Kapitel 7 - Traumbesuch
(KPV, Teil 4)
Der Abendessen kam und ging schnell, und als Inge die Küche verließ, warf sie uns nur einen kurzen Blick zu. Die Türe schloss sei leise hinter sich, als würde sie uns nicht beim Lesen stören wollen. Ich bekam es allerdings mit, da meine Konzentration noch immer nicht so gut ist wie zuvor. Wie die Sonne unterging und die Küche außerhalb des Scheins unserer Leselampe immer dunkler wurde, nahm ich allerdings nur am Rande meines Bewusstseins wahr.
Damit war es wohl sicher, dass wir diese Nacht wieder in unserem Lager verbringen können. Dieses Mal schaffe ich es jedoch, mein Buch wegzulegen, als ich merke, dass ich zu müde zum Lesen werde. Gähnend ziehe ich mir die Decke über die Schulter, schmiege mich näher an Bodos Arm und richte meinen Kopf so auf seiner Schulter, dass ich im Schatten des Leselampenlichts liege. Das Lager mit meinem besten Freund an meiner Seite könnte nicht bequemer sein als mein Bett oben im Schlafsaal. Die Beine näher an meinen Körper ziehend, schließe ich meine Augen und wegdämmere.
Es kommt mir so vor, als würde ich direkt von der Küche in den Traum fallen. Der Traum, in dem ich meine Mutter einfach wiedersehen muss… Mit den Armen fuchtelnd lande ich auf etwas, das groß und flaumig ist. Auf dem Rücken liegend fahre ich mit den Händen hindurch. Was ist das? Zuckerwatte? Nein, das wäre wahrscheinlich klebrig, und nicht so flauschig. Langsam öffne ich die Augen und schaue mich um. Obwohl mein Untergrund nicht aus Zuckerwatte besteht, sieht er dennoch genauso aus. Tatsächlich befinde ich mich auf einer riesigen, schneeweißen Wolke.
Um mich herum erkenne ich nur zwei Farben, blau und weiß. Offensichtlich hat dieser Traum als Hintergrund den Himmel angenommen. Während ich mich aufrichte, blicke ich mich genauer um. Ich habe keine Ahnung, wo das Licht herkommt, da ich die Sonne nicht entdecken kann. Anders als das letzte Mal trage ich heute ein kurzes, schwarzes Trägerkleid, das sich bis zu meinen Hüften eng an meinen Körperschmiegt und sich danach aufbauscht. Außerdem habe ich eine purpurne Leggings an, die aussieht, als hätte man es in ein Bad aus Sternen getaucht. Außerdem stecken meine Füße in hellweißen Ballerinas und um meinen Hals baumelt ein Goldkettchen mit einem ebenfalls goldenen Kreuz.
Aber abgesehen von mir scheint ansonsten niemand hier zu sein. Also beschließe ich mich, einen kleinen Spaziergang zu machen und auf dem Weg nach Bodo oder meiner Mutter zu suchen. Nach dem ersten Schritt bemerke ich bereits, dass ich mich total leicht. Jedes Mal, wenn ich meine Füße hebe, federt mich die Wolke ein Stückchen in die Luft. Mit einem vorsichtigen Sprung komme ich ohne Probleme auf eine höhergelegene Wolke. Auch meine Landung erfolgt ohne Probleme.
Ich sinke ein bisschen in den weichen Flaum ein und stolpere ein bisschen, bevor sich sicheren Halt finde. Und dann erkenne ich, am anderen Ende der Wolke, eine Person mit dunkelroten, verstrubbelten Haaren. Mir ist sofort klar, wer das ist. „Bodo!“, rufe ich ihm zu, da er mit dem Rücken zu mir steht. Sofort wirbelt er herum. Leichtfüßig hüpfe ich auf ihn zu. In der Mitte der Wolke treffen wir uns.
„Hast du Mama schon gesehen?“, frage ich mit meiner klingelnden Stimme, die ich bereits aus dem letzten Traum kenne. Er schüttelt nur müde mit dem Kopf. „Falls sie, nachdem sie dieses Loch gestern verschluckt hat, überhaupt noch hier auftauchen kann“, meint er. „Ich habe im Gefühl, dass sie kommen wird“, antworte ich und das genannte Gefühl bringt meinen Magen zum Kribbeln.
Im nächsten Moment dringt etwas an meine Ohren. Überrascht blinzle ich und Bodo wendet direkt seinen Blick in die Richtung, aus der das Geräusch oder die Stimme kam. „Kaum, dass wir hier sind, werden wir auch schon wieder gerufen“, brummelt er. „Wa-“, ich stocke, dann spreche ich weiter, „Du hast es verstanden? Ich hab die Stimme gerade einmal als Geräusch wahrgenommen?“
Er zuckt ungerührt mit den Schultern und grinst frech. „Da sollte wohl jemand nicht mehr so laut Musik hören, was?“, zieht er mich auf. „Ts“, mache ich. „Ach, komm schon“, gluckst Keith, „Du weißt doch, dass das nicht ernst gemeint war. Also, gehen wir der Stimme nach. Garantiert wartet deine Mama schon und steht sich die Beine in den Bauch.“ Seine schokoladenfarbenen Augen blitzen belustigt, als ich ihn mit einem Seitenblick anschaue und meine Augenbraue gespielt überlegen hochziehe. Kichernd gebe ich ihm einen Stoß zur nächsten Wolke und er fliegt mehr als dass er stolpert.
Drei Wolken weiter verstehe ich die Rufe endlich klar und deutlich, aber meine Mutter haben wir immer noch nicht gefunden. Stattdessen machen wir uns einen Spaß daraus, dass wir hier oben offensichtlich beinahe schwerelos sind, während wir von Wolke zu Wolke springen. Bis wir auf der vierten, bis jetzt am höchsten gelegenen ankommen und das „Beeil dich!“ verklingt. Eine Frau mit braunen, taillenlangen Haaren, die in unsere Richtung geweht werden, erwartet uns hier bereits.
„Da seid ihr zwei ja wieder“, spricht sie mit ihrer singenden Stimme. Ein ehrliches, kleines Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, das ich sogleich erwidere. Bodo fragt: „Ähm… Bevor wir letzte Nacht unterbrochen wurden, wollten Sie uns doch noch etwas erzählen?“ „Ach, bitte, sag doch ‚du‘ zu mir“, meint meine Mutter und lächelt ihn ein bisschen breiter an, „Ich fühle mich ansonsten immer so alt, dabei altere ich gar nicht mehr. Immerhin bin ich bereits tot.
Außerdem bist du der beste Freund meiner ältesten Tochter, die ich, gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester, meiner jüngsten, alleine auf der Welt zurückgelassen habe. Versprich‘ mir, dass du gut auf meine Kathrin aufpasst, auch wenn euch eine schwere Zeit bevorsteht. Nur zu zweit werdet ihr das durchstehen.“ In ihren Augen sehe ich Anspannung und höchste Konzentration. Erst durchbohrt sie meinen besten Freund mit ihnen, dann treffen sich unsere.
„Kathrin, mein großes Mädchen“, murmelt sie, „Das wird mein letzter Besuch sein, aber ich weiß mit Sicherheit, dass du alles schaffen wirst, solange du es nur wirklich willst. Deine Freunde“, abermals huschen ihre Augen kurz zu meinem besten Freund, dann zurück zu mir, „Werden dich unterstützen und dir dabei helfen, das Ziel zu erreichen, das nötig ist, um das unscheinbare Böse auszumerzen.“
Bodo und ich werfen uns verwunderte Blicke zu, dann sagt er: „Aber… Sind sie, entschuldige, bist du dir da ganz sicher?“, fragt er mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck. Mama nickte. „Ich weiß es einfach. Was es das angeht, könnt‘ ihr mir vertrauen“, antwortete sie, „Ihr müsst mir einfach vertrauen. Also, auf Wiedersehen, mein großes Mädchen. Du wirst mir sehr fehlen… Und sag auch Lucy, dass ich sie lieb habe, ja?“
Ihre Augen sind erfüllt von Trauer, aber die Tränen kann sie zurückhalten. Es passierte das Gleiche wie damals an meinem fünften Geburtstag. Genau wie damals löst sie sich langsam, aber sicher in Luft auf, genau wie damals zerreißt mir der Anblick das Herz. Genau wie damals bleibt mir im ersten Moment die Luft weg und ich muss erst mal nach ihr schnappen, um meine Lungen mit ihr zu füllen.
Allerdings steht dieses Mal anstelle meiner ebenfalls den Tränen nahen Schwester mein bester Freund. Mit ihm an meiner Seite fühlte ich mich gleich viel besser und stärker als beim letzten Mal. Trotzdem reicht die Szene vor meinen Augen aus, um das Gefühl der Einsamkeit, das Gefühl, verlassen worden zu sein in mir auszulösen. Die Welle, die mich in die Tiefe zieht, bleibt aus.
Ich hole tief Luft und seufze: „Das war wohl endgültig das letzte Mal, dass sie sich von mir verabschiedet hat. Wirklich das letzte Mal, dass ich sie leibhaftig gesehen habe, auch, wenn das nur in einem Traum passiert ist…“ Obwohl ich versuche, sie mir zu verkneifen, laufen mir Tränen über die Wangen, aber sie schaffen nicht die Hälfte ihres Weges bis runter zu meinem Kinn, da Bodo sie davor wegwischt.
Das nächste, was ich spüre, ist, dass er mich an sich zieht und mich fest umarmt. Vorsichtig lege ich ihm meine Arme um die Mitte und vergrabe meine Kopf in der Kehle seines Halses. Leider tröstet mich die Umarmung anfangs überhaupt nicht. Stattdessen muss ich daran denken, wie mich Mama früher immer aufgemuntert und in den Arm genommen hat, was dazu führt, dass aus den wenigen Tränen eine ganze Flut wird. Von Schluchzern geschüttelt versuche ich, die Erinnerung beiseite zu schieben und mich stattdessen auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Die Gegenwart… Die für mich momentan aus einem Traum bestand, in dem ich mich gemeinsam mit Bodo befand. Aber nicht nur das. Mein Gehirn brauche eine Weile, um die Botschaft richtig an mein Gehirn zu verschicken, dass ich mich gerade in seinen Armen befand und mich bei ihm ausheulte. Ausnahmsweise kann ich es mir sogar leisten, rot zu werden, ohne befürchten zu müssen, dass mich irgendjemand sieht.
Es braucht einige Zeit, bis ich mich wieder beruhigt habe und auch die Hitze aus meinem Gesicht verschwunden ist. Rot ist es trotzdem, jedoch mehr von den Tränen als von der Nähe zu meinem besten Freund. Selbst, wenn ich deshalb noch Farbe im Gesicht haben würde, würde es nicht auffallen. „Tut mir leid“, murmele ich Bodo zu, während ich mir beide Augen reibe und schniefe.
„Kein Problem… Wie deine Mama bereits gesagt hat, deine Freunde werden immer für dich da sein. Und ich als bester Freund gehöre jawohl auch in die Kategorie ‚Freunde‘, oder?“, lacht er, wobei er sein Gesicht in meinen Zöpfen vergräbt. „Hast schon Recht“, sage ich ein bisschen munterer als zuvor. So sehr wie das letzte Mal wird Mamas endgültiges Verschwinden mich dieses Mal nicht zerreißen.
„Also, nun, da wir alleine in diesem seltsamen Traum sind… Was machen wir jetzt?“, fragt Bodo. „Uns austoben“, entgegne ich sofort, ihn an den Schultern packend und umdrehend, „Was sonst?“ Ich wollte so schnell wie möglich über die Szene von gerade eben hinwegkommen, weshalb ich mich kichernd meinen Plan zuwende. „Und wie stellst du dir das vor?“ „Ganz einfach“, erkläre ich, „Wir träumen, wir sind fast schwerelos und wir befinden uns ganz weit oben irgendwo im Himmel. Also, was hältst du von Bungee Jumping ohne Seil?“
Meine Umgebung gefällt mir so sehr, dass meine Stimme sich in ein hübsches, kleines Trällern verwandelt, das, zugegeben, ein bisschen nach Musik klingt. Da Bodo sich nicht wehrt, fällt es mir nicht allzu schwer, ihn bis zum Wolkenrand zu schieben, wo wir erst einmal einen Blick nach unten werfen. Tatsächlich befinden wir uns soweit über der Erdoberfläche, dass wir uns nicht einmal mehr sicher sind, ob in diesem Traum überhaupt eine existiert. Alles, was wir erkennen können, sind weitere, flaumig aussehende Wolken.
„Also im echten Leben würde ich garantiert ablehnen, aber momentan weiß ich nicht, wovor ich mich fürchten sollte. Das ist immerhin eigentlich nur ein Traum“, lacht er und beugt sich noch ein wenig weiter vor. „Also springen wir?“ „Klar“, erwidert er, „Bungee Jumping irgendwo mitten im Himmel, ohne Seil, ohne Ende.“ Bevor ich noch irgendetwas sagen kann, hat er bereits meine Hand ergriffen, springt und zieht mich mit sich in die Tiefe.
Der Fall löst das Gefühl der Leichtigkeit in meinem Magen aus, ähnlich dem, das die Schmetterlinge in meinem Bauch verursachen, wenn ich meinem besten Freund mal wieder zu nahe bin oder an den unmöglichen Spagetti Kuss denke. Ohne es verhindern zu können, reißt mich die seltsamerweise doch vorhandene Schwerkraft in die Tiefe, langsamer zwar, als es normal gewesen wäre, aber es war mir schnell genug.
Leider dauerte es nicht allzu lange, bis uns eine Zuckerwattenwolke dazwischen kommt. Und in dem Moment, in dem ich rücklings darauf lande, federnd und weich, schließe ich kurz meine Augen und befinde mich im nächsten Moment bereits wieder in der Küche. Gähnend und streckend betrachte ich das Spiegelbild mir gegenüber, das ich bereits gestern, nachdem ich aufgewacht war, angeschaut habe. Dieses Mal sehe ich allerdings nicht mehr als unsere Köpfe, da wir bis zum Kinn hin zugedeckt sind.
Natürlich zeigt das nicht nur das Spiegelbild im Ofen, auch mein Körper fühlt sich wohlig warm an, in der kuschligen Ecke mit Bodo. Das hilft mir nicht wirklich dabei, wacher zu werden, im Gegenteil! Die Wärme lullt mich derartig ein, dass mir beinahe sofort wieder die Augen zufallen. Um die Müdigkeit abzuschütteln, fange ich an, meine Gliedmaßen leicht zu strecken und ein bisschen zu verbiegen.
Meine Zehen bewegen sich unruhig unter der Decke. Diese rutscht schließlich herunter und gibt meine Füße preis. Weiter gehe ich zu meinen Beinen, die ich komplett anspanne und, so gut es geht, ausstrecke, gehe dann über zu meinen Oberkörper und den Schultern, indem ich mich anspanne und leicht drehe, und komme schließlich bei meinen Armen an. Vielleicht hätte ich besser mit ihnen anfangen sollen. Dann wäre mir nämlich früher aufgefallen, dass ich mich mit ihnen fest an Bodos Arm geschmiegt habe.
„He, du Klammeräffchen“, begrüßt er mich, etwas heiser lachend. Wohl hat ihm der Schlaf etwas von seiner Stimme geklaut, und das muss er sich jetzt erst mit der Zeit wieder holen. Aber anscheinend hat er meinen Klammergriff bereits gemerkt. Ich blinzele meinen Kopf und blinzele ihm unschuldig entgegen. Dazu setze ich ein müdes, schwaches Lächeln auf. Er grinst zurück und verdreht mit seiner freien Hand die Zöpfe.
„Ach, wer ist denn da endlich mal aufgewacht?“, dringt die Stimme einer weiteren Stimme an unsere Ohren und wir drehen die Köpfe in Richtung Türe. Natürlich gibt es nur eine Person, die wir um diese Uhrzeit in der Küche antreffen. Inge steht neben der Spüle, irgendetwas abspülend. „Oh, Inge“, gähne ich und schließe die Augen halb. Wenn ich daran denke, dass ich morgen um diese Uhrzeit mich wahrscheinlich schon wieder auf den Unterricht freuen kann… Dann wird mir direkt warm ums Herz. Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich die Ironie liebe?
„Wie viel Uhr haben wir bereits?“, fragt Bodo Inge, und sich selbst. Die Augen zusammenkneifend, blickt er sich in der Küche um, als wolle er anhand des Lichtes, das durch das Fenster nach drinnen fiel, herausfinde, wie spät es bereits ist. Die Antwort ist leicht erschreckend, da es so sich so unnatürlich anhört. Wie kann es sein, dass wir bis beinahe zehn Uhr im Bett liegen? Im Normalfall ist es spätestens sieben Uhr, wenn wir aufwachen.
„Uähh“, entfährt es mir unwillkürlich. Mein Körper will mir nur halb gehorchen. Einerseits will ich aufstehen, mich bewegen und wacher werden. Den ganzen Tag, auch, wenn es ein Sonntag ist, lahm herumsitzen und nichts tun, das ist einfach nichts für mich. Noch dazu sitze ich einfach nur verschlafen, mit halb offenen Augen in der Küche herum. Da bin ich direkt froh darüber, dass man von der Kantine aus nicht in unser Lager blicken kann.
Deshalb finde ich es auch nicht allzu schlimm, wenn ich es jetzt doch nicht schaffe, aufzustehen. Weil es einfach viel zu warm und gemütlich ist. Kuschlig, und bequem. Diese Gründe reichen, um meinen vom Schlaf immer noch nebligen Kopf auf diese Seite zu ziehen. Also lasse ich meinen Kopf sinken, die Lider fallen und mich von der Wärme einlullen. Laut Inge ist das Frühstück ohnehin schon vorbei, weshalb es sich nicht lohnt, aufzustehen, nur, um sich dann zurückzusetzen und darauf zu warten, dass wir Mittagessen machen dürfen.
„Hast du keinen Hunger?“, fragt mich mein bester Freund dennoch. Gähnend öffne ich die Augen und schaue ihn an. Leider stimmt es wirklich. Mein Magen gibt laut knurrend die richtige Antwort. Schade. Dabei war es gerade wirklich schön. „Eigentlich schon“, setze ich meinem Bauch hinterher, mir die Augen reibend. „Ach, irgendwann müssen wir ohnehin aufstehen. Also, komm‘, ich mach‘ uns etwas“, haucht er mir zu.
Dass dabei sein viel zu warmer Atem an meinem Oh r und meiner Wange zu spüren ist, ist für mich nicht sehr hilfreich. Mein Gesicht wird abermals puterrot. „Okay…“, ist das einzige, das ich kleinlaut murmeln kann. Zuerst erhebt sich Bodo, ich lasse mir noch etwas Zeit, damit die Röte wenigstens einigermaßen verschwinden kann. Stattdessen müsste es jetzt nur noch so aussehen, als hätte ich aufgrund der Wärme schöne Apfelbäckchen bekommen.
Kaum dass ich auf meinen wackeligen Beinen stehe, spüre ich bereits, dass sich ein weiterer Schwindelanfall anbahnt. Ohne es wirklich zu wollen, greife ich nach Bodos Arm, der sich zum Glück nicht weiter weg vom Schlafplatz bewegt hat. Leicht keuchend kneife ich die Augen zusammen. Bis ich merke, dass das Schwindelgefühl nachlässt. Mein Magen beschwert sich grummelnd.
„Ach, sei doch still“, schimpfe ich zurück. Schön. Jetzt rede ich sogar schon mit meinem Bauch. Mein bester Freund neben mir lacht nur und fragt mich dabei: „Also, meine tägliche Frage: Was willst du heute zum Essen haben?“ Ich knuffe ihn leicht in die Seite. „Machen wir doch gleich eine Mischung aus Mittagessen und Frühstück, da wir schon recht spät aufgestanden sind. Wenn ich jetzt frühstücke, dann passt nämlich später nichts mehr in mich rein. Was hältst du von einem großen Omelett mit Schinken und als Nachspeise eine Schüssel Obstsalat für jeden?
Natürlich nur, solange du das Omelett und den Schinken macht. Ich verstehe irgendwie nicht, wie du es schaffst, dass es so fantastisch schmeckt und gleichzeitig so aussieht, als hätte es ein Chefkoch gemacht. Ganz ehrlich, warum willst du das nicht auch mal beruflich machen? Als Koch in einer Küche stehen… Also, ich würde jeden Tag in das Restaurant kommen, nur um das zu essen, was du machst.“
Ich tänzele ihm voran in die Speisekammer, wo wir alle Zutaten holen. Während ich die Eier aus der Schachtel abzähle, beantwortet Bodo endlich meine Frage: „Warum ich kein Koch werden will, fragst du? Nun, erstens glaube ich kaum, dass jeder so verrückt ist nach dem, was ich koche, wie du. Das verstehe ich übrigens nicht, wie du das nur so lecker finden kannst. Außerdem glaube ich, dass ich mit Pokémon Ranger sein einfach besser leben kann. Da fühle ich mich wirklich nach einem Tag so, als hätte ich etwas erreicht. Mägen zu füllen kommt da einfach nicht ran…“
(BPV)
Als das Essen fertig ist, setzen wir uns wieder auf eine der Arbeitsplatten. Meine vielen Seitenblicke bemerkt Kathrin nicht. Ganz ehrlich, ich weiß wirklich nicht, was sie an dem Essen, das ich mache, findet. „Und?“, frage ich sie, als sie den ersten Bissen genommen hat. Sie grinst und antwortet: „Lecker, wie immer“, bevor sie sich die nächste kleine Portion in den Mund steckt und zufrieden kaut.
Nach dem Frühstück taumeln wir zurück zu unserem Lager, um uns, bis abends, unseren restlichen Büchern zu widmen. Kathrin fängt mit dem gleichen an, an dem sie gestern bereits einige Zeit saß. Es ist ungewohnt, sie so direkt neben mir zu haben, während ich lese. Bis jetzt habe ich immer im Gemeinschaftsraum oder, ganz ohne sie, im Schlafsaal gelesen. Noch dazu kommt, dass sie sich aufführen kann wie eine Schmusekatze. Und dieser Zwischenfall gestern beim Mittagessen. Den Gedanken daran kann ich nicht abschütteln.
Egal, wie sehr ich es versuche. Das Gefühl und die Gedanken an den Kuss selbst kann ich einfach nicht verdrängen. Dieses Kribbeln in meiner Magengegend, dieses unvergessliche Höhengefühl, das mich durchflutet hat… Unerwartete Reaktionen, bei denen ich nie gedacht hätte, dass sie mich so überrumpeln können. Ich verwerfe den Gedanken an den Moment, in dem sich unsere Lippen berührten.
Es fällt mir sehr schwer, bis zu dem Moment, als wir nach dem Abendessen hochgehen in den Gemeinschaftsraum. Dort werden wir bereits von Rhythmia und Primo erwartet. Naja, eigentlich wurde ich eher von Primo, und Rhythmia ignorierte mich vollkommen. Stattdessen wandte sie sich sofort Kathrin zu. Sie schleifte sie in den Mädchenschlafsaal und ließ mich alleine mit ihrem besten Freund zurück.
„Ach, Gott, was ist denn mit Blondi los?“, sage ich überrascht. Ob sie vielleicht meine Gedanken lesen kann und Kathrin jetzt wegen des Kusses ausquetschen will? Wohl kaum. Wenn das wirklich so wäre, hätte sie mich davor mit giftigen Blicken umgebracht. „Keine Ahnung, die ist schon den ganzen Tag so drauf“, erwidert Primo, „Und was ist mit dir? Dein Wochenende mit Kathrin in der Küche genossen?“ Ich werfe ihm einen kurzen, nichts preisgebenden Seitenblick zu, antworte aber nicht auf die Frage.