegen beim Heimbaum darauf reagieren, dass sie mit Krähen Freundschaft geschlossen hatte?
    Vorsichtig prüfte Delia den reparierten Flügel, der sich wieder genauso wie früher bewegen ließ. Sie erhob sich vom Nest und winkte den Krähen, die die Geste mit den Schwingen erwiderten. Die Waldfee entfernte sich von ihnen und wandte erst den Blick ab, als sich Bäume in ihr Sichtfeld schoben und das Nest hinter sich verbargen.
    Geleitet vom Licht der Sterne kehrte Delia zurück zum Heimbaum.[tab=Zum Zweiten!!]The Day before Tomorrow


    „Hallo. Ich bin Jirachi, Level 31. Mein Original Trainer hat mich von seiner Smaragd-Edition auf Diamant herübergeladen. Ich bin vom Wesen naiv, meine Statuswerte sind …“ Ich breche ab und suche in meinem Kopf nach den Statuswerten, die mir Elfi antrainiert hat. Ich muss sie unbedingt auswendig lernen!
    „Mit wem redest du denn ständig?“ Ich schaue auf und sehe Alakazam auf mich zukommen. Ich finde seinen Namen ziemlich ulkig, den er jedoch hat, weil er aus einer englischen SoulSilver-Edition stammt. Wäre er in einem deutschen Spiel gefangen worden wie ich, würde er auch hier Simsala heißen.
    „Ich übe“, antworte ich meinem guten Freund und umschwebe ihn. Ich bin immer wieder froh, ihn zu sehen. So viele Tauschangebote werden schnell angenommen, und meine Freunde, kaum, dass ich sie kennenlerne, verschwinden einfach. Alakazam ist bereits länger hier. „Du weißt schon! Für den Trainer, der mich einmal eintauscht. Aber diese ganzen Zahlen sind echt schwer zu merken.
    Wann tauscht mich endlich jemand?“, seufze ich tief und blicke träumend in die Ferne. „Es ist mein absoluter Herzenswunsch! Ich bin doch bescheiden, will nur für ein Mew eingetauscht werden, das nicht einmal annähernd meinen Level hat …“
    Alakazam schnaubt genervt. „Was du Bescheidenheit nennst, sind nur die Angaben, die deine Trainerin gemacht hat, als sie dich in die Globale Tauschstation hochlud. Es ist nicht deine eigene Entscheidung, für was du eingetauscht werden willst.“
    Ich kichere. „Du sagst immer so schlaue Sachen! Das bewundere ich so an dir!“ Nach einer weiteren Drehung um meinen großartigen Freund, setze ich mich auf seinen Kopf zwischen die gelben Hörner und summe ein Liedchen aus Smaragd. Wie es wohl meinen ehemaligen Teamkameraden dort ergeht?
    Die GTS ist eine gigantische Sphäre, eine kugelförmige Dimension, die sich beinahe unendlich in alle Raumrichtungen erstreckt. In weiter Ferne schimmert stets ein dunkelblaues Glühen; Alakazam und ich sind einmal auf mein Drängen hin an diesen entfernten Rand unserer Welt gereist. Ein seltsamer Ort ist das: Haarfeine Matrizen winziger Nullen und Einsen in wilder Kombination ziehen dort entweder von oben nach unten oder von unten nach oben. Es ist richtig interessant dort, aber Alakazam meint, es sei gefährlich. Vielleicht befürchtet er, unsere Daten könnten in dem Nichts hinter den Zahlen verloren gehen. Total übertrieben!
    Auf dem blauen Hintergrund dieser Zahlenkolonnen schweben weiß leuchtende Punkte wie Sterne in der Sphäre. Es sind die Pokémon, die von ihren Trainern in die Tauschstation hochgeladen wurden – so wie ich und Alakazam. Das Simsala ist aber schon viel stärker als ich, auf Level 100. Obwohl ich ja ein Legendäres Pokémon bin, ist er damit viel wertvoller als ich. Aber trotzdem wurde er noch nicht eingetauscht. Vielleicht ist sein Original Trainer aber auch nur nicht so bescheiden wie Elfi. Vielleicht hat er viel zu hohe Ansprüche an das Pokémon, das er für Alakazam bekommen will, weswegen niemand das Angebot annimmt.
    „Jirachi, fällt dir etwas auf an der GTS?“, will mein Freund wissen, indem er sich in der blauen Sphäre umsieht.
    Auch ich blicke mich um. Ich kann keine Veränderung erkennen; die Tauschstation sieht doch aus wie immer! „Nein, gar nix“, meine ich nur und fange an, mit Alakazams Bart zu spielen. Ich weiß, dass er das ganz und gar nicht mag, aber so ernst, wie er gerade schaut, gefällt er mir auch nicht sonderlich. Da soll er lieber sauer auf mich sein!
    Doch das Simsala reagiert gar nicht darauf. „Es sind so wenig Pokémon hier“, erklärt er schließlich.
    „Menno“, murmele mich nur, und tu ihm den Gefallen, mich in der GTS nach etwas umzusehen, das seinen Verdacht bestätigt. Jetzt, da er mich darauf hinweist, fällt es mir tatsächlich auch auf. „Ja, du hast Recht“, pflichte ich ihm bei und schwebe von seinem Kopf auf etwas höher.
    „Was denkst du, woran das liegt?“, fragt er weiter.
    Ein wenig sieht die Globale Tauschstation für mich aus, als seien von der sternenerfüllten Milchstraße nur noch wenige Sternchen übrig geblieben. „Lichtsmog vielleicht?“, kichere ich albern und tanze wieder um das Simsala. „Du bist doch der Schlaue hier. Lass uns lieber was spielen!“, verlange ich ungeduldig und ziehe meinen Freund am Bart.
    Doch wieder beachtet er mich nicht weiter und spricht versonnen weiter: „In den letzten Tagen sind so viele Pokémon von hier verschwunden wie noch nie in so kurzer Zeit.“
    Schließlich gebe ich seufzend auf und setze mich wieder auf seinen Kopf. „Vielleicht wurden sie ja alle eingetauscht. Haben die ein Glück! Ich hätte auch gerne ein neues Zuhause. Und es würde mich freuen, wenn Elfi ihr verdientes Mew bekommt.“
    „Meinst du wirklich, sie denkt noch an dich?“, fragt Alakazam jetzt, schaut mich über seine Schulter hinweg aus müden Augen an.
    „Natürlich! Ein Mew ist doch ein genauso besonderes Pokémon wie ich, und Elfi hat mich sehr lieb!“
    Alakazam lacht bitter. „Denk genauer nach, Jirachi. Was meinst du, wann war sie das letzte Mal online, um nachzusehen, ob jemand ihr Tauschangebot angenommen hat?“
    Ich denke kurz nach. „Hm … ein paar Tage vielleicht?“ Hier in der GTS gibt es nirgendwo eine Uhr. Die einzige Möglichkeit, zu erfahren, welches Datum gerade herrscht, besteht nur dann, wenn sich ein Trainer einloggt. Abgesehen davon leben wir hier völlig ohne Zeit.
    „Unmöglich“, behauptet Alakazam. „Allein zwischen den beiden letzten Malen, da mein Trainer nach mir gesehen hat, lagen über zwei Monate. Und schon davor war deine Trainerin nicht online.“
    Ich zucke nur unberührt die Schultern. „Das heißt nicht, dass sie mich vergessen hat.“
    „Es ist sogar gut möglich“, strickt das Simsala weiter, „dass sie ihr Spiel neu begonnen hat. In so einem Fall könnte sie sich gar nicht mehr in diesen Account einloggen.“
    „Wie kannst du so etwas nur sagen!“, rufe ich gereizt, indem ich mich von seinem Schädel abstoße. „Das würde Elfi niemals tun! Dann wären ja auch alle meine Freunde auf Diamant weg!“
    Es sieht so aus, als wolle Alakazam zu einer Erwiderung ansetzen, als über ihm plötzlich ein blaues Licht aufleuchtet. Wir schauen beide überrascht auf. Das Leuchten weitet sich auf zu einem indigofarben irisierenden Ring, in dessen Innern sich ein Wurmloch ins Unendliche erstreckt. An seinem ungreifbar fernen Ende changiert ein silberner Funke. Alakazams Trainer hat sich soeben eingeloggt!
    Von der gelben Simsala-Haut steigen jetzt weißliche Blasen auf, die allmählich von dem Dimensionstunnel aufgesaugt und hinfortgetragen werden. Alakazam scheint zuerst sehr nachdenklich auf den inneren Rand des blauen Rings. Auch ich werfe einen Blick auf die Laufzeile, die sich dort im Ringelreigen im Kreise dreht: der neunzehnte Mai, nur ein paar Minuten vor Mitternacht. Irgendwie eine interessante Zeit, finde ich, so kurz vor dem Datumswechsel.
    Plötzlich reißt mein Freund die Augen auf, als sei ihm gerade etwas klar geworden. Er sieht zu mir, mit einem so ernsten Gesichtsausdruck, dass es mir Angst macht. „Jirachi!“, sagt er eindringlich und legt seine großen Hände auf meine Schultern. Ich zucke zusammen, bin aber auch erstaunt von seiner Geste. Das hat er noch nie gemacht! Ob er mich jetzt umarmt? „Es war manchmal ganz schön anstrengend mit dir“, fährt Alakazam fort. „Aber eigentlich hat es auch Spaß gemacht. Ich wünsche dir, dass Elfi dich nicht vergessen hat und dich hier wieder rausholt.“
    „Lädt dein Trainer dich runter?“, frage ich; Alakazam nickt. „Dann lädt er dich bestimmt bald wieder hoch“, versichere ich ihm. „Wir werden uns ganz bestimmt wiedersehen! Und falls nicht, bin ich gegen ein Mew eingetauscht worden.“ Ich lächle. Ich weiß ganz genau, dass es so kommen wird. Es besteht also nicht der geringste Grund, so eklig ernst zu sein wie Alakazam!
    Das Simsala lächelt ebenfalls, aber in seinen Augen glänzen Bitterkeit und Mitleid. Was soll das denn? „Du hast wahrlich ein naives Wesen!“ Der Hintergrund der Tauschstation lugt allmählich immer kräftiger durch seinen durchscheinender werdenden Körper. Immer mehr seiner Daten werden in Form weißer Bläschen auf SoulSilver zurückgeholt. Auch das Gewicht seiner Pranken auf meinen Schultern wird geringer.
    Und verschwindet schließlich ganz. Die letzten Kugeln, in die sich mein bester Freund aufgelöst hat, werden vom Tunnel eingesaugt. Sowie das geschehen ist, schrumpft der Ring bis zur Nichtexistenz zurück.
    Ich schwebe noch eine Weile an derselben Stelle. Ein wenig bin ich schon traurig, dass Alakazam jetzt fort ist. Vielleicht werde ich ihn niemals mehr wiedersehen. Aber zugleich bin ich auch froh für meinen Freund. Er wurde zwar nicht eingetauscht, was ja das höchste Ziel ist, das ein Pokémon in der GTS erreichen kann. Aber sein Trainer hat ihn zurückgenommen, wodurch er Alakazam vielleicht wieder in Kämpfen einsetzen wird. Zum Kämpfen werden wir Pokémon schließlich geboren.
    Langsam setze ich mich in Bewegung. Ich muss nach vorn schauen! So viele Freunde habe ich kommen und gehen sehen; ich bin sicher, ich werde wieder neue kennenlernen. Auch wenn ich mich mit keinem mehr so gut werde verstehen können wie mit Alakazam!
    In der Ferne erkenne ich am blauen Sphärenrand etwas sehr ungewöhnliches: Ein schwarzes Loch, erst nur sehr klein, das sich rasch vergrößert und über die ganze GTS ausbreitet. Ich spüre, wie es auch mich erfasst und sehr schnell einschwärzt.
    Aufgeregt schaue ich mich um. Fühlt es sich so an, eingetauscht zu werden?[tab=Zum Dritten!!!]König Michael


    Einst, vor vielen, langen Jahren, herrschte König Michael über ein recht kleines Reich. Von seinen Untertanen wurde er jedoch meist Goldener Michel genannt. Mit diesem Beinamen hatte es eine besondere Bewandnis:
    Schon immer hatte der König, der einen goldenen Hirsch im Wappen führte, eine Vorliebe für das wertvollste aller Metalle gehabt. So glaubte er, den Reichtum seines kleinen Landes vor anderer Könige Augen beweisen zu müssen, indem er es in der eigenen Schatzkammer hortete. Seine Liebe für das Gold ging gar so weit, dass er seinen Erstgeborenen Aureus danach benannte. Doch die Königin verstarb im Kindbett, und mit ihrem Tod wurde aus Michaels bloßer Zuneigung Besessenheit.
    Er erhöhte die Steuern, Abgaben und Wegzölle so drastisch, dass die Schatzkammer alsbald überlief. Was an Gold überschüssig war, nutzte der geizige König, um so manchen Gebrauchsgegenstand vergolden zu lassen, sodass der Palast in allen Ecken und Fugen wie die Abendsonne glänzte. Gerüchte kamen auf unter den einfacheren Leuten, der König bräuchte Gold zu essen, dass es in seinen Adern flösse und ihn am Leben erhielt. Dass er selbst nur noch eine lebendige Goldstatue war. Mit dieser These verbreitete sich auch der Name Goldener Michel.
    Eines Morgens bestellte des Königs Schatzmeister Michael in die Schatzkammer, wo die Goldmünzen aus den Steuern aufgehäuft lagen. Nicht gering erschrak der König, als er erkannte, weswegen er hierher gerufen worden war: Ein guter Teil des Goldes war braun und rau wie Rost. Doch wer hatte schon je gesehen, dass Gold rostete?
    „Vielleicht waren diese Münzen gefälscht“, entschied Michael und veranlasste, einige andere auf ihre Echtheit zu prüfen und die verdorbenen zu entsorgen. Schon am nächsten Tag wurde dem König gemeldet, dass weitere Münzen, selbst solche, die man für aus Reingold geprägt befunden hatte, ebenfalls rosteten. Sogleich glaubte Michael an Betrug, dass jemand die echten Münzen heimlich austauschte, und versperrte die Schatzkammer, in seinem Besitz der einzige Schlüssel.
    Doch auch das führte zu nichts. Das Gold rostete beinahe so schnell, dass man ihm dabei zuzusehen vermochte. Und niemand wusste Rat, was mit dem Edelmetall geschah, auch nicht die Gelehrten, die Michael zur Begutachtung des Rätsels herbeirufen ließ.
    Da bat ihn eines Tages jemand um eine Audienz, das schwindende Gold betreffend. Eifrig befahl der König, den Bittsteller einzulassen, denn er wollte unbedingt eine Lösung für sein heikles Problem. Die Wache führte eine Frau herein, blutjung und von einer Schönheit, die jeden Mann in den Bann zu schlagen vermochte. Um den Hals trug sie das Fell eines Marders wie einen Schal. Der Wachmann stieß sie vor und verkündete: „Dies, mein König, ist die Hexe Orophylla, und sie …“ Was immer er weiter zu sagen gedachte, blieb ihm sogleich im Halse stecken.
    Das vermeintliche Marderfell entpuppte sich als lebendiges Tier, das nach ihm schnappte und seine Herrin zu beschützen suchte. „Ich bevorzuge den Begriff Alchimistin“, sagte diese. Orophylla wandte sich dem König zu und verneigte sich mit spöttischer Miene.
    Michael winkte ungeduldig ab und bellte: „Sprich, Satansbrut, warum verrostet mein Gold?“
    „Alchimistin“, berichtigte die Hexe ein weiteres Mal und fuhr fort: „Es ist nicht Euer Gold, das in Euren Kammern liegt. Ihr stehlt es Euren Untertanen, Eure Königswürde als Rechtfertigung anführend, und lagert es, wo es niemandem, auch Euch nicht, nutzt. All das Gold, das Ihr als Eures anseht und dem Volk gehört, soll vor sich hinrosten. Dies ist der Fluch, den ich verhängte.“
    „Also bist du die Missetäterin!“, brüllte der König, so wie er das vernahm.
    Orophylla aber entgegnete: „Nein. Ihr allein seid es, Goldener Michel.“
    Bei Erwähnung seines verhassten Beinamens platzte dem König der Kragen. „Werft sie in den Kerker!“, befahl er wütend, indem er auf die Hexe deutete. „Foltert sie, bis sie bereit ist, den Fluch aufzuheben.“
    Sie wehrte sich nicht, als sie von den Wachen abgeführt wurde; auch der Marder verhielt sich still. Doch sie sagte noch zum König: „All Eure Foltergeräte werden Euch nichts nützen. Ihr allein könnt den Fluch von Euch nehmen!“ Sie lachte, dass es noch in den Palastmauern widerhallte, als sie schon in den Kerkern saß.
    König Michael sann in den nächsten Tagen darüber nach, was zu tun sei. Wenn sein Gold sich verringerte, musste er dafür Sorge tragen, die Schatzkammer wieder aufzufüllen. Erneut erhöhte er den Zoll an seinen Grenzen und die Abgaben, die die Bürger zu zahlen hatten. Im ganzen Reich ritten seine Steuereintreiber umher und sammelten jede Goldmünze, de sie abnehmen konnten. Doch sowie die Einnahmen in die königliche Schatzkammer gebracht wurden, erschien der Marder, und unter seinem wachen Blick zerfielen sie augenblicklich zu Staub. Auch, wenn die Münzen nicht in die angestammte Kammer geschafft wurden, tauchte der kleine Räuber wie aus dem Nichts auf und vollführte Orophyllas Zauber.
    Auf Michaels Erlass hin wurden daher die verschiedensten Kniffe angewandt: Schnelle Pferde sollten das Gold eilig hinforttragen, doch wenn diese ihr Ziel erreichten, ließ sich der Marder einfach an diesem Ort blicken. Jäger begleiteten die Steuereintreiber, um den Marder zu erlegen, sollte er erscheinen. Doch das Tier, obwohl beim vorigen Mal getötet, erschien immer wieder, so oft man es auch erschlug. Man versuchte, sich als normaler Bauer zu verkleiden, oder das Gold über Mittelsmänner einzutreiben, aber wie sehr man sich auf des Königs Befehl hin bemühte, der Fluch ließ sich nicht narren.
    Das Volk begann, unruhig zu werden. Die Kunde davon, was mit ihrem Gold geschah, wenn es in der Staatskasse landete, die keine war, verbreitete sich rasch. Viele erlegten eigenhändig jeden Marder, der ihnen über den Weg lief, aus Angst, ihren wenigen Ersparnisse könne dasselbe geschehen. Andere verlangten, man möge die Urheberin des Fluches, die keiner Folter nachzugeben schien, töten – was letzten Endes niemand zu tun wagte, aus Angst, der Zauber verflöge dadurch nie. Nachbarn und Freunde raubten sich aus, Bruder und Bruder gerieten in Streit, Wirte erdolchten ihre Gäste im Schlaf. Die Handelsstraßen wurden nicht länger befahren, weil der Zoll zu teuer wurde, die Wirtschaft brach zusammen. Im Reich herrschten Angst, Misstrauen, Hunger und Tod.
    Selbst Prinz Aureus, der in den Unruhen viele gute Freunde verlor, hielt seinen Vater an, Orophylla zu befreien und um Rat zu bitten, wie er den Fluch brechen solle. Immerhin sei sie die Einzige, die wisse, wie ihm das gelänge. Doch König Michael war nicht bereit, nachzugeben. Blind vor Wahn beutete er seine Untertanen immer weiter aus, bis alles Gold seines Landes zu Rost zerfallen war.
    Da erreichte ihn die Nachricht, dass sein eigener Sohn und Thronfolger auf einer nächtlichen Wanderung durch die Straßen überfallen und gelyncht worden war. Einen Augenblick starr vor Schreck beschloss er, die Verantwortlichen vor den Richter zu bringen. Die meisten seiner Wachen waren aufgrund der dauerhaft ausbleibenden Bezahlung dessertiert, und nur die Treuesten waren geblieben. Doch auch sie waren sich einig, dass der Goldene Michel selbst die Schuld für sein Leid und den Tod des Kronprinzen trug.
    Also holten sie die Hexe aus dem Kerker – sie brachten den Richter zum Verantwortlichen.
    Auch nach Wochen der Folter war Orophylla noch so schön wie zu dem Tag, da sie das erste Mal im Thronsaal erschienen war. Die unglaubliche Pein, unter der jeder hartgesottene Krieger eingebrochen wäre, hatte ihr nichts angetan. Der Marder strich um ihre Beine wie eine grotesk parodierte Katze.
    Den König hatten die anhaltenden Beschwerden und die Aufstände seiner Untertanen ausgezeht, nicht zuletzt aber war er an dem Kummer um seinen geliebten Sohn zerbrochen. Alt und müde hing er in seinem Thron, der einst vergoldet gewesen war, auf dem Haupt fehlte die güldene Krone. „Alchimistin“, sprach er die Hexe an, „du hast mir alles genommen, was mir teuer war. Erst mein Gold, dann meinen Sohn – und nun auch meinen Seelenfrieden!“ Er erhob sich mühsam, trat auf sie zu und ging vor ihr tief in die Knie. „Bring meine Seele dem Teufel, wenn es das ist, was du willst. Aber gib meinem Volk wieder, was ihm von mir genommen wurde, aber nicht wiederbeschafft werden kann“, flehte er inbrünstig.
    Orophylla sah auf ihn herab wie eine Gebieterin. „Dies sind die Worte, die Ihr schon viel früher hättet sprechen sollen. Um den Fluch wirklich zu brechen, müsst Ihr beweisen, dass Ihr sie auch im Herzen tragt.“ Sie gebot ihm, aufzustehen, und reichte ihm einen Schlüssel – eben jener, mit dem er zu Beginn seines Dilemmas um das rostende Gold die Schatzkammer versiegelt hatte. „Geht und öffnet die Tür, zu der dieser Schlüssel gehört. Entscheidet selbst, was zu tun ist.“
    Sogleich zog der König los zur Kammer, die er entleert und sinnentleert zurückgelassen hatte. Wie er die Türen aufriss, leuchtete ihm ein Berg aus Goldmünzen entgegen, mehr, als er je in seiner Kammer gehabt hatte. Ihm wurden die Augen weit vor Staunen, und die alte Gier regte sich in ihm. Doch er entsann sich der Worte Orophyllas und befahl, Säcke herbeizuschaffen und sie mit Gold zu befüllen.
    Mit seinen verbliebenen Wachen, alle mit einem Sack Münzen beladen, trat er vor des Palasts Tore, wo sich eine große Anzahl Unzufriedener zum Protest versammelt hatte. Michael griff in den ersten Sack und zog eine Handvoll Münzen hervor. Damit trat er an den ersten Mann, der in seinen Augen der Ärmste unter den Versammelten war. Ihm reichte er eine Goldmünze, bevor er sich dem Nächsten zuwandte, der das Gold am nötigsten hatte. Als die Menschen erkannten, was vor sich ging, wollten sie sich auf den König stürzen, um ihm die Münzen allesamt zu entreißen und das Meiste davon abzubekommen. Schützend stellten sich den Vandalen die Wachen und einige Freiwillige aus der Masse entgegen.
    Die Unordnung wurde geordneter, und aus der Schatzkammer des Königs erhielt jeder Bürger gerade so viel, wie er an den Fluch verloren hatte – keine Goldmünze mehr oder weniger.
    Das schlug sich entsprechend auf das Vermögen Michaels nieder. Als er wieder in die Kammer einkehrte, lag nur noch ein sehr geringer Teil seines einstigen Reichtums darin. Noch nie vor dem Fluch hatte er so wenig Gold im Besitz gehabt. Damals wäre er darüber unglücklich gewesen. Doch nun wusste er, dass der Reichtum seiner Untertanen auch der seine war und in ihren Händen einen wesentlich größeren Wert hatte als in der kalten, staubigen Kammer.
    Liebend gerne hätte er der Hexe – der Alchimistin – seinen tiefsten Dank dafür ausgesprochen, dass sie ihm die Augen geöffnet hatte. Doch Orophylla und ihr Marder waren verschwunden und wurden in Michaels Reich nie mehr gesehen.
    Die folgenden Jahre waren gezeichnet von der Güte und Großzügigkeit König Michaels. Nie mehr sollte er die Steuern erhöhen, nie mehr den Bauern das wegnehmen, was sie am nötigsten zum Überleben brauchten. Seinen Beinamen Goldener Michel behielt er bei, doch nun wurde er nicht mehr in Wut ausgesprochen, sondern in Dankbarkeit und Respekt. Um den Wohlstand auch nach außen zu sichern, stellte der König, der keine Erfahrung mit dem richtigen Umgang mit Gold hatte, einen Kaufmann als Berater ein und nahm dessen Tochter zu seiner neuen Königin.
    Der Fluch und seine Auswirkungen auf das kleine Reich sollten nie vergessen werden. So änderte Michael das Wappentier vom goldenen Hirsch zu einem braunen Marder, dem Gefährten Orophyllas. Seine Königin gebar ihm bald einen Sohn, den er in Andenken an das kleine Raubtier Martin taufte – von martes, dem Lateinischen für Marder.
    Ihm hinterließ er nach vielen Jahren weiterer Regentschaft ein Reich, das seinen gewandelten König letzten Endes sehr geliebt hatte. Und auch unter den folgenden Königen sollte das Erbe des Goldenen Michels nie verblassen.


    [tab=Und Verkauft!]Ich habe mal wieder so lange gezögert, jetzt haben sich wieder ein paar Texte angehäuft und anderes zu Erledeigendes… Ich bin faul wie ein Relaxo, deswegen habe ich mir ein neues Ava zugelegt xP

    [tabmenu][tab=Nun]Auch ich möchte nicht sehr viel schreiben (das ist echt ein Wunder xD), sondern mich herzlich für die Kommentare und Votes bedanken ^^ Mir hat das Schreiben dieser Geschichte total Spaß gemacht, und ich bin froh, dass sie bei manchem Leser so guten Anklang gefunden hat <3
    Natürlich Glückwunsch an Chess und vor allem Paya. Als ich eure Abgaben gelesen habe, war mir gleich klar, dass ich dagegen keine Chance haben werde, ehrlich.


    Was mir aber noch wichtig ist, und das wendet sich an Izanami und wieder an Paya: Wie kamt ihr beide zu dem Schluss, dass es sich bei Lilymia und Filla um Insekten handelt? o0 Ich dachte, das Wort Fay/Fayee vermittle durch seine Ähnlichkeit zum Wort Fee ein gewisses Bild... Noch dazu, dass eindeutig menschliche anatomische Besonderheiten wie das Haupthaar oder Hände genannt wurden, im Gegensatz dazu Thorax und Labium nur im Zusammenhang mit Nastir. Das einzige Insekt, die hier auftritt, ist Nastir, und der ist nicht einmal den ganzen Text über eine Biene. Ihr müsst mir das echt erklären bitte @___@


    Grüße, das Me :pika: [tab=ja]Der übliche Schlusstab. Heute mal mit dem Lied und dazugehörigem Video, das mir Inspiration und Muse für diese Geschichte war ^^ (auch wenn es vielleicht nicht sofort so scheint xP)

    [/tabmenu]

    [tabmenu][tab=-]Die Qual der Wahl... welch passendes Stichwort, denn meine Entscheidung, ob ich vote oder nicht, war eine furchtbare Qual. Weswegen ich auch so lange gewartet habe... nun, Grund ist, dass nur etwa die Hälfte der Abgaben meiner Meinung nach wirklich die Aufgabenstellung getroffen hat. In dieser diffusen anderen Hälfte geht es zwar durchaus darum, dass der Protagonist eine Entscheidung treffen muss - aber das wurde nicht in einen "nachvollziehbaren Dialog" gepackt, wie in der Aufgabenstellung gewünscht! Ich will keine Namen nennen, aber ich muss sagen, so manche Abgabe hätte gar nicht angenommen werden dürfen. Ich meine klar, Schreibfreiheit unstuff, aber wenn kein Dialog oder nur eine Spur davon enthalten ist, mit der Entscheidungsfindung aber nix zu tun hat, dann ist die Aufgabenstellung einfach verfehlt.
    Deswegen bewerte ich auch nur die Abgaben mit Dialog, völlig ungeachtet guten Schreibstils der Abgaben, die keinen haben.


    :pika:[tab=--]9) Unbekannter Soldat
    Ich hasse den Autor dafür, dass er hier einen so packenden Schreibstil an den Tag legt, dass ich davon total gefesselt wurde, obwohl mir die Thematik nicht zusagt. Mann, ich kann, welcher Krieg auch immer das ist (Geschichte-Noob!), ihn einfach nicht leiden, weil reale Welt, und die find ich ja sowieso langweilig. Aber wie die Verzweiflung Andrejs in Szene gesetzt wird... Auch Jegors Reaktionen sind nachvollziehbar. In einer solchen Extremsituation lässt man sich sehr vom Herzen leiten - weswegen auch Andrejs letztendliche Entscheidung nicht gerade vernünftig ausfällt. Hat mir alles tippeditopp gefallen!


    4) Qualen im Dunkeln
    Das Blabla um den Gammastrahlenblitz fand ich ziemlich unnötig. Klar soll hier eine Endzeitstimmung geschaffen werden, dem Leser vermittelt, dass auf der Erde so gut wie nix überlebt hat, wodurch eine Hoffnungslosigkeit für die Insassen entsteht. So genau hätte er nicht beschrieben werden müssen, als habe Werner einen Wikipedia-Artikel gefuttert. Naja. Das Paradox, wie die Wärter zu Häftlingen wurden, gefällt mir sehr; die Unruhen im Gefängnis ergeben vollauf Sinn. Was mir an Werner als Person nicht gefällt, jedoch als Charakter innerhalb der Geschichte, ist seine übermäßige Deutschhaftigkeit, soll heißen, dass er auch jetzt noch so an seinen geliebten Regelungen hängt. Typisch deutsche Bürokratie!


    2) Spielplatzkinderaugen
    Was hier natürlich absoluter Pluspunkt ist, ist der Schreibstil (der trotzdem nicht an Abgabe 9 heranreicht); da der Dialog mit der Entscheidungsfindung leider nur wenig zusammenhängt, gibt es nur einen Punkt. Ich finde den Jungen total süß, typisch Kind, das von den Problemen der bösen echten Welt noch nichts ahnt. Fast tut er mir mehr leid als der Protagonist, was aber nur daran liegt, dass ich diesen für einen Jammerlappen halte xD Warum der Junge bei Regen auf den Spielplatz ging, ist mir schleierhaft... Der Vergleich mit den Erdbeeren ist interessant gewählt, nur kamen dann auch Erdbeeren vor? Habs vergessen...


    1) (un)wichtig
    Schreibstiltechnisch keine gute Abgabe, muss ich sagen, aber zumindest mit Dialog, wie es sein sollte. Melodramatische Charaktere sind normalerweise nicht so meins, aber dieses Mädel ist so ulkig, da kann ich drüber hinwegsehen xP Der ganze Quark mit der Schüssel kam mir nur wie Füllmaterial vor; hat andererseits durch seine Nebensächlichkeit den Dialog an sich nicht überdeckt. Dass die Schüssel aber zerbricht, finde ich dann doch übertrieben und völlig deplatziert.[tab=Schablone]ID: 6949
    A9: 3
    A4: 2
    A2: 1
    A1: 1



    Muss zu meiner Schande gestehen, dass ich das zum ersten Mal mit dieser Schablone mache. Also bitte nicht schlagen, wenn ich was falsch gemacht hab :verwirrt:

    Woah woah, nicht so schnell, Meister! Was soll das heißen, die Lyrics fließen in die Wortbegrenzung mit ein? Dass die Lyrics, die ich in den Spoiler packe, schon von den 1500 fressen? Himmel, bitte nicht! :eeeek:
    Desweiteren, wenn man die Zeilen des Songtextes in die Geschichte einbaut, müssen sie den exakten Wortlaut haben? Oder geht auch Umschreibung? Es ist nämlich schon ein Unterschied, zitiert man gewissermaßen die Lyrics oder lässt man sich nur von ihnen inspirieren, aber halt schon so, dass man die Quelle erkennt.

    [tabmenu][tab=Der]Es scheint, als müsse mein Comp seit einiger Zeit jedes Mal, wenn ich eine Anwendung (außer Chrome) starte, erst einmal jene Anwendung abstürzen lassen und das manchmal auch noch mehrfach. Liegts am Wetter? Wird er zu schnell zu heiß? >.<


    Aaber, das soll hier ja nich das Thema sein.
    Erster Platz für eine Abgabe, bei der ich fürchtete, sie könne nicht Innerer Monolog genug sein – wie meine Chemieklausur. Ja, Leute, ich habe AC bestanden, nach dem dritten Versuch! *freudenspring* Danke an alle Kommentare und natürlich insbesondere für die Votes <] Und hier gibt’s traditionell meine Rekommis…


    Ich gratuliere Wollust und vor allem Paya. Dich werde ich echt nich los, was? xP


    :pika:[tab=helle]

    [tab=Wahnsinn!]

    Der Tod kann Rappen und Schimmel reiten
    Der Tod kann lächelnd im Tanze schreiten.
    Er trommelt laut, er trommelt fein:
    Gestorben, gestorben, gestorben muß sein.
    Fleetburg in Not
    In Fleetburg reitet der Tod!


    Letzte Strophe des Liedes In Flandern reitet der Tod. Ich weiß, nicht gerade kreativ, nur Flandern mit Fleetburg auszutauschen. Um es mehr an Darkrai anzupassen fehlt mir aber grad die Motivation x3

    Na jut, dann hab ich hier noch nen Schub...


    Musikvideo
    Ein Wettbewerb, in dem man sich vom Songtext eines Liedes zu einer Geschichte inspirieren lassen sollte, und einen, in dem es um Melodie allein ging, hatten wir bereits. Aber in dieser Medienrichtung gibt es noch einen Aspekt: Das Musikvideo eines Liedes. Aufgabe wäre, ein Musikvideo daherzunehmen (entweder, dass man es sich selbst aussucht oder die Wettbewerbsleitung eine Sammlung zur Auswahl stellt) und basierend darauf eine Geschichte zu verfassen. Und zwar allein zum Visuellen. Ideal wäre es natürlich, wenn das Musikvideo auch verlinkt wird - ein bisschen knifflig wird das bestimmt, wenn die GEMA Problema macht, aber es wird schon schief gehen x3


    Schöpfungsgedicht
    Im Original ist die Genesis ein lyrischer Text mit Strophen und Versen, was bei der Übersetzung leider verloren gegangen ist. Hier wäre die Aufgabe, eine Schöpfungserzählung ebenso in ein Gedicht zu verpacken - entweder eine bereits existente (wobei dann natürlich Kultur und Religion angegeben werden müssen) oder eine selbstausgedachte. Oder evtl, weil wir hier ja ein Pokémon-Forum sind, die Schöpfungsgeschichte um Arceus neu auflegen.


    Kindergeschichte
    Hier sollen die Teilnehmer schlicht und ergreifend eine Geschichte schreiben, die auch mal für Kinder geeignet ist. Also sollten Themen wie Freundschaft, Aufrichtigkeit, Gemeinschaftsbewusstsein eine Rolle spielen. Werte und Tugenden, die man Kleinkindern gerne beibringt. Natürlich darf dann auch die Wortwahl und der Schreibstil nicht allzu hochgehoben, sondern kindlich einfach gehalten sein, was dann auch in die Wertung fallen muss. Entweder sollen Handlung und Charaktere komplett der eigenen Kreativität entspringen, ein Fandom verwendet werden, das Kinder anzielt (was dann aber dem Kindheitserinnerungen-Wettbewerb ähneln würde) oder allein pokémonthematisiert sein.


    :pika:

    [tabmenu][tab=Chemiedepression]Eigentlich sollte ich Anorganische Chemie lernen, hab übernächsten Montag eine Klausur… ich hasse AC!!!
    Nach diesem Post sind nur noch zwei Kurzgeschichten übrig. Ich habe ja doch schneller aufgeholt als gedacht ^^


    Der erste Tab enthält ein Gedicht zu einem WB, in dem man zwei Gesprächspartner sich miteinander unterhalten lassen sollte. Was passt da besser, als zwei völlig gegenteilige Redner mit verschiedenen Weltanschauungen? Ich bin nicht die einzige, die ihre Abgabe so hielt, hab aber trotzdem gewonnen <3 Yay!


    Im zweiten ist meine und Raichu-chans Abgabe für den Collab-WB, in dem man eine Szene aus zwei verschiedenen Blickwinkeln schreiben sollte. Der erste Part entstammt meiner Feder, der zweite, also alles ab der Leerzeile, der ihren. Auch wenn wir nicht gut abgeschnitten haben, bin ich sehr zufrieden mit unserem gemeinsamen Werk ^^


    Drittens ist meine Abgabe für den WB mit dem vielsagenden Namen „Spoileralarm – Nur der Tod ist sicher“. Ein interessantes Thema, bei dem der PoV am Ende sterben sollte. Ich wollte meinen Protagonisten dabei nicht einen stinknormalen Tod sterben lassen und hab mal was Neues probiert. Leider waren nicht viele Voter davon sohoo begeistert, sie wollten eine Erklärung sowohl für Victors als auch für Kendras Fähigkeiten. Ich frage mich echt, warum das so wichtig war xP Man beachte jedoch, dass die Namen der beiden Hauptpersonen nur im letzten Satz gemeinsam genannt werden.
    Wichtig beim Lesen ist, trotz der Erwähnung Draculeas nicht an Vampire zu denken. Vlad der Dritte war ein Feudalherrscher in Rumänien, eine historische Figur, der nur durch die Unterhaltungsliteratur mit Vampiren in Verbindung gebracht wurde. Sowieso glaube ich kaum, dass sich irgendein Literaturblutsauger mit der grausamen Wirklichkeit messen kann. Außerdem ist der Name hier im Text (relativ) falsch übersetzt. Eigentlich bedeutet Draculea „Sohn des Drachen“, da Vlads Vater dem sogenannten Drachenorden angehört hat. „Sohn des Teufels“ ist eine Fehlübersetzung, die jedoch weit genug verbreitet ist, dass ich mir dachte, das geht schon in Ordnung x3[tab=Eins]Memento Diem



    Einst wandelte ich durch’s weite Meer,
    mit Freunden, Familie, all meinen Lieben.
    Sie alle sind nun nimmermehr
    - und ich bin ganz allein geblieben.
    So dichte ich ein einsames Lied
    und besinge darin jene alten Tage.


    Fragte mich, was geschieht,
    woher tönt tiefe Klage.
    Großer, mächt’ger Blauwal,
    ich erhörte Gesang.
    Meine Frage, banal:
    Warum dein Herz so bang?


    Ist’s ein Delfin, der zwitschernd mich unterbricht?
    Der wissen will, was tief mein Herz bewegt.
    Der wie in gejagter Eile hastig spricht,
    nie still hält und sich stetig regt.
    Euch kleinen Tümmlern ist große Neugier,
    die euch bringen wird um Kopf und Finne!


    So erlaube mir,
    dich zu begleiten, Minne.
    Auf dass ich diese
    füttere mit Kenntnis
    um deiner, Riese,
    traurige Bewandtnis.


    Schwimme mit, wenn dies dein Wille,
    ich werde dich nicht fortschicken.
    Jedoch, mein Ziel sind Tiefen ewiger Stille,
    wo Wassermassen Körper fast zerdrücken.
    Versteh mich recht, ich wollte nicht klagen
    um mein erfülltes, langes Leben,
    doch ich kann auch nicht sagen,
    es hätte mir alles gegeben.
    Was mir bleibt? Trauer und Gedenken,
    an jene, die ich einst geliebt,
    und mich dorthin zu versenken,
    wo es nur noch ihre Knochen gibt.


    Du willst dich töten?
    Schwarze Unterwasserflut
    Mit deinem Blut erröten?
    Ein Ziel ist gut,
    eine Reise starten,
    doch denkst wirklich,
    dass sie deiner warten?
    Lieber sage ich:
    Im Sterben vergingen
    die Toten, sind fort.


    Kleiner Freund, lass mich dir singen,
    von diesem wunderschönen Ort,
    lass mich lehren deinen Verstand,
    der rastlos ist, und du nicht weißt:
    Der Tod ist, in der Tat, ein Zustand.
    Eines Freundes jeder Geist
    wartet geduldig auf mein Kommen.


    Schere nicht um Tod,
    ist mir zu verschwommen.
    Des Lebens Lot
    ist mir Frohsinn.
    Delfine, stets lebensfroh,
    wir sind mittendrin,
    reißen Fische roh
    aus silbernen Schwärmen.
    Spielen mit Wellen,
    tanzen, lärmen,
    reiten Stromschnellen,
    töten zum Spaß.
    Anno dazumal
    lehrte Dionysos, dass
    leben ohne Moral
    sei Sinn und Zweck
    unserer Naturtriebe.
    Keine Strenge, keck,
    keine Treue der Liebe,
    die uns hält.
    Wir flipperwinken
    der Oberwasserwelt.
    Wale aber sinken
    in sich selbst hinein.
    Leben Ewigkeiten
    ohne ein Lebendigsein.
    Pflügen durch Krill,
    halten streng Diät:
    So der Ozean will,
    genug hineingerät.
    Kopulieren selten,
    nur zum Arterhalt,
    weswegen gelten
    als jung schon alt.


    Oh nein, nicht von Anfang sind wir bieder,
    das sind Gerüchte, nichts weiter.
    Wir singen sogar öfter Lieder
    übers Spielen, froh und heiter.
    Als Junges habe ich beim Luftholen
    Fanfarenstöße gen Himmel geblasen,
    mich heimlich davongestohlen,
    um gegen Barrakuda wettzurasen.
    Habe mit Flukenflossenschlag
    den fernen Horizont gegrüßt.
    Und mir jeden sonnigen Tag
    mit neugesetzten Zielen versüßt.
    Wenn jemand starb, da habe ich
    aus meinem Denken den Tod verbannt.
    Doch das Meer ist unendlich
    - das habe ich früh erkannt -
    und meine heile Welt zerrann.
    Ich weiß durch die, die starben,
    dass der Tod mit jeder Welle kommen kann.


    Ich lote Narben
    an Rücken, Mund.
    Mein Sonar zeigt mir:
    Deine Haut wie Meeresgrund.


    Das war kein gefährlich‘ Tier.
    Tausend Harpunen, Dornen von Stahl,
    die dort meine Haut aufrissen,
    und bei beinahe jedem Mal
    kam ich einen Freund vermissen.


    Klingt schaurig,
    Eiseskälte rollt.
    Doch dass du traurig,
    Freunde nie gewollt.


    Ein Delfinding ist, das ist wohl wahr,
    viel zu schnelle Reden schwingen,
    Wörter schlucken ganz und gar.
    Nicht wie Wale behäbig singen.
    So muss ich jetzt doch einsehen:
    Delfinchen, du und ich, der Wal,
    uns niemals werden verstehen
    - du schon gar nicht meine Qual.
    Dass wir uns heute trafen,
    war allein der beste Wille
    einer günstigen Strömung, ein Hafen
    von endloser Weisheit und Stille.


    Von langem Walton
    - du hast Recht -
    mir schwindelt schon.


    Das ist beunruhigend schlecht.
    Sicher, dass das ist nicht Atemnot?
    Tauche auf, so wird es wieder gut,
    sonst bist du bald schon tot.
    Selbst das Meer atmet mit der Flut
    und mit der Ebbe aus und ein.
    Nicht genug Luft können fassen
    diese Delfinlungen so klein.
    Du musst mich nun alleine lassen.
    So ziehe, werde wieder munter,
    ich habe nichts mehr zu sagen.
    Und tauchst du wieder unter,
    ist meine Seele weit davongetragen.


    Wal, deine Weisheit,
    trage ich dann,
    so lang und weit,
    wie ich kann.
    Was ich nicht versteh‘,
    werd‘ ich nicht neinen.
    Aber die See
    kann uns einen,
    uns ewig binden.
    Suche nur und
    du wirst finden,
    auf Meeresgrund,
    die Deinen dort.
    Ich danke dir
    für jedes Wort,
    du sagtest mir.


    Einst wandelte ich durch’s weite Meer,
    mit Freunden, Familie, all meinen Lieben.
    Sie alle sind nun nimmermehr
    - und ich bin ganz allein geblieben.
    Doch in des Meeres ewigen Weiten,
    in Seegeschöpfen groß und klein,
    werd‘ ich, Delfinfreund, für alle Zeiten
    in deinem Herz unsterblich sein.[tab=Zwei]Veränderung



    Orion spähte über die Brustwehr und versuchte, das gegnerische Heer zu erfassen. Die weite, grasbedeckte Ebene, deren Horizont sonst weit entfernt schien, war nun beinahe lückenlos bedeckt von feindlichen Soldaten. Es waren so furchtbar viele… Sollten sie sich entscheiden, die Hauptstadt des Reiches anzugreifen, dessen war sich Orion sicher, hätten die Verteidiger keine Chance auf einen Sieg. Doch so leicht würden sie nicht weichen, eingeschüchtert von der bloßen Gewaltigkeit der Armee!
    Von dieser löste sich nun eine erste Kolonne, bereit, die Festungsmauern zu erstürmen und jeden zu töten, der sich dahinter verbarg. Orion warf einen Blick zu seinem Hauptmann, der die Hand hob. Wie alle anderen Bogenschützen zückte Orion einen Pfeil, legte ihn auf die Bogensehne und spannte diese. Auf ein weiteres Zeichen zischten hunderte der tödlichen Geschosse auf die herannahende Kompanie zu, einige fanden ihr Ziel. Mit grimmiger Schadenfreude erkannte Orion, dass auch er getroffen hatte.
    Im nächsten Moment verflog sein Grinsen, als unter der Mauer Armbrüste angelegt wurden. Eiserne Bolzen flitzten herbei. Um nicht von ihnen verletzt zu werden, verbarg sich Orion hinter einer Mauerzinne.
    Sobald er meinte, wieder sicher zu sein, trat er aus seiner Deckung hervor. Die kleine Gruppe Feinde, die nach Überlebenden suchten, war weitergezogen und hinter Bäumen verschwunden.
    Orion stutzte. Bäume? Ein Wald? Hatte er nicht eben noch auf einer Mauer gestanden, nur in Schussnähe zum Gegner? Verwundert stellte er fest, dass sich nicht nur seine Umgebung massiv verändert hatte: Auch sein Langbogen war einem mächtigen Beidhänder gewichen. Statt eines stählernen Harnisches trug er ein Kettenhemd, das ihn in seiner Bewegungsfreiheit nicht beeinträchtigte.
    Plötzlich vernahm er ein hölzernes Knacken hinter sich. Orion wirbelte herum – ein Soldat war aus dem Unterholz getreten, holte nun mit seinem Schwert aus, um den Krieger anzugreifen. Im ersten Moment überkam Orion Panik – er war Bogenschütze, kein Nahkämpfer. Mit einem Schwert umzugehen hatte er nie gelernt.
    Zu seiner Überraschung jedoch reagierte sein Körper selbstständig: Mit einer fließenden Bewegung hob er die Waffe mit der fast mannslangen Klinge und parierte. Unter dem nächsten Schlag tauchte er geschickt hindurch, rammte die Spitze des Beidhänders dem Soldaten in die Bauchgegend. Mit einem befriedigenden Ächzen brach Orions Gegner zusammen, sein Blick glitt in die Ferne und verlor sich im Nichts.
    Orion trat zurück, die Schwertklinge voll Blut. Das war die richtige Art des Kämpfens! Seinem Gegner in die Augen zu blicken, während in ihnen das Lebenslicht erlosch.
    Verwirrt schüttelte Orion den Kopf. Was waren das für Gedanken? Woher hatte er diese unglaubliche Fertigkeit, das Schwert zu führen? Ihm schien, als habe er nie etwas anderes getan, als Mann gegen Mann zu kämpfen. Doch bis eben noch hatte er Pfeile von einer Festungsmauer abgeschossen, ohne je eine Stichwaffe in der Hand gehabt zu haben, die größer als ein Brotmesser war.
    Das war jetzt ohnehin unwichtig, entschied Orion. Diesen seltsamen Vorgängen konnte er sich auch später widmen, wenn er den Heerführer der gegnerischen Armee gefunden hatte. Nagard war schuld am Tod seiner Familie, hatten seine Soldaten doch auf seinen Befehl in allen Dörfern auf ihrem Weg gebrandschatzt und gemordet. Auch Orions Eltern, seine Schwester und drei Brüder hatten sich unter den Toten befunden. Das würde er Nagard nie verzeihen! Orion stapfte wütend durch den Wald, achtete nicht auf seine Deckung, schlug mit dem Schwert seines Vaters nach Ästen.
    Allerdings, musste er erkennen und blieb nachdenklich stehen, war seine Familie doch am Leben. Dachte er zumindest. Plötzlich waren da völlig neue Erinnerungen in seinem Kopf, die mit denen zuvor zum Teil in Widerspruch standen. Anscheinend fing er an, den Verstand zu verlieren!
    Ein ohrenbetäubendes Brüllen schreckte Orion aus seinen Gedanken auf, und er hielt Ausschau nach der Quelle des Lärms. Wie aus dem Nichts, so kam es Orion vor, war am Himmel ein monströses Ungetüm aufgetaucht, das mit seinen gewaltigen Schwingen die Kronen der Bäume zum Tanzen brachte. Rubinrote Schuppen auf dem Rücken, aquamarinblaue an der Unterseite überzogen den mächtigen Leib. Wieder stieß das Ungeheuer ein markerschütterndes Brüllen aus, begleitet von einem lodernden Flammenstrahl. Ein Drache!
    Die riesige Flugechse zog vorbei und trieb in einem anderen Waldgebiet ihr Unwesen. Auch wenn Orion sich sicher war, noch nie einem Drachen begegnet zu sein, gesellte sich seinem Sammelsurium an neuen Erinnerungen ein weiteres Fundstück hinzu. Er entsann sich eines Tages, an dem er einen Drachen getötet hatte. Einen kleineren zwar als das jetzige Exemplar, doch seine Kenntnisse über die Schwachstellen dieser Monster ließen sich auch darauf übertragen.
    Vorausgesetzt natürlich, er war überhaupt noch bei Verstand. Denn wie ließ sich sonst seine zweite Vergangenheit erklären, die seine vorige verdrängte?
    Das Geräusch schwerer Schritte erklang, und er suchte hinter einem Strauch Deckung. Einer Überzahl nicht im Kampf gegenüberzutreten, stellte sich als klug heraus: Drei Gestalten trampelten an ihm vorbei, nur entfernt menschlich. Auch sie gingen auf zwei Beinen, die allerdings zwei statt einem Knie aufwiesen. Ihre krummen Körper waren in dicke Felle gekleidet, die wohl eine Rüstung ersetzen sollten; statt Schwertern schleppten sie schwere Keulen. Ihre Gesichter waren von solch exorbitanter Hässlichkeit, als seien die Wesen einem Alptraum entstiegen.
    Was Orion an ihnen am meisten wunderte, war, dass er sich überhaupt nicht darüber wunderte, dass sie vorher noch Menschen gewesen waren. Das Heer seiner Gegner hatte schon immer aus Skros bestanden. Ihren Heerführer N’grrd zu finden und zu töten, hatte er sich zur Lebensaufgabe gemacht. Orion lief in die Richtung, aus der der Trupp gekommen war. Vielleicht würde er den Mörder seiner Familie dort irgendwo finden.
    Und vielleicht auch eine Antwort darauf, was hier eigentlich vor sich ging.
    Auf seinem Weg begegneten ihm keine weiteren Skros mehr. Der Drache brüllte immer mal wieder und setzte Bäume in Brand, jedoch in ungefährlicher Entfernung. Irgendwann erreichte der Krieger eine Lichtung. Gewöhnt an den Halbschatten des Waldes, jetzt geblendet von hellem Sonnenlicht, wagte Orion sich nur langsam auf den baumfreien Bereich hinaus. Ihm gegenüber verließ eine Gruppe Skros gerade die Lichtung, die einen ihrer Kameraden von allen Seiten flankierte, der mindestens zwei Köpfe größer war als sie.
    Das konnte nur N’grrd sein! Endlich hatte Orion ihn gefunden, die Zeit der Rache war gekommen!
    Entschlossen trat er auf die Lichtung und holte Luft, um den Namen des Heerführers zu rufen und ihn herauszufordern. Doch ihm blieb der Schrei im Halse stecken, als er eines Skros gewahr wurde, der mit trampelndem Schritt auf ihn zulief. Wie war das möglich? Dort, von wo die Kreatur herkam, hatte Orion vorhin nichts und niemanden gesehen!
    Zum Kampf bereit erhob er den Beidhänder. Doch Orions vorige bemerkenswerte Wendigkeit schien nachgelassen zu haben, denn er wich den Keulenschlägen des Skros viel ungeschickter aus, als er sich nach dem Kampf gegen den menschlichen Soldaten zugetraut hätte. Aber diesen Kampf hatte es ja sowieso nicht gegeben, waren seine Gegner doch allesamt Skros.
    Seine Verwirrung über seine Situation und seine Erinnerungen steigerte sich immer mehr, sodass Orion sich davon ablenken ließ. Dies nutzte sein Kontrahent und schlug ihm mit einem machtvollen Hieb seiner Keule die Waffe aus der Hand. Orion ging in die Knie und hielt sich den schmerzenden Schwertarm. Noch einmal holte der Skro aus. Seinem hilflosen Opfer blieb nichts anderes übrig, als dem sicheren Untergang entgegenzusehen. Nun würde er seine Rache doch nicht bekommen…
    Die Keule traf ihn an der Schläfe. Binnen einer Sekunde hüllte sich Orions Welt in Schwärze.


    Ich blickte von meinem Bildschirm auf, zum ersten Mal nach dem gefühlt ewig dauernden Schreibfluss. Meine Finger waren nur so über die Tastatur geflogen, und die Gedanken hatten sich schneller in meinem Kopf festgesetzt, als die Buchstaben auf dem weißen Dokument erscheinen konnten. Doch nach dem letzten Punkt, als hätte ich damit die falsche Entscheidung getroffen, war plötzlich alles so leer in meinem Gehirn. Der Anfang war vielversprechend gewesen, beginnend an der wohl spannendsten Szene, als der Protagonist endlich die lang ersehnte Schlacht bestreiten durfte. Warum wollte es also partout nicht weitergehen?
    Ich scrollte zum Anfang, überflog die eben verfassten Passagen auf der Suche nach einer Schwachstelle, einer Ungereimtheit, die alles zunichtemachte. Ich hatte schon die grobe Richtung im Kopf: Orion, mein strahlender junger Stern am Heldenhimmel, würde in wenigen Absätzen einen Pfeil auf den Heerführer seiner Feinde schießen und…
    Natürlich, genau daran haperte es. Jeder Idiot konnte einen Schuss abgeben und den Gegner aus der sicheren Distanz damit erledigen, aber wo blieb da der Reiz? Das Adrenalin eines echten Kampfes, oder noch besser, ein Kräftemessen Mann gegen Mann, das fehlte hier. Das war bei Weitem interessanter. Doch wie sollte der Endgegner überhaupt den ganzen Weg bis zu Orion schaffen, damit sie sich in einem epischen Duell gegenüberstehen konnten? Viel zu weit hergeholt, dass er ihn erreichen würde, während alle in Alarmbereitschaft waren.
    Sicher wäre ein anderer Ort dafür angebrachter, etwa der Marktplatz oder ein Wald. Ja, das war es. Überall Bäume und Verstecke, knackendes Unterholz und Feinde hinter jeder Pflanze. Und da Bögen beim Nahkampf so gut wie nutzlos waren, brauchte mein Charakter eine andere Waffe. Das Schwert seines verstorbenen Vaters etwa, mit dem er jahrelang trainiert hatte, um Gerechtigkeit zu verüben, am besten noch imposant in einer Kampfszene zur Schau gestellt. Was konnte einen Menschen zu einem besseren Krieger machen als der Durst nach Vergeltung? Wie hätte ich Orion auch glaubhaft als einen talentierten und willensstarken Kämpfer beschreiben können, ohne ein Ziel, eine Lebensaufgabe, die seine Handlungen rechtfertigte? Eine Familie, der er während ihrer letzten Atemzüge den Tod ihres Mörders geschworen hatte, konnte man kaum toppen. Der Teil gehörte ganz dringend geändert.
    Aber sollte er jetzt schon auf seinen erwählten Erzfeind treffen? Die Story war doch noch so jung, es gab noch so viele mögliche Gefahren und Steine, die man ihm in den Weg legen konnte. Nein, da musste noch etwas her, etwas Gefährliches, etwas… das mir beim besten Willen nicht einfallen wollte. Alle Gedankenblitze waren für die Katz, ich konnte mir einfach keinen würdigen Gegner vorstellen.
    Abwesend kramte ich in der Süßigkeitentüte herum, in der Hoffnung, dass der Zucker meine Kreativität ankurbeln würde. Neugierig besah ich mir, auf welches Gummitier meine Wahl gefallen war. Zugegeben, die Farben waren sonderbar, aber die riesigen Flugechsen faszinierten die Menschen schon seit Jahrhunderten. Außerdem konnte die Geschichte ruhig einen Touch Fantasy vertragen. Warum normale Menschen als Gegner, wenn andere Wesen einem beim bloßen Ansehen das Fürchten lehrten?
    Ich durchforstete mein Gedächtnis nach allerlei Möglichkeiten, ließ sie vor meinem inneren Auge Form annehmen, bevor ich sie auf das virtuelle Papier bannte. Die Skros würden Orion alles abverlangen, was sein Training über die Jahre an Fähigkeiten hervorgebracht hatte, würden ihn in den schwersten Kampf verwickeln, den es je gegeben hatte - und ihn höchstwahrscheinlich töten. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, ihm gleichzeitig einen Drachen und die blutrünstigen Kreaturen auf den Hals zu jagen? Und selbst wenn er siegreich daraus hervorging, würden die Verletzungen Wochen zum Heilen brauchen, und so weit hinauszögern wollte ich das Ende nicht. Eine Konfrontation mit N’grrd war langsam mehr als angebracht. Außerdem war das Kapitel bereits beachtlich lang und die Nacht brach schon herein. Wäre es nicht besser, an dieser Stelle einen Cliffhanger einzubauen und die Leser noch etwas zappeln zu lassen, was das Schicksal ihres Helden anbelangte?
    Ich würde Orion erst ganz nah an seinen Erzfeind herantreten lassen und dann – bäm!- würde aus dem Nichts einer der Handlanger ihn niederstrecken und als Kriegsgefangenen nehmen. Wer mochte schon einen Helden, der immer gewann und sofort bekam, was er wollte? Ein letzter Kampf um Ehre und Macht in der Finsteren Festung, darauf würde es hinauslaufen. Oder war das zu vorhersehbar? Alle Geschichten, die ich bisher gelesen hatte, endeten mit dem erwarteten Friede-Freude-Eierkuchen. Und waren es nicht die alle Regeln brechenden Werke, die dem Leser noch lange im Gedächtnis blieben? Besonders die Norm, dass der Held immer überleben musste, wurde doch langsam langweilig.
    Ein letztes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, kurz bevor ich den Computer herunterfuhr. Der Bildschirm wurde schwarz. Wie diese Geschichte enden würde, wusste nur ich allein.[tab=Drei]Sohn des Teufels


    Der Sternenhimmel, so klar, wie er sich nur selten zur Schau stellte, funkelte munter in der abkühlenden Sommerluft. Fröhlich flog die Partymusik über die nächtliche Festtagswiese, auf der die Teilnehmer der Feier ihr bestandenes Abitur zelebriert hatten. Jetzt verhallte sie unbeachtet zwischen den schwarzen, mehrere Meter in die Höhe ragenden Glasnadeln, die unter jedem der Anwesenden plötzlich aus dem Boden geschossen waren. Eine nach der anderen, auch dann noch, als viele ihrer Opfer in blinder Panik hatten flüchten wollen – und ihrem unausweichlichen Schicksal doch nicht entkommen waren.
    Zufrieden betrachtete Victor sein Werk und wandte sich an die einzige Überlebende des Massakers, das er veranstaltet hatte. „Erinnerst du dich an unsere letzte gemeinsame Unterrichtsstunde in Geschichte, Kendra? In der siebten Klasse. Es ging um Vlad den Dritten, den man Draculea nennt, Teufelssohn. Mir persönlich gefällt ja sein anderer Beiname mehr. Pfähler. Meinst du, er wäre von dem hier beeindruckt?“ Mit weiter Geste, die die ganze Wiese umfasste, zeigte er um sich. Nein, eigentlich war er sogar davon überzeugt, dass das, was er getan hatte, alles in den Schatten stellte, was der historische Fürst je erwirkt hatte.
    Kendra – seine beste Freundin in dem einen Jahr, in dem sie eine Klasse besucht hatten, bis er diese hatte verlassen müssen – kauerte vor ihm im Gras. Ihr Blick war voll Grauen, sie zitterte vor Furcht. „Wie hast du …?“, brachte sie nur hervor, bevor ihr die Stimme versagte.
    „Dass du das auch noch fragst… Ich bin enttäuscht von dir“, meinte Victor kopfschüttelnd. „Du warst es doch, die damals mit ihrer Fantasie den Alltag für sich verschönert hat. Die in ihrem Kopf Welten erschaffen hat, wie sie ihr gefielen. Das habe ich mir zum Vorbild genommen. Und bin noch weiter gegangen …“ Eines der Lieder, die aus der protzigen Soundanlage tönten, lief soeben aus, und ein neues, tatsächlich noch geschmackloseres schloss sich nahtlos daran an. Wie konnte man sich nur so einen kulturlosen Mist anhören? „Ich habe meine Fantasie in die Realität getragen und kann damit die Wirklichkeit nach meinem Willen formen“, erläuterte Victor weiter. „Ich bin wie ein Komponist, und die Welt ist mein ergebenes Klavier. Solange es in den Grenzen meiner Vorstellungskraft liegt, kann ich jede Melodie spielen, die ich will!“ Zur Demonstration befahl er den Leichen, die Schreie der letzten Sekunden ihres Lebens noch einmal gleichzeitig auszustoßen. Eine Kakofonie der Angst, des Entsetzens und Schmerzes übertönte kurzzeitig die schlecht gewählte Musik.
    „Wieso hast du ihnen das angetan?“, fragte Kendra mit etwas festerem Ton als zuvor, als der Chorgesang des Schreckens verstummte. „Du hasst sie, weil sie dich gemobbt haben. Ich kann das verstehen, aber –“
    Gar nichts verstehst du!“, unterbrach er sie lautstark, woraufhin sie erschrocken zusammenfuhr. In Victors Innerem begann es zu brodeln. „Jahrelang haben sie mich gedemütigt und verprügelt, und wer sich daran nicht beteiligte, hat abartige Gerüchte über mich verbreitet. Niemand hat je etwas dagegen unternommen… bis du in meine Klasse kamst. Mit dir gab es zum ersten Mal in meinem Leben jemanden, der nicht voreingenommen war, auf das Gerede über mich nichts gab. Mit dem ich mich anfreunden konnte. Wir waren zwei Außenseiter, die in ihrer Einsamkeit zueinander gefunden haben. Der kleine Freak und die ewige Träumerin. Der Umzug weg von dir ist das Schlimmste, was mir je passiert ist.“ Mit Bestürzung erinnerte Victor sich an den Moment, als er erfahren hatte, die Schule wechseln zu müssen. Wie schockiert er darüber gewesen war.
    Als er weitersprach, wurde er zunehmend wütender. „Jetzt komme ich zurück und muss erkennen, dass die ewige Träumerin zu träumen aufgehört hat, um damit eine von denen zu werden, die sie immer nur verstoßen haben. Du redest wie sie, benimmst dich wie sie, feierst mit ihnen – und bist auch noch ausgerechnet mit dem Mistkerl zusammen, der mich damals am meisten gequält hat!
    Diese verdammte Musik!“, brüllte er letztlich. Mit nur einem Gedanken zerstörte er die Anlage und das sie versorgende Notstromaggregat in einer vernichtenden Explosion. Die Flammen setzten den Baum, unter denen die Elektrogeräte gestanden hatten, in Brand. Das unerträgliche Gedudel wurde schließlich vom Brausen des Feuers abgelöst. Endlich Ruhe!
    Beleuchtet von bernsteinfarbenem Schimmer war Kendra anzusehen, dass sie kurz vor dem psychischen Zusammenbruch stand. Dennoch hielt sie ihm entgegen: „Unter ihnen sind so viele, die überhaupt nichts dafür können, dass du gemobbt wurdest. Manche von ihnen sind erst später in die Klasse gekommen oder nur Freunde, die hier mitfeiern wollten, und kennen dich noch nicht einmal!“
    „Das ist völlig egal“, wischte Victor ihren Einwand beiseite, beherrschter jetzt, da im Hintergrund keine Folterknechte mehr sangen und ihre Folterinstrumente spielten. „Sie sind sowieso alle gleich und haben deswegen auch die gleiche Strafe verdient.“ Was ihn aber ärgerte, war die Tatsache, dass manche seiner damaligen Peiniger noch vor der Kursstufe von der Schule abgegangen und heute auf der Abschlussparty nicht anwesend gewesen waren. Aber Victor würde schon noch jeden Einzelnen von ihnen aufspüren und sich gebührend rächen!
    Schwankend und auf unsicheren Beinen stand Kendra nun auf. Ihre Miene war zu einer Grimasse reinen Abscheus verzerrt. Mit verzweifelter Wut in der grauenschwachen, hochtönenden Stimme schrie sie ihn an: „Du nennst Simon einen Mistkerl und verurteilst mich dafür, dass ich mich in meiner Klasse eingelebt habe. Dabei hast du dich von uns beiden am meisten verändert, du krankes Monster!“ Noch während ihrer Hasstirade ging sie dazu über, mit aller Kraft auf seine Brust einzudreschen, und krönte sie mit wahrscheinlich allen ihr bekannten Schimpfwörtern. Immer öfter waren diese von dissonanten Schluchzern durchsetzt. Ungerührt von ihrem grenzenlosen Zorn gegen ihn beobachtete Victor sie dabei.
    Als ihm das langweilig wurde, legte er eine geistige Hand um Kendras Hals und ließ sie einige Meter weit von sich entfernt in der Luft schweben. Hilflos schlug sie um sich, rang nach Atem, versuchte vergeblich, den materiell nicht vorhandenen Klammergriff um ihre Kehle zu lösen, kratzte sich dabei aber nur die eigene Haut auf.
    Mit ehrlichem Bedauern sagte Victor: „Das hättest du früher nicht mit mir gemacht …“
    Am Rande der Wiese fuhren jetzt Polizeiwagen vor, die mit scharfer Vollbremsung zum Stehen kamen. Ein vielköpfiges Spezialkommando wurde von den Einsatzfahrzeugen ausgespuckt, das eilig Stellung bezog und seine Sturmgewehre in Anschlag brachte. „Ihr denkt, ihr könnt mich aufhalten?“, murmelte Victor, aufgrund der Entfernung für sie unhörbar, als die Offiziere auch schon das Sperrfeuer auf ihn eröffneten. Dutzende Projektile schossen zwischen den gläsernen Spießen hindurch, trafen diese aber auch unter Auslösen heller Glockenklänge und blitzender Funken. Kraft seines Geistes zerriss Victor die Kugeln, die auf ihn zuhielten, in unschädliche Einzelatome, und verfuhr ohne Gnade ebenso mit den Polizisten. Alsbald kehrte wieder Grabesstille auf dem Friedhof der Glasnadeln ein.
    Erst jetzt fiel ihm ein, dass er Kendra über die Beamten völlig vergessen hatte. Sie lag auf dem Rücken in verkrampfter Position, zuckte unkontrolliert wie unter großen Schmerzen. Ihre Lungen kämpften verzweifelt rasselnd um jedes bisschen Luft. Victor trat neben sie und erkannte, dass ein paar der Geschosse, die für ihn bestimmt gewesen waren, stattdessen sie getroffen hatten. Dunkle Flecke breiteten sich kreisförmig aus auf ihrer Kleidung eines Stils, der nicht zu Kendra passte. Im Feuerschein wirkte ihre blasse Haut wie blank poliertes Gold; ihr Haar schien dieselbe Farbe zu haben wie das dünne Blutrinnsal, das ihr aus dem Mundwinkel die Wange hinablief. Sie war so wunderschön!
    Voller Qual blickte Kendra zu ihm auf und flehte erstickend: „Bitte… hilf mir …“ Der dunkle Blutfaden verbreiterte sich dabei.
    „Wirklich?“, fragte Victor spöttisch. „Du wagst es, mich anzubetteln? Nachdem du mich geschlagen und beleidigt hast, so wie sie es immer getan haben?“ Er deutete zu den grotesken, abiturientenförmigen Stecknadelköpfen hoch, die über ihnen den Nachthimmel zierten. Nicht, dass er Kendra nicht retten konnte; es wäre ein Leichtes für ihn, die Kugeln aus ihren Schusswunden zu entfernen und diese zu schließen. Langsam ging er neben ihr in die Hocke. „Es gab mal eine Zeit, in der ich dich geliebt habe und dir geholfen hätte. Aber die ist lange vorbei!“ Vorsichtig strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Er wollte sehen, wie in ihren Augen, die einst vor farbenfroher Fantasie gestrahlt hatten, das Licht brach.
    Bei ihrem Anblick berührte ein seltsames Gefühl sein Herz, ein Gefühl von vergessener Liebe und selbstloser Großmütigkeit. Er brauchte einen Moment, bevor er feststellte, dass es sich dabei um Kendras Seele handelte. Sie hatte keine Befehlsgewalt über die Wirklichkeit wie Victor, doch besaß sie eine ungeheure mentale Macht über ihn, mit der sie sich wie in einer sanften Umarmung um seine Seele legte. Er wollte zumindest physisch von ihr zurückweichen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.
    Im Sterben begann Kendras Seele zu verblassen. Durch ihre gemeinsame geistige Verbindung ging die unendliche Stille auch auf Victor über. Entsetzt versuchte er, sich loszureißen, aber wenngleich sie ihn nicht besonders fest hielt, vermochte er sich doch nicht gegen sie zur Wehr zu setzen.
    Machtlos musste Victor miterleben, wie Kendra ihn mit sich in den Tod nahm.

    [tabmenu][tab=Ladadi]Heiho, heiho, wir sind vergnügt und froh! ~


    Wie ich mich ärgere, dass ich es doch nicht fertig gebracht habe, hier mitzumachen xP
    Ich wollte dann auch eigentlich nicht voten, aber jetzt hab ich die Sonette gelesen und kann doch nicht anders, als meinen Senf dazuzugeben oo Fühlt euch geehrt, ich gebe meinen Senf überhaupt nicht gerne her, ich mag Senf :<
    Spaß beiseite. Ich finde wirklich, es sind ein paar sehr schöne Werke dabei, aber leider sind es insgesamt sehr viele, sodass ich hier nur fünf bevoten möchte. Ich hoffe, dabei einigermaßen fair vorzugehen, was aber echt schwierig ist. Manche unterscheiden sich qualitativ so wenig, dass man da kaum eine Linie ziehen kann o__O


    [tab=Ladadu]

    [tab=Ladadamm]01 - Das Märchen einer versteckten Lilie 2 Punkte
    05 - Leise rufen die Erinyen 1 Punkt
    06 - Herzblutvergießer 3 Punkte
    07 - Schmetterlingsmorgenrot 3 Punkte
    14 - Ver 1 Punkt


    10 Punkte, wenn ich richtig liege...[tab=Ladadah ...]

    Zitat von Deine Augen

    Deine Seelenspiegel geben mir den Wunsch, allein nach deinem Glück zu streben.

    Well, well, my best foe. We meet again ... :batman:
    "Seelenspiegel" ist kein deutsches Wort! :knot:
    [/tabmenu]Edit: Anführungszeichen oben, Seelenspiegel, Bedankomat für Vote-Kommentare in den Wettbewerben... Mein Protest wird nur durch seine Erfüllung ein Ende nehmen! *hier smiley einfügen, der kampfbereit ein schwert in die höhe reckt*

    [tabmenu][tab=Wi-Wa-Weiter!]Die zweite Etappe bei meinem Hinterherpost-Marathon!


    Erster Tab enthält das Gedicht „Leserglück, Autorenfreud‘“, das ich für einen Wettbewerb schrieb, in welchem es darum ging, ein Gedicht zu verfassen, das mit dem Schreiben zu tun hat. Also in meinem Fall das Schreiben von Romanen ^^


    Zweiter Tab ist die Geschichte „Der Weihnachtszwerg“, das dritte Werk für die Heimatgenossenschaftszeitung meiner Muddi (zumindest das dritte, das ich speziell dafür schrieb; es wurden auch „Itokuni-Go!“ und „Der Wildkater von Yamazato“ darin veröffentlicht). Ich war schon Wochen vorher mit einer Weihnachtsgeschichte beauftragt und plante lange Zeit eine Fortsetzung von „Nikki und das Zaubereinhorn“, kam aber nie zum Schreiben. Erst wirklich zwei Stunden vor der Abgabedeadline kam mir bei der Lektüre einer Geschichte über einen Zwerg und seine sieben Tannen (die wir zuerst anstelle meines fehlenden Werkes abgeben wollten, und ja, mit Angabe des Originalautors, ich stehle nix) die zündende Idee, die ich dann auch schnell zu Papier brachte. Ich mag sie <3
    Ich weiß, es ist reichlich spät / früh, eine Weihnachtsgeschichte zu posten. Da sieht man wieder, wie lange ich nicht gepostet hab <<


    Der dritte Tab enthält dann wieder einen Wettbewerbstext. Man sollte eine Szene in der Zukunft schreiben. Nachdem ich eine echt tolle Idee hatte mit einer Zukunft, in der wegen eines Virus‘ alle männlichen höheren Säugetiere und damit auch alle Männer ausgestorben sind, aufgrund meiner Nemesis Wortbegrenzung verwerfen musste, habe ich mich schließlich für die hier entschieden. Die ich auch noch an vielen Stellen amputieren musste…


    Im vierten Tab schließlich ist mein armes, kleines Sorgenkind. Im entsprechenden Wettbewerb, in dem es um Pokémon-Bösewichte ging, hat es nicht sonderlich gut abgeschnitten. Ich habe mich zu sehr darauf verlassen, dass viele Leute Pokémon Ranger 3 spielen und kennen, und bin dabei ein zu großes Risiko eingegangen. Aber wie das bei Müttern so ist, liebe ich mein Kind dennoch sehr, und ganz besonders die Idee. Durch diese habe ich nämlich gleich zwei Bösewichte zusammengeschrieben, die so im Spiel eigentlich gar keine Verbindung haben. Man weiß nicht, wohin Tenebros nach der Handlung in der Vergangenheit verschwindet, und man weiß nicht, wo Purpurauge herkommt und wie er auf die Teegesellschaft gestoßen ist… Taralla, das ist meine Interpretation der Erklärung! Der Titel soll dann nochmal unterstreichen, wie die Rivalitäten zwischen dem Protagonisten und den beiden Hauptbösewichten in Gegenwart und Vergangenheit zusammenhängen und die eine zur anderen führt.
    Als ich sie verfasste, hat Edward Taluga geduzt, Taluga Edward gesiezt (ich dachte, das ist nur logisch, da Edward älter ist). Kurz vor der Abgabedeadline habe ich mal wieder meine Flashcard PR3-Spiel rausgekramt, bei dem ich an genau der passenden Stelle hängengeblieben bin: Beim Showdown gegen Edward mit der Goldenen Rüstung und dem anschließenden Finalkampf gegen Purpurauge. Da habe ich dann auch gesehen, dass der Quark mit duzen und siezen gerade andersherum war, wie ich spontan geschrieben habe. Da mir das aber sehr blöd vorkam, habe ichs in meinem Text nachträglich so geändert, dass beide sich gegenseitig siezen. Kann ja sein, dass sich das einfach im Laufe der Zeit geändert hat. Und fertig o3o[tab=Tab 1] Leserglück, Autorenfreud‘



    Leserglück, das ist ein Segen,
    der einen überkommt ganz sacht.
    Drüber sich die Geister regen,
    was ein Buch besonders macht.
    Man fragt sich: Was kommt davor?
    Wer ist’s, der dies erfindet?
    Ich erkenne als Autor,
    dass es aus der Schreibfreud‘ gründet.


    Wörter sind des Schreibens Blut.
    Sein Herzschlag die Motivation,
    des Autors heiße, gold’ne Glut.
    Der Atem, die Inspiration,
    auch bekannt als Musenkuss,
    fließt aus manchen bunten Quellen.
    All dies im Zusammenschluss
    wird meine Schreibkunst stellen.


    Vor mir liegt das Papier,
    ich nehm‘ den Stift zur Hand.
    Entfliehe so dem Jetzt und Hier,
    tauche in mein eigen‘ Land,
    reise quer durch Zeit und Raum.
    Erschaffe eine ganze Welt
    aus Wirklichkeit und Traum.
    Das ist, was mich erhält.


    Verewige auf Pergament
    oder auch in Form von Daten,
    jeden tragenden Moment
    meiner Helden, ihre Taten.
    Leben retten, Alltag leben,
    Sorgen, Kummer, ihre Not,
    Liebe, Freude, ihr Bestreben,
    von Geburt bishin zum Tod.


    Eine Geschichte, wohlgeplant,
    darf nicht fehlen in dem Stück.
    Denn sonst bleibt das ungenannt,
    was wichtig ist für Leserglück.
    Der Anfang mag verwirrend sein.
    Doch schon bald kommt eine Wende,
    flechte ich Spannung mit ein
    und schließ‘ mit reichem Ende.


    Schreiben lieb‘ ich, so wie Lesen,
    stets neu entdeckte Weiten,
    mochte dies und jenes Wesen.
    Bin, ich will es nicht bestreiten,
    auch oft davor zurückgescheut.
    Und ich behaupte ganz gelind,
    dass Leserglück, Autorenfreud‘
    tief im Grund das Gleiche sind.[tab=Tab 2]Der Weihnachtszwerg


    Vor vielen Jahren gab es ein Dorf zwischen zwei kleinen Bergen. Der eine Berg lief zu seinem Gipfel hin spitz zu; der andere war eher flach, als habe jemand seinen oberen Teil abgeschliffen. Es war noch ein recht neues Dorf, und so lange es dort errichtet war, hatte der flache Berg bereits diese Gestalt gehabt.
    Im spitzen Berg, in einer gut versteckten Höhle, lebte der Zwerg Sulik mit seiner Zwergenfrau und seinen drei Zwergenkindern. Sulik mag ein für Menschenohren seltsamer Name sein, aber bei Zwergen ist er ein ganz normaler Name. Dieser Zwerg Sulik ging jeden Morgen, noch vor Sonnenuntergang, heimlich durch das Dorf vom spitzen Berg zum flachen, wie er es auch getan hatte, als das Dorf noch nicht dort gewesen war. Denn in dessen Innern lagerten wunderschöne Edelsteine, die aber schwer zu finden waren, deswegen wussten die Menschen des Dorfes nichts von diesen Schätzen. Sulik aber, der wie alle Zwerge ein natürliches Gespür für schöne Steine hatte, schürfte täglich nach den blinkenden Juwelen.
    Dabei hob er viele Gänge und Hohlräume im Gestein aus, die den Berg alsbald so sehr durchlöcherten, dass er einzustürzen drohte. Um das zu verhindern, trug Sulik seinen Gipfel ab und füllte alle Gänge, wenn er in ihnen keine Edelsteine mehr fand, damit auf. Deswegen wurde dieser Berg mit der Zeit flach.
    Wenn Sulik seine Arbeit getan hatte, packte er die gefundenen Schätze in einen Tornister – das ist ein Korb, den man wie einen Rucksack auf dem Rücken tragen kann. So beladen machte er sich abends, wenn die Sonne untergegangen war, wieder auf den Heimweg durch das Dorf. Stets ging er in der Dunkelheit, damit die neugierigen Menschen ihn nicht zu Gesicht bekamen oder ihm vielleicht sogar die Edelsteine klauten. Er brauchte sie schließlich, um mit den Zwergen, die auf der anderen Seite des spitzen Berges wohnten, Handel zu treiben.
    Sulik machte sich nicht sehr viel aus den Menschen, die einfach seinen Weg zur Arbeit mit ihren Holzhäusern vollgestellt hatten. Sollten sie das doch nur tun, ihm machte das nicht viel aus. Er fand es sogar recht witzig, aus der Ferne zu beobachten, wie sich die Menschen im Winter manchmal wunderten, wenn sie seine Fußabdrücke im Schnee entdeckten. Zwerge brauchen nämlich auch bei Kälte keine Schuhe – das allein war schon verwunderlich, denn kein Mensch würde je barfüßig durch Schnee gehen. Aber die sieben Zwergenzehen, die sieben kleine Mulden über der des Fußes hinterließen, erschreckten die Menschen sogar. Wegen dieser Scherze, die Sulik ihnen spielen konnte, mochte er den Winter ganz besonders.
    Was er am Winter jedoch ganz und gar nicht leiden konnte, war das Weihnachtsfest. Dann nämlich stapften die Menschen durch den Wald des spitzen Berges auf der Suche nach Tannenbäumen, um diese nach ihrer Tradition in ihren Häusern aufzustellen. Dabei kamen sie immer sehr nahe an die Höhle heran, in der Suliks Familie hauste. Wenn er tagsüber beim flachen Berg seinem Werk nachging, konnte er nicht bei ihnen sein und sie vor den Menschen beschützen. Das machte ihm sehr zu schaffen, aber es gab keine Möglichkeit, seine Arbeit zu unterlassen. Gerade im Winter musste die kleine Zwergenfamilie mit dem Essen, das sie mit den Edelsteinen ertauschte, versorgt werden.
    „Passt heute wieder ganz besonders gut auf euch auf!“, mahnte Sulik daher seine Frau, als diese ihm seinen Wintermantel brachte – diesen brauchte der Zwerg nämlich, denn nur seine Füße froren nicht.
    „Mach dir um uns keine Sorgen“, beruhigte seine Frau ihn. „Die Menschen feiern doch heute Weihnachten. Dann kommt niemand mehr in den Wald, um einen Tannenbaum zu schlagen. Sie alle haben doch schon einen.“ Sie reichte ihm den Mantel und die Mütze.
    Verwundert nahm Sulik die Kleidungsstücke entgegen und betrachtete sie. Zwerge tragen eigentlich nur braun, so waren auch Suliks Mantel und Mütze braun gewesen. Doch jetzt leuchteten sie in einem komischen Rot, das ihm überhaupt nicht gefiel. „Was ist denn damit passiert?“, fragte er daher seine Frau.
    Diese zuckte nur mit den Schultern. „Ist wohl beim letzten Waschen passiert. Das kommt davon, wenn man die Hagebutten, die man im Herbst nascht, in der Manteltasche vergisst!“ Sie hob tadelnd den Zeigefinger gegen ihren Zwergenmann und lachte.
    Sulik zog eine Schnute, griff sich den Tornister und warf ihn auf den Rücken. Seine Frau hatte ja recht – manchmal war er schon sehr vergesslich. Zwar mochte er die neue knallrote Farbe seiner Kleidung nicht, aber jetzt würde er damit leben müssen. Beim nächsten Waschgang würde sie sich bestimmt wieder lösen. Der Zwerg verabschiedete sich von seiner Frau und den drei Kindern, schob die Steintür auf, die den Höhleneingang verschloss, und trat in den kalten Morgen.
    Sein Weg durch das Dorf wurde wie immer nicht behindert, denn zu dieser frühen Stunde schliefen die meisten Menschen noch. Aus so manchem Haus leuchtete schon warmer Flammenschein von Kerzen oder Kaminen heraus, wo noch Vorbereitungen für das Weihnachtsfest getroffen wurden. Doch niemand bemerkte Sulik bei seiner allmorgendlichen Wanderung.
    Unerkannt wie immer erreichte der Zwerg so den flachen Berg und den Höhlengang, in dem er zurzeit arbeitete. Hier lagerten seine Werkzeuge, die er jetzt nahm und fleißig begann, nach Edelsteinen zu schürfen. Das war immer eine harte Arbeit, die er aber gerne tat, weil Zwergen das Graben und Hämmern immer Spaß macht.
    Die Gesteinsader, die Sulik gerade bearbeitete, bestand aus weißem Kalkstein. Dieser ist sehr spröde, und wenn er bricht, staubt er ungeheuerlich wie Puderzucker. Der Zwerg atmete diesen Staub ein und musste davon husten, also band er sich einen Schal um Mund und Nase, um sie zu schützen. Dabei wurde ihm sehr warm, und er schwitzte so heftig, dass sein Bart davon feucht wurde.
    Viele Stunden vergingen, in denen Sulik unermüdlich seine verschiedenen Werkzeuge schwang. Wie auch an vielen anderen Tagen fand er nur ein paar wenige schöne, bunte Steine, die noch nicht besonders wertvoll aussahen. Erst zuhause würde er sie reinigen und polieren. Dann könnte er sie für viele Dinge tauschen. Vorsichtig legte er sie in den Tornister und wollte sich diesen wieder auf den Rücken schnallen, als die Steine plötzlich polsternd und klackend zu Boden fielen. Sulik fragte sich, was wohl los sei, und drehte den Korb herum. Als er das Loch an der Unterseite des Tornisters sah, fiel es ihm wieder ein. Gestern schon war dort ein Riss gewesen, und eigentlich hatte Sulik vorgehabt, seine Frau darum zu bitten, die Beschädigung zu flicken. Doch daran hatte der vergessliche Zwerg nicht mehr gedacht.
    Seufzend legte er den Tornister beiseite und überlegte, worin er seine Fundstücke stattdessen transportieren sollte. Prüfend sah er sich in dem Raum um, in dem er seine vielen verschiedenen Werkzeuge aufbewahrte. Er trat an eine große Steinkiste und durchsuchte sie eifrig. Für solche Notfälle hatte er nämlich einmal einen Jutesack hierhergebracht, ihn bislang aber nicht gebraucht. Schließlich entdeckte Sulik mithilfe des besonderen Sinnes der Zwerge, der sie alles finden lässt, was sie suchen, den Sack und holte ihn hervor. Bevor er ihn hier verstaut hatte, war der Sack schon für andere Dinge benutzt worden und hatte entsprechend oft Löcher gehabt. Die Zwergenfrau hatte diese immer mit Flicken repariert, sodass der Sack jetzt von ihnen übersät war. Für den Transport der Edelsteine vom flachen zum spitzen Berg würde er bestimmt reichen.
    So machte Sulik sich nun mit einem Sack Juwelen auf den Rückweg. Er kam aus dem Eingang hervor, der tief in den Berg hinein führte. Die frische, kalte Abendluft tat dem Zwerg gut, der so lange unter der Erde verbracht hatte. Er legte den Sack beiseite und streckte die müden Glieder.
    Da vernahm er ein helles Klingen, als würde ein Glöckchen geschlagen. Verwundert sah er auf, den Berg hoch, von wo das Geräusch zu hören war. Etwas kullerte den Abhang hinab und verursachte diesen lieblichen Laut, wenn es auf einen Stein oder gegen einen Felsen schlug. Schließlich landete es vor des Zwerges Füßen und blieb dort im Schnee liegen. Sulik bückte sich und hob das eigenartige Ding auf. Es war ein Edelstein, wie er sofort feststellte, jedoch von einer Art, wie sie ihm noch nie begegnet war. Er war weiß wie Schnee, aber wenn Sulik ihn drehte und gegen das schwindende Sonnenlicht hielt, glänzte er wie ein Regenbogen. Außerdem war seine Form ähnlich eines sechseckigen Sterns oder einer einzelnen Schneeflocke. Wo war dieser schöne Schatz nur hergekommen? Ob er sich oberhalb des Höhleneingangs irgendwo abgelöst hatte?
    Jedenfalls wollte Sulik ihn mitnehmen und einen seiner Kumpel bei den Zwergen hinter dem spitzen Berg fragen. Bestimmt wussten andere genauer, was es damit auf sich hatte. Ein solcher Edelstein war dazu gewiss auch noch ein sehr wertvolles Tauschgut. Vorsichtig ließ Sulik ihn in den Sack zu seinen anderen Fundstücken fallen und verschloss diesen wieder.
    Dabei fiel ihm auf, dass sein Bart, nachdem er ihn so durchgeschwitzt hatte, wieder getrocknet war. Das war in Ordnung und sogar wünschenswert, weil sich der Zwerg an der kalten Luft sonst wohl erkältet hätte. Doch bevor das passiert war, hatte sich an dem feuchten Barthaar der weiße Kalkstaub niedergelassen und klebte jetzt daran fest. Sulik versuchte, ihn mit der Hand wegzuwischen, doch die Ablagerung war zu hartnäckig. Wenn er wieder zuhause war, würde er ein warmes Bad nehmen und sie wieder wegwaschen müssen.
    Sulik schulterte den Edelsteinsack wieder und begann den Abstieg vom flachen Berg hinab ins Dorf. Doch anders als an anderen Tagen war dort auf den Straßen auch nach Sonnenaufgang noch immer Leben. Der Zwerg hatte ganz vergessen, dass heute Weihnachten war und die Menschen, ja sogar ihre Kinder daher nicht so früh zu Bett gingen wie gewöhnlich. Genervt knirschte er mit den Zähnen und überlegte, was er jetzt tun sollte.
    Ihm fiel ein, dass er nicht nur das Fest vergessen hatte, sondern auch noch den Tornister. Diesen sollte er wohl lieber mitnehmen, damit er geflickt sein würde, wenn Sulik morgen wieder zum flachen Berg kam. Also drehte er um. Das war eine gute Beschäftigung für die Zeit, in der die Menschen noch feierten. Wenn er zurückkehrte, um das Dorf nach Hause zu durchqueren, waren sie bestimmt schon weg.
    Es wurde zunehmend dunkel, und schon bald vermochte Sulik den Weg unter seinen bloßen Füßen nicht mehr zu sehen. Spitze Steine staken durch den Schnee. Normalerweise war es kein großes Problem für den Zwerg, zwischen sie zu treten, um sich an ihnen nicht zu verletzen, denn wenn er in der Nähe seiner Grabhöhle war, hatte er immer ein bisschen Licht. Morgens stand die Sonne dann schon hoch genug, damit er etwas sah, und abends war sie noch nicht ganz untergegangen. Doch jetzt war es schon später als üblich.
    Oft passierte es, dass Sulik bei seinen Grabungen auf Stellen stieß, an denen der Boden so gefährlich war wie hier. Für diese Fälle hatte ihm seine Frau ein Paar Stiefel gemacht, obwohl Zwerge normalerweise keine Schuhe tragen. Damit er sie nicht wie andere Dinge vergaß, hatte sie sie ihm an die Innenseite seines Mantels genäht. Sie waren nicht mitgewaschen worden, deswegen hatten sie noch immer ihre ursprüngliche dunkelbraune Farbe. Sulik schlüpfte hinein. Auch wenn er das Gefühl von Schuhen an seinen Füßen nicht mochte, stellte er doch fest, dass sein Weg mit ihnen gleich viel einfacher zu meistern war.
    Daher erreichte er seine Höhle recht schnell, holte seinen Tornister und kehrte wieder um.
    Irgendwann, noch bevor er wieder im Dorf anlangte, setzte er sich auf einen großen Stein, um eine Pause zu machen. Er war von dem doppelt gegangen Weg, nach einem so anstrengenden Tag, müde geworden. Auch taten ihm die Füße weh, und er bereute, sie nicht schon vorher angezogen zu haben. Dann würden sie jetzt nicht so sehr schmerzen.
    „Brauchst du Hilfe, alter Freund?“, fragte da jemand hinter ihm, und Sulik wandte sich überrascht um. Da stand ein wunderbarer Hirsch mit stolz in die Höhe gerecktem Geweih und sah auf ihn herab. Sulik kannte das Tier, denn es lebte in diesem Wald schon so lange, wie der Zwerg den flachen Berg bereiste, um Steine zu sammeln.
    Wie alle Zwerge und magischen Wesen konnte auch Sulik die Sprache der Tiere verstehen und sprechen, also erwiderte er erschöpft auf die Frage des Hirsches: „Oh ja, bitte. Ich hatte heute einen harten Tag, und meine Füße tun weh. Lässt du mich auf deinen Rücken und bringst mich zum spitzen Berg?“
    Der Hirsch schnaubte, sodass eine weiße Wolke vor seiner Schnauze aufschwebte, und gab zurück: „Natürlich, mache ich gern.“ Er ging in die Knie und ließ den Zwerg auf seinen Rücken steigen. Mit seinen kräftigen Beinen stieß er sich vom Boden ab und sprang los.
    Sie waren schon einige Meter weit gekommen, als Sulik auffiel, dass er den Tornister erneut bei dem Stein hatte liegen lassen. Ärgerlich schlug er die Hand an die Stirn. Unmöglich konnte er den Hirsch, wo er ihm schon diesen Freundschaftsdienst leistete, auch noch darum bitten, noch einmal umzukehren und den Korb zu holen. Dann würde er ihn eben morgen mitnehmen und noch einmal den Sack benutzen.
    Der Hirsch war schnell. So schnell, dass Sulik gar nicht auffiel, dass die Menschen im Dorf noch immer Weihnachten feierten. Es war noch nicht genügend Zeit vergangen. Sie tanzten, sangen und lachten auf dem großen Dorfplatz, der mit einem großen Weihnachtsbaum dekoriert war. Hier hatte der Hirsch vorgehabt, hindurchzugaloppieren – doch auch er hatte angenommen, dass der Platz leer war. Jetzt kam er überrascht zum Stehen, bremste so scharf, dass Sulik fast von seinem Rücken gefallen wäre.
    Auch die Menschen, die verstreut um den Weihnachtsbaum standen, verstummten plötzlich. Die Tänzer unterbrachen ihre Darbietungen, die Musiker ihr Spiel. Mit großen Augen starrten sie den Zwerg auf dem Hirsch an, der so plötzlich unter ihnen aufgetaucht war. Den Zwerg mit dem dicken roten Mantel, der roten Mütze, den braunen Stiefeln, dem weißen Bart und dem geflickten Sack auf dem Rücken.
    Da sprang ein kleines Mädchen auf, das bislang mit seinen Freunden gespielt hatte, und rief in die atemlose Stille hinein: „Der Weihnachtsmann!“
    Sofort stürmten alle Kinder des Dorfes auf das vermeintliche Rentier zu und umkreisten es jubelnd. Der Hirsch tänzelte nervös, doch er war viel zu stolz, um verängstigt von ihrem Kreischen das Weite zu suchen. Sulik versuchte, sich an dem breiten Hals festzuhalten und zugleich den Sack nicht fallen zu lassen. Er kannte die Geschichten über den Weihnachtsmann, die sich die Menschen erzählten. Dass er zu Weihnachten den Kindern Geschenke brachte. Doch er war nicht der Weihnachtsmann, und er hatte auch keine Geschenke!
    „Herr Weihnachtsmann!“, riefen ihm die Kinder vergnügt zu, die alle so groß waren wie ein ausgewachsener Zwerg. Hätte Sulik nicht auf dem Hirschrücken gesessen, er hätte sie nicht überragt. „Gib uns Geschenke!“, verlangte eines der Kinder mit strahlenden Augen. Daraufhin fingen sie alle durcheinander an, ihm ihre Wünsche zu nennen.
    Sulik war die Situation unangenehm. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte ja schlecht von seinem Freund, dem Hirsch, erwarten, die Kinder einfach zur Seite zu stoßen und das Dorf zu verlassen. Doch wenn er ihnen keine Geschenke gab, würden sie ihn auch nicht gehen lassen – und obendrein sehr enttäuscht sein. Das Leuchten ihrer Augen erinnerte ihn an seine eigenen drei Kinder, die sehnsuchtsvoll auf seine Ankunft warteten und erfahren wollten, welche interessanten Steine er wieder gefunden hatte.
    Da erkannte Sulik, dass Weihnachten nicht einfach nur ein Fest war, das die Menschen jedes Jahr feierten, um Tannenbäume in ihren Häusern und auf dem Dorfplatz aufzustellen, zu tanzen und zu lachen. Die Freude der Kinder stand an erster Stelle, und wenn er jetzt einfach ging, ohne den Kindern ihre Geschenke zu überreichen, wie konnte er dann vor seinen eigenen Kindern behaupten, nur das Beste für sie zu wollen?
    Er hob gebieterisch die Hand und lächelte hinter seinem weiß gefärbten Bart hervor. Sofort verstummten die aufgeregten Kinder und sahen ehrfurchtsvoll, aber auch voller Vorfreude zu ihm auf. „Hohoho, liebe Kinder!“, sagte er mit tiefer Stimme und hoffte, dass er das richtig machte. Tatsächlich war er sehr nervös. Würden sie sich denn überhaupt über ein paar bunte, aber klobige Steine freuen? „Immer der Reihe nach. Jeder wird ein Geschenk bekommen!“ Zumindest hoffte Sulik das. Das kleine Dorf beheimatete nicht viele Kinder, doch er hatte auch nicht viele Steine gefunden. Ob sie reichten?
    Artig stellten sich die Kinder in einer Reihe vor dem Hirsch auf. Ganz vorne wartete das Mädchen, das ihn als erstes für den Weihnachtsmann gehalten hatte. Warum fiel ihnen eigentlich nicht auf, dass er fiel zu klein für einen Weihnachtsmann war? Leise seufzend griff Sulik in den Jutesack und suchte nach einem der Steine.
    Zu seiner Überraschung war das erste, was er in die Hand bekam, kein kalter, trockener Brocken, sondern etwas, das sich wie aus Stoff gefertigt anfühlte. Verwundert holte er den Gegenstand hervor. Eine Puppe! Irgendwie hatte sich in den Sack eine kleine Stoffpuppe verirrt. Sulik dachte über diese Merkwürdigkeit nicht lange nach und reichte dem Mädchen das Spielzeug hinunter.
    Ihre Augen wurden groß, als sie die Puppe entgegennahm. „Genau das habe ich mir gewünscht!“, rief sie glücklich und drückte das Stoffmädchen an sich. „Vielen lieben Dank, Herr Weihnachtsmann!“ Damit wirbelte sie herum und lief zu ihren Eltern, um ihnen ihr Geschenk zu zeigen.
    Sulik sah ihr hinterher, noch immer überrascht, was er in dem Sack gefunden hatte. Ob eines seiner Kinder das Spielzeug darin vergessen hatte, bevor der Vater den Jutesack zur Grabhöhle gebracht hatte? Aber er konnte sich nicht erinnern, seinen Kindern je eine so schöne Puppe geschenkt zu haben.
    Daran konnte es jedoch auch nicht liegen, denn bei dem nächsten Kind holte Sulik wieder ein Spielzeug hervor. Es konnte doch nicht sein, dass ihm nie aufgefallen war, dass der Jutesack gar nicht leer gewesen war! Bei jedem Kind, das sich in der Schlange anstellte, war es sogar genau dieses Spielzeug, das es sich gewünscht hatte. Bald bemerkte der Zwerg, dass im Sack immer weniger Steine lagen, ganz so, als verwandelten sie sich in Spielzeuge und verschwanden in dieser Gestalt.
    Schließlich kam das letzte Kind dran, und Suliks Sack war leer. Er überblickte den Dorfplatz und sah die Beschenkten mit ihren Puppen und Holzpferden, Stoffbällen und Kniffelwürfeln spielen. Alle waren sie so glücklich, und auch die Erwachsenen sahen ihnen erfreut dabei zu. Der Zwerg reckte stolz den Rücken durch. Weihnachten war ja gar nicht so schlecht, wie er immer gedacht hatte. Weihnachtsmann sein war gar nicht schlecht!
    „Ich muss nun gehen“, rief er über den Dorfplatz, und der Hirsch begann die Weiterreise. Die Kinder und Eltern wandten sich nach ihm um und winkten ihm dankend, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Glücklich erreichte er den Eingang seiner Wohnhöhle und rutschte vom Rücken des Hirsches. „Vielen Dank, lieber Freund“, sagte er zu dem großen Tier.
    Dieses warf den Kopf hoch und schüttelte das Nackenfell. „Wie gesagt, liebend gern. Es war sehr schön bei den Menschen!“ Damit wandte er sich um und verschwand in der Nacht.
    Sulik hingegen öffnete die Steintür. Schon mit einer Entschuldigung auf den Lippen, warum er heute so spät gekommen war, trat er ein. Seine Frau und seine Kinder saßen vor dem wärmenden Kamin beisammen und spielten mit kleinen Steinfiguren. Es waren wunderschön geschnitzte Handarbeiten, bestimmt sehr wertvoll. Wie schon zuvor bei der Stoffpuppe konnte Sulik sich nicht entsinnen, diese irgendwo bei einem anderen Zwerg ertauscht zu haben.
    „Der Weihnachtsmann!“, wurde er auch hier von seinen Kindern begrüßt, und Sulik stutzte. Da verbesserte sich seine kleine Tochter: „Nein, das ist Papa!“ Die drei Kinder liefen zu ihm und umarmten ihn. „Stell dir vor, Papa, der Weihnachtsmann war hier!“, verkündete Suliks Tochter lauthals.
    „Wirklich?“, fragte der Vater lachend. Dachten sie jetzt auch, dass er der Weihnachtsmann war?
    „Ja, ja!“, bestätigte Suliks mittlerer Sohn. „Genau wie bei den Menschenkindern. Und er sah genauso aus wie du!“
    „Nur viel größer!“, ergänzte der Kleinste und breitete die Arme weit aus.
    Jetzt kam auch die Zwergenfrau dazu. Sie trug einen bunten Schal aus gefärbter Ziegenwolle, der ihr sehr gut stand. „Er hat uns allen Geschenke gebracht, auch dir“, meinte sie und zeigte in eine Zimmerecke. Dort lehnte ein nagelneuer Tornister an der Wand, geflochten aus robusten Weidenzweigen. „Und er hat mir diesen Brief für dich gegeben.“ Sie überreichte ihm einen gefalteten Zettel.
    Der Zwerg öffnete ihn und las die Zeilen: „Lieber Sulik. Vielen Dank, dass du mich in dem Dorf in der Nähe deines Heimes vertreten hast. Es ist so, jedes Dorf und jede Stadt, die ich besuche, hat einen eigenen magischen Edelstein – doch unglücklicherweise habe ich den für dieses Dorf hier verloren, so konnte ich hier keine Geschenke ausliefern. Damit kann man nämlich alles in genau den Gegenstand verwandeln, den sich jemand wünscht – doch nicht jeder beherrscht diesen Zauber. Du hast gezeigt, dass du die Magie der Weihnacht in dir trägst. Behalte den Stein und vertrete mich in diesem Dorf. Vielleicht sehen wir uns dann im nächsten Jahr. Liebe, weihnachtliche Grüße. Der Weihnachtsmann.“
    Sulik legte den Zettel beiseite und kramte in dem Jutesack. Der Weihnachtsmann schrieb etwas von einem magischen Edelstein. Was denn für ein Stein? Er hatte doch alle von ihnen den Kindern geschenkt. Doch tatsächlich lag in dem Sack der sonderbare, sternförmige Kristall, den Sulik vor seiner Grabhöhle gefunden hatte. Das war also der Grund, warum sich seine Fundstücke in Spielzeuge verwandelt hatten!
    Glücklich betrachtete Sulik seine Familie, die sich so sehr über ihre Geschenke freute, wie es auch die Kinder getan hatten. Zwar hatte er für heute keine Steine, die er bei anderen Zwergen gegen Essbares tauschen konnte, doch das war nicht so schlimm. Seine Frau hatte immer einen kleinen Vorrat, der für einen Tag reichen würde. Viel wichtiger war, dass Sulik erkannt hatte, wie schön das Weihnachtsfest war, und wie gut es sich anfühlte, Kindern, ob nun Zwerge oder Menschen, eine Freude zu machen. Mithilfe des Zaubersteins würde er den Weihnachtsmann vertreten!
    „Papa, komm spiel mit uns!“, forderten seine Kinder ihn auf und machten ihm Platz in ihrem Sitzkreis. Sulik lächelte, zog den Mantel aus und setzte sich zu ihnen.[tab=Tab 3]Wenn die letzten Bäume fallen


    „Kommissarin Chrysina Rutelini, ich bin Offizierin Nancisca Cemur und soll Sie zu unserem Einsatzort geleiten.“ Die Polizistin salutierte vor ihrer Vorgesetzten und wies den Weg zu der schaulustigen Meute.
    „Wie ist die Lage?“, wollte Chrysina ohne Umschweife wissen, während sie von ihrer Untergebenen durch die Menschenmasse eskortiert wurde. Im Gehen überprüfte sie, ob ihre Silikonatemmaske über Mund und Nase sowie der Schlauch richtig saßen und das kleine, leistungsstarke Luftfiltriergerät auf ihrem Rücken während der Fahrt nicht verrutscht war.
    „Wir haben bereits alle Demonstranten mit Zippies außer Gefecht gesetzt“, teilte Nancisca mit, worauf Chrysina innerlich die Augen verdrehte. Zippy war der Spitzname für die Abkürzung der Zerebrale-Paralyse-Waffe, die die Demokommission offiziell gegen Aufständische verwenden durfte. Ein Begriff, den nur Auszubildende auf der Polizeiakademie gebrauchten und der zeigte, dass Nancisca noch nicht lange im Dienst war.
    Gerade kamen die beiden Polizistinnen an einem Krankenwagen vorbei, der inmitten der Schaulustigen stand. Sanitäter trugen ohnmächtige Demonstranten auf Bahren herbei, um die Wirkung der Paralysewaffen einzudämmen.
    „Allerdings“, fuhr Nancisca fort, „ist ein Mann übrig. Egal, wie genau wir auf ihn zielen, er wird nicht bewusstlos.“
    Bevor Chrysina etwas erwidern konnte, schallte eine Stimme über die Menge. Sie und Nancisca hatten den Kern des Aufruhrs erreicht: Ein bepflasterter Platz mit einem einzelnen, mächtigen Baum in der Mitte, dessen Wurzeln den Boden im Verlauf vieler Jahre aufgebrochen hatten. Der Bereich war zwar abgesperrt, dennoch hatten die Offiziere Mühe, die schaulustigen Versammelten von ihm fernzuhalten. Die Stimme, heiser, rauchig und deswegen von einem archaischen Megafon verstärkt, rezitierte ihren Chrysina sehr vertrauten Lieblingsspruch: „Wenn die letzten Bäume fallen, wird der Untergang der Menschheit besiegelt sein!“
    Chrysina schüttelte missmutig den Kopf, als der Demonstrant weitere Hetzreden gegen die Abholzung alter Baumriesen von sich gab. „Sie sind wohl erst seit Kurzem in unserer Branche tätig“, wandte sie sich an Nancisca. „Dieser Mann ist nicht einfach irgendein Demonstrant, sondern der Anführer der Bande. Er hat sich die ganze Schädeldecke entfernen und durch Metallplatten ersetzen lassen. Sie schützen sein Hirn vor den Elektromagnetwellen der ZPs.“
    Nancisca sah ihre Vorgesetzte überrascht an. „Woher wissen Sie das?“
    Weil ich ihm selbst dazu geraten habe, als ich auf der Akademie davon erfuhr, dass das möglich ist, dachte Chrysina. Aber das konnte sie schlecht zugeben. Die Weitergabe solcher Informationen war schwerster Eidbruch. Ihren Job zu verlieren stellte dabei die mildeste Strafe dar, die sie dafür erwarten konnte.
    Sie zeigte ihren Dienstausweis hoch, um von einem Offizier hindurchgelassen zu werden, der nur einen knappen Blick draufwarf. In der Demokommission war sie eines der bekanntesten Gesichter. Rasch schlüpfte sie unter dem Absperrband hindurch und ließ Nancisca dahinter stehen.
    Ohne Furcht näherte sie sich dem Demonstranten, der soeben durch das Megafon verlautbarte: „Die großen Konzerne werden jeden Quadratmeter Urwald vernichten, um ihre umweltsündigen Fabriken darauf zu erbauen, bis das ganze Land lückenlos unter Beton und Polyzement erstickt!“
    Chrysina seufzte. „Leondreas, es ist jetzt acht Jahre her. Hast du dir noch immer keine neuen Sprüche einfallen lassen?“
    Der Tobende schien ihrer erst jetzt gewahr zu werden und wandte sich ihr mit irrem Blick zu. Leondreas bot eine erschreckende Gesamterscheinung: Er war dürr und ausgezehrt, wankte mehr als dass er stand. Schon vor Jahren hatte er als Teil seines Protests jedweder medizinischen Hilfe entsagt, die in Zeiten stark verpesteter Luft unabdingbar war. Deswegen schlängelten sich durch seine entzündeten Augen rote Adern, Ekzeme und aufgekratzte Ausschläge überzogen seine Haut. Sein Atem ging rasselnd, weil er schon so lange ohne Atemmaske und dazugehöriges Filtriergerät lebte. Er war offensichtlich schwer krank, mehr Leiche als Lebender, doch das würde ihn nie zum Aufgeben zwingen.
    „Dieser Baum darf nicht gefällt werden!“, wetterte Leondreas, ohne seine einstige Verlobte zu grüßen.
    Natürlich brauchte Chrysina diese Information nicht mehr, war doch jedem Anwesenden klar, wogegen hier demonstriert wurde. Ruhig und sachlich erwiderte sie: „Du weißt genau, dass dieser Baum tot ist und von innen heraus verrottet. Man muss ihn entfernen, bevor er kippt und zur Gefahr wird.“
    „Gefahr!“, spottete Leondreas und verkündete durch sein Megafon, sodass alle es hörten: „Die einzige Gefahr hier ist der Mensch selbst! Dieser Baum und unzählige andere starben wegen Luftverschmutzung und Bodenvergiftung! Er sollte als Mahnmal dafür stehen bleiben, was mit den wenigen Bäumen passieren wird, die noch leben, wenn sich nichts ändert.“ Dabei deutete er fuchtelnd in die kahlen, vertrockneten Äste hoch. Man konnte nicht mehr erkennen, um welche Baumart es sich gehandelt hatte.
    Das Problem ist nur, dass Menschen ungern an ihre Fehler erinnert werden, dachte Chrysina bitter. Genauso ergeht es mir, wenn ich dich hier sehe.
    Jetzt wandte Leondreas sich wieder nur an sie: „Ich werde nicht aufgeben, bis unser Kampf gewonnen ist.“
    „Sie dich doch um!“, verlangte Chrysina daraufhin und machte eine ausladende Armbewegung. „Deine Mitstreiter sind schon alle fortgeschafft worden. Du bist allein mit diesem Kampf.“
    Plötzlich wurde Leondreas‘ Blick sanft, sodass er sie schon fast an den jungen Mann erinnerte, den sie einst geliebt hatte. „Ich meinte auch nicht die anderen. Ich meinte uns. Dich und mich. Früher haben wir auf derselben Seite gekämpft.“
    Chrysina stöhnte innerlich auf. Warum musste er jetzt mit diesen alten Geschichten kommen? Das war Jahre her! Sie war jung, dumm und unendlich verliebt gewesen und hatte tatsächlich geglaubt, zusammen mit Leondreas die Welt verändern zu können. Die Einstellung der Menschen gegenüber der Umwelt zu verbessern. Dann jedoch war sie auch im Kopf erwachsen geworden, hatte festgestellt, dass es zu viele Kontroversen innerhalb der Menschheit gab, die zuerst beseitigt werden mussten. Deswegen war sie Polizistin geworden und hatte sich später von ihm getrennt.
    Leondreas trat an sie heran und berührte ihren Arm. „Auf der ganzen Welt gibt es nur noch eine Handvoll alter Bäume wie diesen hier. Chrys, erinnere dich an deine alten Werte. Willst du, dass sie gefällt werden und sterben?“
    Die Antwort fiel Chrysina unglaublich schwer. Die Umweltaktivistin von damals und die jetzige Polizistin in ihr rissen sie hin und her, bevor sie erwiderte: „Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war, Leo. Ich habe jetzt einen Beruf und eine hohe Stellung bei der Kommission. Ich kann nicht…“
    „Genau!“, unterbrach er sie. „Du hast was zu sagen. Bring sie dazu, mit diesem Biest abzurücken.“ Er zeigte auf eine Fällmaschine, die soeben an den sechs Meter breiten Stamm heranfuhr und die Sägevorrichtungen wie die Kiefer eines gigantischen Käfers darumlegte. Offenbar schien der Fahrer nicht zu bemerken, dass der Platz noch nicht ganz geräumt war, und warf die Kettensägen an. Augenblicklich flogen Holzsplitter umher, zwangen die Menge dazu, mehr Abstand zu dem Gewächs zu nehmen. Auch Chrysina und Leondreas konnten von den Geschossen getroffen werden.
    „Wir müssen hier weg“, schrie Chrysina gegen das ohrenbetäubende Getöse der Ketten. „Du kannst das nicht mehr aufhalten!“
    „Doch, das kann ich“, behauptete Leondreas so leise, dass die Polizistin ihn kaum verstand. Irgendwoher zückte er ein Taschenmesser und legte sich die Schneide auf die Pulsadern der linken Hand. Chrysina erstarrte. „Sag ihnen, sie sollen abbrechen, oder ich bringe mich um!“
    „Leo, hör auf mit dem Blödsinn“, rief sie verzweifelt. Ganz offensichtlich wollte er die Gefühle ausnutzen, die sie einst für ihn empfunden hatte – und vielleicht immer noch hegte.
    Doch sie blieben beide standhaft. Minuten vergingen, während derer sich die Polizistin und der Demonstrant, die sich einst so nahe gestanden hatten, fest in die Augen sahen; sich die Sägen weiter unaufhaltsam durch den Stamm fraßen wie durch Butter.
    „Du lässt mir keine andere Wahl“, erklärte Leondreas schließlich ihre Schuld dafür, was folgte: Die Schneide des Taschenmessers glitt über sein Handgelenk, schnitt durch Haut und Adern. Blut sprudelte hervor und sprenkelte den Boden.
    „Nein!“, kreischte Chrysina panisch. Instinktiv sprang sie zu ihm vor, als Leondreas schwankte, das Megafon fallen ließ und zusammenbrach.
    Endlich schien jemand dem Fahrer der Fällmaschine mitgeteilt zu haben, dass sich noch Personen auf dem Platz befanden, und die Sägen verstummten. Nur durch die so entstehende relative Stille konnte Chrysina verstehen, was Leondreas ihr kraftlos zuflüsterte: „Wenn die letzten Bäume fallen, wirst du sehen, dass du dich falsch entschieden hast.“ Damit kippte sein Kopf herum, die Augen schlossen sich.
    Geistesabwesend bekam Chrysina kaum mit, wie zwei Sanitäter herbeieilten, den Verblutenden auf eine Trage legten und fortbrachten. Sie zitterte und wehrte sich nicht, als man auch sie vom Baum wegführte. Das Einzige, was sie vor sich sah, waren Leondreas‘ rotgeäderte Augen, die sie bis zum Schluss voller Anklage, Bedauern und Liebe bedacht hatten.


    Am nächsten Morgen kehrte Chrysina an den Ort des Geschehens zurück. Der Baum war mittlerweile gefällt und weggeschafft worden. Wegen der von den Demonstranten verursachten zeitlichen Verzögerung würde der Stumpf erst diesen Nachmittag ausgegraben und entfernt werden.
    Chrysina hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Ständig gingen ihr die Worte ihres einstigen Geliebten durch den Kopf. Auch wenn er sein Leben für seine Sache geopfert hatte, war es Leondreas letzten Endes doch nicht gelungen, irgendetwas zu verändern. Sie befand, dass das so richtig und gut war.
    Oder?
    Jetzt stand Chrysina hier und wusste nicht, wie sie mit dem, was sie zu ihren Füßen sah, umgehen sollte. Dort, wo Leondreas‘ Blut auf die toten Baumwurzeln getropft war, sprossen winzige, zarte, lebendig grüne Schösslinge.[tab=Tab 4]Kontinuum


    Der Wald schwieg in nasser Stille, erfüllt von Regen, der in langen Fäden aus den weit geöffneten Himmelspforten herabfiel. Es war Nacht, Dunkelheit hing zwischen den Baumstämmen; ein Zustand, der Tenebros, dem Herrn der Finsternis, üblicherweise sehr zusprach. Doch nun hatte die Schwärze für ihn etwas Bedrückendes an sich, das ihn bei seiner Flucht zu behindern suchte. Schon seit Tagen floh er dem unweigerlichen Zorn Solaros‘, der mittlerweile gewiss wieder bei klarem Verstand war und den Verrat seines treuesten Untergebenen zweifelsfrei bitter bestrafen würde.
    Tenebros blieb keuchend stehen. Sein Atem und Herz rasten, seine durchnässten Roben ließen ihn frieren.
    Obwohl der verdammte Ranger seine Pläne zunichte gemacht hatte, war Tenebros nicht ohne eine Trumpfkarte aus dem Tempel entkommen. Bei sich trug er die blaue Kugel, die die Energie vieler Pokémon in sich einte. Mit ihrer Hilfe würde er einen Weg finden, Vergeltung für die Schmach seiner Niederlage zu üben.
    Mit Bedacht hielt er sie weit von sich und nahm über seine Rüstung geistigen Kontakt mit ihr auf, wie er es als Tempelherr auch bei Pokémon getan hatte. Celebi hatte dem Ranger geholfen, durch die Zeit zu reisen, deswegen rief Tenebros nun den Schatten Celebis herbei, der in der Kugel hauste. Über dieser flackerte eine Erscheinung auf, die wage Ähnlichkeit mit dem Legendären Pokémon hatte, jedoch kaum Stofflichkeit besaß.
    Mit vom Laufen und der Kälte heiserer Stimme befahl Tenebros: „Bringe mich in die Zeit dieses vermaledeiten Julians! Oder, nein… besser ein Jahrzehnt zuvor“, korrigierte er sich. So würde er genügend Zeit haben, seine Rache vorzubereiten.
    Das geisterhafte Celebi hob den Kopf, schloss die Augen und öffnete den Mund weit. Ein gelbliches Leuchten erschien zwischen ihm und Tenebros, erlosch jedoch schnell wieder. Das hatte er bereits befürchtet: Die Erscheinung hatte nicht genügend Kraft, ihn so weit in die Zukunft zu befördern.
    Tenebros nahm all seine Willenskraft zusammen, um mehr Energie aus der Kugel auf Celebi zu übertragen. Wie ein sterbender Stern strahlte die Kugel blaue Nebelschwaden aus. Diesmal war das Leuchten der Zeitreise heller und wurde beständig größer, bis es Tenebros‘ gesamtes Blickfeld ausfüllte.
    Plötzlich stach ein Schmerz durch seine Brust, als habe man ihm einen Pfeil ins Herz geschossen. Tenebros presste die Hand darauf, ging in die Knie. Seine tagelange Flucht verlangte Tribut an seinem alten, verbrauchten Körper. Was er nicht alles dafür gegeben hätte, dies zu ändern!
    Nicht nur sein Herz, auch der Harnisch gab nun der Belastung durch so viel Energie nach und zersplitterte. Beinahe im selben Augenblick entglitt Tenebros die Kontrolle über die Kugel, die daraufhin explodierte. Der Herr der Finsternis wurde zurückgeschleudert, schlug mit dem Hinterkopf gegen etwas Hartes. Schwärze kroch herbei und hüllte seine hilflosen Gedanken gnadenlos ein.


    „Danke, dass Sie so schnell kommen konnten.“
    „Nun, immerhin ist das meine Aufgabe. Wo ist denn der Patient?“
    Schritte, die sich ihm näherten.
    „Er hatte sehr hohes Fieber, als ich ihn fand, außerdem eine kleine Kopfwunde. Delia hat sie bereits verarztet“, informierte die erste, unverkennbar männliche Stimme.
    Tenebros spürte, wie sein Kopf angehoben wurde. Der zweite Sprecher erwiderte: „Nicht schlecht. Ihre werte Frau ist nicht nur auf ihrem eigenen Fachgebiet erfahren.“ Jemand öffnete Tenebros gewaltsam das eine, dann das andere Auge, und ein grelles Licht stach ihm in den Schädel. „Pupillenreflexe sind normal.“
    Endlich schaffte Tenebros es, zu blinzeln, und erkannte ein metallenes Blitzen. Etwa ein Dolch?! Alarmiert setzte er sich ruckartig auf und packte den Mann am Handgelenk. „Wage es nicht, Meuchelmörder!“, drohte er finster.
    Sein Gegenüber schien zwar verblüfft, sagte aber gefasst: „Hab keine Angst. Mein Name ist Doktor Edward, ich bin Arzt. Ich möchte dir nur helfen, mein Junge.“
    Jetzt erst bemerkte Tenebros, dass das, was der Fremde in der Hand hielt, gar kein Dolch war. Stattdessen war es über einen schwarzen Wurmfortsatz mit einem Metallbügel verbunden, dessen Enden sich dieser Edward lächerlicherweise in die Ohren gesteckt hatte.
    Scharen von Neidern und Konkurrenten hatten Tenebros zwar gelehrt, niemandem leichtfertig zu trauen; doch Schwindel und Kopfschmerz zwangen ihn jetzt dazu, den eisernen Griff um Edwards Handgelenk zu lockern und sich wieder niederzulegen. Der Arzt drückte ihm das kalte Metallding auf die bare Brust und nahm einen konzentrierten Gesichtsausdruck an.
    Was hatte Edward überhaupt mit „mein Junge“ gemeint? So wie Tenebros das sah, waren sie beide ungefähr gleich alt.
    Welchen Zweck das merkwürdige Prozedere auch immer erfüllte, es dauerte nicht lange. Edward bedeutete Tenebros, er könne sich nun langsam wieder aufsetzen. Der Patient nutzte diese Gelegenheit, sich im Raum, in dem er sich befand, eingehend umzusehen. Wände, Boden und Decke waren lückenlos holzverkleidet, das Mobiliar von hervorragender Schreinerkunst. Ein wahrhaft gewaltiges Fenster ließ Licht herein; so große Glasscheiben hatte Tenebros noch nie erblickt. Über einem Stuhl hingen seine dunkelblauen Tempelherrenroben.
    Überrascht blickte Tenebros an sich hinab. Der massige Wohlstandsbauch, den er als Tempelherr angesetzt hatte, war einem schlanken, drahtigen Körper gewichen, der bis auf seltsam kurze Beinkleider nichts an sich trug.
    „Ich habe dir die Kleider ausgezogen, sie waren triefend nass. Du hättest dich sonst erkältet.“
    Tenebros erinnerte sich erst jetzt des anderen Mannes, dem die erste Stimme gehörte. Die Verärgerung über dessen Dreistigkeit, einen Tempelherren einfach zu entkleiden, wich erschrockenem Staunen, als er zu ihm hinübersah: Die rot-blaue Kleidung mit dem eigentlich fremdartigen Schnitt kam ihm sehr vertraut vor. In einer Vorrichtung am rechten Unterarm trug der Mann ebenso wie Julian einen Teufelskreisel. „Du bist ein Ranger!“, spuckte Tenebros zornentflammt.
    Der Ranger zog eine Augenbraue hoch und erwiderte voll Sarkasmus: „Nur seit sechs Jahren Oblivias Bezirksranger. Nicht, dass das wichtig wäre!“
    „Seien Sie nicht so streng mit ihm, Taluga“, forderte Edward von ihm und reichte Tenebros einen Wasserbecher; sogar dieser war aus Glas gefertigt. Tenebros hatte nicht gemerkt, wie durstig er war, und trank das Wasser in einem Zug.
    Er befand sich also noch immer in Oblivia. Der Schatten Celebis hatte ihn durch die Zeit, nicht jedoch durch den Raum transportiert. Außerdem handelte es sich bei diesem Ranger zu Tenebros‘ Erleichterung nicht um Julian. Dieser war schließlich fast noch ein Kind gewesen, unwesentlich älter als Solaros‘ Balg Helios, und musste, wenn Tenebros wirklich eine Dekade vor Julians erster Zeitreise hier angekommen war, noch ein Kleinkind sein. Taluga hingegen zählte gewiss bereits dreißig Jahre.
    „Taluga hat dich bei seiner Morgenpatrouille im Wald gefunden. Weißt du vielleicht, wie du dort hingekommen bist?“, wollte Edward wissen. Als Tenebros nur die Schultern hob, strich sich der Arzt nachdenklich über den ergrauenden Bart.
    „Wie ist Ihre Diagnose?“, fragte Taluga.
    „Atem und Blutdruck sind stabil, das Fieber ist abgeklungen. Es scheint keine Gehirnerschütterung zu sein… Wahrscheinlich hat er die Nacht mit Freunden gefeiert. Ein gewöhnlicher Filmriss, nichts weiter.“
    „Jung müsste man wieder sein“, seufzte Taluga gedankenverloren.
    Während sich die beiden unterhielten, stand Tenebros vorsichtig auf. Ihm war ein Spiegel auf einem niedrigen Schrank aufgefallen, auf den er jetzt zuschritt.
    Mit gewisser Empörung und Berechtigung hob der Arzt hervor: „Wem sagen Sie das, Jungspund?“
    Der Ranger lachte verhalten. „Wenn ich meine kleine Nema sehe, fühle ich mich sehr alt. Sie ist erst fünf und schraubt schon Dinge zusammen wie Professor Hastings. Sie wird so schnell groß.“
    Tenebros hatte den Schrank erreicht und blickte in den Spiegel. Was er sah, war nicht die ihm verhasste, aufgedunsene Visage, die er die letzten Jahre gezwungen war zur Schau zu tragen; sondern das Antlitz eines Jünglings von nicht ganz zwanzig Jahren, ein Gesicht aus einer Zeit, lange bevor er zum Tempelherrn aufgestiegen war. Die Kugel war wohl, als sie seinen Befehl zur Zeitreise umgesetzt hatte, auch auf seinen Wunsch eingegangen, wieder jung zu sein.
    Taluga wandte sich wieder an Tenebros. „Jedenfalls, du bist unser Gast. Bleib so lange wie nötig.“ Damit verließ er den Raum.
    Der Arzt packte seine Instrumente zusammen und sagte: „Ich werde nun auch gehen. Du kommst wohl aus Kokonuba; deine Freunde machen sich bestimmt schon Sorgen. Ich kann ihnen etwas ausrichten. Wie heißt du überhaupt?“
    Tenebros überlegte. Für seine Vergeltung würde er das mächtigste Artefakt in ganz Oblivia an sich bringen müssen: Die Goldene Rüstung des Herrn des Lichts. Um an sie zu gelangen, musste er zu alter Stärke zurückfinden und die Gepflogenheiten dieser neuen Zeit erlernen, um seine Fertigkeit, Menschen mit Worten zu manipulieren, wieder ausüben zu können. Er musste herausfinden, wie die Teufelskreisel den Rangern dieselbe Macht, über Pokémon zu gebieten, verliehen, die die Tempelherren von ihren Rüstungen erhielten. Auch seine langjährige Lebenserfahrung und womöglich auch seine Kenntnisse um die Vergangenheit, vereint in seinem verjüngten Körper, würden ihm zum Vorteil gereichen. Sein Harnisch und die blaue Kugel waren zerstört, aber er wäre nie Herr der Finsternis, oberster Vertrauter des Trägers der Goldenen Rüstung geworden, wenn er sich von solchen Rückschlägen hätte abschrecken lassen. Aber zum Gelingen seines Unterfangens musste er von Anfang an unter anderer Identität auftreten, damit Julian, dieser zeitreisende Tunichtgut, ihn nicht erkannte, wenn sie eines Tages wieder aufeinandertrafen.
    Nachdenklich fuhr sich Tenebros mit der Hand durchs Haar, das sein blasses Fliederviolett in der Vergangenheit zurückgelassen und seine einstige kräftige Färbung wiedererlangt hatte. Er sah sich in die eigenen, vor jugendlichem Eifer in derselben Farbe strahlenden Augen.
    Tenebros wandte sich zu Edward um und antwortete:
    „Nenne mich Purpurauge.“

    Bwoah, zweiter Platz, ganz knapp - und das auch noch mit diesem Stiefkind von Text? xD Ich hab lange mit dem Thema gehadert und meine Ideen so oft verworfen, dass ich am Ende kaum Zeit hatte, noch was zu schreiben. Schnell abtippen, aber auch noch auf die Begrenzung achten, dann gschwind korrekturlesen, da blieb keine Zeit für stilistische Besserungen << Entsprechend ist auch der Schreibstil, nicht nur, weil ich halt naiv-jirachimäßig geschrieben habe... Buchstäblich in den letzten Minuten eingeworfen, es war echt ungeheuer knapp oo
    aber beim zweiten Platz kann ich mich ja nich beschweren :D Danke für die Punkte und netten Kommentare ^^


    Glückwunsch an Saraide für Gold ^^



    Wie mein Kleingeschriebenes halt erst mal übergangen wurde... xP

    [tabmenu][tab=WTF?!?!]Nun ists bald ein Jahr her, da ich mir vorgenommen habe, hier endlich mal wieder was zu posten. Mittlerweile haben sich so viele Wettbewerbsabgaben und anderes angesammelt, dass ich immer weniger die Lust verspürte, es zu tun… aber irgendwann MUSS es einfach sein, und hiermit ist es endlich so weit! Da es so viele sind, wird das einige Posts in Anspruch nehmen. Uff x3


    Im ersten Tab findet ihr einen Text, den ich, inspiriert von einigen japanischen Märchen, als solches aufgesetzt habe. Das bedeutet, diesen märchencharakteristischen Schreibstil beizubehalten… zudem habe ich ein paar Motive japanischer Märchen eingebaut, wie zum Bleistift die nicht immer logische Geschichte, ein Wechsel der Erzählperspektive und in gewisser Hinsicht des Protagonisten, Tiere und Magie spielen eine Rolle, es erklärt, warum etwas so ist, wie es ist, ein 08/15-Typ bekommt ein wichtiges Amt und Ansehen… yoah, das dürfte es gewesen sein.
    Der Text ist so konzipiert, als sei die Ursprungssprache tatsächlich Japanisch gewesen. Deswegen wird auch so selbstverständlich vom Namen Yamazato gesprochen, was schlichtweg „Bergdorf“ bedeutet. „Wildkatze“ ist japanisch „Yamaneko“, also „Bergkatze“. Das unterstreicht nochmal die Verbindung des Dorfes, des Wildkaters und des Berges. Yoshiki ist ein Kunstname, gibt’s vielleicht aber tatsächlich, kP. Ichiro ist ein alter japanischer Name.


    Im zweiten Tab gibt es einen Text, den ich mal aus Langeweile geschrieben habe und weil mir die Idee gut gefiel. Ich habe ihn nur ein einziges Mal korrekturgelesen, und das ist fast ein Jahr her. Hoffentlich bereue ich das nicht irgendwann x3
    Was den Anfang betrifft habe ich da einige leidliche eigene Erfahrungen einfließen lassen… *hust* Man beachte, dass weder das Geschlecht des Protagonisten noch der Nebenperson bekannt sind und auch nicht sein sollen. Ob Weiblein oder Männlein, hetero oder homo möge in diesem Fall doch einfach jeder Leser selbst entscheiden <3
    WARNUNG: Es besteht die Gefahr, aufgrund der Kitschigkeit des Textes an Karies oder gar Augenkrebs zu erkranken. In einem solchen Fall übernehme ich keinerlei Haftung!


    Im dritten kommt dann auch endlich einer der gefühlten dreiphantastiollion Wettbewerbstexte, die sich angestaut haben. Aufgabe war, inspiriert von einem der gegebenen Lieder, einen Text zu verfassen. Ich habe die Titelmusik von Inception gewählt, weil ich ja sowieso finde, dass das einer der besten Filme unseres noch jungen Jahrtausends ist. Welchen Platz ich abstaubte, weiß ich bedauerlicherweise nicht mehr. Ich meine, so was sollte man sich wenigstens melden, bis man den Text in seinem Kurzgeschichtensammeltopic reinstellt xDD
    Leider war manchen Votern der Titel nicht selbsterklärend. Viele meinten, Oriam sei gar nicht der letzte Überlebende. Dazu sag ich nur: Ist der DOCH! :<


    In den vierten und für heute letzten Tab habe ich meine Abgabe für das Saisonfinale 2013 reingestellt. Die Saison 2013 war für mich keine gute, ich war nicht einmal für das Finale qualifiziert und kam nur deswegen rein, weil noch jemand absprang. Danke, User, dessen Nick mir entfallen ist und für das ich mich etwas schäme << Trotzdem habe ich im Finale nicht gerade abgesahnt, sodass ich meinen Titel von 2012 nicht verteidigen konnte…
    Ähm, ja. Der Text. Aufgabe war es, den Songtext eines beliebigen Liedes zu einer Geschichte umzufunktionieren, bzw sich zu einer solchen inspirieren lassen. Ich nahm „The Last Unicorn“, weil es mir gut gefällt <3 Ich habe versucht, so viel wie möglich von den Lyrics in den Text einzubauen, ja sogar ein bissl zu zitieren. Tataa, das kam bei raus


    Viel Spaß beim Lesen :pika:
    [tab=Erster Tab]Der Wildkater von Yamazato


    Einst lebte in der Präfektur Nagano ein junger Mann mit dem Namen Yoshiki in dem kleinen Dorf Yamazato. Dieses Dorf war, wie es sein Name schon erahnen ließ, zu Fuße eines Berges errichtet und umgeben von einem Wald, von dem es hieß, Füchse und Marderhunde trieben darin ihre Späße mit den Menschen. Auch Yoshiki wusste um diesen Schabernack, und obwohl er am Rande jenes Waldes lebte, vermied er es tunlichst, das unheilvolle Gehölz zu betreten. Da er aber, wie auch schon sein Vater vor ihm, Holzfäller vom Berufe war, ergab es sich, dass er schlecht an seinem Gewerbe verdiente und nur das Nötigste zum Leben hatte. Doch da das nunmal sein eigener Wille war, beklagte er sich nicht.
    In dem Wald, nicht weit von Yoshikis bescheidenem Heim entfernt, wohnte in einem Bau zwischen den Wurzeln eines Zypressenbaumes eine Wildkatzenfamilie. Ihr Oberhaupt war der große Wildkater Ichiro, der bei allen Waldbewohnern gefürchtet und als Fürst des Waldes bekannt war. Seine Frau Wildkatze hatte ihm drei gesunde Söhne geschenkt, die er nun zu verteidigen hatte. Denn es ist bekannt, dass Füchse und Marderhunde gerne kleine Katzenkinder von ihren Eltern stehlen, um sie in ihren eigenen Bauen heimlich zu verspeisen.
    Dagegen wusste der weise Ichiro jedoch einen Trick, der seit vielen Generationen bei den Wildkatzen weitergegeben wurde: Um die verhassten dämonischen Feinde von ihrem Bau fernzuhalten, fangen Wildkatzen seit jeher eine Maus, reißen ihr die Bauchdecke auf und tanzen dreimal im Kreise um sie herum. Dabei sagen sie diesen Zauberspruch:

    Nyan, nyan, kleines Mäuschen, kleiner Geist,
    halte Fuchs und Marderhund von meinem Hause fern!


    So legte auch Ichiro eine solch verzauberte Maus vor seinen Bau, und seine Kinder konnten, behütet vor Füchsen und Marderhunden, sicher aufwachsen.
    Seit es das Dorf Yamazato gab, war es immer weiter gewachsen, und seine Bewohner trugen den Wald des Berges immer weiter ab. So war der Wald zu klein für die Füchse, die in ihm hausten, und einer von ihnen beschloss, das Dorf heimzusuchen und den Menschen gleich in ihren Häusern seine Streiche zu spielen. Des Nachts kam er hervor und grub Löcher in die Straßen, und tagsüber, wenn keiner hinsah, stahl er Wäsche, die man zum Trocknen aufgehängt hatte. Wenn er damit seinen Unfug getrieben hatte, brachte der Fuchs die Sachen verdreckt und zerrissen zurück. Andere Male behexte er nach Art der Füchse die Menschen bei ihrer Tagesarbeit, sodass bald kein rechtes Werk mehr vollbracht werden konnte.
    „So kann das nicht weitergehen“, beschlossen die Bewohner Yamazatos, „die Beerensammler und Holzfäller müssen Fallen im Wald aufstellen, damit uns die Füchse endlich vom Leib bleiben!“ Denn sie dachten natürlich, die Füchse des Waldes würden ihre Streiche spielen, wie es immer dann geschah, wenn jemand den Wald betrat.
    Da auch Yoshiki zu den Holzfällern zählte, war auch er damit beauftragt, Fuchsfallen im Wald nahe des Dorfes aufzustellen. So auch in der Nähe des Zypressenbaumes, in dem der Wildkater Ichiro und seine Familie hausten. Dieser ging seinem eigenen täglichen Werke nach, indem er durch seinen Teil des Waldes streifte und Beute für seine Frau und seine Kinder schlug. Auf der Jagd jedoch bemerkte er die Fuchsfalle Yoshikis nicht und verfing sich den Hinterlauf arg in der Schlinge. In seiner Panik zerrte er so heftig an der Schnur, dass sie sich immer fester um das Bein wandte, bis dieses schlaff und leblos wurde.
    „Zu Hilfe!“, rief der unglückliche Wildkater, doch niemand kam herbei, dem Fürsten des Waldes zu helfen. Wer ihn hörte, der dachte sich: ‚Gut, dass der alte Jäger nun stirbt, denn dann wird er uns und unsere Kinder nicht mehr töten!‘ Auch seine Frau konnte ihm nicht zu Hilfe eilen, denn sie musste im Bau bei den drei Söhnen bleiben, um sie vor ihren Feinden zu beschützen. So war es ihr freilich auch unmöglich, auszugehen und eine Maus zu fangen, um diese mit dem Zauberbann zu belegen.
    Viele Stunden hing der arme Ichiro in der Schlinge fest, es wurde Abend, und er verlor die Hoffnung, je lebend aus der Falle errettet zu werden. Da kam Yoshiki vorbei, der seiner Aufgabe nachging, seine Fuchsfallen zu überprüfen und, falls nötig, wieder herzurichten, wenn sich ein Fuchs oder ein Dachshund darin verfangen hatte. Als er aber den geschwächten Wildkater da liegen sah, beschleunigte er seinen Schritt und befreite ihn geschwind von der Schlinge. Eigentlich haben Wildkatzen große Angst vor dem Menschen, doch Ichiro war so erschöpft, dass er nicht die Kraft fand, vor Yoshiki davonzulaufen.
    Der herzensgute Yoshiki jedoch, der Mitleid mit dem Wildkater hatte, hob ihn vom Boden auf und brachte ihn in sein Haus. Dort verarztete er Ichiros Bein – seine Mutter war Heilkundige gewesen, sodass er selbst auch ein wenig ihrer Kenntnisse erlernt hatte. Er pflegte seinen ungewöhnlichen Gast und war in dem kleinen Dorf bald als der Katzenmann verschrien. Denn die Menschen konnten sich nicht erklären, wie jemand ein solches Vieh bei sich aufnehmen konnte, um es gesund zu pflegen.
    Als Ichiros Bein verheilt und er wieder zu Kräften gekommen war, schlich er sich eines Nachts heimlich aus Yoshikis Haus, denn trotz aller Hilfe war ihm der Mensch noch immer nicht geheuer. Dabei beobachtete er den Fuchs, der weiterhin ungehindert seine derben Scherze trieb, wie er in einen Hühnerstall einbrach und das arme Federvieh aus seinem tiefen Schlaf riss. Ichiro machte sich nichts daraus, denn kaum eine Wildkatze war bekannt, die sich je mit einem Fuchs angelegt hätte – auch keine von solch stattlicher Statur wie Ichiro.
    Er kehrte zu dem Zypressenbaum zurück, unter dem er so lange Zeit gelebt, doch den Bau fand er verlassen vor. ‚Wahrscheinlich ist meine Frau mit den Kindern umgezogen‘, überlegte er, und das Gewissen überkam ihn. ‚So lange mussten sie auf Mann und Vater warten, und ich bin nicht mehr gekommen! Wenigstens sind sie fort aus diesem Wald, wo es von Füchsen und Marderhunden nur so wimmelt, die nichts anderes im Sinne hatten, als meine Kinder zu verspeisen.‘ Also lebte er fortan allein zwischen den Zypressenwurzeln, wie es die Art der Wildkatzen ist, wenn sie keine Kinder großzuziehen haben.
    Doch der Mensch, der ihn so liebevoll gepflegt hatte, und der hinterlistige Fuchs wollten Ichiro nicht aus dem Kopf. ‚Was ist, wenn der Fuchs nun auch Yoshiki zu behexen versucht?‘, fragte sich der Wildkater still. ‚Dieser gute Mensch hat das nicht verdient. Ich bin einfach gegangen, ohne mich bei ihm zu bedanken. Ich sollte zu ihm gehen und mich für seine Hilfe erkenntlich zeigen!‘ So kehrte er zu dem Haus des armen Yoshiki zurück, dem durch den Zauber des Fuchses fast täglich das Holz zerbrach, wenn er es schlug.
    Ichiro bediente sich des von seinen Vorfahren überlieferten Zaubers. Er fing eine Maus, riss ihr die Bauchdecke auf, tanzte dreimal im Kreise um sie herum und sprach:

    Nyan, nyan, kleines Mäuschen, kleiner Geist,
    halte Fuchs und Marderhund von diesem Hause fern!


    Das verzauberte Mäuschen legte er Yoshiki vor die Haustür, wo es sogleich seine Wirkung tat: Der Fuchs, der sich auf Yoshikis Grundstück herumgetrieben hatte, spürte den feindlichen Zauber und nahm Reißaus. Das freute Ichiro, und er war glücklich, seinem menschlichen Freund geholfen zu haben. Nun musste er nur noch alle paar Tage wiederkommen, um die Maus zu entfernen und eine neue zu platzieren.
    Doch als er das nächste Mal kam, war die verzauberte Maus zu seinem Erschrecken bereits verschwunden. Woher hätte der Wildkater auch wissen können, dass Menschen tote Tiere vor ihrem Hause nicht dulden? Yoshiki hatte, unwissend des Zaubers, die Maus schon bald, nachdem Ichiro sie hingelegt hatte, fortgeworfen. So war denn auch die Wirkung verflogen, und sein vom Fuchs hervorgerufenes Missgeschick kehrte wieder. Auch, als Ichiro die fehlende Maus ersetzte, nahm Yoshiki sie wieder weg. Das wiederholte sich einige Male, bis Yoshiki, der von wachem Geiste war, erkannte, dass ihm sein Tagewerk gelang, wenn die Maus an ihrem Platz blieb. So ließ er ab davon, den kleinen, stinkenden Körper entfernen zu wollen, und ertrug auch die Hänseleien der Bewohner Yamazatos, die ihn weiterhin Katzenmann schimpften. Auch wenn er nicht wusste, woher die Opfergaben kommen mochten, war er doch dankbar dafür. Denn bald verhalf ihm das ausbleibende Unglück zu Reichtum und einer hohen Stellung im Dorf. Was er zu viel hatte, gab er den Armen und Hungerleidenden des Dorfes. Er heiratete die Tochter des Dorfvorstehers und wurde dessen Nachfolger.
    Viele Jahre gingen ins Land, und Ichiro wurde es nicht müde, seinem Freund alle paar Tage eine verzauberte Maus vor die Haustür zu legen. Auch wenn er sehr alt war und seine Knochen steif und steifer wurden, fühlte er sich seinem Lebensretter Yoshiki weiterhin verpflichtet.
    Eines Tages kam er zu spät, die Zaubermaus zu erneuern. Hatte er es in früheren Zeiten stets nachts getan, kam er durch die Langsamkeit seines hohen Alters erst in den frühen Morgenstunden an Yoshikis Haus an. Bei seinem Werk, die Maus zu umtanzen und mit dem Zauberbann zu belegen, beobachtete ihn eine Katze, die zum ersten Male in ihrem jungen Leben Yamazato erkundete. Sie war zu weit entfernt, um die Worte des Wildkaters zu verstehen, doch war ihr unbedarftes Herz gleich begeistert von dem eigentümlichen Anblick.
    Als sich Ichiro von der Stelle entfernte, an dem er die Maus niedergelegt hatte, müde vom Laufen und Tanzen, folgte ihm die junge Katze heimlich. Auch wenn sie von Angst erfüllt war, den Wald zu betreten – denn sie hatte freilich die Schauergeschichten der Menschen gehört –, schlich sie hinter dem alten Wildkater her, so leise sie es vermochte. Da sie aber nunmal eine Dorfkatze war und sich nicht auf das lautlose Schleichen der Waldtiere verstand, hörte Ichiro sie alsbald und wandte sich ungehalten zu ihr um: „Warum folgst du mir mit solch ohrenbetäubendem Getöse, du dummes Ding?“ – trotz seines Alters vermochte er noch zu hören wie in jungen Jahren – „Weißt du denn nicht, wie gefährlich der Wald für Dorfkatzen ist?“ Denn sie war weiß, mit schwarzen und braunen Flecken wie ein zartes Blumenfeld, und nicht grau gestreift wie die Wildkatzen, die im Wald fast unsichtbar sind.
    Die junge Katze duckte sich unter dem Blick des Wildkaters und stammelte schüchtern: „Verzeih mir, Meister, aber ich habe gesehen, wie du die Maus vor Yoshikis Tür abgelegt hast, wie du getanzt und gemurmelt hast. Welche Bedeutung hat dieses seltsame Ritual?“
    Der alte Ichiro war zu müde, die heißblütige Katze von sich abzuwimmeln, und erklärte es ihr: „Ich belegte die Maus mit einem Zauberbann, sodass das Haus vor dem Schabernack des Fuchses, der im Dorf sein Unwesen treibt, beschützt ist.“
    „Ist das der Grund, aus dem er glücklicher lebt als die anderen Dorfbewohner?“, wollte die Katze wissen, die einen wachen Verstand hatte. „Bringe mir den Zauber bei, und ich will meinen Menschen auch helfen!“, verlangte sie von dem alten Wildkater.
    Doch Ichiro schalt sie nur: „Dummes, junges Ding! Dieser Zauber wird seit jeher von Wildkatzen ihren Kindern gelehrt, eine andere Art als die unsere hat ihn nie erlernt. Außerdem ist mir Yoshiki ein lieber Freund und hat mir das Leben gerettet – Katzen sollten sonst so selbstsüchtig bleiben, wie die Natur das wollte, auch Dorfkatzen wie du.“
    „Aber meine Menschen sind mir auch lieb geworden“, sagte die Dorfkatze. „Da will ich sie auch vor dem Umtrieb des Fuchses bewahren!“
    Als der alte Ichiro das hörte, wurde ihm das Herz warm. ‚Sie hat ein gutes Herz‘, überlegte er für sich. Also beschloss er: „Nun gut, junge Katze, ich will dir meine Kunstfertigkeit beibringen. Aber zuerst will ich, dass du dich als würdig erweist, meine Schülerin zu werden! Ich bin alt und meine Knochen sind steif, ich kann nicht mehr gut jagen, wie ich es einst vermochte. Wenn du mir hilfst, die Mäuse für den Zauber zu fangen, und mich auch mit Beute versorgst, so werde ich dir den Zauberspruch verraten!“
    Dieses Angebot erfreute die junge Dorfkatze, und sie willigte ein.
    So kam es also, dass sie Ichiro Vögel brachte, wenn der Hunger ihn plagte, und Mäuse erlegte, wenn er den Zauber vor Yoshikis Haustür zu erneuern hatte. Wenn er dies tat, hielt sie sich aus Höflichkeit weit abseits, um den geheimen Spruch nicht versehentlich zu hören.
    Die Monate vergingen, und der Winter hielt in Yamazato und dem Wald Einzug. Ichiro lag in seinem Bau unter dem Zypressenbaum und spürte, dass dieser Winter sein letzter sein würde. Als die Dorfkatze wiederkam, um ihn zu versorgen, sprach er zu ihr: „Meine Zeit in dieser Welt ist vorüber, ich werde nicht mehr lange hier verweilen. Liebes Töchterchen“ – so nannte er die Dorfkatze mittlerweile, weil ihm eine eigene Tochter stets verwehrt geblieben, und sie ihm zur solchen geworden war – „du hast dich so gut um mich gesorgt, du hast es dir verdient, den Zauberbann meiner Vorfahren zu erlernen. Doch vorher musst du mir ein Versprechen geben.“
    „Alles, was du willst, Meister“, sagte die junge Katze, die zu einer schönen Katzendame herangewachsen war.
    Den alten Ichiro verließen die Kräfte, doch er sprach weiter: „Wenn du die Zaubermaus vor deiner Menschen Haustür ablegst, gehe bitte jedes Mal auch zu Yoshiki und führe mein Werk fort. Ich könnte keine Ruhe finden, wenn ich wüsste, dass bei ihm der Schutz versagt.“
    „Das werde ich tun“, versprach die Schülerin ihrem Meister.
    „Also, Töchterchen“, sagte der alte Wildkater, „höre mir gut zu, denn dies werden meine letzten Worte sein. Erlege eine Maus, reiße ihr die Bauchdecke auf und tanze dreimal im Kreise um sie herum. Während du dies tust, sprich diesen Zauberbann:

    Nyan, nyan, kleines Mäuschen, kleiner Geist,
    halte Fuchs und Marderhund von diesem Hause fern!


    Und alle paar Tage, wenn der Körper vermodert ist, musst du ihn erneuern – das weißt du, weil ich es immer so getan habe. In der ersten Zeit werden deine Menschen die Maus noch entfernen, aber sicher werden sie bald merken, dass ihnen das Unglück mit der Maus vor der Haustür fernbleiben wird. So war es bei Yoshiki.“
    Mit dem Namen seines Freundes auf den Lippen hauchte der Wildkater schließlich sein Leben aus. Die junge Dorfkatze blieb noch eine Weile und weinte stumme Tränen, dankte ihm und betete um das Seelenheil ihres Lehrmeisters. Sie fing eine Maus und sprach den Zauber über sie, um den Leichnam vor Aasfressern zu bewahren, bevor sie nach Yamazato zurückkehrte.
    Da es ein ungewöhnlich harter Winter war, kehrte Yoshiki, der nun Vorsteher des Dorfes war, bald zu seinem früheren Handwerk zurück, denn es brauchte nun mehr Holzfäller denn je. Bei einem seiner Streifzüge durch den Wald kam er an jenem Zypressenbaum vorbei, unter dem Ichiro sein Leben ausgehaucht hatte. Yoshiki entdeckte den toten Wildkater – sein Leichnam war durch die Kälte vor dem Zerfall geschützt – und erkannte in ihm jenes arme Wesen, das ihm vor Jahren in die Fuchsfalle gelaufen war, und das er daraufhin liebevoll gesund gepflegt hatte. Er entdeckte auch die Zaubermaus, die die Dorfkatze zum Schutze ihres Meisters zurückgelassen hatte, und sah, dass der Wildkater der gute Geist gewesen war, der so lange das Teufelswerk des Fuchses von ihm abgehalten hatte.
    Aus Dankbarkeit errichtete Yoshiki an der Stelle, an der sein Wohltäter verstorben war, einen kleinen Schrein, den er Itosugi-Schrein nannte, nach der Zypresse, zu deren Fuße er stand. Jeden Tag kam Yoshiki an den Schrein und betete für seinen Freund, brachte ihm Fisch als Opfergabe dar, weil das bekanntermaßen das Lieblingsessen aller Katzen ist.
    Die Dorfkatze aber führte ihre Pflicht aus, wie sie es Ichiro versprochen hatte: Wenn sie eine neue Zaubermaus vor die Haustür ihrer Menschen ablegte, brachte sie auch zu Yoshikis eine. So tat sie das lange Zeit, und als sie selbst Katzenkinder hatte, lehrte sie ihnen die Fertigkeit, die bis dahin nur den Wildkatzen bekannt gewesen war. So wurde es immer weiter geführt, bis alle Dorf- und Hauskatzen den Zauber kannten, mit dem sie die Streiche von Füchsen und Marderhunden abwenden konnten.
    Deswegen legen Katzen, wenn sie ihre Menschen sehr lieben, auch heute noch eine verzauberte Maus vor die Haustür, um das Unglück davon fernzuhalten.[tab=Zweiter Tab]Das Licht der Silberschlange


    Ich liege wach.
    Das ist sehr ärgerlich, denn was ich am Schlafen am liebsten habe, ist das Träumen. Einzutauchen in eine surreale Welt, die ihren eigenen Gesetzen folgt, von denen das oberste lautet, dass sie immer umgeschrieben werden dürfen. Ein bisschen wie in Büchern. Die Augenbewegung ist dabei doch auch ganz ähnlich: Wenn man in der REM-Phase des Schlafes ist, wischen die Augen hin und her, als würden sie über Zeilen gleiten. Manchmal träume ich davon, ein Buch weiterzulesen. Ich tauche also in eine Welt ein, in der ich in eine Welt eintauche.
    Ich hasse es, nachts wachzuliegen. Die fehlenden Sinneseindrücke lassen die Gedanken in Bahnen abkommen, die eindeutig nicht rational sind.
    Es ist stockfinster im Haus. Meine Familie schläft sicher schon. Außer mir hat niemand diese Schlafschwierigkeiten. Ich überlege ernsthaft, mir doch die harten Schlaftabletten zuzulegen. Dieser pflanzliche Schwachsinn hat einfach nicht genug Power. Die Tür meines Zimmers, das im Untergeschoss liegt, steht offen. Als Kind hätte ich sie aus Angst vor Monstern niemals offen gelassen. Vielleicht ist mein Unterbewusstsein noch immer in dieser Zeit gefangen, und ich kann deswegen nicht einschlafen? Dann sollte ich sie natürlich schließen.
    Aber wer weiß? Wenn der Schlaf auch so gleich kommt, verpasse ich ihn noch.
    Oder es kommt jemand anderes. Oben ist soeben ein Licht angeknipst worden. Wohl jemand aus meiner Familie, der mal Wasser lassen muss.
    Moment mal … Wenn oben jemand durch die Zimmer geht, höre ich das hier unten immer, als würde eine Horde Elefanten umherstampfen. Doch es ist alles still, wie auch schon zuvor. Nur das Licht stellt eine Veränderung dar.
    Alarmiert und von meinem kindgebliebenen Unterbewusstsein aufgeschreckt, setze ich mich auf. Das milchige Licht, das einen leichten Blaustich hat, erinnert an Mondschein – doch es ist Neumond. Es wird heller und flutet den Gang, der von den Treppen zu meinem Zimmer führt. Schatten erheben sich, als würden sie ihm fliehen.
    Irgendwie habe ich das Gefühl, dass dort etwas eben diese Treppen herabgeht. Und in dem Moment, in dem mir klar wird, dass das Licht genau dann nicht mehr heller werden wird, wenn seine Quelle unten angekommen ist – tritt genau das ein.
    Als die Intensität des Leuchtens ihren Höhepunkt erreicht, schwebt ein Lichtpunkt, scharf abgehoben von den erhellten Wänden wie eine Lampe, um die Ecke. Reflexartig kralle ich mich in die Decke, bereit, sie mir jeden Moment über den Kopf zu ziehen. Mich dadurch von der gruseligen Außenwelt abzuschirmen, hat früher ja auch geklappt. Noch bin ich geblendet, kann also nicht erkennen, was genau da auf mich zukommt. Ich schiele auf das Buch, das ich gerade lese und das einen kantigen Schatten auf mein Nachtschränkchen wirft. Der letzte Harry Potter. Ob der Wälzer schwer genug ist, ihn einem eventuellen Angreifer effektiv über den Schädel zu ziehen? Etwas Geeigneteres sehe ich zumindest nicht.
    Die Lichtquelle ist jetzt vor der Tür angekommen und gleitet völlig lautlos ins Zimmer. Entgegen meiner Vermutung ist es keine Lampe, die von irgendjemandem auf der Suche nach einem Opfer gehalten wird. Sie ist losgelöst vom Boden und zieht einen meterlangen Schweif hinter sich her.
    Anscheinend bin ich doch noch eingeschlafen. Ich träume.
    Hoffe ich zumindest.
    Die Lichtgestalt schwebt herein und beginnt, ihre glühende Länge im Luftraum meines Zimmers aufzurollen.
    Wenn ich weiß, dass ich träume, müsste ich mich dann nicht selbst aufwecken können? Oder was anderes, was ich neulich erst irgendwo gelesen habe: Wenn ich im Traum die Augen schließe und an was anderes denke, als das, was ich gerade sehe, ist es nicht mehr da, sobald ich die Augen wieder öffne. Aber irgendwie klappt beides nicht. Ich schaffe es weder, die Aufwachsequenz einzuleiten, noch, den Blick von diesem sonderbaren Ding abzuwenden. Als würde es mich zwingen, es genauer zu betrachten.
    Es ist eine Schlange. Natürlich hat noch kein Mensch was von schwebenden Schlangen gehört, weswegen dies hier ja auch ein Traum ist. Sie hängt in der Luft, als gäbe es keine Schwerkraft, und glüht in diesem bläulichen Licht wie eine lumineszierende Tiefseequalle. Doch sie scheint keine Masse zu haben, denn die matt erhellte Dunkelheit meines Zimmers schimmert durch ihren unirdischen Körper. Dessen Ende hat nun endlich den Eingang erreicht, und sie zieht ihn zu sich heran. Sie ist unordentlich zusammengerollt, ihr Kopf schmal und rund. Keine Giftschlange also, stellt der biologisch-wissenschaftliche Teil in mir fest. Mein Instinkt hingegen sagt mir, dass eine Würgeschlange von der Größe einer ausgewachsenen Boa auch nicht weniger gefährlich ist.
    Und er sagt mir, dass ich fliehen muss. Doch wohin denn schon? Das abnormale Wesen liegt genau zwischen meinem Bett und dem rettenden Ausgang in der Schwebe und füllt den ganzen Freiraum aus.
    Außerdem sind da noch diese Augen. Man weiß ja, wie Schlangenaugen aussehen mit ihrem gefühllosen Starren und den senkrecht geschlitzten Pupillen. Doch diese hier sind völlig anders. Sie sehen mich an, in mich hinein, mit einem Weltverständnis, mit dem sich das meine nicht messen kann. Ihr Blick ist nicht menschlich. Das wäre eine Beleidigung. Er ist göttlich.
    Ohne, dass ich es wirklich will, lasse ich die Beine zu Boden gleiten und stehe vom Bett auf. Die Schlange beobachtet meine Bewegungen aufmerksam, während ich die ihres Körpers mustere, der sich elegant und langsam windet wie Haare in Wasser. Ihr Kopf leuchtet etwas heller als der Rest ihrer massigen Schönheit. Jede einzelne Schuppe ist überdeutlich zu sehen, so scharf wie Messer. An den Schuppenspitzen sitzt jeweils ein winziger, leuchtender Punkt.
    Plötzlich setzt sich das überirdische Wesen in größere Bewegung als bisher. Sein Kopf schwingt herum, gefolgt von einem Meter leuchtender Schlange nach dem anderen. Sie schwebt wieder zur Tür hinaus. Ich blicke dem führenden Licht nach. Irgendwie weiß ich, dass sie von mir erwartet, ihr zu folgen. Da das hier ein Traum ist, spricht ja auch nichts dagegen. Ich warte, bis der Nachzügler Schwanzspitze aus meinem Zimmer hinaus ist, und gehe ihm nach. Den kurzen Flur entlang, die Treppen rauf, in den Eingangsbereich, den die Schlange vollständig ausfüllt und nur wenig Platz für mich lässt, zur Haustür zu gelangen. Das Tier sieht mich auffordernd an.
    Ich muss kichern. Eine leuchtende Traumgestalt, die keine Türen öffnen kann, ist doch wirklich urkomisch.
    Dennoch lege ich die Hand auf die Klinke und ziehe die Tür ins Haus. Augenblicklich schlägt mir die kühle Luft der Frühlingsnacht entgegen und zwingt mich dazu, kurz innezuhalten. Für einen Traum fühlt sich die Temperatur erstaunlich echt an. Würde hinter mir nicht eine schwebende Leuchtschlange ihr LED-artiges Licht verströmen, hielte ich das hier wohl für die Realität.
    Der dann doch sehr reale Gedanke, mir schnell ein Paar Schuhe anzuziehen, flitzt mir durch den Kopf, und ich linse zurück. Die Schlange versperrt den Weg zum Schuhschrank, und ich bin nicht gerade erpicht darauf, mich an ihr vorbeizudrücken, sie vielleicht sogar versehentlich zu berühren. Dann wird es auch ohne gehen.
    Ich trete hinaus in die kühlschrankfrische Luft und postiere mich neben der Eingangstür. Wenn dieses merkwürdige Reptil jetzt auf die Idee kommt, die Tür von innen wieder zu schließen, sitze ich ganz schön in der Tinte. Das kann sogar tatsächlich passieren. In Träumen, habe ich festgestellt, geschieht häufig genau das, was man einen Moment zuvor noch befürchtet hat. Wäre also gut möglich, dass dieser Traum meinen flüchtigen Gedanken sogar als Ansporn nimmt.
    Doch nichts dergleichen geschieht. Der helle Kopf der Schlange gleitet heraus, der grazile Körper hinterher. Auf unserer Einfahrt ist genug Platz, dass sie sich dort in ihrer Gänze sammeln kann. Es ist das erste Mal, dass ich ihre Länge so deutlich sehe. Sie ist wirklich unglaublich.
    Sobald sie das Haus verlassen hat, gehe ich zurück und nehme von einem Haken neben der Tür einen Schlüssel. Das Band, an dem er befestigt ist, hänge ich mir, in Ermangelung einer Hosen- oder Brusttasche an meinem Schlafanzug, um den Hals. Auch in einem Traum sollte man sich den Rückweg immer offen halten. Eigentlich könnte ich mir doch noch Schuhe und auch eine Jacke schnappen, um mich vor der Frühjahrskühle zu schützen. Aber irgendwie kommt mir das jetzt unnötig, ja trivial vor. Also gehe ich wieder aus dem Haus und schließe die Tür hinter mir.
    Die Schlange hat unterdessen seelenruhig auf mich gewartet. Sie schwebt nach wie vor über dem Boden, wie es keine normale Schlange können dürfte, und blickt tiefgründig zu mir herüber. Einen endlos scheinenden Moment sehen wir uns an. Dann wendet sie sich wieder von mir ab und treibt der Straße entgegen. Ich zögere kurz, unsicher, ob ich ihr weiter folgen sollte. Doch ich tue es. Irgendetwas bindet mich an dieses Tier wie eine unsichtbare Leine, das ich mir nicht erklären kann.
    Meine Familie wohnt am Ortsrand, wo die Straße unweit unseres Hauses in einen Feldweg übergeht. Auf eben diesen schwebt die Schlange zu. Vorsichtig setze ich einen Fuß über den Bordstein, der den gepflasterten Boden vom Kiesweg abtrennt. Augenblicklich zucke ich zusammen, weil die kleinen grauen Steinchen in meine ungeschützte Fußsohle stechen. Dennoch beiße ich die Zähne zusammen und hole auch den anderen Fuß hinterher. Die Schlange ist behäbig langsam, aber ich will nicht zu weit zurückbleiben. Also überbrücke ich schnellstmöglich die schmerzenden Kiesel und husche zum Grasstreifen, der ein paar Meter nach Anfang des Feldweges auf dessen Mitte wächst.
    Es ist unheimlich still. Meine Füße setzen fast wie von selbst einen Schritt nach dem anderen. Das kühle Gras unter mir knistert dabei leise. Die Nachtluft ist kalt, wie auch das Licht der Schlange vor mir, doch seltsamerweise ebenso wie dieses angenehm. Rechts des Weges schimmern verblühende Kirschbäume fahl im bleichen Schein. Alles außerhalb diesem ist schwarz.
    Die Schlange erinnert mich an einen Patronus aus Harry Potter. Diese leuchtenden Tiergeister, die dazu heraufbeschworen werden, das Böse fernzuhalten. Der Gedanke beruhigt mich. Doch auf der anderen Seite gibt es nur einen Zauberer in der ganzen Buchreihe, der eine Schlange als Patronus haben könnte. Ich glaube aber nicht, dass Voldemort in der Lage ist, einen zu erschaffen.
    Wieder muss ich kichern. Die seltsamsten Gedanken kommen einem im Traum.
    Wir sind lange unterwegs. Nicht nur, dass das schwebende Reptil geradezu nervenaufreibend langsam ist, entfernen wir uns auch immer weiter vom Ortsrand. Ich bin schon oft auf diesem Feldweg spazieren gegangen, daher weiß ich, dass es hier nichts gibt, was nachts von Interesse ist. An seinem anderen Ende fädelt sich lediglich die nächste Siedlung an. Will mich dieser glühende Abklatsch eines chinesischen Long etwa dorthin führen? Hoffentlich nicht, denn wir haben erst die Hälfte des Weges zurückgelegt, das hier kann also noch einmal so lange dauern. Wie würde ich mich ärgern, wenn ich aufwache, bevor wir hier unser Ziel erreicht haben! Ich bin schon oft aus Träumen aufgetaucht, deren Ende ich gerne erfahren hätte. Als würde man mir ein spannendes Buch wegnehmen, bevor ich das letzte Kapitel gelesen habe.
    Doch meine Befürchtungen zerstreuen sich, denn die Schlange fängt nun wieder an, ihren überlangen Körper einzuziehen und um ihren leuchtenden Kopf zu sammeln. Wieder sieht sie mir so tief in die Augen, dass ich das Gefühl habe, sie könne mir direkt in die Seele blicken. Es dauert eine Weile, bis sie sich wieder zu einem Knäuel formiert hat, während derer ich nichts weiter tun kann, als diese Augen zu fixieren. Dann sieht sie rauf, und mein Blick folgt dem ihren.
    Was ich sehe, verschlägt mir mehrere Herzschläge den Atem.
    Es ist Neumond, und ich bin auf dem Feldweg, fernab des Lichtsmogs der Straßen. Das sind die idealen Voraussetzungen, Sterne zu beobachten. Aber das dort oben ist dadurch trotzdem nicht zu erklären. Der Sternenhimmel ist so voller winziger Diamanten, dass kaum noch seine samtene Schwärze zwischen ihnen hindurchdringt. Hätte ich alle Zeit der Welt, würde ich sie sogar zählen können, so deutlich heben sie sich ab. Die meisten sammeln sich entlang dem Band der Milchstraße, die sich vom einen Horizont bis zum anderen über den ganzen Himmel erstreckt wie eine gigantische Schlange.
    Dieses Bildnis erinnert mich wieder an das irrlichternde Wesen, das mich hierher geführt hat. Ich lasse den Blick wieder sinken. Irgendwie sind die Schuppen der Schlange gar nicht mehr so scharf wie vorher, als habe jemand den Kontrast eines Bildes verringert. Ich reibe mir die Augen – hat der herrliche, erhabene Anblick des Sternenhimmels Tränen in sie getrieben? Doch auch, als ich wieder hinsehe, hat der Reptilienpanzer sich nicht wieder normalisiert. Ganz im Gegenteil scheint er nur noch verschwommener geworden zu sein. Unter meinem entsetzten Blick verwässert die Schlange immer weiter, bis sie schließlich nur noch eine Wolke bleichen Nebels ist. Und auch dieser letzte Rest ihrer einst strahlenden Existenz vergeht ganz in der Dunkelheit.
    Ich zittere. Zum Teil aus Angst, so plötzlich allein auf dem nächtlichen Feldweg zu sein, als gäbe es keine Zivilisation. Zum anderen Teil, weil mich das Verschwinden des Lichtwesens mehr trifft, als ich mir selbst eingestehen will. Als hätte ich etwas verloren, das mir viel bedeutet.
    Gras knistert. Erschrocken drehe ich mich um, aus Angst davor, nun doch dem Angreifer zu begegnen, der nicht ins Haus eingebrochen ist. Was mir als erstes auffällt, ist ein Fetzen bleichen Nebels, der Rest eines Sternenwesens, das sich nur in den letzten Sekunden aufgelöst hat. Und daneben – eine Gestalt.
    Eine menschliche Gestalt.
    Sie kommt auf mich zu. Obwohl meine Beine sich hohl anfühlen vor Panik, schaffe ich es nicht, herumzuwirbeln und davonzulaufen. So schnell will ich das Erbe der Schlange, die mich hierher geführt hat, nicht zerstören. Die Person bleibt vor mir stehen. Ihr Gesicht ist in Finsternis gehüllt. Das Einzige, was ich darin erkenne, ist das Licht der Sterne, das in den Augen glänzt. Sie mustern mich verwundert.
    „Hast du dir neulich etwas von einer Sternschnuppe gewünscht?“ Die Stimme dringt warm und sanft an meine Ohren, durchdringt die dunkle, kalte Stille der Nacht.
    Die Frage erstaunt mich, weil sie mir irgendwie deplatziert erscheint. Wie kommt man schon auf die Idee, so etwas zu fragen, wenn man mitten in der Nacht auf einem Feldweg jemand völlig Fremdes trifft? Ich erinnere mich tatsächlich daran, das getan zu haben. Aber da das hier ein Traum ist, muss es nicht sein, dass das jemals passiert ist. In Träumen kann plötzlich Vorgeschichte existieren, die sich nie ereignet hat.
    Da kommt mir ein anderer Gedanke: Sternschnuppen sehen doch aus wie leuchtende Schlangen …
    „Ich habe mir gewünscht, endlich meine große Liebe zu finden“, antworte ich und höre selbst, wie schnulzig das klingt. Normalerweise. Irgendwie hat sich hier und jetzt alles verdreht. Ich höre mein Herz überlaut schlagen.
    Mein Gegenüber kichert leise, ein belustigtes Lächeln umspielt den Mund. „Ich auch.“
    Vielleicht liegt es daran, dass das hier ein Traum ist. Es ist alles so unwirklich, und doch, weil ich träume, ist alles völlig normal. Alles, wenn gleich noch so irrational, in meiner Umgebung und jede Handlung.
    Unsere Lippen treffen sich zu einem Kuss unter dem Licht der Silberschlange.[tab=Dritter Tab]


    Der letzte Überlebende


    Atlantis ging unter.
    Es herrschte heilloses Chaos: Überall liefen Menschen in heller Panik durch die Straßen, alle einer instinktiven Richtung folgend. Nur Oriam taumelte ihnen im Sintflutregen entgegen. Er war taub für das todesängstliche Kreischen der Atlanter um sich herum, das Weinen der Kinder, die im Gedränge der fliehenden Massen ihre Eltern verloren hatten; war blind für die Leichen, die die Gehwege säumten, von Pferden, Ochsen oder anderen Menschen zu Tode getrampelt, erschlagen von herabfallenden Trümmern oder aus Verzweiflung aus blau brennenden Gebäuden gesprungen. Perlmuttfarbene Fliesen und kunstvolle Buntglasfenster bedeckten den Marmorboden mit ihren schimmernden Scherben. Manche Atlanter versuchten, Porzellangeschirr, Goldschmuck oder Edelsteinstatuetten mit sich zu nehmen und zu retten, doch letztlich behinderten die Wertgegenstände sie nur und gingen ohnehin verloren.
    Ein Beben ging durch die Straßen, stärker als bisher. In der Nähe stürzte eine über einen Kanal führende Brücke in sich zusammen. Eine blau leuchtende Kugel brach aus einer Straßenlaterne und fiel mitten in eine Gruppe Atlanter. Indigoblaues Feuer, das der Regen nicht löschen konnte, explodierte zwischen ihnen. Die Flammen des Ozeans, Atlantis‘ sagenumwobene Energiequelle, verzehrten ihre einstigen Nutzer, ohne Asche zu hinterlassen oder auch nur Rauch zu erzeugen.
    Wo die Menschen nicht weiterkamen, stießen sie sich gegenseitig zur Seite, sodass einige von ihnen in die Kanäle fielen. Atlanter lernten Schwimmen, noch bevor sie ihren ersten Schritt taten, was ihnen jetzt nicht länger von Nutzen war: Die Kanäle führten kein Wasser mehr. Eine Frau stellte sich Oriam auf seiner einsamen Wanderung durch die Hölle in den Weg, flehte ihn an, ihrem kleinen Sohn zu helfen, der bewusstlos in einem Kanal lag. Oriam versperrte sich erst kaltherzig ihrem Betteln; als sie ihn nicht weiterließ, schlug er ihr so heftig ins Gesicht, dass ihr Kopf herumruckte und sie zu Boden fiel. Fassungslos betastete sie ihre aufgeplatzte Lippe. Der Schock in ihren meerblauen Augen wich erst Vorwurf, dann Wut. Sie rappelte sich auf und rief nach einem anderen, den sie belästigen konnte.
    Oriam indes suchte eine Seitengasse, weil auf den Hauptstraßen kein Weiterkommen mehr war.
    Ob Lassia ihre Familie gefunden hatte?
    Seine Geliebte hätte sich vielleicht nicht so sehr über ihr Wiedersehen gefreut, hätte sie gewusst, mit wem Oriam die Zeit ihrer Trennung, während derer er als Botschafter durch den Mittelmeerraum gereist war, überbrückt hatte. Trotz seiner Affären mit Kontinentlerinnen aller Länder liebte er sie, sonst wäre er nicht zu ihr zurückgekehrt – nach Atlantis. Endlich hatten sie ihre Verlobung feiern können, waren dann jedoch mittendrin vom ersten Erdbeben unterbrochen worden. Lassia hatte sich überstürzt aufgemacht, ihre Eltern zu suchen, während Oriam wie alle anderen zum Hafen gegangen war. Vielleicht, so die allgemeine Hoffnung, könne man auf einem Schiff die Insel verlassen. Erdbeben, wenn auch nicht so starke, waren in Atlantis keine Seltenheit, und es gab entsprechende Notfallpläne. Doch die Schiffe lagen auf Grund – das Meer hatte sich zurückgezogen, sammelte Wasser für den alles vernichtenden letzten Schlag…
    Oriam war klar, dass er Lassia nie wiedersehen würde.
    Sein Unterbewusstsein, dem er die Leitung seiner Schritte überlassen hatte, führte ihn schließlich zu dem Ort, an dem er seiner Verlobten das erste Mal begegnet war: Der Park, in dem sonst Kinder fröhlich spielten, Lachen und Sonnenschein vorherrschten, war finster und erfüllt von alles durchdringenden Regenschleiern. Bis auf deren stetes Hintergrundrauschen war es hier erstaunlich ruhig im Vergleich zu den Hauptstraßen. Blumen aus allen bekannten Ländern wurden vom Sturm gnadenlos zerfetzt oder von blauen Flammen verbrannt. Zahme Gazellen und Rehe, die hier friedlich gegrast hatten, seit Oriam denken konnte, waren geflohen, noch vor dem ersten Beben. Doch selbst die Flamingos und Silberreiher, die fortgeflogen waren, hatten ungefähr dieselben Chancen, die Insel lebend zu verlassen, wie die Süßwasserfische im Parkteich. Auch die Fische spürten die Gefahr: Sie schwammen verzweifelte Bahnen, griffen in ihrer Panik sogar Artgenossen an. Oriam sah in ihnen eine Miniaturversion der Stadt und ihrer menschlichen Bewohner.
    Denn genauso stumpfsinnig wie Fische, wenn nicht sogar noch ignoranter, hatte sich der Senatorenzirkel des Inselreichs gegeben. Nachdem Oriam nach Atlantis zurückgekehrt war, hatte er die Herrscher der Stadt augenblicklich aufgesucht, um sie zu warnen.
    Man lehrte atlantische Kinder, ihr stolzer Staat bringe Wohlstand und Demokratie in die Länder des Mittelmeeres, treibe gerechten Handel, lehre sie technische und wissenschaftliche Errungenschaften. Doch das war nur ein geringer Teil der Wahrheit. Tatsächlich waren es nur die Atlanter selbst, die diesen Wohlstand genossen. Mit Waffengewalt wurde beschafft, was sich im gerechten Handel nicht erwerben ließ, neue Rechts- und Regierungssysteme erzwungen. Wer sich den hochkomplexen Gesetzen nicht beugte, wurde hart bestraft – während Atlanter für dieselben Verbrechen nicht belangt wurden. Immer wieder kam es zu Aufständen, die von den eigenen Landsleuten oft blutig niedergeschlagen wurden. Die atlantischen Besatzungstruppen waren zwar nicht groß, aber waffenstark, und konnten immer darauf zählen, dass die Heimat im Atlantik Verstärkung schicken würde, sollte es zum Äußersten kommen – zumindest bislang.
    Doch das schlimmste, was Atlanter den Kontinentlern antaten, war, ihre Götter töten zu wollen. Als bekennende Atheisten kannten sie keinerlei Götter. Die Erkenntnis, dass der Mensch für sein eigenes Handeln und Schicksal verantwortlich war, mochte sie technisch und wirtschaftlich weit gebracht haben, doch für Gläubige war es die schlimmstmögliche Vorstellung. Vehement wehrten sie sich gegen das giftige Gedankengut der Inselbewohner.
    Daher hassten die Bürger, wo auch immer Oriam hingekommen war, die Atlanter: Von der Hochkultur der Ägypter – die immer im Schatten des viel weiterentwickelten Atlantis stand und nie dahinter hervorkommen konnte –, über die Staaten der Griechen und Römer – die ihnen wie begeisterte Kleinkinder nacheiferten, sie aber doch verachteten –, bishin zu den barbarischen Stämmen der Germanen – die sich zwar nichts aus Zivilisation und Technik machten, aber dafür Eitelkeit verabscheuten. Sie alle und ihre Nachbarländer hatten begonnen, ihre zahlreichen Götter anzubeten, sie bei Atlantis zu rächen.
    Oriam hatte die Mitglieder des Senatorenzirkels dazu angehalten, die Stadt augenblicklich zu evakuieren, wusste er doch nicht genau, wann der göttliche Richtschlag sie ereilen sollte. Doch diese hatten ihn nur zurückgewiesen. Ihrer Ansicht nach hatte er zu viel Sympathie den unterentwickelten Kontinentlern gegenüber, was wohl daran läge, dass er in Rom geboren und aufgewachsen war. Böse Zungen behaupteten sogar, er sei gar kein reinblütiger Atlanter, weil seine Augen eine Nuance zu grün, das eigentlich tiefschwarze Haar der Inselbewohner eine Spur zu braun sei. Angeblich war auch sein Atlantisch nicht ganz akzentfrei, obwohl er seine Muttersprache noch vor Latein gelernt hatte. Außerdem, hatten die Senatoren hinzugefügt, seien die Götter der Kontinentler nichts weiter als Hirngespinste und könnten ihnen nicht gefährlich werden.
    Das zu behaupten, war jetzt das Verhängnis der Göttermörder, die nur an ihre eigene Macht glaubten. Unbezwingbare Gewalten, eigentlich selbst untereinander verfeindet, hatten sich zusammengeschlossen, der Atlanter Existenz vom Antlitz der Erde zu tilgen.
    Oriam sah auf. Über ihm strahlte der Stern von Atlantis, ein Leuchtturm, dessen Spitze, gleich einem blauen Stern über dem Horizont schwebend, den atlantischen Seefahrern die Richtung in die Heimat wies. Er war so hoch, dass man ihn bei klaren Nächten selbst bis zur Erdkrümmung sehen konnte. Aus den Gewitterwolken, die ihn im weiten Umfeld umkreisten wie eine Sonne, krachte ein Blitz in den Turm und teilte ihn in zwei ungleiche Hälften. Unendlich langsam fiel die abgebrochene Spitze um und zeugte somit von der aberwitzigen Höhe des Bauwerks. Wie ein Komet kam der saphirblaue Stern hernieder, schien direkt auf Oriam zuzuhalten. Doch anstatt ihn unter sich zu begraben, donnerte die Spitze, für Oriams allem verschlossene Ohren fast lautlos und eine leichte Erschütterung auslösend, in den Fischteich und einen nahen Hain. Bäume barsten unter der schieren Wucht des Aufschlags, der die filigranen, aber stabilen Metallstreben des Turms verbog wie Draht. Die Glaskugel, die etliche Generationen den Stern von Atlantis gestellt hatte, zerbrach und übergoss das Wäldchen mit unlöschbarem Feuer. Schlamm spritzte auf und sprenkelte Oriam wie dickflüssiges Blut.
    In Oriams von Todesgewissheit benebelten Geist mischte sich die Frage, warum der Schlamm sich so warm anfühlte, war der ewig gießende Regen doch eiskalt. Er sah an sich hinab. Das, was seine Tunika aus bester atlantischer Kelpseide dunkel färbte, war keine aufgeweichte Erde – es war Blut. Ein Holzsplitter hatte sich in seine Magengegend gebohrt; allein der Teil, der noch aus seiner Seite ragte, war so lang wie sein Unterarm. Beim Anblick seines eigenen Blutes erreichte endlich auch der Schmerz Oriams gedämpfte Wahrnehmung, und er brach zusammen.
    Und lachte, weil von den vielen Möglichkeiten, einen Atlanter heute umzubringen, die kontinentalen Götter ausgerechnet einen Holzsplitter für ihn gewählt hatten.
    Und er lachte, weil er letztendlich Recht gehabt hatte, und der Senatorenzirkel, der sich für allwissend hielt, nicht. Doch Oriam empfand kein Triumphgefühl – sondern Bitterkeit. Irgendwie hatte er gehofft, noch etwas mehr Zeit zu haben. Vielleicht wäre es ihm sogar gelungen, Lassia zu überreden, mit ihm Atlantis zu verlassen.
    Nur am Rande nahm er wahr, wie der Regen nachließ. Von Osten her erhob sich eine Wand, schwärzer noch als die Sturmnacht selbst. Sie rollte über die atlantischen Gebäude hinweg, zerquetschte sie wie ein gefräßiger Seestern ein Schwammskelett. Selbst die Flammen des Ozeans erstickten unter der schwarzen Masse.
    Der Blutverlust forderte seinen Tribut: Noch bevor die Riesenwelle Oriam erreichte, hatte er sich bereits der Schwärze des ewigen Vergessens hingegeben.
    Atlantis ging unter.[tab=Vierter Tab]


    Ich lebe


    Mit weit ausladenden Schritten stapfte Irina durch den winterlichen Wald. Zufrieden mit sich sog sie die belebend kalte Luft ein, die beim Ausatmen vor ihrem Gesicht kleine Wölkchen bildete. Zwei junge Kaninchen hatte sie erlegt – eine gute Bilanz der heutigen Jagd. Davon würden sie und ihre Familie für heute Abend satt werden. Und Irina dachte noch weiter: Aus dem Fell würde sie sich ein Paar wärmender Handschuhe fertigen und die Pfoten für andere Güter eintauschen. Manche Dorfbewohner glaubten, Hasenpfoten brächten Glück, doch Irina bezweifelte das. Ihren vorigen, naturgegebenen Besitzern hatten sie das Schicksal schließlich auch nicht gewogen gemacht.
    Über einem nahen Feld kreiste ein Adler mit weit ausgebreiteten Schwingen auf der Suche nach Beute. Irina dachte an die Geschichten der Ältesten über eine Zeit, in der die Menschen Maschinen gebaut hatten, mit denen sie hatten fliegen können wie Vögel – und die vollkommen ohne Flügelschlag ausgekommen waren. Oder Gebäude, die wie Bäume, ja wie Berge in den Himmel staken. Moderne nannten sie diese Epoche voller Wunder, die sich jedoch eben mit diesen in ihren eigenen Untergang getrieben hatte. Irina kannte von dieser früheren Zivilisation nur Geschichten, war sie doch erst lange nach der Zeitenwende geboren.
    Der Adler stieß ein frustriertes Kreischen aus und drehte gen Süden ab, folgte seinen Artgenossen, die schon vor Tagen fortgeflogen waren.
    Der Winter war in diesem Jahr viel zu früh gekommen, hatte Mensch wie Tier grausam überrascht und Herbstblumen mit seinem kalten Atem vereist. Schon lange planten die Dorfbewohner, ihr Tal zu verlassen. Jedes Jahr erwachten weniger Bäume aus ihrer Winterruhe, gingen weniger Fische ins Netz, wurde der Ernteertrag geringer. Das Tal selbst, das sie so lange kärglich, aber zuverlässig versorgt hatte, schien nach und nach zu sterben. Noch einen Winter, sagten die weisen Ältesten, würde das Heizgas ausreichen, das von der Moderne übrig geblieben war – dann mussten sie über den unwirtlichen, im Winter unüberwindlichen Südpass, hinter dem es noch weitere Siedlungen gab.
    Irina fühlte sich einsam auf ihrer Wanderung. Früher hatte sie ihr löwenfarbener Kater begleitet, die letzte Katze des Dorfes. Doch vor einigen Monaten war er neben dem stillgelegten, verstauben Springbrunnen der einstigen Stadt an seiner langen Krankheit gestorben. Jenseits des Südpasses sollten noch Katzen und sogar Hunde leben, die bei der Jagd sehr wertvolle Hilfe zu leisten vermochten. Einen solchen konnte sich Irina als tierischen Gefährten für sich gut vorstellen.
    Sie blickte rauf in den Himmel, erst zum Pass, dann gegenüber, auf der anderen Seite des langgestreckten Tals, zum Nordberg. Ein fahler Mond ging über ihm auf, während die sinkende Sonne die Tiefebene in abendliche Schatten hüllte. Die anderen Jäger waren jetzt gewiss bereits zuhause. Wenn Irina nicht von der Nacht überrumpelt werden wollte, musste sie sich beeilen.
    Irina wandte sich eben hangabwärts, als über ihr ein dumpfes Grollen ertönte. Zuerst überlegte sie, ob es sich dabei um ein Gewitter handeln könnte, doch am Himmel hing keine einzige Wolke. Dann konnte es nur noch eines sein …
    Entsetzt fuhr Irina herum zum nach oben führenden Hang, an den sich der Ostwald klammerte. Zwischen den komatösen Bäumen hindurch wurde eine Bewegung sichtbar, die sich wie eine gischtende Flutwelle den Abhang herab ergoss. Eine Lawine! Aber jetzt schon? Normalerweise dauerte es bis zum Tauwetter, ehe sich die Schneeschichten eines harten Winters voneinander lösten und zur weißen Gefahr wurden.
    Instinktiv hastete Irina los, auf den nächsten Baum zu. Vor einer Lawine gab es kein Entkommen, das wusste sie. Doch wenn sie Glück hatte, würde die Schneewalze unter der Krone vorbeirauschen, nachdem Irina diese rechtzeitig erreicht hatte, und den Baum nicht umreißen. Wenn sie verdammt viel Glück hatte. Eine gute Gelegenheit für die acht Hasenpfoten in ihrem Gepäck, ihre wundersame Kraft zu beweisen.
    Das Rumoren hinter ihr wurde lauter, als hungere der Berg ausgerechnet nach ihrem Leben. Endlich erreichte Irina den Baum und zog sich mühsam an seinen untersten Ästen rauf. Panik ließ ihre Griffe schneller werden, aber auch unvorsichtiger. In ihrer Nervosität verfehlte sie die nächste Haltemöglichkeit und stürzte schon einen Wimpernschlag später vom Baum. Hart donnerte sie auf den Boden, schlug sich an einem Stein den Kopf an. Schmerz jagte wie tausend Pfeile durch ihren ganzen Körper und ließ Sterne vor ihren Augen tanzen. Ohnmächtig sah sie die Lawine zwischen den Baumstämmen auf sich zurollen.
    Und verlor das Bewusstsein.


    Als Irina erwachte, wähnte sie sich erst wieder in ihrem Zimmer. Eine massive, graue Decke wölbte sich etwas mehr als mannshoch über ihr. Als sich ihr Blick klärte, stellte sie jedoch fest, dass es nicht der nackte Beton war, aus dem die alten Bauten, Relikte aus der Moderne, errichtet waren. Die Erinnerungen an ihren Jagdausflug und die Lawine kehrten zurück.
    Was war danach geschehen? War das Schnee, der um sie herum einen schützenden Hohlraum bildete? Aber war das überhaupt möglich? Eher hätte die Schneewalze sie überrollt und zermalmt. Irgendjemand musste sie schon vorher gerettet haben.
    Von Schwindel und Kopfschmerz begleitet, richtete Irina sich auf. Vorsichtig fasste sie sich an die Stirn, an der sich eine Beule gebildet hatte. Jetzt erkannte sie auch, dass die Wände und die Decke um sie herum aus dunklem, rauem Gestein bestanden. Eine Höhle im Berg? Sie wirkte nicht künstlich, auch wenn Irina nicht wusste, woran sie das festzumachen hatte. Der Boden jedoch schien geschmirgelt, fast poliert, als würde die Höhle oft benutzt. Das war gut: So käme wohl bald jemand und konnte ihr sagen, wie sie überhaupt hierhergekommen war.
    Offenbar hatte sie die ganze Nacht hier verbracht, denn von außen drang mattes Morgenlicht in die Höhle. Mit vor Kälte klammen Fingern ging Irina ihr Gepäck durch. Ihre selbstgeschnitzten Pfeile waren bei ihrem heftigen Sturz allesamt zerbrochen. Leider hatte sich auch der Aluminiumpfeil aus der Moderne, den sie als Muster für neue Pfeile stets bei sich trug, bis zur Unbenutzbarkeit verbogen. Ihr Langbogen hatte unzählige Kratzer und Schrammen davongetragen, war aber bis auf die zerrissene Sehne noch gut zu gebrauchen. Ihr Magen meldete die Stunden, die er nichts zum Verwerten erhalten hatte, doch Irinas beide Kaninchen waren nirgends zu sehen. Stattdessen fand sie in ihrem Beutel einen alten, trockenen Brotkanten, mit dem sie den gröbsten Hunger vertrieb. Lange würde das nicht vorhalten. Sie musste zurück ins Dorf.
    Ihre Haut spannte sich unter zahlreichen Blutergüssen und anderen Blessuren, als sie mit Mühe aufstand. Vielleicht hatten die ersten Ausläufer der Lawine sie doch noch erreicht, zusätzlich zu ihrem Sturz aus dem Baum. Ein Fuß schmerzte höllisch und gab unter ihrem Gewicht nach. Er fühlte sich zwar nicht gebrochen an, als sie ihn vorsichtig belastete, war aber definitiv verstaucht. Wie sollte sie mit so einem Gelenk den Weg zurück ins Tal meistern?
    Alarmiert fuhr sie herum, als plötzlich ein Geräusch vom Höhleneingang zu hören war, das wie zwei gegeneinanderschlagende Steine klang. In die Höhle trat ein Wesen, das Irina von den wenigen Büchern kannte, die aus der Moderne erhalten geblieben waren. Es lief anmutig auf vier langen Beinen, die einen aus Eleganz und Stärke erschaffenen Körper trugen. Der kräftige Hals stützte einen großen, schmalen Kopf, der sie mit runden Augen musterte.
    Ein Pferd, ein leibhaftiges Pferd!
    Wie viele andere Tiere waren die Huftiere bei der Zeitenwende ausgestorben – zumindest angeblich. Denn wie ließe sich erklären, dass nun eines vor Irina stand, wenn es doch eigentlich keine mehr geben durfte? Ihr kam nichts anderes in den Sinn, als die lebendige Legende ungläubig anzustarren.
    Die majestätische Kreatur kam näher heran. Eine Einbildung konnte sie unmöglich sein, entschied Irina, als sie warmer Atem und der Duft abgeernteten Getreides umwehten. Im bleichen Licht erkannte sie die Fellfarbe des Pferdes: Ein helles Grau, gesprenkelt mit silbergrauen Flecken. Schimmel nannte man diese Färbung, wie sie sich erinnerte. Mechanisch legte Irina eine Hand auf die weiche Schnauze, die sie neugierig beschnupperte. Auf der Stirn, von der sich das Fell sternförmig ausbreitete, prangte eine reinweiße Stelle, die wie die Wintersonne zu leuchten schien. „Hast du mich etwa gerettet?“, fragte Irina mit von der Kälte tonberaubter Stimme.
    Sie zuckte zusammen, als das Pferd plötzlich schnaubte, den Kopf hochwarf und drei klackende Hufschritte zurücktrat. Formvollendet wie ein modernes Zirkuspferd verbeugte es sich vor Irina. Zuerst fragte sie sich, was diese Privatvorstellung bedeuten sollte, als es ihr plötzlich wie ein Pfeil in den Kopf schoss: Das Pferd bot ihr seinen Rücken an, um aufzusetzen! Sie hatte zwar Bilder von Menschen vor der Zeitenwende gesehen, die auf Pferden sitzend in Rennen gegeneinander antraten oder Kunststücke vollführten. Aber sie selbst wusste nicht im Ansatz, wie man ein solch schönes Tier ritt. Andererseits war ihr Knöchel übel verstaucht, sodass sie runter ins Tal und auf seine andere Seite ins Dorf Stunden brauchen würde. Auf einem Pferd war diese Strecke bestimmt wesentlich schneller zurückzulegen. Nur, würde es sie überhaupt ins Dorf bringen? Woher sollte es schon wissen, was sie von ihm wollte?
    Irina kam zu dem Schluss, dass ihr mit ihrem schmerzenden Fuß keine andere Wahl blieb, als dem Schimmel zu vertrauen. Vorsichtig schwang sie das verletzte Bein über den breiten Rücken und ließ sich darauf nieder. Kaum, dass sie eine halbwegs bequeme Sitzposition eingenommen hatte, richtete sich das Pferd wieder auf. Irina wurde von einem prickelnden, angenehmen Gefühl erfüllt, fühlte sich leicht und beflügelt wie ein Adler. Der Ruck, mit dem das Wesen sich plötzlich vorwärtsbewegte, hätte Irina fast wieder runtergeworfen, doch sie schaffte es, sich in seiner Mähne festzuhalten. In gemächlichem Trab klackte das Pferd durch seine Höhle, bis es den verschneiten Boden im Schatten des Waldes erreichte, auf dem die Geräusche gedämpft wurden.
    Überrascht erkannte Irina den Teil des Waldes wieder. Nicht weit von hier waren die Gebiete, in denen sie und die anderen Jäger Beutetieren nachstellten. Wie kam es, dass die Dorfbewohner dem Pferd vorher noch nie begegnet oder auf Spuren seiner Existenz gestoßen waren, wenn es hier so lange lebte, wie der abgenutzte Höhlenboden vermuten ließ? Doch gewiss war es besser, wenn es unerkannt blieb. Viele Jäger erschlugen vor Gier alles, was sich bewegte, selbst wenn es sich um das letzte Exemplar einer aussterbenden Art handelte. Das allerdings würde sie bei diesem wunderbaren Wesen nicht zulassen.
    Irina streichelte über das weiche Halsfell. Ein echtes Pferd! Das würden ihre Freunde im Dorf nie glauben, wenn sie es nicht selbst zu Gesicht bekamen.
    Lichtflecke, geboren aus blasser Morgensonne und verschneiten Baumwipfeln, flossen über das elfenbeinfarbene Fell und ließen es funkeln. Überrascht blinzelte Irina, als ihr ein absurder Gedanke kam. Diese helle, silberne Färbung, der weiße Fleck auf der Stirn … Sie stierte an den kräftigen Schultern vorbei hinunter zu den Beinen. Keine gespaltenen Hufe …
    Kopfschüttelnd hob Irina wieder den Blick und schalt sich selbst einen Dummkopf. Für einen Moment hatte sie das irrationale Gefühl gehabt, auf einem getarnten Einhorn zu sitzen, doch das war ja wohl unmöglich. Die zauberhaften Märchenwesen hatte es schon in der Moderne und in den Zeitaltern davor nicht gegeben.
    Vor die Sonne hatte sich mittlerweile eine Wolkenbank geschoben, als sie das Areal erreichten, in dem die Lawine gewütet hatte. Manche Bäume waren von der schieren Macht der Schneewelle umgerissen und teilweise entwurzelt worden. Andere hatten, im Gegenteil dazu, standgehalten und die Naturgewalt abgebremst. Im Ostwald war es strengstens verboten, Holz zu schlagen, um diesen natürlichen Lawinenschutz zu erhalten. Nach dieser Barriere waren die rollenden Massen, wenn sie im Tal ankamen, nicht mehr stark genug, um das Dorf auf der Westseite zu bedrohen.
    Angestrengt spähte Irina ins Tal, das nur spärlich beleuchtet war. Letzte Nacht musste es wieder Neuschnee gegeben haben, denn es schien noch weißer als üblich. Im Dorf brannte seltsamerweise noch kein Licht, obwohl der Morgen schon fortgeschritten war. Und wo war überhaupt der Fluss?
    Da formte sich durch die Wolken ein Pfad für das Morgenlicht und ließ Irina erkennen, was es wirklich mit der ungewöhnlichen Weiße auf sich hatte: Das Bodenniveau war einige Meter angestiegen, als habe die Lawine doch noch das ganze Tal erfasst. „Schneller!“, befahl sie dem Pferd heiser, als sie begriff, was das bedeutete. Sofort beschleunigte der Schimmel seine Geschwindigkeit.
    Wie war das möglich? Man konnte doch an den Schneehügeln sehen, dass die Lawine kurz unterhalb des Ostwaldes zum Stillstand gekommen war. Hatte sich etwa vom Westhang eine weitere ergossen, ausgelöst durch die Erschütterungen der ersten? Aber am Westhang, der stets im Windschatten lag, sammelte sich nie genug Schnee, um zu einer solchen Katastrophe anzuwachsen. Deswegen lag ihm das Dorf schließlich zu Fuße.
    Genau dieses Vertrauen war ihm wohl zum Verhängnis geworden. Das verrückte Wetter in letzter Zeit musste die Grundlagen für eine westliche Lawine geschaffen haben. Ausgeschlossen, dass dort jemand rechtzeitig weit genug entkommen war, um sich in Sicherheit zu bringen.
    In wenigen Minuten, die sich für Irina zu einer Unendlichkeit dehnten, legte der Schimmel den Weg ins Tal zurück und durchquerte es. Kaum waren sie in der Nähe der Stelle, wo das Dorf hätte sein müssen, ließ sich Irina vom Rücken des Pferdes fallen. Der Schmerz beim Aufprall raubte ihr zwar den Atem, doch sie rappelte sich sofort auf und begann, wie eine Wahnsinnige im harten Schnee zu graben. Verzweifelt rief sie die Namen ihrer Familie und Freunde, die in ihrer vereisten Stimme verklangen.
    Es durfte nicht sein, dass die Lawine sie getötet hatte! Sie durften nicht ohne jede Vorwarnung gegangen sein!
    Irina grub so lange weiter, bis sich ihre verzweifelte Kraft in hoffnungslose Trauer umwandelte. Hier wie verrückt ein bisschen herumzuschaufeln, würde das Dorf auch nicht freilegen. Sie krallte die vor Kälte rotgewordenen Hände in den schartigen Schnee. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die herabfielen und heiß auf ihrer klammen Haut brannten. Sie sollte auch unter diesen weißen Massen begraben liegen – und würde das jetzt auch, wenn sie dieser einen Kaninchenspur nicht so lange gefolgt wäre, nachdem sie bereits das eine, ausreichende Nagetier erlegt hatte.
    Sie lebte, aber ihre Familie, ihre Freunde, einfach alle Dorfbewohner, die genau wie sie nur ihren Pflichten und Aufgaben nachgegangen waren, waren tot. Das war nicht gerecht!
    Etwas stieß sie sanft an der Schulter, und das Pferd blies ihr seinen warmen Atem entgegen. Abwesend streichelte Irina den langen Kopf. So saß sie eine Weile da, bis Hunger und Kälte in Gestalt ihres Überlebenswillens über die Trauer um ihre Mitmenschen siegten und sie zum Aufstehen zwangen. In Ermangelung schöner Blumen legte sie ihre zerbrochenen Pfeile auf den Schnee. Einfach nichts am Grab ihrer Verwandten und Bekannten zurückzulassen, kam ihr falsch vor.
    Wieder stieg sie auf den Schimmel, der ohne ein Wort von ihr nach Süden losgaloppierte. Hin zum Südpass, der einzige Weg raus aus dem Tal. Alleine, ohne transportables Gas und Werkzeug, hätte sie dort kaum eine Überlebenschance, doch bliebe sie im Tal, wäre diese noch geringer.
    Über dem Südpass, der wie ein zerbrochener Berg dalag, hing der Mond über dem glimmenden Morgenstern, den er bei seiner Wanderung hinab zum Horizont bald überholen würde. Zumindest, wenn die Sonne ihn nicht schon vorher ausbleichte.
    Irina glaubte, aus der Ferne das höhnische Gelächter des bösen Schicksals zu hören, das sie innerhalb weniger Stunden ereilt hatte. Alle Menschen, die sie ihr Leben lang gekannt und geliebt hatte, waren gestorben, ihre Zukunft gepflastert mit Ungewissheit. Um sich selbst diesen Umstand bewusst zu machen, wiederholte sie immer wieder die eine letzte Tatsache, die ihr noch geblieben war:
    „Ich lebe. Ich lebe …“

    [tabmenu][tab=Aufteilung][tab=Spezialkapitel 10 Teil 2 und Rest]


    Und nun stand er hier, am Ende eines Lebens, wie es, besonders in den letzten Monaten, nicht lasterhafter hätte sein können. Ein Leben, das nicht einmal zwei Jahrzehnte gedauert hatte, und in dem er dennoch alle Sünden begangen hatte, derer ein Mensch sich anderen gegenüber schuldig machen konnte: Er hatte gelogen und betrogen, gestohlen und Rache verübt, beide Seiten, die ihm vertraut hatten, verraten, unzählige Wesen an Körper und Seele verletzt, Kannibalismus begangen, vergewaltigt, gefoltert, gemordet. Wie hätte es auch jemals anders kommen sollen? Dieses Schicksal war ihm vorherbestimmt gewesen, zu genau dem Zeitpunkt, als Yamiko die Saat seines Lebens gepflanzt hatte. Er war als Opfer geboren und zum schlimmsten aller Verbrecher geworden.
    Er war am Ende. Mit einer Kindheit, nicht gerade dafür angetan, ein gesundes Moralempfinden zu entwickeln und ethische Wertvorstellungen auszubilden, einer Zukunft, die all ihrer Stützen beraubt war, und einer in alle ihre Teile zerbrochenen Psyche stand er nun so dicht am Abgrund, dass es nur eines Windhauchs bedurfte, um ihn hinabzustoßen. Sein verzweifeltes letztes Aufbäumen gegen sein Schicksal – Nekos Geiselnahme – war vereitelt worden. Welche andere Option blieb ihm da noch außer der dunklen Umarmung des Todes?
    Während jeder Herzschlag mehr Leben aus seinem Körper pumpte, das er vor drei Tagen so verzweifelt zu retten versucht und von dem er bis gestern Abend gedacht hatte, es würde bis in alle Ewigkeit unsterblich sein, glaubte er für einen kurzen Moment, Yamiko beuge sich mit vorwurfsvoller Miene zu ihm herab. Shinzu blinzelte die Schleier weg, die seinen Geist zu umnebeln begannen, und erkannte Seijin. Ein Lächeln wie aus den Tiefen des Wahnsinns verzerrte die Züge des Sterbenden, und er sagte mit schwächer werdender Stimme: „Du wirst das Geheimnis nie erfahren, alter Mann!“
    Seijin entdeckte das Lederband, das unter Shinzus Hemdkragen hervorgerutscht war. Vorsichtig zog er daran; der Sterbende beobachtete ihn dabei. Niemals würde der Rebellenanführer herausfinden, welches perfide Spielchen Shinzu tatsächlich wochenlang unter seinen Augen gespielt hatte. Der Xylith war zerstört, und mit seinem einstigen Nutzer starb auch das Wissen um ihn.
    Umso überraschter war Shinzu, als Seijin an der Lederschnur einen glasklaren, diamantartig reflektierenden Bergkristall hervorholte. Geschockt riss Shinzu die Augen auf. Wie war das nur möglich? Er hatte doch gesehen, wie der Xylith in seinen Händen zerkrümelt war! Hatte Yamiko ihn zum Narren gehalten? Warum hätte sie das tun sollen?
    Er hatte sich den Dolch mitten durch Herz gestoßen. Eine solche Verletzung zu heilen, hatte er nicht die Macht – um das zu glauben, reichte nicht einmal seine Vermessenheit aus. Aber vielleicht bestand ja doch eine geringe Hoffnung …?
    Als Seijin sah, wie sich in dem Kristall in seiner Hand die weißen Bläschen der Genesung-Attacke bildeten, zog er eine Braue hoch. „Wie merkwürdig, dass du ihn erst jetzt gebrauchst … Glaubst du wirklich, du kannst dich noch retten?“, fragte er skeptisch. „Nicht einmal Yamiko könnte dir jetzt noch helfen, selbst wenn sie sofort hier erschiene.“
    Diese Worte verblüfften Shinzu so sehr, dass er darüber völlig vergaß, die regenerative Attacke aufrechtzuerhalten. Woher kannte Seijin nur Yamikos Namen? Seit sie die Macht über Namine und die Sieben Länder vor fast zweieinhalb Jahrhunderten an sich genommen hatte, war sie keinem Menschen, der bei Bewusstsein war, begegnet – zumindest bis auf Shinzu. Sie verbarg sich hinter dem Schleier einer erfundenen Königsfamilie und lenkte das Herrschergeschick im Verborgenen. Es war unmöglich, dass Seijin ihren Namen kannte. Es sei denn …
    Shinzus verblassende Gedanken wurden unterbrochen, als der Rebellenanführer mit einem Ruck an dem Lederband zog und ihm den Kristall so vom Hals riss. Augenblicklich – und diesmal unwiederbringlich – brach die Verbindung zu seiner inneren Macht ab. Der schwerlich begonnene Heilungsprozess wurde schlagartig beendet.
    „Es ist schade um deine Kraft und dein Talent“, meinte Seijin mit echtem Bedauern. „Du hättest so vielen helfen können. Doch stattdessen hast du dich dazu entschieden, nur dir selbst auf Kosten anderer zu helfen. Ich hätte dich früher erkennen und aufhalten müssen.“ Der Anführer der Schwarzen Rose schloss die Faust um den Kristall, wandte sich ab und ging.
    Hilflos musste Shinzu mit ansehen, wie sich der Schlüssel seiner Macht von ihm entfernte und Seijin ihm damit den für ihn denkbar schrecklichsten Tod überhaupt bescherte.
    Ohnmächtig schloss er die Augen und gab sich der Schwärze hin. Langsam kroch sie näher und fraß ein Teil von ihm nach dem anderen, alles, was ihn ausmachte: Seine Erinnerungen, seine Gefühle, Wesenszüge und Charaktereigenschaften, alles schmolz dahin. Bis er nur noch nichts war und von einer großen Leere in sich aufgenommen wurde.
    Endgültig.

    [tabmenu][tab=-]Shinzus Lebensgeschichte, von ihrem unmöglichen Beginn bis zu ihrem dramatischen Ende …[tab=Spezialkapitel 10]Porygon2 Spezialkapitel 10: Tagebuch eines treuen Verräters


    Als er sein Leben in einem letzten Atemzug aushauchte, zogen die schwerwiegendsten Erinnerungen daran an seinem inneren Auge vorbei …


    [tab=Namensbedeutungen]Kanya - Winternacht
    Anei - Schatten

    [tabmenu][tab=-][tab=--]Caesurio Kapitel 35: Herzblut lügt nicht


    Die Trainingswiese barst geradezu unter dem Gewicht der Versammelten. Noch vor wenigen Stunden hatten sie an derselben Stelle die Ankunftsfeier abgehalten; noch standen die Bierbänke und Tische quer verteilt, die eine oder andere umgestürzt. Überall lagen Müll und Unrat, gebrauchte Teller, Becher und Gläser. Eine Kette Lampions war heruntergerissen, die papiernen Kugeln eingedellt. Es würde den halben Tag dauern, die Überbleibsel des Festes aufzuräumen.
    Nahezu alle Rebellen des Hauptquartiers waren anwesend. Wer fehlte, waren die Mitglieder der einen Gruppe, die noch immer auf Mission war, vereinzelte Seelen, die noch am Kater des Festes litten, die Verletzten im Heilerhaus sowie bislang Tetsu und der Anführer selbst. Neko stand inmitten der anderen, quasselnden Menschen, neben sich das ununterbrochene Quatschen Momokos, die eine hauptsächlich von ihr ausgehende Diskussion mit Akari führte. Das allgemeine Gesprächsthema war natürlich, warum Seijin sie so früh am Morgen zusammengerufen hatte, was auch Neko stumm beschäftigte. Die Chimäre ließ den Blick über die Anwesenden schweifen, Ausschau haltend nach ihren anderen Teamkameraden. Mizu war natürlich noch immer im Heilerhaus, Kasai und Rai hatte sie heute noch nicht gesehen. Raika war ihr zwar über den Weg gelaufen, doch sie hatte kein Wort bezüglich der vergangenen Nacht verloren. Und Shinzu …
    Plötzlich wurden die Spekulationen, was vorgefallen sein mochte, leiser, denn die Tür zum Wohnhaus des Anführers öffnete sich. Heraus trat Seijin, wie immer dichtauf gefolgt von Xatu; die beiden Partner kamen auf die Menge zu, bis sie eine kleine Erhebung auf der Wiese erreichten, die für ebensolche größeren Ansprachen gedacht war, wie der Anführer sie zu halten gedachte. Der Psychoadler blieb einige Schritte hinter dem weißhaarigen Naminer stehen und sondierte wachsam die Rebellen.
    Stille kehrte ein, als Seijin mit einer Handgeste um Ruhe bat. Mit seiner kräftigen Stimme hob er an: „Der Angriff, der uns vorgestern ereilt, uns fast ein Leben und die Gesundheit vieler Menschen und Pokémon gefordert hat, kam nicht überraschend, wie ihr wisst. Ich hatte euch schon einige Stunden zuvor Anweisung erteilt, euch darauf vorzubereiten. Vielen von euch war das Anlass zum Misstrauen – ich gebe zu, dass ich bescheid wusste.“
    Die Rebellen sahen sich an, jedoch gänzlich ohne Überraschen. Der gesunde Menschenverstand hatte ihnen schon diese Wahrheit vermittelt.
    „Der Angriff hat uns in einem Moment getroffen, in dem unser bestes Team auf Mission ist, sodass es uns nicht hatte zu Hilfe eilen können. Aber unsere Feinde hätten das so nie herausfinden können. In den letzten Wochen sind viele Teams außer Haus gewesen, und dass uns der Überfall gerade dann trifft, wenn es unser bestes ist … Ich will auf den Punkt kommen: Wegen vieler Ungereimtheiten habe ich Grund zu der Annahme, dass wir verraten worden sind.“
    Ein Raunen lief durch die Versammelten, das auch Momoko erfasste. Auch sie griff die Frage auf, wer sich der Gefahr aussetzen könnte, die Rebellen auf diese Art zu hintergehen.
    Seijin wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war, dann fuhr er fort: „Ich will euch nicht vorenthalten, wer sich hinter der Maske unseres Verräters verbirgt.“ Er machte ein Zeichen, und in den hinteren Reihen der Zuschauer wurden Rufe laut.
    Neko und ihre beiden Teamkameradinnen reckten die Hälse, um zu sehen, wer sich auf dem Pfad, der sich durch die Menge bildete, der Anhöhe näherte. Tetsu überragte jeden anderen Rebellen weithin sichtbar, und auch der Gefangene, den er vor sich herstieß, gehörte von der Körpergröße zum oberen Durchschnitt. Die Grobheit, mit der ihr Gruppenanführer dabei vorging, überraschte Neko. So brutal und rücksichtslos hatte sie ihn noch nicht erlebt, und wahrscheinlich war die Maschock-Chimäre auch noch zu mehr fähig. Mit Grauen erinnerte sie sich daran, wie hilflos und schwach sie sich letzte Nacht gefühlt hatte – diese Kraft half ihrem Peiniger gegen den Hünen nun nicht mehr. Zischen und Beleidigungen erklangen hier und da unter den Rebellen, aber auch Bedenken dahingehend, ob der an den Handgelenken Gefesselte wirklich der Verräter sein sollte. Dieser stolperte nur zwischen ihnen hindurch, ließ sich von Tetsu schubsen und tat keinen Schritt selbst, während er mit starrem Blick vermied, irgendeinen Rebellen anzusehen.
    Aus dem Augenwinkel gewahrte Neko zwei zitronengelbe Flecke. In Erwartung, die Zwillinge zu sehen, warf sie rasch einen Blick hinüber, doch das gelbe Blitzen war schon zwischen anderen Farben verschwunden. Vielleicht waren es nicht einmal Rai und Raika gewesen, sondern andere Tiro.
    Der Gang zwischen der Menge schloss sich, als Tetsu mit seinem Gefangenen die Anhöhe erreichte und diesen Seijin schon fast vor die Füße schleuderte, sodass er mühsam das Gleichgewicht halten musste, um seine bröckelnde Schutzmauer aus Stolz und Würde vor dem Einsturz zu bewahren.
    Seijin bedankte sich bei dem Gotela, ohne auf die grobe Handhabung einzugehen, und wies ihn an, wegzutreten. Dann wandte er sich an den Verräter vor ihm. „Unser Ziel ist es, von den alten, unwürdigen Vorgehensweisen abzuschwören, auch wenn wir sie gegen unsere Feinde einsetzen“, meinte er altklug, zog den Dolch, den er wie immer am Gürtel trug, und befreite sein Gegenüber von den viel zu fest gezurrten Schlingen. Während er die Waffe in ihre Scheide zurückschob, führte er an: „Vor wenigen Wochen musste ich feststellen, dass meine Unterlagen, die vorgeplanten Missionen aller Gruppen betreffend, nicht mehr der Ordnung entsprachen, mit denen ich sie einzuräumen pflege. Daraufhin hat Xatu den Raum eingehend inspiziert und Reste deiner physischen Anwesenheit gefunden. Nun bist du mit meiner Erlaubnis noch kein einziges Mal in meinem Büro gewesen, weswegen ich berechtigte Bedenken gegen dich hege.
    Dir wird Hochverraten vorgeworfen, Junge, und du weißt, welche Strafe bei solchen Verbrechen droht. Aber wie ich bereits sagte, sind die alten Traditionen jene, die wir verwerfen wollen, also fürchte nicht die Todesstrafe – vorerst. Was sagst du zu der Anklage?“
    Während er die leicht blau angelaufenen Hände mehrmals zur Faust ballte und wieder erschlaffen ließ, um sie wieder zu durchbluten, arbeiteten seine Kiefermuskeln, als müsse er seine Erwiderung vorkauen. Schließlich antwortete Shinzu, und seine Stimme bebte vor bitterem Zorn: „Ich habe niemanden verraten!“ Er richtete sich zur vollen Größe auf, sodass er mit dem Rebellenanführer auf Augenhöhe war.
    Genau wie in der Nacht zuvor fiel Neko wieder die signifikante Ähnlichkeit zwischen den beiden Naminern auf. Zwar erkannte sie nun auch besser die Unterschiede – der Verlauf von Unterkiefer und Nasenbein, Frisur und insbesondere die absolut gegensätzlichen Haarfarben, nicht zuletzt die Jahre, die sie im Alter trennten –, doch schien es trotzdem, als stünden die beiden einem nur leicht verzerrten Spiegelbild gegenüber. Nicht nur, dass die beiden von ähnlich kräftiger, drahtiger Statur waren; Mund und vor allem Augenpartie waren völlig gleich, noch unterstrichen durch Seijins Narbe und Shinzus Schramme, die Linien von der Stirn über die Wange hinab bis zum Kinn zeichneten.
    Seijin ließ sich nicht beeindrucken. Er trat einen Schritt auf den jüngeren Mann zu, der standhaft blieb und nicht zurückwich, und legte eine Hand auf dessen Schulter. „Verrate mir die Wahrheit: Hat man dich zu diesem Verrat genötigt? Die Strafe könnte milder ausfallen, wenn du beweisen kannst, dass dich jemand gezwungen hat.“
    „Warum spielt sich Seijin so auf?“, flüsterte Momoko ihren beiden Freundinnen zu. „Er verlangt von Shinzu Beweise, aber er selbst kann nicht beweisen, dass Shinzu uns wirklich verraten hat.“
    Akari nickte zustimmend. „Das mit Xatu kann auch nur eine Behauptung sein. Zumindest habe ich noch nie von einem Psycho-Pokémon gehört, das diese Fähigkeit besitzt.“
    Neko schluckte. „Vertraut ihr Seijin nicht?“, wollte sie bang wissen. Er war immerhin ihr oberster Anführer – wenn sie ihm nicht glauben konnten, dann war die Schwarze Rose eine einzige Lüge.
    „Eigentlich schon“, legte Akari dar. „Aber was ist, wenn er uns aus irgendeinem Grund verraten hat und hier nur eine große Show abzieht, um uns einen Sündenbock zu präsentieren?“
    „Außerdem wusste der vom Angriff bescheid – als hätte er ihn selbst geplant!“, ergänzte Momoko nachdrücklich. „Wie könnte das sonst möglich sein, außer, dass er mit dem König gemeinsame Sache macht?“
    Skeptischen Blickes musterte Neko den Rebellenanführer, der mit ruhiger Stimme auf den regungslosen Shinzu einredete, um ihm ein Geständnis zu entlocken. Was ihre Freundinnen sagten, hatte durchaus Hand und Fuß, doch einen Aspekt konnten die beiden nicht so betrachten, wie die Chimäre ihn kannte: Es war Mizus Seherfähigkeit gewesen, die Seijin die Gewissheit des Angriffs gegeben hatte. Vorher hatte dieser nur eine vage Ahnung durch eine Vision Xatus gehabt. Oder war das alles auch nur Schauspiel gewesen?
    Plötzlich ging alles ganz schnell. Shinzu schoss vor, zog Seijins Messer. Er stürzte in die Menge, den blitzenden Dolch wie ein Schwert gegen jeden führend, der ihm im Wege stand. Viele waren es nicht, die der Wütende dadurch mit Schock und Überraschung vertreiben musste, bevor er Neko erreichte. Ehe sie begriff, wie ihr geschah, hatte er sie schon gepackt, mit dem Rücken an sich gepresst und ihr das Messer an die Kehle gelegt. Ein Raunen des Schreckens ging durch die Versammelten, aber keiner wagte, sich zu bewegen. Sie alle starrten Shinzu und seine Geisel entsetzt an.
    „Wehe, einer von euch rührt sich!“, bellte Shinzu sie an und festigte den Griff um Neko. Weiter musste er nicht reden – jeder wusste, was er dann zu tun gedachte.
    Die Eloa selbst konnte noch nicht recht realisieren, was vorging, und hing hilflos in des Naminers Armen. Bis gestern hatte sie sich diese körperliche Nähe zu ihm als angenehm vorstellen können. Doch was in der vergangenen Nacht geschehen war und jetzt im Moment vonstatten ging, ließ sie für Neko zur schlimmsten Wirklichkeit werden. Er hatte seine Anziehungskraft auf sie völlig verloren. Was erzielte Shinzu damit, den Rebellen mit ihrem Tod zu drohen?
    „Auch du!“, schrie Shinzu jetzt weiter – weil er einen Köpf größer war als seine Geisel direkt in ihr Katzenohr. Schon jetzt hatte Neko das Gefühl, ihr Trommelfell müsse reißen; zum Glück hatte sie nur die Ohrform und nicht das überempfindliche Gehör ihrer Vorfahren geerbt, denn sonst wäre Shinzus Ausruf für sie noch schmerzhafter gewesen. Jener Ausruf galt Xatu, der sich ihnen – wie alle anderen Anwesenden – zugewandt hatte und jede Bewegung Shinzus wachsamen Blickes beobachtete. „Wage es ja nicht, irgendeinen deiner Tricks anzuwenden. Wenn ich sehe, dass deine Augen glühen, bring ich sie sofort um!“, drohte Shinzu grausam.
    Neko schluckte. Die Stahlklinge lag auf ihrer Haut wie ein haarfeiner Eisendraht. Meinte der Naminer das hier wirklich ernst?
    Mit ihr im Schlepp setzte er sich langsam rückwärts in Bewegung. Die Rebellen hinter ihm machten augenblicklich Platz und bildeten einen Korridor in der Menge. Niemand griff ihn von hinten an, zu groß war das Risiko, dass Neko dabei ernsthaft verletzt wurde.
    Seijin trat vor, blieb aber in gebührendem Abstand, um den jüngeren Naminer nicht unnötig zu provozieren. Ruhig sagte er: „Was hast du vor, Shinzu? Libelldra hat längst gespürt, dass Neko in Lebensgefahr schwebt. Glaubst du etwa, sie wird dich am Leben lassen, wenn du ihrer Menschenpartnerin etwas antust?“
    Neko spürte, wie Shinzu hinter ihr den Kopf hob, und auch sie versuchte einen vorsichtigen Blick nach oben. Die grüne Wüstendrachin flog nervöse Kreise über der Trainingswiese, unschlüssig, was sie tun sollte. Auch Traunfugil war da, doch dieser schien seiner Mitpartnerin nur spielerisch hinterherzuschweben, ohne die Gefahr an Nekos Lage zu erkennen.
    Shinzus Atem beschleunigte sich vor Anspannung. „Wenn ihr mich gehen lasst, wird ihr nichts geschehen.“
    Neko erzitterte und überlegte fieberhaft nach einer Möglichkeit zur Flucht. Shinzu hielt sie so fest, dass ihre Füße über den Boden schleiften und keinen Stand fanden, um sich ihm entreißen zu können. Außerdem schien sich die Dolchklinge bei jeder ihrer Bewegungen fester auf ihre Haut zu drücken. Noch etwas mehr, und sie würde die ersten Schichten anschneiden.
    Wohin ging Shinzu überhaupt? Der einzige Ort, an dem er jetzt noch sicher war, war allerhöchstens der Königspalast in Namine – weil er dem dortigen Herrscher wichtige Informationen geliefert hatte, war er da gewiss willkommen. Neko fürchtete den Gedanken, dass er sie vielleicht durch das ganze Ruinenfeld bis zum Schlosshügel mitzerren würde, um unbehelligt sein Ziel zu erreichen. Der Weg, der zwischen verfallenen Gebäuden auf unebenen Straßen entlangführte, nahm zu Fuß eine gute halbe Stunde in Anspruch – ohne Geisel. Würde er das wirklich so lange durchhalten? Falls nicht, was geschah dann eher? Würden die Rebellen Neko noch retten können, oder Shinzu sie töten? Was war, wenn sie am Palast angekommen waren und Shinzu keine Verwendung mehr für sie hatte …?
    „Worauf wartet ihr?“, fuhr Seijin seine Rebellen barsch an. „Auf die Ankunft von Arceus‘ Engel? Der wird uns hier gewiss nicht helfen! Geht, holt eure Waffen, ruft eure Partner!“ Während die Männer und Frauen ausschwärmten, richtete er seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf Shinzu und Neko.
    Der Naminer und die Chimäre hatten die Menge nun verlassen und bewegten sich auf einer freien Fläche auf die kleine Brücke zu, die über den Bach zum Gelände der Heiler führte. Seijin stand am Rande der Zuschauer, ohne sich zu rühren. Auch Raika und ihre Teammitglieder sowie Tetsu konnte Neko unter der Versammlung erkennen. Sie warf ihnen allen flehentliche Blicke zu, doch sie wusste, dass sie ihr nicht helfen konnten.
    „Warum hast du dich mir verweigert?“, raunte Shinzu, kaum, dass er sie für diese Lautstärke außer Hörweite der anderen gebracht hatte. „Ich hätte dich zur Göttin gemacht. Wir wären unsterblich geworden, hätten gemeinsam Jahrtausende gelebt.“ Er keuchte vor Nervosität. „Nein, wir können es immer noch, wenn Yamiko mir noch eine zweite Chance gibt …“
    „Wovon redest du?“, fragte Neko. Aus seinen Worten sprach der blanke Wahnsinn. Seine Stimme war rau, als habe er viel geschrien, und durchsetzt von vernichtendem Hass und verzehrender Gier. Das war nicht mehr der Shinzu, der sie aus dem Fluss gerettet, mit ihr getanzt und sie zweimal fast geküsst hätte. Der ihr seine Liebe gestanden hatte. Sondern der Shinzu, der sie gestern Nacht so erbarmungslos verfolgt und ihr seinen Willen aufgezwungen hatte. Neko spürte wieder die Furcht in sich, die sie dabei empfunden hatte.
    Sie schloss die Augen und legte die Hände auf Shinzus linken Unterarm, mit dem er sie festhielt. Sie fühlte die Muskeln unter der warmen Haut, zur Härte von Drahtseilen gespannt. Es bestand keine Hoffnung, sich von selbst aus diesem starken Griff zu befreien, aber sie versuchte, an seine Gefühle zu appellieren – auch wenn sie nicht mehr an sie glaubte: „Shinzu, wenn du mich liebst, lass mich los!“
    Doch entgegen ihres innigen Wunsches, er möge sich auf sein Liebesbekenntnis rückbesinnen, lachte er nur freudlos und bitter auf. „Oh, nein!“, höhnte er ohne echten Spott. „Ich werde dich nie wieder gehen lassen. Du wirst meine perfekte Königin werden, schöner als die Sonne selbst. Ganz ohne diese Katzenohren …“
    Auch wenn Neko beim Unsinn dieser Worte ebenfalls am liebsten spöttisch gelacht hätte, rückte der letzte Satz schnell in den Fokus ihres Denkens. Shinzu hatte kein Adjektiv benutzt, das beschrieb, wie er wirklich ihren Ohren gegenüber eingestellt war; doch die Verachtung, mit der er das gesagt hatte, legte seine Meinung offen. Er mochte Neko lieben, doch ihre dreieckigen Ohren schien er so sehr zu verabscheuen, dass er ernsthaft plante, sie zu entfernen. Davon abgesehen, wie er gedachte, das zu tun, war die Vorstellung, sie zu verlieren, für Neko zu viel.
    Ärger stieg in ihr auf, sammelte sich in ihrem Herzen und wurde von da aus in ihren ganzen Körper gepumpt. So oft hatte sie ihr offensichtliches chimärisches Erbe verflucht, weil sie wegen diesem ausgestoßen und verhöhnt worden war. So viele Male davon hatte sie sich gewünscht, es irgendwie loswerden zu können. Doch hier und jetzt, in den Armen ihres gnadenlosen, wahnsinnigen Entführers, erkannte sie, dass ihre Mauzi-Ohren, ihr Chimärenblut ein Teil von ihr waren, den sie sich von und für niemanden nehmen lassen würde. Schon gar nicht, wenn es dieser selbstgefällige Mistkerl war!
    Sie entsann sich seiner letzten Worte an sie aus der vergangenen Nacht: „Jetzt werde ich mir nehmen, was mir gehört!“ Aus Nekos Angst wurde Wut über das ganze Ausmaß seiner Anmaßung, über sie bestimmen zu können und sie als sein Eigentum anzusehen. Jetzt war ihr egal, ob Shinzu sie liebte oder ihr ein Messer an den Hals drückte. Für sie zählte jetzt nur noch, ihm wehzutun. Sie schlug mit den Beinen heftig um sich im Bestreben, ihm in die Schienbeine zu treten. Ihre Finger krümmten sich und gruben sich in die Haut seines Unterarms, fuhren mit den Nägeln darüber. Am liebsten hätte sie ihn zusätzlich dazu noch gebissen, doch ein stechender Schmerz am Hals verhinderte, dass sie den Kopf senken konnte.
    Die Klinge hatte einen oberflächlichen Schnitt verursacht, aus dem ein dünner Blutfaden Nekos Schlüsselbein hinablief. Als Shinzu merkte, was geschah, entfernte er vor Schreck den Dolch ein paar Zentimeter von der Verletzung. In diesem Moment rief jemand hinter ihm voller Zorn seinen Namen. Nekos Gegenwehr erstarb sofort, als sie die Stimme erkannte.
    Mittlerweile hatten sie fast die Brücke erreicht; die Rebellen waren ihnen gefolgt, ein paar von ihnen hatten sich am Ufer des Baches verteilt. Genauso ungläubig wie Neko wandte Shinzu sich um. Der Haupteingang des Heilerhauses stand offen. An den Türrahmen stützte sich mit kaum vorhandener Kraft derjenige, von dem der Ruf gekommen war.
    Mizu.
    Unter anderen Umständen hätte Neko vor Freude geweint, Mizu wieder bei Bewusstsein und mehr oder minder auf den Beinen zu sehen. Doch jetzt war er in zu großer Gefahr, als dass sie sich über seine Gesundung hätte freuen können. Wenn Shinzu sogar bereit war, sie zu töten oder zumindest, ihr Leben zu bedrohen, würde er nicht davor zurückschrecken, den Lynoer, der sich kaum aufrecht halten konnte, einfach niederzustechen. Im Heilerhaus wäre Mizu einigermaßen sicher vor ihm gewesen.
    „Du … Bastard!“, stieß Mizu mit aller Wut hervor, die er aufzubringen vermochte, bevor er vor Schwäche zusammenbrach. Sofort waren zwei Heiler herbei, die sich seiner annahmen.
    „Das musst du gerade sagen“, spottete Shinzu. Dass er das Messer von Nekos Kehle genommen hatte und jetzt kurzzeitig abgelenkt war, nutzte jemand zu seinem Vorteil, der bislang nicht den Eindruck erweckt hatte, die Situation in ihrer Ernsthaftigkeit zu durchschauen. Weder Neko noch Shinzu sahen es kommen, als der Naminer urplötzlich von etwas umgerissen wurde und mitsamt seiner Geisel zu Boden fiel.
    Endlich lockerte sich sein Griff, und Neko konnte sich trotz ihres Erschreckens aus ihm befreien. Auch Shinzu rappelte sich auf und hielt sich den Kopf. Ein faustgroßer Stein lag neben, Traunfugil schwebte über ihm. Wahrscheinlich hatte Nekos Partner seine Fähigkeit genutzt, durch Materie zu dringen, indem er, den Stein im Gepäck, mit hoher Geschwindigkeit durch Shinzus Kopf geflogen war. Dabei war der stoffliche Stein gegen die Schläfe des Naminers geprallt und hatte ihn umgeworfen.
    „Du elender Quälgeist!“, brüllte Shinzu wütend, während er wieder nach dem Messer griff, Traunfugil an der Perlenkette packte, der daraufhin ein überraschtes Quietschen ausstieß, hinab auf den Boden warf und darauf festhielt. „Du bist mir zum letzten Mal in die Quere gekommen!“ Er hob den Dolch und ließ ihn silbern blitzend hinabfahren.
    „Nein!“, kreischte Neko voller Panik und Angst um das Leben ihres Partners.
    Die Klinge drang tief bis zum Griff ins Grün – aber nicht in das nebelhafte Graugrün von Traunfugils unstetem Körper, sondern in das saftige Smaragdgrün des Rasens. Traunfugil war im letzten Moment, bevor er hatte aufgespießt werden können, buchstäblich im Boden versunken und hatte sich damit in Sicherheit gebracht. Shinzu zog den Dolch aus der Erde und starrte verblüfft die verdreckte Klinge an.
    Ein Wimpernschlag später wandte er sich Neko mit wildem Blick zu, bereit, sie wieder als Geisel zu missbrauchen. Doch noch bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, stieß von oben ein sandgrüner Schatten auf ihn herab. Mit einem gewaltigen Flügelschlag der diamantförmigen Schwingen erhob sich Libelldra ein, zwei Meter in die Luft, um Shinzu dann von sich und Neko fortzuschleudern. Ihr einer Flügel war noch immer verletzt, doch der Zorn über den Mann, der ihre Menschenpartnerin hatte verletzen wollen, ließ sie Schmerzen und Schwäche vergessen.
    Der Naminer flog einige Meter weit, donnerte gegen die jenseitige Böschung des Baches und rollte schließlich daran hinab ins seichte Wasser. Libelldra positionierte sich zwischen ihm und Neko. Sie reckte den Hals und stieß ein Brüllen aus, das wie das Tosen eines Sandsturms klang und dem Beinamen ihrer Spezies – Geist der Wüste – alle Ehre machte. Dabei spie sie gelb-violette Drachenwut-Flammen wie eine Fanfare in den Himmel.
    Ehrfürchtig blickte Neko zu ihrer Erstpartnerin auf. Noch nie hatte sie die Wüstendrachin so wütend, so furchteinflößend und majestätisch erlebt wie jetzt. Es war gewiss, würde Shinzu es noch ein weiteres Mal wagen, Neko zu nahe zu kommen, würde sie ihn bei lebendigem Leib in Stücke reißen.
    Jetzt, da Neko endlich frei war, näherten sich ihr die angespannten Rebellen. Akari und Momoko waren sofort bei ihr und erkundigten sich nach ihrem Befinden, und eine Heilerin wollte die Schnittwunde am Hals untersuchen.
    „Es geht mir gut“, versicherte Neko mit zitternder Stimme. „Wo ist …?“, begann sie, doch da kam Traunfugil, nach dem sie hatte fragen wollen, auch schon zu ihr. Erleichtert nahm sie ihn in den Arm. Für einen Moment hatte sie wirklich befürchtet, Shinzu werde ihn töten. Die Chimäre sah sich zum Heilerhaus um. Mizu war nicht mehr im Eingang.
    Die anderen Rebellen indes hatten sich am Ufer zu einer dicht gedrängten Mauer versammelt. Ein Teil war nur als Zuschauer da, doch einige Männer waren Seijins Befehl gefolgt und hatten ihre Waffen geholt. Auf der anderen Bachseite im Heilergarten hatten sich ein paar Pokémon eingefunden, die den Aufruhr im Hauptquartier mitbekommen hatten und ihren Menschenpartnern zu Hilfe eilen wollten.
    Shinzu im Bach richtete sich schwankend wieder auf. Er bot ein Bild des absoluten Wahnsinns: Das tiefschwarte Haar stand ihm feucht und wirr vom Kopf ab. Die Platzwunde, die ihm Traunfugils Stein beigebracht hatte, hüllte die eine Seite seines Gesichts in blutiges Rot; auf der anderen Seite war die Schürfwunde von Raikas Hacke wieder aufgerissen. Den linken Unterarm zierten Striemen, Blutrinnsale tropften von der Hand ins Wasser – wie hatte Neko ihn mit bloßen Fingernägeln so tief kratzen können? –; die rechte Faust krampfte sich um den Dolch, den das Wasser wieder rein gespült hatte.
    Mit unvermindert wildem Blick sah er sich hektisch um, nach einem Ausweg aus seiner Situation suchend. Auf der einen Seite wachten Pokémon nahezu aller Typen; auf der anderen zielten ausgebildete Krieger mit Waffen aller sieben Länder auf ihn, allen voran Seijin mit einer zwei Meter langen Hellebarde. „Gib auf, Shinzu“, sagte der Anführer der Schwarzen Rose ruhig und gebieterisch. „Es ist vorbei.“
    Auf Shinzus geschundenem Gesicht zeichnete sich sichtbar allmähliches Begreifen ab. Die Wut aus seiner Mimik verschwand und machte Kapitulation Platz. „Du hast Recht“, sagte er, den Dolch abwägend in der Hand drehend. „Es ist vorbei ...“ Plötzlich ruckte sein Arm hoch, die Silberklinge leuchtete in der Sonne.
    „Im Namen der Königin!“, schrie er in den Himmel.
    Der Dolch sauste hinab, bohrte sich tief in Shinzus Herz.


    Neko stand am Zenit der Böschung und blickte zum Bach hinab. Das Gras war an einer Stelle blutbesudelt, der rote Lebenssaft sickerte noch immer ins Wasser, wo er in Schlieren von der Strömung hinfortgetragen wurde. Erst vor einem Augenblick hatten zwei Rebellen den toten Naminer weggeschafft.
    Zu Nekos Leidwesen hatte sie Shinzu weder im Sterben noch im Tod erblickt. Sie malte sich aus, mit welcher Genugtuung es sie erfüllt hätte, ihren unbarmherzigen Verfolger in seinem eigenen Blut verenden zu sehen. Zu wissen, dass er nun die verdiente Strafe erhalten, auch wenn er sie sich letztendlich selbst auferlegt hatte, musste ihr irgendwie genügen. Nicht das geringste Mitleid regte sich in ihr für den Mann, der sie hatte leiden lassen wollen. Der die Schwarze Rose verraten hatte und deswegen für so viele Verletzte und beinahe für Mizus Tod verantwortlich gewesen wäre.
    Im Namen der Königin …“ Raika trat neben Neko und betrachtete dieselbe Stelle wie sie. „Der Mistkerl musste auch noch große letzte Worte tönen, bevor er sich ein Ende gesetzt hat“, spuckte sie.
    „Ich glaube, er hatte Angst“, erklang nun eine zweite, Raikas sehr ähnliche Stimme. Ihr Zwillingsbruder hatte sie begleitet, war aber hinter ihr stehen geblieben. „Angst vor seiner Strafe für seinen Verrat, aber noch mehr davor, was ihn von seinem Auftraggeber erwartet hätte, weil seine Identität aufgedeckt wurde.“
    „Wie meinst du das denn?“, fragte die Tira.
    Auch Rai wiederholte nun Shinzus letzte Worte: „Im Namen der Königin. Er hat in ihrem Namen die Strafe vollstreckt, die ihn erwartet hätte für sein Fehlen. Oder zumindest, was er dachte, es erwarte ihn.“
    „Es gibt keine Königin“, meinte Neko geistesabwesend. Sie sah auf und blickte Raika an. Möchtegern-Rebell. Jetzt musste sie es erfahren! „Hast du gewusst, dass er uns verraten würde?“
    Die Tira schüttelte den Kopf. „Shinzu hat vorhin nicht gelogen. Er hat uns nicht verraten, ganz einfach deswegen, weil er nie auf unserer Seite gewesen ist. Er ist kein Verräter, sondern ein Spion.“ Sie hob die Schultern. „Was auch nicht besser ist. Und jetzt ist es sowieso egal.“
    „Jetzt jedenfalls müssen alle Skeptiker glauben, dass er es wirklich getan hat“, fügte Rai hinzu und spielte damit auf die Spekulationen der Rebellen an, dass vielleicht Seijin der Verräter war und Shinzu nur der auserwählte Sündenbock. „Er hätte sich wohl kaum so benommen, wenn er unschuldig gewesen wäre.“
    Neko nickte. Hoffentlich hatte Rai Recht.


    Wie ein Wirbel aus Schneeflocken rieselten die Splitter des Kristalls hinab. Langsam hob Seijin den faustgroßen Stein an, mit dem er das Schmuckstück zerbrochen hatte. Nur feiner weißer Staub war auf dem Felsen übrig geblieben, der im Waldring unweit des Anführerhauses stand. Die unsagbare Bedeutung des Felsens für die Schwarze Rose war nur sehr wenigen Rebellen bekannt. Mit der Zerstörung des Kristalls, die Shinzu seine übermenschlichen Kräfte gewährleistet hatten, war ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Findlings hinzugekommen.
    „Er hat versucht, ihn noch einmal anzuwenden“, murmelte Seijin. Er war nicht alleine auf der Lichtung: Xatu war bei ihm, wie schon seit Jahren beinahe ununterbrochen. „Selbst im letzten Moment, als er wusste, er würde sich nicht mehr retten können … Eigentlich bemerkenswert, diese Halsstarrigkeit. Dieser unbedingte Unwillen, zu verlieren.“ Das erinnerte Seijin an sich selbst. Und an seine Schwester …
    Er wandte sich an den Psychoadler, der nur stumm dastand und den Geräuschen des Waldes lauschte. Insbesondere wachte er darüber, dass ihnen niemand folgte und mitbekam, worüber sie redeten.
    „Ich frage mich nur, warum er sich nicht gewehrt hat“, fuhr Seijin fort. „Er hätte uns alle umbringen können. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass das in Yamikos Interesse liegt.“ Er sah Xatu fest in die graublauen Adleraugen. „Du hast es gewusst“, stellte der Rebellenanführer fest. „Du hast gewusst, dass er keinen Gebrauch vom Xylith machen würde. Nur woher?“ In seiner Stimme schwang eindeutiger Argwohn mit. Nicht, dass er seinem Partnerpokémon nicht vertraute. Nur manchmal warf Xatu das eine oder andere Mysterium auf, für das Seijin keine Antwort kannte. „Warum hast du ihn nicht daran gehindert, mir den Dolch zu entwenden? Warum hast du es zugelassen, dass er Neko als Geisel nimmt?“
    „Ich habe es aus der Zukunft gespürt“, antwortete der Psychoadler und schloss die Augen.
    Das erkannte Seijin als Zeichen, dass Xatu nicht mehr weiter darüber reden wollte, und fand sich mit dieser Antwort ab. Doch seine Zweifel blieben. Kein Psychopokémon der Welt konnte so umfangreiche Visionen empfangen. Noch weniger, weil die Situation so angespannt war und Xatu nur wenig Zeit gehabt hatte, die sehr metaphorischen Bilder und Empfindungen zu deuten. Es hätte Nekos Tod bedeuten können.
    So viele Jahre waren Seijin und Xatu schon Partner. Aber im Grunde wusste der Rebellenanführer so gut wie gar nichts über das, was der Psychoadler vor ihrem Aufeinandertreffen erlebt hatte.[/tabmenu]

    Nicht wahr? Voll übergangen <<


    Jedenfalls danke ich dir, I-Weltall, dass du darauf eingegangen bist, und muss dir beim ein oder anderem Punkt zustimmen. Aaaaber möchte ich dagegenhalten, dass selbst der Meister des Sonetts Shakespeare seine Geschichten auch nicht in vier Strophen gepackt hat ;) Zudem, wenn es allen erlaubt ist, denke ich nicht, dass es nur bei einem bliebe, der die Möglichkeit nutzt. Noch dazu ist die Wortbegrenzung in dieser Hinsicht extrem irreführend: Schaff es mal, bei nur vierzehn Versen mit maximal elf Silben auf 1500 Wörter zu kommen :wacko: Diese Begrenzung überschreitet in diesem Wetti bestimmt niemand, weswegen sie eher belustigend denn begrenzend ist xD


    Wo bleibt das Komitee zur Klärung? ^^

    [tabmenu][tab=ichi]Hmhm, achter Platz… ich muss sagen, ich habe mir mehr von dem hier erhofft, aber bei der Konkurrenz bin ich letztlich froh, nicht noch schlechter abgeschnitten zu haben xP Eigentlich wollte ich auch voten, kam aber nicht mehr dazu… sowieso hätte es am Ergebnis nicht viel geändert. Es haben die gewonnen, die ich selbst auch am besten fand ^^ (wenn auch nicht in dieser Reihenfolge lol)


    In diesem Sinne Glückwunsch an Paya im besonderen, und natürlich Apric und Sika =D[tab=Re-Kommis]

    [/tabmenu]