Phew, das war eine Weile am Werden.
Diese Geschichte ist, etwas abgewandelt, der erste, verworfene Entwurf einer Abgabe für den "Lies mit einer Geschichte vor!" Collab; die ursprüngliche Idee kam von meiner wundervollen Vorleserin Naoko (ich weiss nicht, ob du dich noch daran erinnerst oder nicht, aber hi! Ich hoffe, es geht dir gut! Danke, dass du mit mir am Collab teilgenommen hast! Es tut mir immer noch ein bisschen Leid, dass ich deine Idee nicht umsetzen konnte - diese Geschichte brauchte mehr Zeichen als vorgegeben und ich hoffe, sie wurde deiner Vision gerecht.)
Die Grundidee einer feindlichen Welt für eine schüchterne Protagonistin hat mich (vier Jahre nach seiner ursprünglichen Kreation...) immer noch extrem angesprochen. Den ursprünglichen Themenbezug (Freitag der 13.) habe ich rausgeschnitten, da er der Geschichte nicht viel beitragen konnte; ich denke, der Metapher steht alleine stark genug (und allein schon camp-y genug).
Des weiteren war diese Geschichte schlicht eine Übung für mich, ein bisschen weg vom "vibe-heavy" "story"telling zu kommen, wie ich es oft und gerne mache, hin zu einer tatsächlichen handlungsreichen Geschichte.
Dantes Schulweg
AUSFALL.
Bitte konsultieren Sie den Ticketschalter am Bahnhof.
Sie
las die Fehlermeldung einmal, zweimal, um sich ja sicher zu sein,
dass sie nichts missverstanden hatte. Sie rannte zum nächsten
Automaten, zum übernächsten, nur um stets denselben weissen
Buchstaben auf demselben roten Hintergrund zu begegnen:
Bitte
konsultieren Sie den Ticketschalter am Bahnhof.
Es
war überall dieselbe Schreckensnachricht.
Der
Ticketschalter.
In
ihrem Kopf rannte sie alle Möglichkeiten ab: Ihr Bus fuhr in vier
Minuten ab. Die Fahrt selbst dauerte etwa selbst zwanzig. Sie durfte
nicht ohne Ticket in den Bus, Montags wurde oft kontrolliert. Sollte
sie ohne gültigen Fahrschein erwischt werden - Dana wollte sich die
Konsequenzen nicht ausmalen.
Ihre
Eltern anzurufen, ob sie sie rasch fahren könnten, stand ebenfalls
ausser Frage. Alles, was man ihr erzählen würde, wäre, dass sie
eben rasch zum Schalter gehen sollte. Es wäre den schieren Stress,
jemanden anrufen zu müssen, niemals wert, geschweige denn das Geld
für die Telefonkabine.
In
vierundzwanzig Minuten könnte sie niemals zu Fuss das Gymnasium
erreichen, selbst wenn sie sich diesmal nicht verlaufen würde.
Aber
ohne Ticket konnte sie keinen Bus betreten.
Aber
sie konnte ihre Eltern nicht anrufen.
Aber
sie konnte nicht zu Fuss loslaufen,
ohne sich garantiert zu verspäten...
Eine
weitere wertvolle Minute stand Dana da, paralysiert, mit einem halben
Verstand ihre Sorgen zählend, mit der anderen Hälfte die anderen
wartenden Gestalten beobachtend, um sich sicher zu wissen, dass
niemand sie in ihrer Hilfslosigkeit wahrnahm. Ihre Gedanken kamen
immerzu bei derselben Schlussfolgerung an:
Es
gab keinen Weg an der Höhle des Löwen vorbei.
Ein
leises Schluchzen entwich Dana.
Die
schlichte Deckenlampe des Ticketschalters spuckte unregelmässig
Licht in den Raum; das einfallende Tageslicht der gläsernen
Eingangstüre war die einzige einigermassen zuverlässige
Lichtquelle. Die biederen Wandstuckaturen, seit vielen Jahren nicht
mehr weiss, strahlten eine gewisse Historie aus, ohne wirklich
wertvoll zu wirken; die Wanduhr knackte mit jedem Sprung des
Sekundenzeigers und erzeugte ein unruhiges Echo. Wie das letzte Mal,
als Dana hier war – das
war sicher schon eine Weile her – warteten zwei Schalter auf sie:
Der eine wurde gerade von einer langen Schlange beschäftigt
gehalten, der andere stand ohne Besucher in Dunkelheit.
Einen Moment lang dachte
sie, der zweite sei geschlossen, doch sie glaubte, ein Namensschild
auf dem Podest zu sehen. Besonders viel Zeit, die
Situation zu analysieren,
hatte sie nicht, da sie hinter sich eine Bewegung registrierte;
hastig, um ja niemandem im Weg zu stehen, hastete sie zum verlassenen
Schalter in der Hoffnung, schnell wieder verschwinden zu können.
Ihrr Bus fuhr in zwei
Minuten.
Jegliche
Lichtquelle hinter dem Glas schien tatsächlich komplett ausgefallen:
Auf der schwarzen Oberfläche begrüsste Dana nur ihr eigenes,
besorgtes Spiegelbild. Am liebsten hätte sie ihre Kapuze samt
Kopfhörern hochgerissen, als müsste sie sich vor ihrer eigenen
Fratze schützen, doch jede zusätzliche Bewegung wäre ein unnötiges
Risiko, gesehen zu werden.
Als
Kind hatte sie sich oft vorgestellt, alles hinter der Glasscheibe
wäre gefüllt mit Wasser, wie ein Aquarium mit Rochen oder
Haifischen aus dem Stadtzoo. Wenn es doch wenigstens hier und jetzt
Rochen oder Haien wären, Fische ohne viele Ideen oder Gedanken...
Etwas
regte sich in der Schwärze. Der kurze Blitz der Deckenlampe berührte
ledrige Haut, die einen Teil eines riesigen, runden Körpers
andeutete, zu gross, als dass er realistisch in einen Raum hinter der
Glasscheibe passen sollte. Irgendwo, viel zu tief in der Dunkelheit,
glaubte Dana, ein flaches Auge ohne Iris glänzen zu sehen, gross wie
ihr Kopf, wenn nicht grösser – nur eines, aber es war genug, um
ihr zu verstehen zu geben, dass sie beobachtet wurde. Erneut
flackerte es von aussen in die Dunkelheit hinein, die lederne Haut
bewegte und verformte sich. Dana brauchte einen Moment, um zu
erkennen, dass es wahrscheinlich Lippenbewegungen waren, denn sie sah
die Worte in Luftblasen aufsteigen, ohne sie zu verstehen.
«Äh,
wie bitte?», fragte sie hastig nach einer zu langen Schweigesekunde.
«Wie
kann ich Ihnen helfen?», gurgelte es dumpf hinter der Scheibe.
«Ah!
Ja, ja, äh, der Automat, der Ticketautomat, der ist, äh, futsch…»,
stolperten die Worte aus ihrem Mund, mit jeder Silbe leiser werdend.
Wieso musste sie gerade futsch sagen, ‹defekt› hätte so viel
besser geklungen!...
«Könnten
Sie das bitte wiederholen?»
«Der
Automat ist kaputt!», brüllte es plötzlich hinter Dana, «jetzt
machen Sie mal etwas Dampf, ich hab’s eilig!»
Hastig
warf Dana einen Blick über ihre Schulter und wünschte sich
sogleich, sie hätte es nicht getan: Hinter ihr hatte sich eine neue
Schlange materialisiert; ausgerechnet hier, ausgerechnet
jetzt!
«Ja,
das ist uns bekannt», gluckerte das Monster. Die Glühbirne
flackerte gerade lange genug, dass Dana einen guten Blick auf die
breite, gespaltene Zunge erhielt, die bei jedem Wort über das
Raubtiergebiss hinter den Lippen der Sprecherin schlitterte. «Das
Problem wird demnächst behoben, Sie können bis dahin Ihr Ticket
hier kaufen.»
Ob
diese schiere Masse dieses Ungetüms reichen würden, um die Scheibe
zu zerschlagen? Bestimmt könnte es jeden Moment ausbrechen, wenn es
nur wollte. Diese Fangzähne waren krumm und endeten in feinen Haken;
ein Biss würde reichen und Dana könnte rennen so lange und weit sie
wollte, sie müsste unterwegs verbluten.
«Wenn
du noch warten möchtest, kannst du gerne wieder hinten anstehen»,
zischte es erneut harsch hinter ihr.
Danas
Nerven zündeten alle im selben Moment: Reflexartig schnappte sie
erst nach Luft, dann nach Worten, nur um weder das eine noch das
andere zu bekommen. Die Angst erreichte den Rest ihres Verstandes.
Todesgefahr,
überall war Todesgefahr, eingezwängt zwischen einem
Wassermonster und einer Schlange; reflexartig versenkte sie ihren
Kopf in ihrem Brustkorb zwischen ihren gesenkten Schultern, wünschte
sich, noch viel kleiner als das zu werden; den Blick auf die Pfeile
am Boden fixiert rannte sie zum Ausgang - die gläserne Schiebetüre
brauchte eine Ewigkeit, bis sie endlich Durchgang gewährte, bis Dana
endlich zurück an die Freiheit gelangte.
Die
Schlange hinter ihr züngelte ihr noch hinterher, ehe sie an den
Schalter kroch und ruhig «ein Wochenabo von hier nach Chenobia
bitte, danke» verlangte.
«Ein
Abo nach Chenobia darf’s sein…», gluckerte das Seeungeheuer und
machte sich an seinem Computer zu schaffen.
Ein
Nachtmahr schlief auf der Bank einer Bushaltestelle und erntete
bissige Blicke von Passanten. Es war eine dankbare Ablenkung für
Dana, die unbemerkt auf der anderen Seite des Platzes stehen konnte,
ihre Hand auf ihren Brustkorb gepresst, als müsste sie sichergehen,
dass ihr Herz nicht missgeschicklich herausspringen könnte. Um sie
herum passierten dutzende Alltage auf einmal, Arbeits- und Schulwege,
Odysseen nahmen hier ihren Lauf. Man hörte Gespräche über das
Büro, über das höllische Wetter, über das Fegefeuer.
In
einer Minute fuhr Danas Bus, und sie konnte nichts machen. Am
Schalter warteten
die nur darauf, dass sie gesenkten Hauptes
wieder zurückkam, in offene Klauen hineinlief – schaut
euch diesen Freak an, der vorhin kaum ein Wort herausgebracht hat,
nur um dann das Weite zu suchen!
- im Bus durfte
sie sich nicht ohne Ticket blicken lassen, man würde ihr den Kopf
abreissen; wer weiss, welche Gestalten dort
auf sie warten würden. Zu Fuss zur Schule würde bedeuten, sie käme
zu spät – gar nicht zur Schule auftauchen, und ihre Eltern würden
davon erfahren, bestimmt. Mit leeren Augen starrte sie dem bereits
heranfahrenden Bus entgegen, den sie nicht betreten konnte.
Mit
dem abflachenden Adrenalin setze, dankbarerweise, eine gewisse
Apathie ein, eine befreiende Ohnmacht: Viel machen konnte sie nicht,
nur viel falsch machen. Die Situation könnte nicht schlimmer werden,
sinnierte Dana bitter, selbst wenn der Himmel sich auftun würde,
Steine auf sie niederschleudern würde, ja selbst wenn der Tod
persönlich noch an dieser Haltestelle auftauchen sollte –
Im
nächsten Moment verlor sie ihren Stand, als jemand mit voller Wucht
in sie hineinrempelte. Das Zischen des heranfahrenden Busses wurde
von einem lauten Scheppern übertönt.
Benommen
suchte sie nach Balance, dann nach der
scheinbaren Kanonenkugel, die sie soeben fast von den Beinen gerissen
hatte. Was sie vorfand,
war der Sensenmann, der in dem Moment sein heruntergefallenes
Werkzeug vom Boden aufnahm und zur Straße herübersah.
Sie
hörte, wie jemand fluchte – tatsächlich, sie hörte den Tod
fluchen, leise, doch unter hörbarem Stress. Eine knöchrige Hand
umklammerte die mit Schrammen übersäte Sense, die andere den Saum
seiner schwarzen Kapuze, ehe er zur sich bereits wieder schliessenden
Bustüre hetzte, denn natürlich würde an einem Tag wie diesem der
Bus keine weitere Sekunde auf seine Gäste warten; hektisch klickte
er einmal, zweimal, dutzendmal den Türknopf.
Die
Türe öffnete sich nicht mehr. Noch während der Bus abfuhr,
hämmerte seine bleiche Fingerspitze auf den Knopf, begleitet von
einem lauter werdenden «Nein, nein, nein, nein...!»
Dana
sah der Szene zu, ohne ihr wirklich beizuwohnen. Der Schock vibrierte
noch immer in ihren Knochen, ihr Körper war zu heiss und zu kalt
zugleich, sie wollte rennen und sich tot stellen, aber vor allem
wollte sie nicht hier sein.
Wenige
lange Sekunden starrte der Tod dem davonfahrenden Bus hinterher, ehe
er seinen Schädel langsam zu Dana drehte, sein
Kiefer leicht offen stehend. Hatte
er etwas gesagt?
«...
Hast du etwas gesagt?»
Sie
versuchte seine Mimik zu lesen, nur um feststellen zu müssen, dass
ein Schädel ohne Haut wohl keine besass.
«...
Äh ... Nein», lautete die tonlose Antwort.
Keiner
der beiden wagte es, das eintretende Schweigen anzufassen, und in
Dana keimte die Hoffnung auf, sie könnte diese Begegnung einfach
kommentarlos verlassen. Langsam drehte sie sich um, um sich einen
sichereren Ort zu suchen (so sicher es halt geht, an einem
bevölkerten Busbahnhof), um einen Plan zur Schadensbegrenzung zu
suchen, da packt wurde sie am Ärmel gepackt und sie hörte den
Sensenmann in beinahe unverständlich schnellem Tempo rattern: «Nein,
doch! Ich suche die Echaimstrasse, ich muss nur dort mal hin! Ich
habe keine Ahnung, wie ich dort hinkomme, ich war noch die da. Und
alle Ticketautomaten sind futsch, und ich kriege kein Ticket vom
Schalter, aber ich muss zur Echaimstrasse. Hast du - haben Sie eine
Ahnung, wo ich sie finde? Bitte?»
Es
war fast mehr die Unverschämtheit als die Todesangst, die Dana
weiter lähmte. Ohne dem erneuten
Schweigen eine Chance zu geben, hakte der
Sensemann rasch nach: «Wo
musst du denn hin?»
«...
Ich, ähm. Zum Gymnasium?»
«Liegt
das auf dem Weg?»
Dana
musste überlegen –
zuerst aus Verwunderung
darüber, dass sie überhaupt diese Konversation gerade hatte, dann,
ob sie diese Frage verneinen konnte oder nicht, zuletzt, ob sie
überhaupt antworten sollte.
«...
Ich ... Glaube schon?», rutsche es unbedacht aus ihr heraus.
«Kannst
du... Mist, können Sie mich mitnehmen? Bitte, bitte, bitte,
ich bin super knapp dran, alle werden wieder sauer auf mich sein!»
Der
Blick auf die Bahnhofsuhr brachte Dana keine Antwort oder Klarheit –
höchstens die unangenehme Erinnerung daran, dass die Zeit für sie
nicht stillstehen wird.
Ihre
Eltern anrufen, ihnen beichten müssen, was vorgefallen war, oder mit
dem Tod einen Spaziergang durch die Stadt zu machen: Für Dana
stellte sich die Frage, welches Monster die grössere Bedrohung für
sie darstellen würde. So verstrichen weitere wertvolle Sekunden, die
sie mit dieser Entscheidung verbrachte.
«Ich
ähm. Sicher», meinte sie knapp.
«Super!
Danke!», rief der Sensenmann mit der Freude eines kleinen Jungen,
«und jetzt?!».
Einen
Moment standen beide weiter unbeholfen herum. Ein paar unsichere
Silben stotternd bewegten sie sich beide in eine ungefähre Richtung,
ehe Danas Fluchtinstinkt wieder einkehrte und sie in zügigem Tempo
den Weg einschlug, ihren neuen Begleiter sogleich im Schlepptau.
Das
unangenehme Schweigen hielt nicht sehr lange an: Für jemanden, der
keine Zunge besass, war der Tod sehr gesprächig. Seine Finger
zerknüllten weiterhin den Saum seines Mantels, während der
Zeigefinger der Hand, die eigentlich seine Sense hielt, auf die
Osterglocken in den Gärten, auf eine vorbeifliegende Krähe, auf
einen Tippfehler auf einem Plakat zeigte und heiser lachte.
«Du
musst mir sagen, wenn ich dich nerve!», sagte er immerzu, die
Höflichkeitsfloskeln hatte er längst aufgegeben. Dana schüttelte
immerzu den Kopf und war eine dankbare Zuhörerin; dankbar, weder die
Konversation führen zu müssen, oder doch in elendem Schweigen zu
laufen. Einzig einmal, als der Tod eine Zeit lang nichts sagte,
fragte sie aus Verlegenheit nach seinem Namen.
«Oh
neeeiiin, ich bin so unhöflich!», rief er laut aus und vergrub das
Gesicht in den Händen, «ich bin Hein! Weisst du, ich bin so froh,
dass ich dir begegnet bin, sonst hätte ich echt Ärger gekriegt –
weisst du, Busfahren hätte ich eigentlich auch nicht dürfen, ich
hatte ja gar kein Ticket, mit all den kaputten Automaten. Und am
Schalter hatte ich auch super Pech, der eine Schalter hatte diese
super lange Schlange, und der Leviathan am anderen wollte sich gar
nicht blicken lassen. Normalerweise ist dort eine alte Hydra, die
fürchtet sich nicht vor mir, aber alle anderen wollen mich nie
bedienen...»
Dana
sah Hein einen Moment fragend an, welcher ihren Blick verwirrt
erwiderte.
«Die
Beamten, die haben... Angst vor Dir?», fragte sie schliesslich.
«Oh,
ja...», kicherte Hein, «Berufskrankheit! So sagt meine Mutter
immer.»
«Ah...»,
erwiderte Dana verlegen. «Und ich dachte, du würdest dich vor ihr
fürchten, nicht umgekehrt...»
«Vor
meiner Mutter?»
«Nein,
der Sekretärin!»
«Oooh!»,
machte Hein erneut, «nein, nein, ganz im Gegenteil! Die fürchtet
sich vor allem. Kommt nie hinter ihrer Glasscheibe hervor.»
Danas
verdutztes Schweigen hatte kein Platz in Heins fröhlichem
Geschnatter, als er wenige Meter vorausrannte, um ein Schneckenhaus
vom Strassenrand zu pflücken.
«Ich
hätte ja beim Busfahrer selbst ein Ticket gekauft, aber der tut
immer, als wäre ich nicht da und hofft, dass ich dann weggehe»,
erzählte er, während er das Tierchen in einen anliegenden Garten
schmiss. «Ich meine, er hat Recht, bisher bin ich immer gegangen,
weil es so peinlich war, aber trotzdem, so was macht man doch nicht,
oder?...»
Beim
Busfahren ein Ticket holen – daran hatte Dana in ihrer Furcht gar
nicht gedacht. Zugegeben wäre das auch niemals eine valide Option
für sie gewesen; wer weiss, wie der Busfahrer auf eine Schülerin
reagieren würde, die noch nie so ein Ticket gekauft hat. Sie wüsste
nicht einmal, was sie genau sagen sollte.
«...
Vor dem Leviathan?»
«Was?»
«Hast
du denn Angst vor den Beamten? Sorry, ich rede manchmal etwas
undeutlich...»
«Äh,
nein, ich war nur abgelenkt», entschuldigte sich Dana, «ich finde
sie... Ich werde schnell nervös vor Anderen.»
«Echt?
Ich hatte eher vor dir am Anfang schon echt viel Respekt!»,
lachte Hein und kratzte sich am Ohrloch; ein sehr eigenes Geräusch,
das Kratzen von Knochen auf Knochen.
«Vor
mir?», keuchte Dana überrascht.
«Na
ja», meinte Hein, «ich hab dich schon ein paar Mal am Busbahnhof
gesehen, du warst immer alleine. Wenn schon alle anderen dich immer
in Ruhe lassen, werde ich sicher ein bisschen vorsichtig sein!»
Er
lachte, sein nacktes Gebiss klapperte aufgeregt. Dann rannte er mit
einem neuen Impuls folgend zur gegenüberliegenden Strassenseite, um
eine auf dem Bürgersteig liegende Katze zu streicheln.
An
einem anderen Tag hätte Dana sich selbst mit wacher Imagination
beschäftigt: Wie die Lehrer wohl auf ihr Zuspätkommen reagieren
würden, und was sie in ihren Strafaufsatz schreiben würde. Sie
hätte jede Weggabelung dreimal hinterfragt, ob sie denn wirklich am
richtigen Ort sei. Doch Heins lautes Plaudern war unerwarteter Segen:
Eine Ablenkung.
Der
Zufall wollte es – wahrscheinlich, weil Dana sich wieder verirrt
hatte – dass sie an einer alten Bushaltestelle vorbeikamen, die
nicht mehr in Betrieb war, doch noch eine halbwegs lesbare Stadtkarte
hatte. Zu Danas Überraschung besass Hain nicht bloss ein Flipphone,
sondern eines mit Kamera, mit der sich die Karte leicht mitnehmen
liess. Die bunten Plastikfiguren daran erinnerten Dana an ein
Gamingfranchise, welches sie wenig kannte, und am liebsten hätte sie
nachgefragt, welches es war, doch Hein quasselte sogleich drei
Gedankensprünge weiter, ohne ihr die Chance zu geben, ihn zu
unterbrechen.
So
oder so, es war nett, sich ausnahmsweise nicht heillos in einer Stadt
zu verirren, in der sie nun seit bald drei Jahren zur Schule ging.
«Oh,
da! Da!», rief Hein irgendwann nach einer Strassenkurve,
enthusiastisch Danas Schulter boxend, während er auf eine
Menschenmenge in kommender Ferne deutete. Stände und Luftballons
standen vor einem neu ausschauenden Gebäude, von irgendwo ertönte
eine Männerstimme aus einem Lautsprecher, scheinbar eine Rede
haltend. Einigen Schildern am Strassenrand zufolge wurde hier wohl
gerade ein neues Altersheim eröffnet.
«Oooh
ich bin so dankbar...», summte Hein, «Wenn ich mich beeile, komme
ich sogar noch pünktlich!»
Dana
spürte ein leichtes Stechen in der Brust mit der Realisation, dass
sich ihre Wege hier trennen würden.
«Dann
will ich dich nicht noch länger aufhalten», war die erste Floskel,
die ihr in den Sinn kam, um einen Abschied einzuleiten.
«Oh,
ich dich auch nicht! Vielleicht erwischt du ja doch noch einen Bus!»
«Was?»
«Den
Bus, hier gibt es irgendwo noch eine Bushaltestelle... Dort drüben?»
Dana
folgte Heins suchenden Blick und fand tatsächlich eine überdachte
kleine Station. Zum Stechen gesellte sich das Ohnmachtsgefühl vom
heutigen Morgen.
«Ah»,
machte sie, «ich, ähm. Ich habe kein Ticket.»
«Dann
kauf du dir eins vom Busfahrer! Vielleicht findet er dich ein
bisschen weniger gruselig wie mich», lachte Hein und boxte ihr
diesmal in den Oberarm.
Sie
versuchte eine Antwort zu formulieren, brach aber
nach einigen Entwürfen ab, da
alles etwas albern klang.
«Hast
du kein Geld?», fragte Hein ins Schweigen hinein.
«Nein,
ich... Keine Ahnung, ich weiss ja gar nicht, was sagen.»
«Hm?
Wie meinst du?»
«Halt
was man sa... Ich will dich nicht; du musst wahrscheinlich los, ich –
ich renne wahrscheinlich einfach los, weisst du, das passt schon.»
Hein
zuckte nur mit den Schultern: «Ja, hast wahrscheinlich recht, wenn
du rennst, kriegst du vielleicht den nächsten. Jedenfalls, vielen
Dank – »
Er
stoppte an dieser Stelle und starrte einen Moment lang seine
Wegweiserin mit offenem Kiefer an. Jene brauchte ebenfalls eine
Starrsekunde, ehe sie verstand.
«...
Dana?»
Hein
schaute sie noch eine Minute länger an.
«...
Dana Dante?»
«Dante!
Dana Danke! Ich meine Danke, Dante! Vielen Dank! Dana! Danke! Dana!
Es tut mir so Leid, ich habe dich nie nach deinem Namen gefragt!
Oooh, das ist peinlich, ich muss gehen!», rief Hein, noch lauter als
sein übliches Geschnatter, drehte sich um und flüchtete Richtung
Eingang des Altersheims.
«Ist...
Ist okay! Ist gern geschehen!», rief Dana überrumpelt hinterher,
zögerte dann auch einen Moment. «Was... Was soll ich im Bus
sagen?!»
«Na,
dass du ein Ticket zum Gymnasium brauchst!», rief Hein während er
durch die Drehtür rannte, mit seiner Sense prompt steckenblieb und
sie mit einer Wucht wieder befreite, dass das Glas zersprang. Dana
winkte ihm mit einer leisen Verabschiedung hinterher, als hinter ihr,
in einem praktischen, doch grässlichen Zufall, bereits der nächste
anhaltende Bus zischte.
Die
Bitterkeit, sich von Hein verabschieden zu müssen, wurde sogleich
von der kommenden Nervosität verdrängt. Sie drehte sich um und sah
die Busfahrerin durch die sich öffnende Türe an, alle acht Hände
das Steuer umklammernd, alle acht Augen Dana anblickend, als würde
sie ihre Reaktion prüfen wollen. Die düstere Orgelmusik, die aus
dem Busradio gurgelte, half nicht.
In
Gedanken lief sie den Satz ein paar Mal ab, als müsste sie ihn wie
ein neues paar Schuhe erst einlaufen: Ein Ticket zum Gymnasium.
Hallo, ich brauche... Ich möchte? Ich möchte ein
Ticket zum Gymnasium, danke. Guten Tag, ich hätte
gerne ein Ticket zum Gymnasium. Hallo, ein Ticket bis zur Haltestelle
am Gymnasium, bitte.
«Ha-»,
begann Dana und stoppte abrupt, als einer der Arme plötzlich in ihre
Richtung schnellte und sie reflexartig zur Seite sprang. Der Arm
stoppte jedoch auf halbem Weg: Mit geübter Bewegung zuckten die
Finger zum Radio, drückten ein paar Knöpfe und wechselten die CD.
«Montag ist kein Tag für Bach», zwitscherte eine hohe
Frauenstimme, ehe sie sich zur erstarrten Dana zuwandte.
«Kommst
du mit, Süsse?», lächelte die Fremde, während die ersten Akkorde
eines warmen Popsongs starteten.
Dana
atmete nochmal durch: «Ja, ich brauche ein Gymnasium zum Ticket –
»
Sofort
versenkte sie ihren Kopf in den Händen, während die Busfahrerin
laut auflachte.
«Ein
Ticket zum Gymnasium, ja?», fragte sie in einem klaren Singsang,
klackerte auf ein paar Knöpfen herum, nahm Danas Kleingeld entgegen
und drückte ihr sogleich einen Papierzettel in die Hand.
«Bitte
sehr!»
«Danke
sehr...», murmelte Dana verlegen, nahm ihr Ticket und warf einen
Blick auf die Armbanduhr der Busfahrerin.
Der
Unterricht startete in drei Minuten. Die Busfahrt selber dauerte
vielleicht zwei, wenn ihr Orientierungssinn innerhalb der Stadt
stimmte.
Ein
erleichterter
Seufzer entwich Dana.