Logbuch eines Gestrandeten

Wir sammeln alle Infos der Bonusepisode von Pokémon Karmesin und Purpur für euch!

Zu der Infoseite von „Die Mo-Mo-Manie“

  • Mein Name ist Dian. Schon seltsam, dass etwas so Einfaches wie ein Name plötzlich eine solch große Bedeutung haben kann. Für mich jedenfalls ist es der Fall. Es ist das Einzige, was ich noch besitze, das Einzige, was mir noch bleibt. In dieser Welt, die mir völlig fremd ist, auf der Suche nach Antworten ist das Wissen, wie ich heiße, mein einziger Kompass; leider ein Kompass ohne Nadel.
    Wer bin ich, wo bin ich, warum bin ich? Bis vielleicht auf Letzteres sollten dies Fragen sein, auf die man leicht zu antworten weiß. Nur bei der Frage nach dem »Warum« - da scheiden sich die Geister. »Warum bin ich?« Gewissermaßen ist dieser Aspekt unseres Seins das Fundament, welches das eigene Schicksal bestimmt, vorgibt, wohin der Weg führt auf der Straße des Lebens. Vielleicht ist es sogar besser, nicht alle Antworten in jenem schicksalhaften Buch zu kennen, das wir erst mit jedem zurückgelegten Schritt allmählich füllen. Doch ist es verwerflich, zu glauben, man sei aus einem ganz besonderen Grund auf der Welt? Aus höheren Motiven? Bin ich deshalb arrogant? Gewiss würde ich gerade dies denken, käme jemand auf die Idee, er sei zu Höherem auserkoren. Wer würde das nicht? Natürlich ist man nicht irgendwer, niemand ist das. Letztendlich ist es an uns, an die eigene Bestimmung zu glauben, und die Rolle, die uns zugetragen wurde, auf der Bühne des Lebens zu spielen, sei sie nun groß oder klein. Ist es denn im Grunde nur wichtig, was wir selbst von uns denken? Bloß: Was soll ich von mir denken?
    Ich heiße Dian; mehr Wissen besitze ich nicht über mich. Nun, eigentlich ist das nicht ganz wahrheitsgemäß. Und genau hier tritt der Punkt ein, wo ich von einem »höheren Motiv« sprechen muss, zumindest denke ich so. Denn noch eine Sache, eine einzige Sache ist mir geblieben: Die Erinnerung, dass ich vormals ein Mensch war; ein Mensch jetzt in einem neuen Körper, dem Körper eines Pokémons. Ist dies meine Bestimmung? Macht mich das zu etwas Besonderem? Was soll ich glauben? Was soll ich denken? Und vor allem: Was soll ich tun?
    In meinem Kopf wabert undurchdringlicher Nebel, um mich herum unendliche Leere - ein tosendes Meer des Vergessens. Unheilvoll. Bedrohlich. Unergründlich. Ich bin allein, stolpere durchs Dunkel, habe Angst. Wer bin ich? Wo bin ich? Warum bin ich? Vielleicht ist ja die Suche nach Antworten der mir vorbestimmte Weg - mein Norden auf dem Kompass ohne Nadel. Ich werde meinen Weg finden. Irgendwie …

  • 1. Eintrag: Vom Regen in die Traufe


    Erster Eintrag … Huh, wie das klingt … Die erste Seite im Buch meines neuen Lebens. Wie viele Blätter kommen wohl noch zusammen, wie viele Geschichten werden erzählt? Ist dieses Kapitel vielleicht bereits mein letztes? Oder das nächste? Das übernächste? Wer weiß schon, was die Zukunft bringen mag. Ich sollte nicht mehr darüber nachdenken …
    Es gibt einen bestimmten Grund, warum ich meine Gedanken niederschreibe. Alles begann damit, dass ich den unbändigen Durst an einer Quelle stillen wollte. Bloß war es ein fremdes Gesicht, das sich dort im Wasser spiegelte. Es war nicht Dian, der Mensch. Es war Dian, das Pokémon. Bei der Erinnerung an dieses furchtverzerrte Spiegelbild schüttelt es mich immer noch. Weder verstehe ich, was passiert war, noch wie ich überhaupt hier herkam. Alles, was mir geblieben ist, ist mein verstümmeltes Gedankengut und die Schuppen am eigenen Leib. Selbst der Gleichgewichtsinn hat mich verlassen. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis ich Freundschaft mit dem Schweif am Hinterteil schließen würde? Ironischerweise aber vermag ich keine Erinnerungen zu finden, wie es sich ohne ihn anfühlt. - Dafür taten mir meine Knochen weh. Ich hoffte, es sei kein schlechtes Omen.
    Hinterrücks und ohne Vorwarnung griffen mich drei fremde pilzköpfige Pokémon an. Ich gab ihnen keinen Anlass, mir Leid zuzufügen, dennoch ließen sie nicht ab von mir. Auf der Flucht begegnete mir ein Reisender - ein weiteres Pokémon. Als er mich ansprach und ich jedes Wort mühelos verstand, wurde mir nur einmal mehr bestätigt, dass ich meine menschliche Hülle abgeworfen hatte. Es fällt mir immer noch schwer, zu akzeptieren, zu was ich geworden bin. Auch vor dem Wanderer machte die Meute keinen Halt. Was zum Teufel ist hier nur los?
    Gemeinsam nahm mein Weggefährte, der sich mir beiläufig als Blanas vorgestellt und unsere Häscher als eine Bande von Megalon identifiziert hatte, und ich Reißaus. Irgendwie - ich weiß immer noch nicht wie - konnten wir sie abhängen. Mein Leidensgenosse war am Ende der Hatz alles andere als froh darüber, welches Schlamassel ich ihm eingebrockt hatte. Doch er zeigte unendliche Geduld mit mir. Ich glaube, ich kann ihm trauen. Darum entschloss ich mich, ihm über meine Person zu berichten. Viel war es natürlich nicht. Dass ich Dian heiße, mein Gedächtnis verloren hatte und eigentlich ein Mensch bin. Es tat gut, über meine Sorgen zu reden. Noch besser, dass Blanas zuhörte. Mehr sogar: Er sog jedes meiner Worte auf. Sein Gesichtsausdruck war von Verständnis geprägt, an den richtigen Stellen auch mit Empathie für meine Situation. Zwar haderte er noch etwas mit sich selbst, am Ende bot er aber an, dass ich ihn begleiten dürfe und er sich fortan um mich sorge. Auch war es sein Einfall, ein Tagebuch aufzusetzen; nur für den Fall, dass ich wieder alles vergessen könnte.
    In Blanas denke ich einen wirklich guten Vertrauten gefunden zu haben. Dass er mich als Kind betrachtet, tut dieser Sache keinen Abbruch. Gewissermaßen bin ich es sogar, so nackt und hilflos, wie ich durch die Welt stolpere.
    Unser gemeinsames Ziel soll Blanas’ Wohnort Ruhenau sein. Ich hoffe, dort Antworten zu finden.

  • 2. Eintrag: Gedankensplitter


    Ich fühle mich wie ein Schiffbrüchiger, bloß mit dem Unterschied, dass einem in Seenot-Geratenen zumindest seine Vergangenheit bleibt, vielleicht sogar ein wenig Treibgut. Mir dagegen hatte man weder das eine noch das andere gelassen. Ist diese fremde Hülle womöglich eine Bürde, die mir auferlegt wurde? Eine Strafe? Blanas meint, ich solle mir nicht unnötig den Kopf darüber zerbrechen. Mit der Zeit kämen die Erinnerungen bestimmt wieder. Ich hoffe es.
    Es war wenig, was Blanas als Wegzehrung aufzutischen vermochte, doch war ich zu hungrig, um seine Einladung zum Essen auszuschlagen. Was habe ich wohl in meinem früheren Leben gerne gegessen? Könnte ich mich bloß daran erinnern! Die Früchte schmeckten gut, obwohl sie aussahen, als seien sie schon mehrere Tage alt. Auch von einfachem Wasser zu kosten, ist befremdlich. Es fühlt sich … gut an, wie Balsam für die Seele. Sind das die positiven Begleiterscheinungen der neuen Haut, die ich trage? Wenn ja, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass er mir auf Dauer gefällt. Auf Dauer? Bleibe ich womöglich für immer so? Wieder diese Frage nach dem »Warum«. Ich weiß nicht, was ich denken soll …
    Keine Spur von den Megalon. Ein gutes Zeichen? Ich hoffe es. Trotzdem ertappe ich mich regelmäßig damit, über die Schulter zu schauen. Das Gefühl, verfolgt zu werden, lässt mich innerlich einfach nicht zur Ruhe kommen. Warum waren sie uns auf den Fersen? Oder sind sie es noch? Andere Pokémon, welchen wir begegneten, wussten darauf keine Antwort. Viele wirkten sogar argwöhnisch und mieden uns. Immerhin bleibt mir so wenigstens mehr Zeit, Blanas besser kennenzulernen. Da es wenig gibt (im Grunde überhaupt nichts), was über mich zu sagen ist, reden wir eigentlich nur von ihm. Das scheint ihm etwas Unbehagen zu bereiten - ginge mir wohl ebenso. Er berichtete mir, dass er sich schon vor einer ganzen Weile in Ruhenau häuslich niedergelassen und man ihn dort längst als Teil der Dorfgemeinschaft akzeptiert habe. Gelegentlich treibe ihn sein großes Fernweh in die Welt, weshalb sich unsere Wege auch kreuzten - mein Glück.
    Morgen erreichen wir wohl Ruhenau. Es bleibt zu hoffen, dass ich in Blanas’ Wohnort eine Bleibe finde - zumindest für den Anfang. Doch wird man mich dort akzeptieren? Wirklich akzeptieren? Was, wenn nicht? Was dann? Ja, was dann …?

  • 3. Eintrag: Zeit zum Aufatmen

    Wir sind in Ruhenau angekommen! Ich schreibe diese Zeilen unmittelbar, nachdem wir Blanas’ Hütte erreicht haben. Viel habe ich von der Siedlung nicht gesehen. Es ist wohl ein sehr kleines Dorf, weit ab vom Schuss, wohl ausschließlich von Pokémon bewohnt. Blanas ist noch einmal raus, um das Allernotwendigste noch zu jetziger Stunde zu klären. Er hat mir aufgetragen, unter keinen Umständen sein Haus zu verlassen; habe ich auch nicht vor.
    Es ist spät. Ich bin müde. Meine Füße bringen mich um. Seit meiner Ankunft in dieser Welt fühle ich mich hier wirklich sicher. Heute Nacht werde ich bestimmt gut schlafen.





    4. Eintrag: Was für ein Tag!


    Mein erster Tag hier, und alles geht drunter und drüber. Sollte man nicht annehmen, Ruhenau bietet, was es verspricht? Tatsächlich aber straft der Ort seinen Namen Lügen. Oder liegt es an mir? Vielleicht trage ich möglicherweise eine gewisse Mitschuld … Wo fange ich am besten an …?
    Es war früher Nachmittag, als ich endlich erwachte. Ich erwischte Blanas gerade auf dem Sprung nach draußen. Er wolle die restlichen Dinge meiner Person klären. Den oberen Zehntausend habe er bereits am Vorabend alles berichtet, meinte er. Jetzt müsse er sich nur noch um die Anmeldung für die Schule kümmern. Ich fiel aus allen Wolken. Schule? Ich? Sie halten mich wirklich für ein Kind. Wobei … Wenn ich so darüber nachdenke: Wie alt bin ich eigentlich? Ich glaube, längst aus dem Alter heraus sein zu müssen, aber … Es ist zum Verrücktwerden! Jedenfalls hielt ich es für unvernünftig, meinem Wohltäter in dieser Sache widersprechen zu wollen. Vielleicht ist es sogar das Beste für mich. Blanas meinte außerdem, ich solle noch nicht vor die Tür gehen und dass er mit mir später eine Führung durch das Dorf machen wolle. Auch in jener Angelegenheit stimmte ich ihm zu. Mir war ohnehin nicht wohl bei der Idee, ohne Begleitung vor völlig fremde Leute zu treten.
    Von Blanas’ Abwesenheit erhoffte ich mir einige ruhige Minuten, in denen ich meine Gedanken endlich sortieren konnte (allzu viel Zeit für mich alleine und ohne die Befürchtung, hinterrücks überfallen zu werden, hatte ich schließlich noch nicht). Am Ende kam es anders; ganz anders … Von einem verdächtigen Geräusch alarmiert, geriet ich in Panik. Hatten die Megalon uns ausfindig gemacht? Hier? Mir war plötzlich angst und bange. Am Fenster war niemand zu sehen. Welche andere Alternative besaß ich also, als nach draußen zu treten und mich abzusichern. Meine Sorge aber - sie war unbegründet. Eine neugierige Dorfbewohnerin war auf mich aufmerksam geworden; genauer gesagt: ein Kind. Sie stellte sich mir als Cenra vor.
    Wie ist sie zu beschreiben …? Puh! Quirlig. Ein wenig schusselig. Schräg. Stürmisch. Ein richtiger Wirbelwind sozusagen. Aber echt liebenswert. Das Mädchen - sie ist wohl in meinem körperlichen Alter - bewohnt mit ihrem Großvater das Nachbarhaus. Ich kam gar nicht dazu, sie darüber auszufragen, was mit ihren Eltern passiert war. Sie drängte sich mir regelrecht auf. Nicht, dass es mir unangenehm war, aber es ging alles plötzlich so schnell! Ehe ich es mir versah, befanden wir uns auf dem Dorfplatz, der das Zentrum von Ruhenau darstellt. Es ist ein Ort, wo sich Angebot und Nachfrage treffen, aktueller Tratsch und Klatsch ausgetauscht wird, das Leben einfach nur so sprudelt. Wie erwartet, zeigten die Passanten reges Interesse an mir, dem Neuen in ihrer kleinen Gemeinde; nicht jedoch so großes wie an der alteingesessenen Cenra. Irgendwie hatte sie es geschafft, den halben Ort, der plötzlich auf den Beinen war, mit ihren Kapriolen gegen sie aufzubringen. Das letzte Mal, als ich Cenra heute gesehen habe, befand sie sich auf der Flucht vor der aufgebrachten Meute. Ich denke, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Bestimmt legt sich das wieder. Hoffentlich …
    Obwohl mir Blanas aufgetragen hatte, im Haus zu bleiben, konnte ich dann doch der Verlockung, etwas die Umgebung auszukundschaften, nicht widerstehen. Der Dorfplatz hatte sich ja zwischenzeitlich geleert. So kam ich mit einigen Leuten ins Gespräch. Jeder begegnete mir freundlich - was war ich froh! Dabei kam ich nicht drum herum, beiläufig einer hitzigen Unterhaltung dreier Kinder beizuwohnen. Der Lautstärke und den strengen Gesichtsausdrücken zu urteilen, besprachen sie ein heikles Thema. Ein Gleichaltriger hatte sich - scheinbar auf einer Art Mutprobe - verlaufen. Es herrschte Uneinigkeit zwischen den Dreien. Zwei von ihnen wirkten wie rücksichtslose Rabauken auf mich, die andere war außer sich vor Wut und Sorge um ihren verschollenen Freund. Ich hätte einem Erwachsenen Bescheid geben, mich nicht einmischen oder einfach nur einen Vorschlag unterbreiten können. Pustekuchen! Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, begreife ich es immer noch nicht, wieso ich so handelte, wie ich es am Ende tat. Auf eigene Faust zog ich los, um das vermisste Kind (ohne es wohlgemerkt überhaupt zu kennen) zu suchen. Dank einer ungefähren Weg- und Personenbeschreibung fand ich Viscora zitternd und schlotternd in einem nahe gelegenen Wäldchen. Er war unverletzt - zum Glück!
    Was für ein Tag! Blanas war natürlich alles andere als glücklich mit meinem Alleingang. War ein ganz schönes Donnerwetter, was über mich hereinbrach. Und an die Megalon, wie er mir mit eindringlichem Gesichtsausdruck vorwarf, hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Schließlich und endlich drückte er dann aber doch ein Auge zu. Neugierde sei nun mal keine Sünde, und Hilfsbereitschaft erst recht nicht. Morgen allerdings würden andere Saiten aufgezogen werden: Der erste Schultag sollte beginnen.


    Nachtrag: Ob mein früheres menschliches Ich wohl genau so gehandelt hätte?

  • 5. Eintrag: Alte Bekannte und fremde Gesichter


    In meinem früheren Leben muss ich wohl ein Langschläfer gewesen sein. Oder lag es einfach nur an der gestrigen Eskapade, dass ich heute wie ein zerkautes Bonbon aussah und mich auch ebenso fühlte? Ich nehme mir vor, zukünftig zeitiger ins Bett zu gehen.
    In echter Vatermanier begleitete mich Blanas nach Sonnenaufgang zum Schulgelände. So konnten vor Beginn der ersten Schulstunde alle Formalitäten geklärt werden. Glücklicherweise war die Angelegenheit unkompliziert und somit schnell vom Tisch. Sodachita, der Direktor der Schule, ist die Ruhe selbst, als schriller Kontrast dazu sein Lehrerkollege und Stellvertreter Kukmarda. Die aufbrausende Art des Konrektors behagt mir nicht. Ich glaube, er ist leicht reizbar. Bleibt zu hoffen, dass ich mich täusche. Alternativ bin ich auch dankbar, wenn sich der Unterricht bei ihm in Grenzen hält.
    Es ist eine recht überschaubare Klasse - mit mir zähle ich insgesamt sieben Schüler. Und wie es der Zufall will, habe ich mit fast allen bereits Bekanntschaft geschlossen. Da wären Pam-Pam, Schnuthelm und Sesokitz. Sie haben mich nach der Sache am gestrigen Tag gleich erkannt, ebenso Viscora, der auch ein Mitschüler ist. Dann sind da noch Cenra und Psiau.
    Mein erster Eindruck? Puh …! Ich bemerke hier irgendwie eine typsche Cliquenbildung. Sesokitz, Psiau und Viscora verstehen sich offenbar prächtig. Hinter den Dreien sehe ich ganz klar Sesokitz als treibende Kraft. Sie paart eine unglaubliche Charakter- und Willensstärke mit einer engen Bande zu ihren Freunden, wobei sie keinen Hehl daraus macht, bei Bedarf auch ihre Meinung laut zu verkünden. Damit ergänzt sie den eher wortkargen, zurückhaltenden und schüchternen Viscora in beinahe allen Punkten. Was Psiau betrifft … Ihre Persönlichkeit ist wirklich schwierig einzuschätzen, unergründlich will ich schon fast sagen. Sie wirkt unglaublich reif für ihr Alter, dann aber schneidet sie hin und wieder hinter dem Rücken der Lehrer Fratzen. Einige Male meinte ich, dass sie mich mit ihrem starren, nachdenklichen Blick beobachtete - ich fühle mich unwohl dabei.
    Eine kleinere Runde bilden Pam-Pam und Schnuthelm. Beide sind vom selben Schlag. Aus ihrem Mist war auch die Geschichte mit Viscoras Mutprobe gewachsen, zwei richtige Unruhestifter eben, wobei ich Pam-Pam etwas mehr in der Anführerrolle sehe. Schnuthelm wirkt eher so wie der typische Mitläufer. Manchmal glaube ich aber, dass er Sesokitz nachschaut. Ist da was zwischen den beiden im Busch?
    Und dann, ja dann ist da natürlich noch Cenra … Die Zuspätkommerin verwüstete gleich an meinem ersten Tag versehentlich das halbe Klassenzimmer und bescherte mir einen unfreiwilligen Besuch bei Ohrdoch, der Dorfärztin (sie unterrichtet anscheinend auch an der Schule). Es hat auf jeden Fall gereicht, mich für einen Großteil des Schultags auf die Bretter zu legen. Die blauen Flecke tun immer noch weh. Am Ende tat es ihr sehr leid. Ich glaube ihr. Cenra erweckt irgendwie den Eindruck einer Einzelkämpferin. Nicht, dass sie es nicht versucht, dazuzugehören: im Gegenteil. Aber es scheint, dass sie oft unglaublich aufdringlich und ungestüm sein kann, was bei ihren Klassenkameraden auf Unbehagen stößt. Zusammen mit Sesokitz, Viscora und Psiau wirkt sie wie das fünfte Rad am Wagen, und was Pam-Pam und Schnuthelm betrifft … da sitzt die Ablehnung scheinbar schon sehr tief verwurzelt. Ich habe keinen blassen Schimmer, was da in der Vergangenheit vorgefallen ist.
    So viele neue Eindrücke! Mir brummt der Kopf. Cenra hat sich als kleine Entschuldigung mit mir verabredet. Sie wolle mir einen »besonderen Ort« zeigen; heute noch. Was habe ich überhaupt in der Schule gelernt? Ich kann mich nicht erinnern … Kein gutes Zeichen. Ich werde auch weiterhin alles aufschreiben. Sicher ist sicher. Was wohl Blanas von seiner quirligen Nachbarin hält? Ich frage ihn nachher. Ist es vertretbar, wenn ich Cenra einfach so wegen ihren Eltern ausfrage? Das interessiert mich doch etwas. Vielleicht irgendwann. Zu wem fühle ich mich eigentlich zugehörig? Zu Sesokitz und den anderen? Zu Pam-Pam und Schnuthelm? Oder sogar zu Cenra? Bei den drei Freunden fühlte ich mich sehr wohl, sie sprachen gerne und viel mit mir (bislang konnte ich den Fragen über meine Person ausweichen. Wie lange noch, bleibt abzuwarten). Pam-Pam und Schnuthelm wirkten dagegen etwas säuerlich, aber mir gegenüber nicht völlig abgeneigt. Und Cenra …
    Darüber zerbreche ich mir ein anderes Mal den Kopf; ich muss an diesem Punkt hier schlussmachen, sonst komme ich zu spät!

  • 6. Eintrag: Keine Ruhe in Aussicht


    Ich bin hundemüde. Blanas schaut schon die ganze Zeit böse in meine Richtung. Ob er darüber Bescheid weiß, dass ich heute in der Schule eingenickt bin? Es ist nicht meine Schuld, dass Herr Porenta Probleme hat, seinen Unterricht interessant zu vermitteln … Ich habe mir eigentlich geschworen, zukünftig zeitiger ins Bett zu gehen, aber der Nachmittag war erneut so ereignisträchtig, dass ich mir alles unbedingt notieren muss. Eben hat Blanas gesagt, ich solle endlich das Licht löschen. Ich beeile mich besser.
    Es war das erste Mal, dass ich das Haus ohne Begleitung verließ. Ich müsste lügen, behaupte ich, dass mir keine Magenkrämpfe zu schaffen machten. Die Leute schauten mir neugierig nach, dass ich den Kopf senkte und schneller als gewöhnlich lief. Die Sonne schien unglaublich hell an diesem Nachmittag, oder bildete ich mir das nur ein? Heller als sonst? Wie hell scheint die Sonne eigentlich üblicherweise? Liegt es an meiner Transformation, dass ich die Dinge anders wahrnehme? Nur eine Täuschung? Könnte ich mich bloß erinnern!
    Jedenfalls wartete Cenra bereits auf dem Dorfplatz - und sie war nicht allein. Pam-Pam und Schnuthelm wegelagerten auch am vereinbarten Treffpunkt, beide auf Krawall gebürstet. Vielleicht hatten sie uns belauscht oder es war einfach nur purer Zufall, dass wir ausgerechnet jetzt und hier auf sie trafen; so dachte ich anfangs noch. Ihr kleiner Disput weitete sich schnell aus, denn wie ich feststellen sollte, ging es in erster Linie um mich. Es ist ein krasser Widerspruch, den ich so bei längerer Überlegung in Pam-Pam entdecke. Einerseits liebt er es offenbar, einen negativen Eindruck zu schinden, und rückt dafür seine Person gerne in ein übles Licht, ein richtiger Draufgänger und Schurke eben, dem man besser weder in die Quere kommen noch sich abgeben sollte. Andererseits scheint ihm die Meinung anderer über ihn unglaublich wichtig zu sein. Er sieht wohl in mir eine Gefahr für seinen guten Ruf (oder muss man sogar »schlechten Ruf« sagen?), weshalb er mich zu einer Mutprobe herausforderte. Der Deal: Ein Ausflug in die nahegelegene und für Kinder verbotene Rotomurf-Mine sollte beweisen, ob ich tatsächlich so ein harter Knochen wäre. Als Beleg forderte Pam-Pam außerdem eine ganz besondere Art von Stein, den man - seinen Angaben zufolge - nur im Herzen des Stollens finden könnte (woher besitzt er eigentlich dieses Wissen?). Ich willigte ein. Warum ich das tat? Jene Frage kann ich nicht einmal mir selbst beantworten, auch jetzt noch nicht. Vielleicht sind es so die ersten Anzeichen meiner eigenen Charaktermerkmale, die endlich durchsickern und nach denen ich so verzweifelt suche. Ja, womöglich versuchte ich mich in dieser Entscheidung, einfach selbst kennenzulernen. Wer ich bin. Warum ich bin. Und was ich kann. Cenras Motive dagegen, mir bei dieser Aufgabe unbedingt zur Seite stehen zu wollen, wabern genau so schummrig durch den Nebel offener Fragen. Sie erweckte mir eher den Eindruck, als fände sie in besagter Mutprobe ein willkommenes Abenteuer. Sei es, wie es sei: Beide zankten so lange, bis endlich Pam-Pam klein bei gab und einwilligte, dass Cenra mich ausnahmsweise begleiten dürfe.
    Während des Schichtwechsels stahlen wir uns heimlich in die Mine. Ich empfinde es doch sehr bedenklich, wie wenig mir das schummrige Licht und der markante feucht-modrige Geruch unter Tage zu schaffen machte; fast so, als wäre es das alles hier irgendwie in den Tiefen meines Unterbewusstseins verankert. Wäre das möglich? Ist das ein Teil meiner Vergangenheit? Das lässt mir keine Ruhe … Cenra bewies währenddessen hoch anzurechnende Führungsqualitäten. Mit beeindruckender Leichtigkeit navigierte sie uns durch die verworrenen Gänge. Als es dann allerdings wirklich darauf ankam, nämlich, als uns ein wachsamer Minenarbeiter erspähte und zur Rede stellte, trat in meiner Begleitung wieder der unüberlegte, kindische Wirbelwind mit dem losen Mundwerk hervor. Der Bergmann war am Ende von ihren Gehirnkapriolen so perplex, dass er uns völlig überfordert ziehen ließ.
    Wie sich irgendwann herausstellte - das Zeitgefühl hatte mich zu diesem Zeitpunkt längst verlassen -, beherbergte der Stollen nicht nur schuftende Kumpel, sondern auch ein Pokémon namens Knarksel. Selbiger - seines Zeichens Herr dieser Mine - interpretierte die bloße Anwesenheit von uns mit einem gewaltsamen Eindringen in sein Revier. Nur mit viel Überredungskunst … Ach, was erzähle ich da: Er ließ erst gar nicht mit sich reden! Stattdessen ging er mit gewetzten Klauen sofort auf uns los. Cenra und ich landeten einige Treffer - Glückstreffer, will ich schon fast meinen. Mit Blanas an der Seite musste ich bereits kleinere Auseinandersetzungen bestreiten, aber das hier war anders, völlig anders. Und dennoch: Der Nervenkitzel, die Hitze des Kampfes, die Intuition im entscheidenden Moment zu handeln - all das setzte sich wie ein Puzzle in meinem Kopf zusammen, das ich in alten Tagen zigmal gelöst hatte. Oder ist es das, was man »Instinkt« nennt? Sind diese Eigenschaften, ohne es zu wissen, tief in mir, in diesem Körper verankert? Der Fragenkatalog wird größer und größer …
    Als wir, Cenra, Knarksel und ich, am Ende keuchend und erschöpft auf dem Boden lagen, bekamen wir endlich Gelegenheit, uns zu erklären. Hinzu eilten noch die Arbeiter der Mine. Nach etlicher Unterredung stellte sich heraus, dass Knarksel die Ausgrabungsstelle schon lange vor den Schürfarbeiten bewohnt und auf beiden Seiten ein Kompromiss vereinbart worden war, dass die Ausgrabungen fortgesetzt werden dürften, solange dabei Knarksels Privatsphäre nicht missachtet würde. Auch wir respektierten das und bekamen als Zeichen eines persönlichen Dankeschöns einen Blick auf Knarksels angesammelten Reichtümer zu Gesicht, worunter sich auch die von Pam-Pam geforderten Steine befanden.
    Wir ließen Pam-Pam bei unserer Heimkehr mit dem der Zusicherung zurück, dass wir es in das Herz der Mine geschafft hatten, aber Knarksels Eigentum achteten und deshalb den Erfolg nicht belegen konnten. Cenra und ich hatten das abgesprochen und waren diesbezüglich schnell einer Meinung. Es musste dem aufgeblähten Auftraggeber einfach reichen. Und auch sonst war es uns trotzdem piepegal.
    Für Cenras »ganz besonderen Ort« hatte es leider nicht mehr gereicht, aber das wollen wir morgen nachholen. Ich freue mich schon. Dieses kleine Abenteuer hatte uns zusammengeschweißt. Ob Pam-Pam wusste, was uns im Herzen des Bergwerks erwarten würde? Ich sollte ihn wohl besser im Auge behalten … Heute Nacht werde ich bestimmt von den verworrenen Gängen der Rotomurf-Mine träumen. Ich hoffe, ich finde wenigstens ein bisschen Ruhe.

  • 7. Eintrag: Nachforschungen und ein Herzenswunsch


    Ich hatte es befürchtet, am nächsten Tag kaum ausgeruht zu sein, und ich behielt leider recht. Auch das kräftige Frühstück wollte meine Lebensgeister nicht wirklich wecken. Nur mit viel Überwindung hielt ich dem unwiderstehlichen Drang, im Unterricht die Augen auszuruhen, stand. Die Kinder schwärmen von den baldigen Sommerferien. Mir kommt es vor, als steigen die Temperaturen täglich. Lange wird es also wohl nicht mehr dauern, bis die Ferien beginnen. Die Muskeln tun mir noch weh. Wahrscheinlich eine Begleiterscheinung des gestrigen Ausflugs. Auch Blanas hatte nach dem Aufwachen meinen desolaten Zustand bemerkt. Er meinte, er sehe blass aus, weshalb er mich heute Abend persönlich ins Bett bringen will. Ich komme mir wie ein Kleinkind vor … Möglicherweise aber stimmt es: Vielleicht brauche einfach nur mehr Schlaf.
    Bis zu der Verabredung mit Cenra an ihrem »besonderen Ort« hatte ich nach der Schule noch etwas Zeit. Ich vermied es, auch nur irgendeinem von meinen Plänen zu berichten, schon gar nicht Pam-Pam oder Schnuthelm. Zwar waren weitere Zwischenfälle während des Unterrichts mit ihnen ausgefallen, außerdem stellte ich heute irgendwie eine frostige Distanz fest, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Ich brauchte unbedingt etwas Zeit; Zeit für mich.
    Über Zufälle fand ich Kenntnisse darüber, dass Ruhenau eine Bibliothek verfügt. Wo wenn nicht an einem derartigen Hort des Wissens wäre ein guter Ort, um auf eigene Faust Erkundungen zu den Rätseln dieser Welt anzustellen. Parallelen, Zusammenhänge, Gemeinsam- oder Ähnlichkeiten, irgendetwas eben, auf das die Ereignisse der letzten Tage zurückzuführen sind. Auf solche Informationen war ich aus. Die unzähligen Wälzer bürdeten mir mit schweigsamer Mine eine erdrückende Last auf. Wo sollte ich nur beginnen? Diese Frage war ein Fiebertraum, der mein Gesicht in abwechselnden frostigen und feurigen Wellen befiel, während ich durch die langen Gänge der Bücherei irrte. Wahllos griff ich mir irgendwann Bücher, von jedweden Regalen, groß und klein, dick und dünn, und begann zu lesen.
    Es ist seltsam: Bei allem, was mir in den letzten Tagen passiert ist, meine Transformation, die Flucht vor den Megalon, die Sorge von der Gemeinschaft in Ruhenau ausgeschlossen zu werden, der Kampf gegen Knarksel in der Rotomurf-Mine … Nichts von alledem ängstigte mich so sehr wie das, was ich in den Wälzern zu lesen bekam. Dabei war es noch nicht einmal der Inhalt, sondern der bloße Umstand, dass ich die seltsamen Symbole tatsächlich entziffern konnte! Alle Bücher waren in dieser mir eigentlich völlig fremden Sprache aufgesetzt, und obwohl ich fester Überzeugung bin, sie niemals gelernt zu haben, vermag ich sie trotzdem problemlos zu dechiffrieren. Was ist hier los? Bin ich vielleicht doch nicht das, wovon ich ausgehe, es zu sein? Ein Mensch? Ist es womöglich nur ein absurder Traum? Ein Hirngespinst? Eine Wahnvorstellung? Bin ich deswegen zu all den Leistungen der vergangenen Tage in der Lage? Bin und war ich tatsächlich schon immer … ein Pokémon? Nein! Ich bin mir sicher. Ich fühle es in den Eingeweiden. Dies ist nicht meine richtige Gestalt, nicht mein eigener Körper, nicht mein wahres Ich.
    Und wieder fehlte mir die Zeit, denn das Treffen mit Cenra stand vor der Tür. Teufel noch eins! Auch wenn dieser Ausflug in die Bibliothek mir nur weitere Fragen aufbürdete statt das Gewissen zu entlasten, nehme ich mir vor, schon morgen wiederzukommen. Ich muss weiterforschen …
    Cenra wartete bereits sehnsüchtig am Dorfplatz auf mich. Kein Pam-Pam, kein Schnuthelm - diesmal waren wir ganz unter uns. Ich las eine Spur von Erstaunen aus ihren Gesichtszügen ab. Hatte sie etwa nicht mit mir gerechnet? Trotz Vereinbarung? Es kam mir jedenfalls so vor. Was muss es wohl für ein Gefühl sein, in einem Leben bereits so oft mit Enttäuschung bestraft zu werden, dass man die Aufrichtigkeit in seinem Nächsten anzweifelt?
    Knapp zehn Minuten trennten uns vom Dorfplatz zu dem »besonderen Ort«. Wie sich herausstellte, war mit ihm ein Hügel an Ruhenaus südlicher Peripherie gemeint. Noch zu Beginn verteufelte ich Cenra im Geiste; aber viel mehr mich selbst. Auf was hatte ich gehofft? Einen Topf voller Gold am Ende des Regenbogens? Einen Ort, der alle Fragen mit einem Schlag beantwortete? Keineswegs. Nur etwas … spektakuläreres als einer buckeligen Ansammlung von Grün hatte ich schon erwartet. Ein Blick ins Tal jedoch ließ mich innerlich verstummen. Sicher: Es ist nicht gerade üppig, was dieses Fleckchen anbietet, keine Fülle an Dingen und erst recht blieben meine offenen Fragen unbeantwortet. Umso kostbarer empfand ich allerdings das Verbliebene: Die Stille, die Atmosphäre, das beeindruckende Panorama. Es schmeichelte das müde Auge und balsamierte die krankende Seele. In jenem Moment, als ich der Schwerkraft entsagte und einfach so ins Gras fiel, konnte der Himmel über dem Kopf zusammenbrechen - es wäre mir egal. Es war so banal, so simpel, und besaß trotzdem eine solch ungeheure Wirkung auf mich, dass ich alles rund herum auszublenden vermochte, all meine Sorgen, all meine Gedanken, all meine Fragen.
    Cenra und und unterhielten uns noch eine ganze Weile. Die meiste Zeit redete sie. Über sich. Ihre Wünsche. Ihre Hoffnungen. Dass sie eines Tages in die Welt ausziehen möchte, um eine stadtbekannte Forscherin zu werden. Ist sie auf Ruhm aus? Auf Anerkennung? Oder will sie den Leuten einfach nur helfen? Vielleicht von jedem ein bisschen, denke ich. Ich versäumte es, weiter darauf einzugehen. Ich setze es auf die Liste offener Fragen.
    Obwohl ich einmal mehr keine Antworten über mich in Erfahrung bringen konnte, bin ich mit dem Tagwerk rundrum zufrieden. Die Bücherei wird morgen auch noch da sein. Und ist es nicht sogar besser, dass ich in der Lage bin, die Schriftzeichen zu entziffern? Das sollte nun wirklich nicht meine Sorge sein - für den Moment. Vor allem begreife ich aber, was Cenra in ihrem besonderen Ort sieht. Vielleicht gehe ich morgen wieder hin.

  • 8. Eintrag: Zu Gast bei Freunden


    Blanas überraschte mich mit der Nachricht, er sei für ein paar Tage außer Haus. »Geschäftliches«, teilte er mir mit. Ich ging nicht weiter darauf ein. Irgendwie muss er ja seine Brötchen verdienen. Erst nachdem ich ihm hoch und heilig versichert hatte, ja keine Dummheiten anzustellen, verabschiedete er sich von mir. Es ist lästig, immer wieder daran erinnert zu werden, ein Kind zu sein. Ich kann sehr wohl mein Schicksal in eigene Hände legen, und seien diese auch noch so klein. Irgendwie finde ich schon meinen Weg. Blanas ließ mir etwas Geld zurück. Am Hungertuch muss ich also nicht nagen.
    Seit Tagen fühle ich mich endlich ein wenig fitter als sonst. Ein gutes Zeichen? Wahrscheinlich nur die positive Folge von etwas mehr Schlaf. Ich habe keine Einwände. Ob Blanas in einem anderen Fall ebenfalls losgezogen wäre? Wer weiß? Ich betrachte dieses Wissen aber als entbehrlich. Außerdem muss ich nicht bemuttert werden.
    Pam-Pam und Cenra haben sich in der Schule wieder gezankt. Ihr kleiner Disput handelte von Cenras Wunsch, eines Tages dem Forscherteam in Trubelstadt beizutreten. Pam-Pam entwaffnete meine sonst so schlagfertige Nachbarin mit niederschmetternden Argumenten, und an Spott sparte er auch nicht. Schlimmer: Er profilierte sich regelrecht in der Öffentlichkeit mit seiner Meinung. Vielleicht hat er ja recht, und ja, vielleicht gibt es einen triftigen Grund, warum Kinder dieser Truppe von Haudegen und Weltenbummlern beitreten dürfen, wer allerdings hat bitteschön Pam-Pam zum Richter und Henker gemacht? Ich finde, wenn man sich in etwas fest reinkniet, sollte man am Ende belohnt werden. Cenra wird es bestimmt schaffen, ihren Traum irgendwann auszuleben. An Willen mangelt es ihr jedenfalls nicht. Ich fand einige tröstenden Worte, im Grunde aber überflüssig, denn meine Nachbarin war zu diesem Zeitpunkt wieder oben auf. Verblüffend. Oder vielleicht eher schräg? Ich weiß nicht … Während unserer Unterhaltung sickerte hindurch, dass ich die nächsten Tage sturmfrei habe. Cenra bot mir an, die kommende Nacht in ihrem Haus zu verbringen, von wo aus ich auch just diese Zeilen schreibe. Überflüssig also, dass ich erwähne, dass ich ihr Angebot angenommen habe.
    Wir haben gerade gegessen. Es war der erste Zeitpunkt, Cenras Familie - ich nenne sie einfach mal so - kennenzulernen. Karippas, Cenras Großvater und scheinbar einzige Bezugsperson, ist mir ein bekanntes Gesicht von der Straße. Bislang hatte ich allerdings noch keine Gelegenheit, ihn anzusprechen, beziehungsweise fand nie einen triftigen Anlass dazu, der eine Unterhaltung rechtfertigte. Karippas strenge Tugend bildet einen heftigen Widerspruch zu dem ungestümen Wesen seiner Enkelin. Überhaupt wirkt ihre ganze Beziehung zueinander wie ein unstetiges Gewässer auf mich; mal rau mit hohen Wellen, mal so tief wie die Liebe, die sie zusammenschweißt. Eine in jeder Hinsicht seltsame Paarung. In diesem Haus wird es bestimmt selten langweilig.
    Wieder versäumte ich die Gelegenheit, Cenra bezüglich ihrer Eltern zu befragen. Wie lange werde ich es noch hinauszögern? Wie wird sie reagieren? Und wie ich? Was, wenn die Frage bleibende Spuren auf unserer Freundschaft hinterlässt? Narben, die niemals mehr verheilen? Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken …
    Karippas schickt uns früh ins Bett. Ich schlafe direkt neben Cenra. Gerade stellte sie die Frage, was ich die ganze Zeit treibe. Sie lachte, als ich ihr sagte, ich schreibe ein Tagebuch. Sie findet es komisch, aber auch interessant. Lange werde ich ihren Nachforschungen über mich bestimmt nicht mehr aus dem Weg gehen können. In der Schule musste ich bereits zweimal die Wahrheit zu meiner Vergangenheit zurechtbiegen. Ich fürchte den Moment, an dem ich mich in aller Öffentlichkeit in Widersprüche verstricke und meine wahre Identität offengelegt wird. Wie werden sie reagieren? Cenra? Die Kinder in der Schule? Die Dorfbewohner? Ob sie mir glauben so wie Blanas? Oder in mir einfach nur einen Spinner sehen? Jagen sie mich vielleicht sogar aus dem Dorf? Vorsorglich schlafe ich wohl heute besser mit dem Kopf auf dem Tagebuch. Ich bin noch nicht soweit. Noch nicht …

  • 9. Eintrag: Spektakuläres Unspektakuläres

    Die Bibliothek gibt wenig Interessantes her, davon aber eine Menge. Wer hätte ahnen können, dass man sich tatsächlich zwischen all den Informationen langweilen kann? Mir jedenfalls geht es so. Zugegeben: Wäre ich auf einfache Unterhaltung aus oder betriebe Nachforschungen für ein Schulprojekt, käme ich voll auf meine Kosten. Darauf allerdings bin ich eben nicht aus … Mir brummt schon der Schädel vom vielen Lesen. Und Muskelkater habe ich auch noch - vom Bücherschleppen. Trotzdem setze ich die Suche fort. Irgendwo hier, das spüre ich, wartet die Antwort.
    Es scheint so, als klinge das Interesse der Öffentlichkeit an mir langsam etwas ab, zumindest fühle ich mich weniger beobachtet, wenn ich über den Dorfplatz wandere. Allerdings fürchte ich, den Ruf des Neuen nicht allzu schnell völlig loszuwerden. Ruhenau ist nur ein kleiner Ort ohne viel Fremdenverkehr. Ein richtig verschlafenes Nest eben. Jeder kennt jeden. Neuigkeiten sind rar und sprechen sich in Windeseile herum. Und da bin wohl ich im Moment immer noch ein willkommener Anlass zur Unterhaltung. Mehr Rechtfertigung brauchen die Leute nicht, um die Köpfe zusammenzustecken, wenn mal wieder akute Langeweile kursiert. Was soll’s …
    Blanas ließ mich in Unkenntnis darüber, wie lange er weg sei. »Ein paar Tage«, meinte er, genauere Angaben konnte er keine machen. Heute musste ich die Vorratskammer vorsorglich etwas auffüllen. Im Nachhinein glaube ich, der Händler hat mir meine Arglosigkeit ausgenutzt und mir zu viel für die Lebensmittel berechnet. Halsabschneider! Während den Besorgungen begegneten mir einige bekannte Gesichter. Karippas teilte mir beiläufig mit, seine Enkelin habe für die nächsten zwei Tage Hausarrest, weil sie verbotenerweise von den jungen Sinelbeeren im Garten naschte. Wahrscheinlich hat Cenra aus diesem Grund vorhin schleunigst Fersengeld gegeben. Eine weitere Übernachtung fällt damit erst einmal ins Wasser - leider. Schnuthelm und Sesokitz schlenderten über den Dorfplatz. Sie grüßten mich, sogar alle beide. Kaum zu glauben, wie gesellig der Unruhestifter sein kann, wenn sein Compagnon nicht zu sehen ist. Bin ich deshalb eine schlechte Person, weil ich die Wahrheit gestreckt und Pam-Pam den Aufenthaltsort seines besten Freundes verschwiegen habe? Tatsächlich empfand ich diese … Retourkutsche überraschend befriedigend, gleichwohl dass ich im Nachhinein etwas mit meinem Gewissen zu kämpfen hatte.
    Ohne Blanas fühlt sich das Haus gleich doppelt so groß an; irgendwie leer. Ich vermisse ihn, obwohl mir seine Art, in mir nur einen kleinen, unbedarften Jungen zu sehen, erheblich aufstößt. Cenra muss es ähnlich gehen, weswegen sie sich der Welt beweisen will. Wir sind gar nicht so verschieden, Cenra und ich, auch wenn auf eine ziemlich verschrobene Art und Weise.

  • 10. Eintrag: Späte Reue


    Cenra bläst schweres Trübsal. Und ich trage eine gewisse Mitschuld daran. Anlass dazu ist der heutige Feldunterricht in der Schule. Wir wurden in zwei Dreiergruppen aufgeteilt. Gruppe eins: Pam-Pam, Schnuthelm und Sesokitz. Gruppe zwei: Cenra, ich und Viscora. Psiau setzte aus, beziehungsweise fungierte bei dieser Aufgabe mittels ihrer telepathischen Fähigkeiten als Sprechrohr und Geleit aus der Ferne. Das Ziel bestand darin, den Wald hinter der Schule zu durchqueren. Klingt simpel. Was uns allerdings verschwiegen wurde: Einige Dorfbewohner bekamen den Auftrag, uns auf der Exkursion das Leben schwerzumachen; nicht ernsthaft, versteht sich. Kleinere Scharmützel. Genug, um uns auf Trab zu halten. Beiden Teams versicherte man, dass die zwei vorgegebenen Pfade dieselbe Länge besäßen. Weder Hetzen noch Einschlafen und natürlich Teamwork lautete die Devise. Damit war alles Wichtige gesagt. Kein weiterer Abschiedsgruß oder Tipps. Kurz vor Beginn schlug eine Reiberei in der zweiten Gruppe hohe Wellen, denn Sesokitz - mit ihrem Los nicht wirklich einverstanden - verlangte eine Neuverteilung. Lehrer Porenta jedoch blieb eisern. Wir sahen uns aufgrund der Unstimmigkeiten im Vorteil, fast will ich behaupten, sogar bereits als Sieger. Wie wir uns irren sollten …
    Cenra führte, wir folgten. Ohne Fragen zu stellen. Denn dafür bekamen wir überhaupt keine Gelegenheit. Schwer zu sagen, ob wir mehr Probleme hatten, mit Cenras Elan oder mit ihr selbst Schritt zu halten. Meine Nachbarin war zu einer Anführerin geworden, einer Fackelträgerin, auf dessen Docht dasselbe Feuer brannte, mit dem sie schon den Weg auf der Expedition durch die Rotomurf-Mine erleuchtet hatte. Sie witterte in dieser Aufgabe ein Abenteuer, Erfolg, eine Chance sich zu beweisen. Ihre ungestüme Resolution prallte dabei so heftig auf die Dorfbewohner, die eigentlich uns das Leben schwermachen sollten, wie auf die Interessen des restlichen Teams. Ich weiß nicht mehr, wann es geschah … Viscora war bereits von Anfang an deutlich mit dem Tempo überfordert. Mehrfach hatte er um eine Verschnaufpause gebeten. Wir realisierten es zu spät. Auf einmal war er weg. Verschwunden. Wo wir gerade die Ziellinie überquert hatten. Wir haderten damit, Viscora einfach so seinem Schicksal überlassen zu haben, doch die Einsicht kam leider reichlich verspätet. Was war der Preis dieses Triumphs? Viscora: verschollen. Wir: total am Ende. Und ein Weg, der mit kompromisslos verdroschenen Dorfbewohnern übersät war. Mit welchem Recht konnten wir uns da »Sieger« nennen? Nein, so fühlte sich kein Sieg an. Es stank nach Niederlage.
    Gruppe zwei traf etwa fünf Minuten später ein. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir ungefähr die halbe Gardinenpredigt von Herr Porenta hinter uns. »Ein unverantwortliches Betragen!« klang von allen aufgetischten Zurechtweisungen noch ziemlich am harmlosesten. Das aber war nichts im Vergleich zu Pam-Pams Spott und der Schelte, die wir uns von Sesokitz, Viscoras bester Freundin, anhören durften. Die hatte Feuer! Im Gegensatz dazu konnte man mit Cenras Elan plötzlich keine Tasse Tee mehr warm machen. Sie war desillusioniert. Am Ende. Ein Wrack. Sie wollte so viel erreichen und hatte mit einem Schlag alles verloren. Wie ein roter Faden spannte sich die gedrückte Stimmung durch den verbliebenen Tag. Wir gabelten Viscora nach etwa einer Stunde auf, ebenfalls mit den Nerven völlig runter. Er schien weniger sauer auf uns als auf sich selbst zu sein. Er fand sogar Worte zur Entschuldigung, bevor wir sie aussprechen konnten. Für Cenra war das allerdings nur ein schwacher Trost. Auch dass Sesokitz etwas Einsicht zeigte, und sich letzten Endes für ihr aufbrausendes Temperament entschuldigte, rückte unsere Gewissen in kein helleres Licht. Und die Erleichterung über Viscoras Unversehrtheit war nur eine laue Brise, die die dunklen Gewitterwolken nicht zu vertreiben vermochte.
    Cenra konfrontierte mich auf dem Nachhauseweg (sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinen Ton verlauten lassen) mit der unangenehmen Frage, ob ich sie ebenfalls für einen Problemfall halte. Es war schwierig, darauf eine Antwort zu finden, die zum gleichen Teil ehrlich als auch nicht kränkend war; so schwierig, dass ich lange mit kreiselnden Gedanken zögerte. Mein Schweigen sprach wohl Bände und machte alles nur noch schlimmer. Unter feuchten Tränen gelobte Cenra Verbesserung und entschuldigte sich mehrfach dafür, so eine Nervensäge zu sein und zukünftig mehr Rücksicht auf ihr Umfeld zu nehmen. Und dann, ja dann … ließ sie mich zurück. Ohne ein Wort des Abschieds. Ich war baff, und bin es nach wie vor. Was hätte ich sagen sollen? »Cenra, du bist mir eine gute Freundin. Ich kann dich gut leiden. Ich schätze deine ehrliche Art.« Vielleicht das. Aber der restlichen Wahrheit lässt sich einfach kein Riegel vorschieben. Dass sie eine Gabe besitzt, das Unheil magnetisch anzuziehen. Dass sie stets mit der Tür ins Haus fällt. Dass sie die Konsequenzen nicht bedenkt. Alles andere wäre gelogen. Ich denke, auch sie weiß das. Warum also fühle ich mich dann nur so schlecht …?

  • 11. Eintrag: Allein

    In den vergangenen Tagen war ich auf dem Schulweg immer in Begleitung. Heute nicht. Karippas meinte, Cenra sei seit den gestrigen Vorfällen ungewöhnlich still. Er schien zwar etwas besorgt, war aber noch Welten davon entfernt, tatsächlich beunruhigt zu sein. Er betrachtet es wohl nur als eine Art Phase, nicht mehr, sieht es womöglich sogar positiv: Cenra hatte das Haus ausnahmsweise pünktlich verlassen. Allein. Auch im Unterricht meidet sie den Kontakt. Zu allen. Sie schirmt sich regelrecht von der Außenwelt ab. Sucht sie die Abgeschiedenheit? Geht sie mir deshalb gezielt aus dem Weg? Zeit für sich selbst? Auf der Suche nach Antworten? Kommt mir bekannt vor … Warum also fällt es mir so schwer, das zu akzeptieren? Weil ich auch … einsam bin? Vielleicht. Es klingt komisch, aber ohne Blanas habe ich eigentlich nur noch Cenra. Und mit ihrer Distanz fühle ich mich ganz allein; allein auf großer Fahrt.
    Sesokitz lud mich auf dem Nachhauseweg auf einen kleinen Plausch ein. Es fühlte sich gut an, mit jemandem zu sprechen. Über mich. Meine Gefühle. Wie es in mir drin aussieht. Noch besser, dass sie mir tatsächlich zuhörte. Auch ihr ist Cenras Distanz aufgefallen. Sie meinte, das lege sich bald wieder. Solche Eskapaden gäbe es in der Vergangenheit zuhauf. Und Sesokitz brachte Verständnis auf, für meine und Cenras Gefühle. Sie lächelt, zwinkerte mir zu. Wie schafft sie es nur, so einfühlsam und gleichzeitig so souverän zu sein? Das Mädchen ist tough!
    Es sieht verdächtig nach Regen aus. Die Abkühlung käme mir gelegen. Es ist so ungewöhnlich warm … Wo wohl Blanas steckt? Was ist mit den Megalon? Haben sie ihre Suche aufgegeben? Oder mein Versteck insgeheim ausfindig gemacht? Ziehen sie vielleicht sogar ihren Kreis gerade in diesem Moment enger? Ich denke wieder zu viel nach. Ich muss weniger Zeit in der Bücherei verbringen. Ich brauche Schlaf.

  • 12. Eintrag: Triste Tage

    Es regnet immer noch. Die Wolken kamen von Osten zu uns, landeinwärts gerichtet. Die Leute sagen aus der Richtung, wo Trubelstadt liege. Cenra hatte mal beiläufig erwähnt, das Forschungsteam habe dort ihre Operationsbasis. Eines Tages wolle sie dahin und ein Mitglied werden. Ich frage mich, was sie gerade treibt …
    Ein Wetterumschwung ist nicht in Sicht. Die Schule fiel deswegen heute sogar aus; buchstäblich ins Wasser. Ich verbrachte fast die ganze Zeit in der Bücherei. Eigentlich hatte ich es doch lockerer angehen wollen … Es vergeht kein Tag, an dem ich mir andere Ziele setze. Dian, rede ich mir zu, misch dich unter die Leute. Hab zur Abwechslung ausnahmsweise mal Spaß. Wieso fällt mir das so schwer? Stattdessen saß ich schon wieder hier, umzingelt von Büchern, Gefangener der eigenen Sturheit. Heute aber war ich nicht allein. Psiau hatte ebenfalls etwas in der Bücherei zu erledigen. Ich war so verzweifelt, dachte an keine Konsequenzen, winkte sie einfach zu mir. Psiau war mein Rettungsboot herunter von dieser tristen Insel im Meer der Einsamkeit und gleichzeitig der Stein, der mich in dunkle Untiefen hinabziehen sollte. Ein zweischneidiges Schwert, in das ich freiwillig hineingelaufen war. Unscheinbar und tödlich. Natürlich zeigte sie Interesse dafür, was ich hier treibe. Konnte ich ihr ihre Neugierde verübeln? Steckte ich in ihrer Haut: Ich hätte wohl nicht anders gehandelt. Der Unterschied bestand in Psiaus unangenehmer Art, durch ihren Gesprächspartner hindurchzuschauen, als würde sie ihn röntgen. Besagtes Gefühl vermittelte mir meine Klassenkameradin im Gespräch: Als ob sie durch den Schleier von Halbwahrheiten und Ausflüchten direkt in meine Seele blickte. Sie ist mit einem scharfen Intellekt bewaffnet. Ihr Art, mich auszufragen, grenzte an ein Verhör. Was ich hier täte, warum ich ausgerechnet diese Art von Bücher lese, dass sie mich schon einige Male beobachtet habe, wie ich in die Bibliothek ginge. Sie war energisch, aber nicht aufdringlich, trotzdem unangenehm. Am Ende konnte ich noch einmal den Hals aus der Schlinge ziehen. Vorerst. Allerdings glaube ich, dass sie meine Aufrichtigkeit insgeheim anzweifelt. Könnte ich nur hinter ihre starren Augen schauen …!
    Alles in allem war ihre Anwesenheit mir dennoch ein willkommener Zeitvertreib. Als wir das Thema Dian endlich hinter uns gelassen hatten, griffen wir andere Dinge auf. Die Schule, das Dorf, was so in der Welt vorgeht und ein wenig sogar über Psiau selbst. Wie sich herausstellte, ist sie eine Vollwaise. Cenra hat noch ihren Großvater, Psiau allerdings … sie hat niemanden. Nachbarn und Freunde der Familie stärken ihr den Rücken, sind immer zur Stelle, wenn sie Kummer hat, aber seit sie zurückdenken kann, steht sie auf eigenen Beinen. Ich wollte nicht tiefer graben, keine alten Wunden zum Vorschein bringen. Es reicht zu wissen, wie es ist; ähnlich wie bei Cenra, denke ich.
    Psiau stellt für morgen besseres Wetter in Aussicht. Ich sollte endlich mal aus dieser muffigen Bibliothek ausbrechen. Ich nehme es mir vor. Am Ende aber glaube ich, nur wieder hier zu landen. Abwarten …

  • 13. Eintrag: Gute Nachrichten

    Blanas ist zurück! Unsere Wege trafen auf dem Nachhauseweg von der Schule aufeinander. Zum Glück bin ich nicht zuerst in die Bibliothek gegangen, sonst hätte ich womöglich den lieben langen Tag dort verbracht. Ich fiel ihm um den Hals, so wie ein Sohn seinen Vater umarmt. Ich bin so froh, dass er wieder da ist und dass er unversehrt ist!
    Oh ja, wir redeten! Den ganzen verbliebenen Nachmittag bis in den späten Abend hinein. Über alles, was in den letzten Tagen geschehen ist. Die meiste Zeit sprach ich. Es waren dieselben Themen, die ich bereits zuvor mit Sesokitz und mit Psiau besprochen hatte: Was mir so auf der Seele brannt, wie zerrüttet es in mir drin aussieht … und wie einsam. Bei Blanas fühlte es sich allerdings an, als ob es mir zum ersten Mal wirklich etwas bedeutete, dass mir jemand zuhörte. Sesokitz und Psiau können eben eine Vaterfigur nicht völlig ersetzen, die einmal mehr unendlichen Verständnis für einfach alles aufbrachte, das mich belastete.
    Blanas kann sich auch keinen Reim daraus machen, warum ich so tiefgründige Kenntnisse über die Pokémon-Orthographie besitze. Er findet dies allerdings weitaus weniger bedenklich als die Tatsache, dass ich in den letzten Tagen kaum etwas anderes mit meiner Freizeit angefangen habe. Natürlich unterstütze er mich auf Suche nach Antworten; obendrein war seine erste Frage, ob ich mich an irgendetwas erinnern könne. Jedoch besser nichts überstürzen und dem Lauf der Dinge lieber mehr Zeit einräumen, anstatt mutwillig etwas zu erzwingen. Dasselbe gilt in auch im Bezug auf Cenra, meinte er. Dummerweise hat sich die ganze Geschichte heute nur noch verschlimmert: Bei einem weiteren Feldunterricht teilte man diesmal ausgerechnet Cenra, Pam-Pam und Viscora in eine Gruppe ein. Es war ein Desaster. Mittlerweile weiß ich schon gar nicht, wer mir mehr leidtun soll: Cenra oder Viscora. Mit was hat er nur so eine Pechsträhne verdient …?
    Von Blanas gibt es weitaus weniger zu berichten, beziehungsweise machte er keinen großen Wind aus seiner Abwesenheit. Er war bei einigen Freunden in Trubelstadt zu Besuch. Die Reise hin und zurück nahm zwei Tage in Anspruch. Es wunderte mich daher nicht, dass er so lange weg war. Ich respektiere das, stellte deswegen keine weiteren Fragen. Na ja, fast. Etwas hakte ich dann doch nach, ob er irgendetwas von den Megalon gehört habe. Auch hier gibt es wenig Neues zu berichten. Ist das gut oder schlecht? So oder so bereitet mir das Thema nach wie vor Kopfzerbrechen.
    Blanas scheint besorgt darüber, dass meine Schulkameraden mich mit Fragen über meine Vergangenheit löchern. Wir wollen morgen unsere Köpfe zusammenstecken und eine Geschichte zusammenreimen. Damit habe ich endlich auch mal eine vernünftige Ausrede, von der Bücherei fernzubleiben.

  • 14. Eintrag: Ein Wort zuviel


    Ich habe es vermasselt. Ausgerechnet heute, wo Blanas und ich doch Pläne für eine glaubwürdige Geschichte zu meiner Vergangenheit schmieden wollten … Was hat mich nur dazu geritten, auf Pam-Pams Provokationen hereinzufallen? Warum konnte ich nur nicht die Klappe halten? Alles, wirklich alles hätte ich ihnen in dem Moment auftischen können: Dass ich aus einem Zirkus ausgebrochen bin, ich vom Himmel gefallen bin, ich ein Märchenprinz fern der Heimat auf einer rastlosen Wanderschaft nach wahrer Liebe bin, und dabei einfach nur ein verschmitztes Lächeln aufsetzen müssen. Bestimmt hätte jeder darüber gelacht und alle hätten daraufhin ihr eigenes Seemannsgarn gesponnen. Jetzt ist es zu spät. Die ganze Klasse hat zugehört, sogar einige Lehrer. Dian, du Maulheld! Du Mensch.
    Die Kinder betrachteten mich, als sei ich nicht von dieser Welt, ein Fremdkörper, inmitten ihren Reihen. Seltsam: Genau so fühlte ich mich in den ersten Tagen nach meiner Ankunft in Ruhenau. Die Lüge zu leben, hat mir das Gefühl gegeben, dazuzugehören. Sie ließ mich fast vergessen, wer ich eigentlich bin, wer ich tatsächlich bin. Vielleicht war es am Ende gut so, dass sie ihren Dian lediglich als »Lügner« und »Einfaltspinsel« gebrandmarkt haben. Jetzt können sie glauben, was sie wollen. Und ich wusste wieder, was ich zu tun hatte.
    Sich für den Rest des Tages vor der Außenwelt zu isolieren, betrachtete ich noch während des restlichen Unterrichts als einzigen Silberstreifen am Horizont. Bücher besitzen keine Vorurteile. Sie zeigen nicht mit dem Finger auf einen, sondern nehmen mich so hin, wie ich bin. Mein persönliches Portal in eine heile, unberührte Welt. Mit Ablauf der Galgenfrist aber schmolz das wohldurchdachte Vorhaben wie Butter in der prallen Mittagssonne. Auf halbem Weg kam ich zur Einsicht: Ich hatte es satt. Das ganze Versteckspiel. Diese ewige Sucherei ohne Hoffnung auf Erfolg. Und weiterhin eine Lüge zu leben. All das. Ich hasste es.
    Den verbliebenen Tag verbrachte ich auf dem Dorfplatz. Ich war nicht mehr Dian, der distanzierte Eigenbrötler, sondern Dian, der nette, unschuldige Junge von nebenan. Aufgeschlossen. Maskenlos. Gewillt, von meiner Vergangenheit zu erzählen, wer auch immer davon hören wollte. Das flaue Gefühl in der Magengegend glich dabei einem gefährlich rumorenden Vulkan, der aber glücklicherweise nicht ausbrach. Dafür sorgten die gepflegten Unterhaltungen bis in die späten Abendstunden hinein. Ich lernte viele neue Leute kennen, die ich bislang nur vom Sehen her kannte. Ursaring und dessen Sohn Teddiursa zum Beispiel: Der Kleine hadert etwas damit, wenn er erst einmal groß ist, zu sehr nach seinem Vater zu schlagen. Kangama: Sie betreibt eine hiesige Gastwirtschaft und besitzt ein Herz aus Gold. Ich muss mich irgendwann für die Sinelbeere von ihr revanchieren. Dann ist da noch Lombrero: Er stammt ursprünglich aus Capim, einer Stadt weit südöstlich von hier, jenseits des Meeres. Ob wohl alle dort einen solch seltsamen Dialekt sprechen? Ordentlich Gesprächsstoff für Jung und Alt sorgte außerdem der Beginn der Nektarsaison. Lecker soll er sein, und nahrhaft. Doch noch sei es nicht soweit. Die Produktion in den Nektarwiesen sei erst angelaufen. Manch einer war so heiß auf den fertigen Nektar, dass man einander fast im Minutentakt daran erinnerte, den emsigen Arbeitern bloß nicht in die Quere zu kommen. Insbesondere die kleine Knospi hakte konsequent nach. Sie schien regelrecht heißhungrig. Auch ich frage mich, wie der Saft wohl schmeckt …
    Bis die letzten Läden auf dem Dorfplatz schlossen und es zu dämmern begann, hielt ich die Stellung. Erst dann … ja dann trat ich den Heimweg an. Langsamer als sonst, im Wettstreit mit der aufsteigenden Mondsichel. Blanas wartete bereits, sein Gesicht von Sorge zerrüttet. Schon auf dem Nachhauseweg hatte sich meine Courage selbst eingeholt. Wo zuvor noch Mut und Selbstvertrauen im Wind flatterten, hing jetzt ein verschlissenes, löchriges Banner aus Angst und Selbstzweifel geknüpft. Hatte ich mir deshalb so viel Zeit gelassen? Weil ich Blanas’ Meinung zu meinem Versagen so sehr fürchtete? Seinen Ärger? Seine Enttäuschung? Warum war es so anders, vor meinen Ziehvater zu treten? Wieso vermochte ich nicht, vor ihm denselben Mut aufzubringen? Wieso …?
    Er hatte noch nichts von der Eskapade in der Schule mitbekommen. Es kam mir gelegen. Ich mimte den Arglosen und setzte eine entschuldigende Miene auf. Die Ausrede: Zeit vergessen. Er glaubte mir. Wir aßen zu Abend. Was ich heute tatsächlich erlebt hatte, darüber verlor ich keine Silbe. Ich sei zu müde, um über eine Alibi-Geschichte nachzudenken, war mein Gutenacht-Gruß. Drei Räuberpistolen in nur einer Stunde … Gerade wo ich mir geschworen hatte, keine Lügen mehr zu leben …

  • 15. Eintrag: Nektar, Tugend, Freundschaft


    Kaum zu glauben: Die Welt ist wieder im Lot! Dabei standen alle Anzeichen am heutigen Morgen noch auf Sturm.
    Meine Kapriole von gestern lag wie eine gefährlich glimmende Zündschnur im Gedächtnis der Klasse. Und die flüchtigen Blicke der Schüler verrieten mir, dass sie sich fragten, wie lange es wohl dauern würde, bis ich explodierte. Daneben brodelte die Geschichte mit Cenra, Viscora und Pam-Pam in einem überkochenden Eintopf, dem niemand zu nahe kommen wollte. Taufrisch außerdem eine hitzige Meinungsverschiedenheit zwischen Schnuthelm und Sesokitz am gleichen Morgen, die der ohnehin bereits besorgniserregenden Stimmung weiteres Öl ins Feuer goss. Der langen Rede kurzer Sinn: Die Klasse glich einem Hexenkessel. Noch eine falsche Zutat, und der Laden sollte hochgehen. Und in besagten unberechenbaren Bienenstock platzte plötzlich eine aufgelöste Dorfbewohnerin. Ich kannte sie bislang nur vom Sehen, wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es Roselia, Knospis Mutter, war, die soeben auf der Suche nach ihrer Tochter vor unseren Augen zusammengebrochen war. Es kam zu einem Auflauf - Schüler, Lehrer, sogar Rektor und Konrektor, ein heilloses Durcheinander. Als Knospis Name in den Raum geworfen wurde, hatte ich sofort einen leisen Verdacht. Sie hatte am gestrigen Tag reges Interesse für die Arbeiten auf den Nektarwiesen angedeutet. War sie womöglich gerade auf dem Weg dorthin? Sehr wahrscheinlich. Niemand aber wollte etwas von mir hören. Schlimmer noch: Bezeichnungen wie »Lügenbaron«, »Aufschneider« und »Wichtigtuer« fielen im selben Atemzug mit »Dian« und erstickten damit meine guten Absichten im Keim. Ich war am Ende. Die Nerven lagen blank. Jeder kochte sein eigenes Süppchen. Und es stank gewaltig. Mir stank es; so sehr, dass ich einen Ausfall machte. Man rief mich zurück. Ich ignorierte es, setzte Prioritäten. Einjeder hätte ebenso gehandelt. Oder? Auf eigene Faust? Losziehen? Ins Unbekannte? Was war, wenn ich mich irrte? Ich geradewegs ins Verderben lief? Die Dorfbewohner hatten deutlich davor gewarnt, die Nektarwiesen während der Ernte zu betreten. Ohnehin stand ich zurzeit in keinem guten Licht beim Lehrkörper und dem Rest der Klasse. Jetzt schwänzte ich auch noch die Schule. Mir war plötzlich überhaupt nicht mehr wohl bei dem Gedanken. Fast schon wünschte ich, dass mich jemand im letzten Moment stoppte. Doch ich war allein. Wieder einmal. Niemand, der mir im ins Gewissen redete oder sogar mit mir darüber stritt. Was hätte ich darum gegeben …! Pam-Pam, Schnuthelm, selbst Konrektor Kukmarda - jeder wäre mir willkommen gewesen. Für einen Rückzieher aber war es bereits zu spät.
    Die Schwere meiner Entscheidung war ein heruntergelassener Anker, den ich unaufhörlich hinter mir herzog. Am Dorfplatz - er war zu diesem Zeitpunkt fast ausgestorben - angekommen, meinte ich, das Gewicht müsste mich allmählich erdrücken, als unverhofft etwas geschah, etwas Wunderbares. Cenra holte mich ein. Doch nicht im Streit oder im Konflikt. Nein. Besser. Viel besser. Sie zweifelte kein bisschen an meiner Aufrichtigkeit, glaubte mir in jeder Hinsicht; was Knospi und auch was ihren Nachbarn und besten Freund betraf; dass ich, Dian, in Wirklichkeit ein Mensch bin. Außerdem entschuldigte sie sich dafür, dass sie in den letzten Tagen Trübsal geblasen und ich darunter anscheinend gelitten hatte. Ich war überwältigt, sprachlos, einfach fassungslos vor Glück. Es kribbelt mir immer noch in den Zehen, wenn ich zurückdenke. Wir schlossen aneinander - halb lachend, halb weinend - in die Arme wie ein Bruder eine verschollen geglaubte Schwester umarmt. Ein umwerfendes Gefühl.
    Zusammen holten wir den Anker ein und stemmten die Bürde - gemeinsam. Tatsächlich fanden wir Knospi (Cenra hatte wieder einmal mit Bravour die Führung übernommen) auf den Nektarwiesen. Sie saß im tiefsten Schlamassel. Die Arbeiterinnen waren so aufgebracht, dass sie völlig darüber hinwegsahen, dass es sich bei dem Störenfried nur um ein kleines Mädchen handelte. Cenra und ich setzten alle Hebel in Bewegung und verhinderten das Schlimmste. Wie das, das werde ich bestimmt noch einige Tage am eigenen Leib spüren … Man sagt ja: »Wer gerne fremden Honig schleckt, braucht sich über Stiche nicht zu wundern.« Am Ende ging es glücklicherweise noch einmal glimpflich aus. In Anwesenheit von Honweisel, der umsichtigen Aufseherin, wurden die stichlustigen Arbeiterinnen plötzlich regelrecht handzahm. Im Namen der gesamten Belegschaft entschuldigte sie sich bei uns und überreichte Knospi sogar eine Kostprobe des verarbeiteten Nektars. Wir kehrten daraufhin nach Ruhenau zurück, wo uns Roselia wortwörtlich um den Hals fiel. Es war ein gutes Gefühl. Ihre Tränen des Glücks bestätigten: Wir haben das das Richtige getan.
    Cenra und ich wollen uns gleich morgen nach der Schule auf dem Hügel treffen. Sie untermauerte, wie wichtig ihr das sei. Was sie wohl zu besprechen hat? Und warum besprachen wir es nicht sofort? Seltsam … Sei es, wie es sei: Ich sehne den Moment jetzt schon herbei. Bloß die Schule … die könnte mir morgen gestohlen bleiben.

  • 16. Eintrag: Im Zeichen der Freundschaft

    Kukmardas überforderten Gesichtsausdruck, als wir uns vor seiner Nase in die Schule gemogelt haben, werde ich wohl nie vergessen - auch ohne Tagebuch. Ursprünglich hatte der Konrektor Cenra und mich vor dem Unterricht abpassen und uns eine Strafpredigt halten wollen, weswegen wir schon drauf und dran waren, heute noch einmal zu schwänzen. Womit der nachtragende Pauker allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass wir unverhofft Unterstützung von Psiau bekommen würden. Sie redete so lange einschmeichelnd auf Kukmarda ein, was mir und meiner Freundin die notwendige Zeit verschaffte, um klammheimlich auf die Plätze zu huschen. Die Gute! Und als er dann seine Standpauke vor der gesamten Klasse nachholen wollte, stärkte uns Knospis Mutter den Rücken und verwandelte so den Tadel in Beifall. Auch der Konrektor stimme mit ein; zwar etwas widerwillig, aber immerhin! Und unsere Klassenkameraden ebenso, einschließlich Pam-Pam und Schnuthelm! Sie alle feierten ihre Helden. Helden - huh, wie das klingt … Schon ein seltsames Gefühl. Ich glaube, ich bin immer noch ganz rot im Gesicht … Pam-Pam persönlich klopfte mir auf den Rücken. Seine Geste wirkte aufrichtig. Er ließ mich jedoch sofort wissen, dass er nach wie vor der größere Draufgänger von uns beiden sei und er das Gleiche wie wir vorhatten, wenn die Lehrer ihn nicht so scharf beobachtet hätten. Natürlich! Typisch für ihn … Aber sei es drum! Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit macht mir die Schule wieder Spaß. Das Glücksgefühl hielt mich noch den ganzen Tag kameradschaftlich bei der Hand. Sogar Portentas einschläfernden Einfluss zur letzten Unterrichtsstunde widerstand ich. So kann es weitergehen!
    Wir hatten Probleme, nach der Schule auch nur eine ruhige Minute zu finden. Jeder wollte unsere Geschichte hören. Immer und immer wieder mussten wir sie aufs Neue erzählen. Als das Interesse allmählich abebbte, setzte schon fast die Abenddämmerung ein. Zu dem Zeitpunkt genossen Cenra und ich das frühe Abend-Panorama auf dem Hügel. Wir waren allein. Endlich! Bei der ganzen Aufregung war mir beinahe entfallen, dass meine sommersprossige Nachbarin unser Beisammensein von langer Hand aus geplant hatte. Sie führte noch einmal meine nebulöse Vergangenheit als Thema an. Cenra war ganz versessen darauf, jedes Detail zu erfahren. Ich hatte damit kein Problem. Im Gegenteil: Hier, in aller Stille und im kleinen Kreis, fühlte es sich an, wie an einem heißen Sommertag einen frischen Schluck Wasser zu trinken: erfrischend und befreiend zugleich. Völlig anders am gestrigen Tag, wo ich mir eher wie als Hauptangeklagter vor Gericht vorkam, kurz bevor der Schuldspruch über mich hereinbrechen würde. Erstaunlicherweise schien sie mehr darüber überzeugt zu sein als zuvor, obwohl ich mich dagegen wenig glaubhaft fühlte. Cenra aber war das egal. Sie meinte, sie habe von Anfang an gefühlt, dass ich etwas Besonderes sei. Besonders? Ich? Wie seltsam das klingt … Ich bin doch nur ich selbst. Mein ganzes Leben lang; was im Grunde gerade mal zwei schuppige Wochen entspricht, wenn man es so betrachtet. Trotzdem: Ich fühle kein bisschen Außergewöhnliches in oder an mir. Dian, einfach nur Dian, ob Mensch oder Pokémon - das ist alles. Cenra scheint das anders zu sehen. Mit großen, glänzenden Augen schaute sie mich an. Die Welt ist ein einziges Abenteuer - und ich stecke ihrer Meinung nach mitten drin. Gewissermaßen ist mir das ungewollt in den Schoß gefallen, was sie immer schon anpeilt. Ich könnte darauf verzichten; auch was die Isolation vor der Außenwelt betrifft, die sie angemerkt hat. Aber in diesem Punkt sei unser Schicksal verflochten: Zwei einsame Seelen auf der Suche nach einer tieferen Bestimmung. Meinte sie jedenfalls.
    Obwohl ich Cenra bereits lange eine Freundin nenne, zelebrierte sie ihre »offizielle Freundschaftsanfrage« wie einen festlichen Akt. Vielleicht fühle ich mich deswegen noch so heiß auf der Stirn. Es war schon … etwas Außergewöhnliches. Manche mögen es eventuell kindisch betrachten, aber für Cenra schien das unglaublich wichtig. Ich bin allerdings sehr stolz, das Zeichen unserer Freundschaft zu tragen. Es ist ein Schal. Jedoch kein x-beliebiger Schal. Wie Cenra mir berichtete, war sie in diese beiden Schals eingewickelt, als Karippas sie mutterseelenallein in der Wildnis fand. Damit deckte sie auch ihre Vergangenheit auf: Sie ist ein Findelkind. Karippas ist nicht einmal ihr leiblicher Großvater. So gesehen ist sie ganz allein auf der Welt - so wie ich. Doch damit soll nun Schluss sein. Der gemeinsame Partnerlook ist das Symbol unserer Freundschaft und markiert unseren geschlossenen Weg. Darin sind wir einer Meinung. Freundschaftsschals … Klingt irgendwie kitschig. Aber mir gefällt es trotzdem!
    Alles in allem war es ein gelungener Tag. Nun ja, fast: Ein kleiner Wermutstropfen gibt es dann doch: Blanas weiß mittlerweile darüber Bescheid, dass mir die Wahrheit über meine nebulöse Vergangenheit herausgerutscht ist. Wie er es erfahren hat, ist mir nicht bekannt, wahrscheinlich aber im Bezug auf der Geschichte in den Nektarwiesen. Das ist inzwischen bereits in aller Munde. Ich wünschte nur, ich hätte den Schneid besessen, es ihm selbst rechtzeitig zu sagen. Er wirkt enttäuscht, war den ganzen Abend mir gegenüber furchtbar kurz angebunden, auch wenn er den Freundschaftsschal bemerkte und mich darüber ausfragte. Ich will es wieder gutmachen. Irgendwie und irgendwann …

  • 17. Eintrag: Alles neu in Ruhenau


    Den Eindruck, dass Besuch in Ruhenau eher selten ist, habe ich bereits in den ersten Tagen meines jetzt schon fast dreiwöchigen Aufenthalts schnell gewinnen können. Die Gemeinde liegt einfach zu weit ab vom Schuss. Es gibt kaum einen Anlass, der einen Verbleib rechtfertig; höchstens ein Zwischenstopp müderer Wanderer. Und dann ist es nur ein rasches Kommen und Gehen. Der Sound der Großstadt lockt die Leute eher ostwärts - nach Trubelstadt. Das meinte auch neulich Kangama zu mir, die die einzige Herberge im Ort betreibt (ich hörte etwas Wehmut heraus. Das Geschäft könnte wohl besser laufen). Zwischenzeitlich bin ich bereits an dem Punkt angekommen, will sagen, ich fühle mich mittlerweile so heimisch, dass sich jede noch so kleine Veränderung und jedes neue Gesicht bei mir nachhaltig einprägt. Ebenso ertappe ich mich regelmäßig dabei, den Neuankömmlingen genau so neugierig hinterher zu stieren, wie es meine Nachbarn tun. Bei dem jüngsten Besuch aber, der heute Morgen in Ruhenau einmarschiert ist, wäre ein Ignorieren auch überhaupt nicht möglich.
    Wie immer pflegte ich um diese Uhrzeit den Weg zur Schule. Cenra war ebenfalls mit von der Partie - seit wir einheitliche Farben trugen unser erster gemeinsamer Schulweg. Wir bummelten, hatten es nicht sonderlich eilig, obwohl der Schlag der Schulglocke bereits alarmierend näher rückte. Zu besagtem Zeitpunkt ist es die Regel, dass der Dorfplatz nur wenig besucht ist; allenfalls Lebensmittelhändler sind auf den Beinen und ein paar Frühaufsteher. An diesem Morgen bestand die Ausnahme darin, dass die Leute nicht - wie gewohnt - ihren eigenen Geschäften nachgingen. Schuld an dem kleinen Auflauf zweckte ein neues Gesicht in unserem abgeschiedenen Nest. Er wirkte sehr orientierungslos, war vielleicht schon seit Tagen unterwegs. Bei der Hitze der letzten Zeit würde es mich nicht wundern, wenn er sogar leicht dehydriert war, was dessen Planlosigkeit erklären würde. Auf dem Weg ins Gasthaus riss er versehentlich einen Verkaufsstand für Obst und Gemüse nieder und hatte auch zuvor bei »Armaldos Allerlei« deutliche Spuren hinterlassen. Muntier, einer der Bewohner Ruhenaus, erbarmte sich irgendwann, den Neuankömmling unter seine Fittiche zu nehmen und in die Herberge zu geleiten. Ich an dessen Stelle hätte es bereits viel früher als Pflicht gesehen. Blanas mahnte mich zwar zur Vorsicht, was Gefahren von außerhalb betrifft, aber bei dem Fremdling spüre ich keinen Hauch einer bösen Absicht. Er wirkt … auf eine skurrile Art interessant. Ich glaube, diese Bezeichnung trifft es ziemlich gut. Heute begegneten wir ihm nicht mehr. Schläft er etwa schon den ganzen Tag? Muss sich wohl die letzten Nächte um die Ohren geschlagen haben. Vielleicht morgen …
    Apropos Veränderungen und gemeinsame Farben: Natürlich zogen Cenras und mein Schal etliches Interesse auf uns. Will sagen: Wir waren ein richtiger Blickfang in der Schule. Ich vermied es, von Freundschaftsschals zu sprechen - ich finde, es klingt immer noch irgendwie kitschig -, aber Cenra ist da ganz anderer Meinung: Sie posaunt es in alle Welt heraus und reibt es den Leuten regelrecht unter die Nase. Pam-Pam findet es albern. Wir seien aufgeblasen, meinte er. Ist er neidisch? Ich glaube schon.
    Mir ist warm. Bereits heute Morgen war es unglaublich schwül. Jetzt ist es richtig dreckig-heiß. Der Himmel ist stark zugezogen, aber kein Tröpfchen in Sicht. Wenn es doch nur regnen würde! Heute Nacht werde ich bestimmt nicht gut schlafen.

  • 18. Eintrag: Selbstzweifel

    Was bedeutet es eigentlich, Mensch zu sein? Was ist so Besonderes daran? Wie lebt man? Wie fühlt es sich überhaupt an? Es sollte doch normalerweise im Bereich des Machbaren liegen, darauf eine ehrliche Antwort zu finden. Es sollte …
    Mit ihrer arglosen Neugierde ertappte Cenra mich völlig unerwartet. Wie kann ich ihr Interesse an mir und insbesondere meiner Vergangenheit verübeln? So wie sie ihren besten Freund an ihrem Leben und ihren Erinnerungen teilhaben lässt, ist ein Entgegenkommen nur gerecht. Wie aber soll ich diese Geste erwidern und ehrlich zu ihr sein, wo ich doch selbst vom Kurs abgekommen bin? Der Mast ist gebrochen, Flaute in meinem Verstand, weit und breit kein Land in Sicht. Mir ist nichts geblieben außer dem eigenen Namen und dem vagen Gefühl, dass es so ist; dass ich tatsächlich einst ein Leben als menschliches Wesen geführt habe. Hatte ich viele Freunde? Familie? Wo und wie lebte ich? Hatte ich ein Motto? Eine Lebensphilosophie? Ja, was für eine Sorte Mensch war ich überhaupt? Es ist beschämend, auf diese Fragen keine Antworten zu kennen; noch beschämender, meine beste Freundin in jener Sache abweisen zu müssen. Die Enttäuschung in ihren Augen geht mir nicht mehr aus dem Sinn, gleichwohl, dass sie vom einen auf den anderen Moment wieder strahlte und alles vergessen schien. Warum schenkt sie mir ihr Vertrauen? Cenra … sie ist von solch widersprüchlicher Natur. Mal ein kindisches Mädchen, das beim Versteck Spielen ungern verliert und den Rest der Unterrichtszeit schmollend verbringt. Dann, einige Zeit später, die Heldin des Tages, die mit wachsamen Geist und scharfem Verstand einen Ladendieb auf frischer Tat ertappt und dabei so anständig ist, eine Belohnung auszuschlagen. Ich bin froh, sie in meiner Nähe zu wissen, ob sie mir nun glaubt oder nicht. Ich frage mich nur: Kann ich mir überhaupt noch selbst glauben? Was, wenn ich mir das alles nur einbilde? Was, wenn ich nie wirklich der war, für den ich mich halte? Eine Lüge lebe? Was, ja was …?


    Nachtrag: Kangama meinte, der Fremde, der kürzlich Ruhenau betreten hat, habe sich unter dem Namen »Ampharos« im Gasthaus eingeschrieben und die letzten zwei Tage durchgeschlafen. Ob er plant, länger bei uns zu bleiben?

  • Hallo Jens,


    nun hast du ja schon 17 Einträge in dem Logbuch verzeichnet und ich muss sagen, dass die Aufmachung als Nacherzählung einer Geschichte überraschend gut funktioniert. Im Vordergrund stehen neben dem Eindruck des Protagonisten die Wirkung und der Ablauf der Erlebnisse, die er über den Tag gemacht hat und das schaffst du gekonnt mit einer ansprechenden Wortwahl und einem sehr abenteuerlastigen Schreibstil. Es gibt praktisch kaum einen Satz, der nicht wichtig sein könnte und gerade bei so umfangreich designten Szenen und Dialogen, wie sie in Super Mystery Dungeon vorzufinden sind, hast du dich auf das Nötigste beschränkt, schaffst es aber ebenfalls Dean als Protagonisten zu etablieren und ihn über viele Dinge nachdenken zu lassen. Das ist etwas, was ansonsten in den Spielen eher verloren geht, weil ja doch die Hauptgeschichte den Vorzug erhält und die Pokémon-Verwandlung nur hin und wieder kurz aufgegriffen wird.


    Der Inhalt ist stimmig und kurzweilig rübergebracht, wie man es von Tagebucheinträgen erwartet. Eventuell könntest du aber hin und wieder mal irgendwo erwähnen, welche Pokémon eigentlich die Protagonisten sind, um sich das wieder in Erinnerung zu rufen. Normalerweise ist es mir lieber, öfter den richtigen Namen zu lesen, aber gerade bei Cenra frage ich mich schon die ganze Zeit, was sie eigentlich ist, da du das wohl bisher nicht erwähnt hast (oder ich hab's überlesen) und im Vergleich zu den anderen Pokémon, die du auch bei ihren Arten-Namen nennst, kann solch eine Information schon mal kurzzeitig abhanden kommen.
    Ansonsten habe ich aber keine weiteren Anmerkungen bisher zu machen; mir gefällt's.


    Wir lesen uns!

  • 1. Gasteintrag


    Hallihallo, hier ist Cenra! Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, was Dian mit diesem komischen Büchelchen so treibt. Er war so freundlich, mir zu erlauben, dass ich, das heißt, seine besteste Freundin, sich hier verewigen darf. Ich musste ihm bloß versprechen, auf keine der vorherigen Einträge zu spicken. Na klar doch, kannst mir vertrauen! Nur … jetzt, wo es soweit ist, weiß ich gar nicht so recht, was ich eigentlich schreiben soll. Ist »besteste« überhaupt ein richtiges Wort? Argh! Hätte ich geahnt, dass das so schwer ist … Ist ja schlimmer als Hausaufgaben! Hm, vielleicht etwas zu mir? Ja, das klingt vernünftig.
    Also, ich heiße Cenra (sagte ich ja bereits), ich bin sieben Jahre alt und komme aus Ruhenau. Eltern im eigentlichen Sinne habe ich an für sich keine, denn ich bin ein Waisenkind, aber da ist ja noch mein Großvater! Als ich ganz klein war, fand Opa Karippas mich völlig allein in der Wildnis. Seitdem erzieht er mich wie seine eigene Tochter. Oder sagen wir: Er versucht es. Wir ähneln uns nämlich überhaupt nicht. Er ist ziemlich streng und nörgelt ständig an mir rum, wann immer es ihm passt. Unfair! Dafür bin ich allerdings die schnellere Schwimmerin von uns beiden und habe die schöneren Sommersprossen. Ha! Aber Großvater sorgt sich sehr um mein Wohlergehen, das muss ich ihm einfach hoch anrechnen. Ich habe ihn deshalb arg doll lieb, auch wenn er oft und völlig grundlos mit mir schimpft. Was noch …? Ach ja! Irgendwann will ich aus Ruhenau weg und nach Trubelstadt, um dort dem Forscherteam beizutreten. Immer auf Achse, Abenteuer erleben und den Leuten helfen. Klingt großartig. Das ist mein großer Traum. Und, oh ja, beinahe vergessen: Ich liebe ausgiebige Strandspaziergänge, wo ich oft Muscheln in eine persönliche Sammlung aufnehme. Ich glaube, ich besitze die größte von ganz Ruhenau. Meine Lieblingsmuschel trage ich außerdem immer bei mir. Auf sie bin ich sehr stolz!
    Bis vor Kurzem hatte ich nur wenig Freunde. Keine Ahnung, warum. Die Meisten in der Schule sind eigentlich ganz nett, andere wiederum ziemlich blöd (ja, ich spreche vor dir, Pam-Pam!). Seit aber Dian da ist, kommen wir alle irgendwie deutlich besser miteinander aus. Das ist toll! Wie muss ich jetzt überhaupt weiterschreiben, wenn ich über ihn rede? Mit »du« oder mit »er«? Öhh … Dian liest das ja, also dann eher »du«, oder? Argh! Ich sag’s noch mal: schlimmer als Hausaufgaben! Auf jeden Fall: Seit du hier in Ruhenau lebst, ist es viel schöner. Sogar die Schule macht mehr Spaß. Darum bin ich dir sehr dankbar.
    Weißt du: Du und ich, wir sind uns in gewisser Hinsicht ziemlich ähnlich. Als du sagtest, du seist tatsächlich ein Mensch, wusste ich ehrlich gesagt nicht so wirklich, was ich davon halten sollte. Menschen? Die gibt es doch nur im Märchen! Die Leute gingen dir plötzlich aus dem Weg und misstrauten dir. Tagelang warst du unauffindbar, weil du dich in der Bibliothek eingeschlossen hattest. Ja, ich war dir einmal heimlich gefolgt. Dann, zu diesem Zeitpunkt, als ich dich in der Bücherei büffeln sah, völlig allein und total erschöpft, stand mein Entschluss fest: Dian, ich glaube dir. Du suchst Antworten, stellst dir die Frage, wer du bist, woher du kommst und wohin du gehst. Denn im tiefsten Inneren weißt du, dass das Schicksal etwas Besonderes mit dir vor hat. Ich will ja nicht behaupten, dass es mir ähnlich geht, aber … Auch ich denke, es muss noch mehr in meinem Leben geben; mehr, als der schusselige und freche Dorfschreck sein. Es ist jetzt vielleicht Quatsch, mich auf eine Stufe mit dir stellen zu wollen. Doch irgendwie glaube ich … na ja: Beide keine wirklichen Eltern, woher wir kommen, wissen wir nicht, und ein sehnsüchtiges Verlangen nach mehr im Leben - nach Antworten. Ich sag’s mal frei von der Leber: Wir, du und ich, sind verwandte Seelen. Argh! Metaphysisches Geblubber! Klingt voll schleimig. Ich hör jetzt besser damit auf …
    Dian, du bist mein bester Freund und ich bin froh, dass du zu uns nach Ruhenau kamst. Bleib bitte, so wie du bist! Na ja, vielleicht könntest du manchmal etwas weniger nachdenklich sein. Sei ruhig mal spontaner und lass dich nicht immer gleich von Rückschlägen entmutigen! Und ich verspreche dir, dass ich in Zukunft rücksichtsvoller und stets eine gute Freundin und Nachbarin sein werde. Das wünsche ich uns beide von ganzem Herzen.


    Deine Cenra :-)



    PS: Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!