19. Eintrag: Gesucht - gefunden
Was macht einen echten Forscher aus? Was für Erwartungen sind zu erfüllen, welche Bedingungen gestellt? Ist dies der mir vorbestimmte Kurs? Es ist befremdend, aus welch sonderbaren Richtungen die Winde plötzlich wehen, und das von dem einen auf den anderen Tag. Gestern noch haderte ich mit völlig grundverschiedenen Fragen, und heute … Dabei fing alles so unscheinbar an.
Wir befanden uns auf dem Weg zur Schule - ausnahmsweise sogar überpünktlich. Cenra war besonders guter Dinge, denn sie hatte von ihrem Opa Geld statt des üblichen Pausenbrotes bekommen und sie drängte darauf, ihr kleines Vermögen gleich umzusetzen. Es ging sehr geschäftig an diesem Morgen zu. Ungewöhnlich viele Besucher waren auf den Beinen, und ausgerechnet der Marktstand mit der längsten Warteschlange fand das ungeteilte Wohlgefallen meiner Freundin. In den Mahlrädern der Zeit zermürbten allmählich die wertvollen Minuten bis zum Schulbeginn. Unter den Anstehenden erkannte ich Ampharos, den Neuling bei uns im Dorf. Gerne hätte ich ihn noch weiter beobachtet, aber als Cenra endlich den Platz an der Spitze der Reihe erkämpft hatte, war der Gast bereits längst über alle Berge. Der Zufall und ein wachsames Auge spielten uns einen Gegenstand aus Ampharos’ Besitz in die Hände. Metallisch, glatt geschliffen, silbern, mit reicher Verzierung, etwas größer als eine Brosche und mit dem Namen des Eigentümers darauf eingraviert. Die Medaille erweckte einen gewichtigen Eindruck; zu wertvoll, als dass wir das Kleinod in die Obhut dieses Halsabschneiders von einem Kaufmann geben oder gar einfach liegenlassen wollten. Die Zeit jedoch drängte. Pünktlichkeit war nur noch eine Frage von einer raschen Entscheidung. Cenra spielte mit dem Gedanken, die Situation schamlos zum Schwänzen auszunutzen, und auch ich kämpfte erbittert gegen meine Neugierde an. Am Schluss stimmten wir dann aber doch überein, ein Treffen mit Ampharos auf den Nachmittag zu verlegen - wir hatten in jüngster Zeit einfach genug Schererein mit der Schule. Dennoch hinterließen wir noch schnell unsere Namen beim Standbesitzer, nahmen gleich darauf die Beine in die Hand und schafften es gerade so pünktlich zur ersten Stunde.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal solche Probleme hatte, dem Unterricht zu folgen. Ähnlich erging es auch Cenra. Ich erwischte sie wiederholt, wie sie das Medaillon aus der Tasche zog und andächtig bewunderte, einem kostbaren Schatz gleich, den man wie seinen eigenen Augapfel hütet. Unter der hellen Sonne blitzte und strahlte es dabei in allen Regenbogenfarben, was so manch fremden Blick ebenfalls darauf lenkte. War es das wert? Das Risiko? Will sagen, meine Nachbarin, der quirlige Wirbelsturm von Ruhenau, genoss noch nie den besten Ruf, ganz milde ausgedrückt. Bestimmt hatte sie sich nie einer Straftat schuldig gemacht und auch sonst steht ihr der Sinn im schlimmsten Fall allenfalls hin und wieder nach einem Jux. Aber mit einem so kostbar wirkenden Gegenstand aus fremden Besitz erwischt zu werden … Hätten die Dorfbewohner die Geschichte ohne Weiteres für bare Münze genommen? Dass der pure Zufall uns die Fundsache in die Hände gespielt hatte? Und was, wäre dem nicht so gewesen? Ja, was dann? Ich will gar nicht darüber nachdenken …
Ampharos hatte den restlichen Tag den Marktplatz gemieden, ließ und der Händler von heute Morgen gleich nach Unterrichtsende wissen. Auch das Gasthaus war verwaist, doch unterrichtete uns Kangama, die Betreiberin der Pension, dass der Reisende ihr Haus kürzlich und mit schwerem Gepäck verlassen hatte. Abgereist? Ein Ärgernis, stimmten Cenra und ich überein. Wir sahen es als unsere Verpflichtung an, die Wertsache nicht nur aufzubewahren, sondern sie ihm zurückzubringen. Karippas und einige Dorfbewohner waren zum Glück Zeuge von Ampharos’ Aufbruch; leider Richtung Quappo-Flüsschen, ein vom Hörensagen vielleicht idyllisches Plätzchen, aber dennoch ein schlechter Spielplatz für Knirpse, und unter keinen Umständen ohne Begleitung. Ich hasse es, wenn die Erwachsenen so daherreden. Es fühlt sich an … eben als ob ich ein unbedarftes Kind sei. Was ich möglicherweise auch bin … oder nicht. Wieder quält mich die Frage der eigenen Herkunft, nach meinem Alter, wer ich eigentlich tatsächlich bin. Es kommt mir widersprüchlich vor, nicht wirklich echt. Antworten - irgendwann …
Wir ignorierten die Warnungen, zudem ließen wir uns von Gerüchten um eine gemeine Bande von Wegelagerern keinen Wind aus den Segeln nehmen. Im Kielwasser eines günstigen Moments stahlen wir uns aus Ruhenau und setzten nach etwa halbstündiger Reise Fuß in die Region, vor der man uns so eindringlich gewarnt hatte. Etwas mulmig krankte es mir schon in der Magengegend, so unverfroren gegen das mahnende Wort der Dorfbewohner zu verstoßen. Doch dieses Gefühl verschwamm bald darauf in einem Ozean saftiger Wiesen und üppiger Flussläufe. Die Landschaft, die Atmosphäre, das unaufhörliche Sprudeln kühlen Nasses - eine atemberaubende Schönheit! Weitere Zeit bekamen wir nicht. Prompt griff man uns auf, wir gerieten in einen perfiden Hinterhalt. Ich habe sie noch gut vor mir: Drei Angreifer, blau wie das Meer, groß, mächtig, Arme dick wie Taue. Wir hatten ihnen keinen wissentlichen Grund zur Feindseligkeit gegeben, trotzdem mussten wir uns der eigenen Haut zur Wehr setzen. Zwei der drei schlugen wir wie durch ein Wunder in die Flucht, doch dann verließen uns die Kräfte. Erst ging ich in die Knie, kurz daraufhin auch Cenra. Mir war schon ganz schwarz vor Augen. In trüben Gedanken schleppten wir uns ausgeraubt und verwundet nach Ruhenau zurück, wo ein Donnerwetter auf uns wartete, als durch ein zweites Wunder Ampharos auftauchte und den verbliebenen Angreifer Mores lehrte.
Endlich hatten wir Gelegenheit, uns zu erklären und damit außerdem Möglichkeit die Fundsache zurückzugeben. Trotz allen Ärgers ging der Retter glücklicherweise nicht allzu streng mit mir und Cenra ins Gericht - ganz im Gegenteil. Ihm war sein Verlust völlig entgangen, weswegen Dankbarkeit und Ergriffenheit ihm ins Gesicht geschrieben standen. Die Plakette, so erklärte er, habe tatsächlichen beträchtlichen Wert; weniger aber materiell, sondern vielmehr symbolisch. Sie zeichnet den Träger nämlich als Mitglied des Forscherteams aus Trubelstadt aus. Cenra verschlug es die Sprache, mehr aber noch, als Ampharos uns für Ehrlichkeit, Heldenmut und Findigkeit auszeichnete und zu Junior-Forschern ehrenhalber machte. Morgen schon soll die Einweisung beginnen. Er wird also wohl noch länger bei uns bleiben. War die Expedition zum Quappo-Flüsschen teil seiner Arbeit als Forscher?
Ich vermute, Blanas hat mir die - natürlich erfundene - Geschichte, wie ich zu meinem Veilchen gekommen bin, nicht abgenommen. Ich hatte keine Bemühungen angestrebt, es zu kaschieren (blaues Auge auf grüner Haut - ein hässlicher Hingucker). Cenra ist ganz Feuer und Flamme und sehnt den nächsten Morgen erwartungsvoll herbei. Wahrscheinlich wird es ein ziemlicher Kraftakt, sie überhaupt zur Schule zu überreden. Ich bin mir unsicher, ob die Vorfälle von heute nun Zufall oder Schicksal waren. Unter welchem Stern wird meine weitere Reise stehen? Finde ich durch sie Antworten? Ich denke wieder zu viel nach … Ich brauche Schlaf.
PS: Zukünftig kürzer fassen!