Bevor die Sammlung sich komplett in einen Staubfänger verwandelt, habe ich ein paar, zwar ältere, aber hoffentlich interessante Sachen aus meinen Ordnern gefunden. Viel Spass damit!
Ode an die Gurke
Here's a fun one: Eine Abgabe zur lokalen Wichtelaktion aus 2018(?). Ich habe mich kürzlich in einer Konversation daran erinnert und habe sie gesucht und gefunden und hier ist sie, meine "Ode an die Freude" Parodie.
Gurke, schöne Götterspeise
Grünzeug aus Elysium
Wir besingen heit'rer Weise
Gümmerlin, dein Heiligtum
Die Geschmäcker füllen wieder
Was der Hunger lang geqäult
Menschen werden sich verbrüdern
Wer für's Buffet Gurken schält
Wer dies Glück noch nicht gefunden
Pflanze darum Gurkensaat
Wer ein grünen Gorch errungen
Mische ihn in den Salat
Ja wer auch nur eine Sorte
Kennt der juble mit uns mit
Wir woll'n drum an diesem Orte
Aufzählen was es so gibt:
Fallum, Eiffel, Hayat, Paska,
Earl Russian, Moneta,
Superator, Sprint, Johanna,
Bella, Bush und Bimbostar
Gurken essen alle Wesen
Aus den Gärten der Natur
Alle Guten, alle Bess'ren
Essen grüne Gurken nur
Alle Früchte woll'n wir hüten
Höckrig, warzig oder glatt
Sonnengelb sind deine Blüten
Borstig-Steif behaart, dein Blatt
Noch ein Klavierkonzert
Noch ein Klavierkonzert, schreibt Sydom.
«Noch ein Klavierkonzert», stöhnt Dwana.
Noch ein Konzert, und noch eins. Dazwischen eine Lektion, noch eine Lektion, noch eine Lektion, dazwischen Proben, Proben, Proben, Proben, Probe –
Wenn Sydom schreibt, stöhnt Dwana auf wie das Kutschentier, das schon wieder eine Nacht lang nicht zuhause schlafen kann. Und doch folgt Dwana Sydom, jedes Mal, zum nächsten Konzert.
«Spielst du?»
«Nein, aber mein Lehrer hat mir empfohlen, reinzuhören. Der Stil könnte mir zusagen, sagte er, vielleicht könnte ich ja was abschauen, wer weiss.»
«Könnte.»
Konjunktiv war Sydoms Sprache geworden, obschon alle ihm davon abraten, so zu sprechen. Ich könnte mir vorstellen, Pianist zu werden, ich könnte mir vorstellen, dafür das Gymnasium zu wechseln, ich könnte ja lieber etwas üben anstatt was anderes zu machen, ich würde ja gerne mitkommen, aber leider muss ich noch auf einen Auftritt proben.
Dwana spricht seine Sprache nicht, hat sie nie gesprochen. Sicher kannst du Pianist werden, wenn du dich reinhängst. Wenn du magst, geh doch auf diese Schule, das packst du. Nein, keine Sorge, mich schüttelst du deswegen nicht ab, wir bleiben in Kontakt. Nein, das ist kein Problem, üb’ du lieber. Dwana spricht von Konsequenzen, nicht von Wahrscheinlichkeit. Wenn du wirklich dafür arbeitest, kannst du das machen, Sydom, ich kenne dich, du kannst mit dem Kopf durch die Wand preschen, wenn du wirklich willst.
Und doch sind es immer diese wahrscheinlichen Szenarios, die Sydom locken. Wenn ich mich dort anmelde, könnte ich mit dieser Person Kontakt knüpfen, wenn ich diesen Wettbewerb gewinne, würde mein Lehrer vielleicht einen Schritt weiter mit mir gehen, wenn ich dieses Stück beherrsche, würde ich dann ein besserer Spieler sein?
Jede neue Chance, eine neue Rennstrecke. Das nächste Stück beherrscht Sydom innerhalb eines Tages; und der Tag ist lang, wenn er es sein muss. Innerhalb einer Woche spielt Sydom vor fünf verschiedenen Experten, innerhalb einer Woche bekommt Sydom fünfmal die Versicherung, dass er das kann, wenn er sich anstrengt, und das tut er. Als nächstes spart er Geld für einen Ferienkurs, oben in dem Weiterbildungszentrum am See, er räumt in der Bibliothek Bücher auf und verkauft am Kiosk Dinge, die er sich niemals leisten würde, er will unbedingt an diesen Kurs.
Dwana wartet unterdessen. Wartet, bis er sein Stück so gut kann, dass er Pause machen kann, wartet, bis seine Schicht in der Bibliothek oder am Kiosk endlich fertig ist, wartet, bis er von seiner Probe oder seinem Auftritt zurückkommt, wartet, bis dieses vermaledeite Konzert endlich vorüber ist. Sie kann sich erinnern, irgendwann die Stücke mal genossen zu haben, die rauchigen, tiefen Klänge und die zwitschernden, hell klingenden Töne dieses Instruments bestaunt zu haben, aber schon in ihrer Erinnerung verschmelzen alle Stück zu einer Sauce aus 88 Tasten, schwarz, weiss und wenn mal ein guter Tag ist, ist Sydom in der Erinnerung, aber das ist selten geworden.
Sie wartet, als habe sie einen Wartesaal betreten; sie wartet, im Hintergrund hat die Sekretärin eine CD mit irgendwelchen Klavierkonzerten aufgelegt, und alle finden das toll. Dwana wartet, bis alle Menschen klatschen, bis Sydom endlich aufsteht und sie ihm nach draussen folgen kann, um dann, endlich, endlich mit ihm in Ruhe reden zu können. Mindestens fünf Minuten, und wenn sie den Zug nach Hause nehmen, vielleicht sogar eine halbe Stunde.
Dwana will ihm von der Schule erzählen, die er nun für seine Karriere verlassen hat, vom Kunstprojekt, an dem sie arbeitet. Will ihm von ihrer neuen Katze erzählen, die nun schon einen Monat bei ihrer Familie lebt und sich sichtlich wohl fühlt, was Dwanas Herz jedes Mal zum Schwellen bringt. Sie will ihm über all das erzählen, was er verpasst hat, wenn er wieder probte, wenn er wieder vor anderen Menschen spielte, wenn er wieder ihr nicht gut zuhörte nach dem letzten Konzert und stattdessen über die Performance der Spieler redet und redet und redet und redet und…
«Wann haben wir das letzte Mal etwas unternommen?», will sie ihn fragen, «wann sind wir das letzte Mal gemeinsam irgendwo hingegangen?»
Letzte Woche, und die Woche davor, da waren die beiden in einem Konzert, aber das zählt nicht. Nächste Woche und die Woche danach wird wieder ein Konzert sein. Mal spielt Sydom, mal irgendein ein anderer ganz Grosser, von dem er etwas abschauen will. Und auch diese Male werden nicht zählen. Was zählt, sind diese kleinen, goldenen Momente dazwischen, wenn beide endlich nur noch sich selbst und den anderen haben und endlich miteinander gehen statt nacheinander. Vielleicht eine Viertelstunde auf eine Stunde Klavierkonzert lang.
Wenn Sydom wieder von einem Konzert schreibt, spricht, strotzt, stöhnt Dwana im Wissen, dass er ihr wieder einen Schritt voraus ist, und sie einen Schritt näher an ihrer Angst, abgehängt zu werden. Sie wollte ihm das Kutschtier sein, das ihn langsam, doch stetig näher an seine Träume bringt – denn das ist das, was sie möchte, was sie ihm wünscht, was er ihr nun mal wert ist – nun scheint es ihr mehr, als ziehe er sie mit sich, und dass wenn sie stehen bleibt, er ihr einfach davonlaufen würde.
Nun wartet Dwana eben, bis die Zeiten besser werden.
Wann auch immer das sein wird. Oder wie auch immer das aussehen soll. Vielleicht wird Sydom irgendwann doch einfach nur Klavierlehrer an irgendeiner Schule und dann könnten die beiden in den Ferien etwas gemeinsam unternehmen.
Vielleicht muss Dwana einfach nur warten, dass ist eh das einzige, was ich tun kann, aber das spricht sie nicht aus.
«Du solltest wirklich Kunst studieren!», antwortet Sydom auf ihre Geschichte mit dem Kunstprojekt, «Du hast Talent!»
«Mh, ich weiss nicht. Ich bin nicht so opferbereit.»
Sydom schaut sie fragend an, als wüsste er nicht, wie sehr Dwana doch einfach nur weg von ihrer eigenen Opferrolle will und wie oft sie sich fragte, wie lange sie denn noch auf ihn warten müsste, darauf, dass er endlich auf sie zugeht und fragt: Wann haben wir das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen?
«Ich könnte nicht so viel Zeit nur für Kunst aufgeben. Es gibt doch noch so viel mehr.»
Ich würde dir noch so viel mehr von meiner Zeit geben, wenn du mir die Chance dazu geben würdest. Aber du gibst nie, du ziehst nur.
Du gibst nie, zu ziehst nur, schreibt Dwana später, paraphrasiert. Hältst du jemals für mich an?
Dann ist es eine Weile lang still.
Sorry, schreibt er zwei Wochen verspätet, der Ferienkurs war echt intensiv, hatte kaum Zeit, irgendetwas anderes zu machen.
Dann ist es eine Weile lang still.
Kein weiteres Konzert, nicht diese Woche, nicht nächste Woche. Keine weiteren Termine, keine weiteren Warteräume.
Eine Weile lang ist still.
Eile Weile lang ist nun schon still.
Dwana ruft an.
«Hast du deine Pianistenkarriere an den Nagel gehängt oder warum hast du keine weiteren Konzerte?»
«Mit zwei gebrochenen Fingern lässt sich schwer Klavier spielen, nicht?»
«Und davon hast du mir gar nichts gesagt?»
Du gibst nie.
Gibst nie, und auch nie zurück.
Wieder ein Klavierkonzert, schreibt Sydom.
Ohne mich, antwortet Dwana. Ist Besuchstag an der Universität, von der ich dir erzählt habe.
Welche Uni?
Ich gehe doch Kunst studieren, hab’ ich dir doch schon erklärt.
Dann sehen wir uns ja noch weniger, was?
Wann haben wir uns denn zuletzt gesehen?
Noch ein Klavierkonzert, schreibt Sydom.
Keine weiteren Klavierkonzerte für mich, antwortet Dwana, Uni nimmt mir echt zu viel Zeit.
Doch noch ein Klavierkonzert, schreibt Sydrom.
Keine Antwort.
Noch eine 2018 Abgabe aus dem Board, diesmal für das literarische Tarot. Eine sehr coole Aktion gewesen imo: Schreibende erhielten drei verschiedene Tarotkarten und mussten daraus eine Geschichte schreiben. Falls sich jemand damit auskennt/nachschlagen mag, meine Karten waren: Der Gehängte, der Wagen und die Mässigkeit.
An diesem Deck habe ich mich schwieriger getan als erwartet, haha. Ich hatte zunächst eine andere Idee, die ich dann verworfen habe.
Ist gar nicht so einfach, eine Geschichte aus Elementen zu machen, welche so gar keinen Konflikt mit sich bringen (alle Karten sich richtig herum eigentlich sehr schöne Karten, selbst der Gehängte) ...
Wegen meinem Ehrgeiz, meinen Namen immer einen Hintergrund geben zu müssen und meiner Faulheit, keine zwei Stunden dafür aufwenden zu wollen, nahm ich rasch Wiktionary zur Hilfe. Sydom ist obersorbisch, umgangssprachlich für Sieben, Dwana ist kurz für dwanatka, was ebenfalls Obersorbisch für Zwölf ist. Sieben im grossen Arkana ist der Wagen, Zwölf der Gehängte. Damit konnte ich die Karten gleich an den Charakteren fixieren: Eine wartende Person, die sich mehr in Opferrolle sieht, sowie ein davonschnaubender Kutscher.
Die Mässigkeit noch reinzubringen war schwierig und ist mir im Nachhinein auch nicht so gut gelungen wie geplant. Kann es sein, dass ich Probleme habe, über Happy Ends zu schreiben? Daran könnte ich arbeiten.
Schlussendlich wird Mässigkeit hier dadurch seitens Dwana erlangt, indem sie das Ungleichgewicht in ihrer Beziehung zu Sydom beendet, sprich die Beziehung einschlafen lässt. Ich denke, dass dürfte indirekt zur Karte passen, wobei die Karte umgekehrt sicher besser zum Endprodukt gepasst hätte, haha ...
Abschweifen
Im gebleichten Gold eines Emmernfeldes gähnt gerade ein schläfriger Gott, der letzte Nacht den wolkenverhangenen Weg zum Olymp nicht mehr gefunden hat. Dies ist, an diesem Morgen, kein Verlust, nicht seiner; er weiss nicht, ob es eine schöne Nacht gewesen ist auf dem Gipfel, ob Ambrosia oder Ichor geflossen sind – heute jedenfalls wacht er in der sanften Herbstsonne auf und alles ist in Ordnung, denn der heutige Tag ist sein eigener.
Ich weiss schon, dass du mir nicht glaubst. Ich weiss auch, dass du wahrscheinlich nie aus diesem Fenster auf die Berge schaust, nie auch nur einen Moment lang auf ihnen verweilst. Würdest du hinschauen, sie wirklich ansehen, du würdest verstehen, warum Menschen weit vor uns ihre Götter auf mächtigen Gipfeln gesehen hatten.
Ich weiss, das klingt alles etwas albern, aber hör mir doch nur einen Moment lang zu.
Es ist nicht viel Korn und nicht alles Gold, was glänzt: Viel Erde ist kalter Asphalt, ein bisschen Natur ist noch hinter Gartenzäunen eingepfercht. Die Menschen hier kennen ihr Zuhause in den dicken Mauern von Betonburgen, sie kennen die Berge als Aussicht und den Olymp als Geschichte.
Der verschlafene Gott blinzelt und reibt sich den Morgentau aus den Augen, während er sich die Erinnerung an den vorherigen Tag zusammenreimt: In der Erinnerung war er ein Fremder in dieser grossen Stadt, die nicht für ihn gebaut wurde, die seinen Namen nicht kannte. Diese Strassen waren eine Odyssee, und seine Ankunft eine Obligation. Gestern kannte er jedoch weder den Weg von hier zum Olymp, noch konnte er unsere Karten lesen. Er musste erst zufällig unterwegs mir begegnen und mich fragen: Sind Sie von hier? Können Sie mir helfen? Wo finde ich den Olymp?
Ich konnte es ihm auch nicht sagen. Ich kannte mein kleines Quartier, die nächsten Bushaltestellen und wusste, wo ich meinen Recycling hinbringen musste. Aus allen Ecken und Enden dieser Stadt kam und kommt mir der Alltag entgegen wie der Geruch von alten Möbeln. Ist das ein guter Vergleich? Ich schätze, was ich sagen möchte, ist: Ich kannte einige Dinge in dieser Stadt, und einige sogar sehr gut, aber keinen Weg zum Olymp.
An jedem anderen Tag hätte ich eine sanft gemeinte Lüge erzählt – ich bin nicht ja gar von hier, oder ich bin erst kürzlich hier hergezogen – doch gestern traf meine Verwunderung auf ehrliche Verzweiflung eines fast tränenreichen Fremden. Und da ich bereits einen Weg eingeschlagen habe, erzählte ich ihm davon:
«Ich kenne keinen Olymp, aber dafür eine Strecke unweit von hier am grüneren Stadtrand hin zum Fluss, und die fühlt sich an einem gottverlassenen Sonntag wie diesem manchmal ein wenig heilig an.»
In diesem Moment klang ich natürlich nicht so eloquent, ich paraphrasiere nur ein wenig für dich. Du weisst, ich sammle Etwas, was jede Woche vom Fluss ans Ufer gespült wird; ein perlmuttfarbenes Nichts, in den Ufern unter Erde und Sand versteckt, für meine persönliche Neugier. Mein Mitbewohner behauptet, die sind aus Plastik, sind aus der Spielzeugfabrik im Norden heruntergespült worden, verlorener Kinderkram; ich finde jede Woche erneut eine solche kleine Kostbarkeit, denn das sind sie für mich, und ich wundere mich und ich staune, weisst du – ich staune.
Als ich ihm davon schilderte, von den Baumalleen, den Feldern, vom Kiesweg am Wasser und davon, dass ich soeben in diese Richtung lief, um eine Entdeckung zu machen, wuchs aus Verzweiflung tatsächlich etwas wie ehrliches Interesse. Doch als ich begann, den Weg zu beschreiben, brauchten wir nicht viele Worte, um zu sehen, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen war: Was ist eine Post?, fragte der Gott, was ist ein Kiosk? Eine Strassenampel? Kreuzungen und Bäume kannte er, Spiegel, ein paar Blumenarten aus den Gärten hier konnte er benennen, aber die Gebäude hier schienen ihm alle gleich bizarr, jede Abzweigung verwirrender als die letzte. Aber er wollte zum Fluss, er wollte unbedingt zum Wasser.
Und wie ich mich entschlossen habe, keinen Fremden anzulügen, entschloss ich mich auch, einen verlorenen Gott zum Fluss zu führen.
Dort, zum Fuss der Berge, gesäumt vom Sand, der Erde, den Feldern, liefen wir eine kurze Weile, im unangenehmen Smalltalk zweier Fremder versunken. Ich sprach zu ihm über seinen Olymp, doch er verlor darüber kaum ein Wort ausser der Tatsache, dass er dorthin müsse. Er sprach nur von dessen Bewohnern, seinen Onkeln und Tanten, Cousins, Cousinen, Geschwistern, ja sogar ein paar Eltern, die dort ihre Festmähler abhielten. Er wollte mir nicht sagen, was sie assen. Er konnte mir nicht sagen, worüber sie zu Tisch sprachen – ob sie überhaupt miteinander redeten, fragte ich mich doch im Geheimen, so wenig, wie er selbst darüber sprach.
Stattdessen deutete er auf das singende Gewässer zu unseren Füssen: Der Fluss sprach zu jedem, der ihm Gehör schenkte, doch erwürgte jeden, der ihm zu nahe kam.
«Kannst du den Fluss denn verstehen?», fragte ich in der vagen Hoffnung, nun tatsächlich etwas zu lernen.
Daraufhin blieb er erst stehen, lief dann näher ans Ufer, kniete zu Boden. Er lehnte sich tief zum Wasser hinunter, ein Ohr an die kalte Oberfläche und seine Hand plötzlich in meine gepresst. Ich verstand das als meine Aufgabe, ihn vor einem ungewollten Bad zu schützen und zog ihn sachte zurück ans Ufer; kräftig genug, um Sorge auszudrücken, doch nicht zu sehr, als dass ich sein seltsames Ritual unterbrechen könnte.
Dort, wo das Wasser seinen Kopf berührte, begannen die Wellen, Farben zu spiegeln, die ich bis dahin noch nicht kannte, und sie umspielten den Gott wie eine Krönung. Ich glaubte, das sanfte Lachen des Gewässers zu hören, fast tadelnd.
Er nickte entschuldigend, lächelte entschärfend, summte bejahend. Er sah mich an, wissend.
«Was hat er dir erzählt?»
Er nickte zum Berg hin, und ich verstand:
«Ah, der Fluss kannte den Weg?»
Er lächelte, fast höflich, als er bejahte.
«... Na dann?»
Er lächelte gequält. Ich weiss nicht, ob es Nachdenklichkeit in seiner Mine war, oder ob ich seine Sorge schlicht zu spät erkannte.
Als ich glaubte, zu verstehen, liess er meine Hand los; im Übergewicht fiel ich rücklings hin, als sein Kopf unter lautem Klatschen unter der Flussoberfläche verschwand. Alle dreizehn Finger krallten sich an die hellgelben Ufergräser, als er sich auch samt Hals und Schultern ins Wasser stürzte. Erschrocken hastete ich zurück auf die Beine, zurück an seine Hand, vergrub meine eigenen Hände in seinen Nacken, als wollte ich ihn doch noch irgendwie herausziehen; meine Augen blieben immer noch dort fixiert, wo sein Ohr zuvor den Fluss berührte, nun sein halber Torso verschwand und unmöglicherweise nicht vom Fluss als Ganzes verschluckt und mitgerissen wurde.
Als das Wasser über ihn herzog, seine so bleiche Haut in der Kälte noch heller schimmern liess, als der Strom feine Wassergräser in sein Haar flechtete, da sah ich es: Aus seinen Ohren tropfte schillerndes, flüssiges Perlmutt, und wurde sogleich vom Fluss in unmöglich bizarre Formen gesponnen, als es in langen Schlangen und Spiralen stromabwärts mitgesogen wurde. Ich sah es, es war mir mit einmal so klar; nicht logisch, aber unmissverständlich wie Traumlogik erkannte ich, wie der immerprasselnde Fluss die Erinnerung aus ihm herauswusch.
Ich versuchte, zu begreifen, als ich meine Hand nach meiner nächsten Entdeckung ausstreckte, doch mir blieb nicht lange, als ein Rauschen wie ein Orkan über mich zusammenbraute. Ich konnte kaum den Kopf heben, da zuckte ich zurück: Wolken von Vögeln prasselten alle gleichzeitig ins Wasser, gierig nach dem Schillernden fischend; Fischmäuler schwammen an die Oberfläche mit demselben, wenn nicht grösseren Hunger; die sonst spiegelnde Oberfläche wurde ein Schlachtfeld aus Greifen und Packen und Stossen und Ziehen, alle gegen jeden in der Aufgabe, den Weg zum Olymp für sich zu gewinnen - es würde doch nur jeder nur ein kleines Stück zum Olymp finden, ging es mir durch den Kopf, mit offenem Mund am feuchten Ufer sitzend, wartend.
Die aufflackernden Strassenlaternen kündigten die kommende Dunkelheit an, als der Gott den Kopf wieder an die Oberfläche zog und sich rücklings auf das weiche Ufer fallen liess. Eine dünne Spur silberner Flüssigkeit tröpfelte noch immer aus seinem Ohr in den Sand. Die Vögel und Fische waren weitergezogen; ein Fuchs lungerte einzeln am Ufer und schnupperte, als wäre noch ein letzter Rest Weg ins Gras gespült worden.
Wir schwiegen uns einen Moment an.
«… Daraus wird wohl heute doch nichts mehr?», fragte ich schliesslich, nur um etwas gesagt zu haben.
Er schüttelte den Kopf, als seine Finger im Sand nach etwas gruben. Zwischen seinen Fingerpitzen zog er einen kleinen Gegenstand aus dem Boden und streckte ihn mir entgegen.
Schweigend nahm ich das Etwas entgegen. Es glitzerte sachte; der einzelne Schritt zum Olymp glänzte in meiner Hand.
Er antwortete zunächst nicht, stand auf und lief weiter, ohne auf mich zu warten. Schweigend folgte ich ihm entlang der Allee, während die Nacht über die Szene anbrach.
Ich muss gar nichts im Leben, sagte er schliesslich, bereits viele hundert Meter weiter, nicht wirklich an mich gerichtet, doch mit voller Überzeugung; ich muss gar nichts ausser sterben, zuletzt.
Darauf bedankte er sich, legte sich erschöpft und müde hin zur weichen Erde und schlief ein.
Ich weiss nicht, wohin es ihn heute treiben wird. Vielleicht kommt er zurück, unser schlaftrunkener Gott, vor der wach werdenden Stadt flüchtend, leise zurück zum Fluss wie ein heimlicher Geliebter – oder aber es drückt ihn dennoch, endlich den Olymp zu finden, und er nimmt ein letztes Stück Hoffnung und zieht los, oder aber liegt schon lange nicht mehr in seinem Feld, war noch nie in dieser Stadt und die Nacht war nie von Göttern und Geistern bevölkert und du sitzt immer noch da und schaust mich an und ich weiss, ich weiss...
Ich weiss, du denkst, ich fantasiere. Und du hättest Recht, ich bin diesem Fremden nie begegnet, ich habe gestern ja gar nie meine Wohnung verlassen, hatte genug anderes zu tun. Ich habe nur gerade jemanden gähnen gehört und das sich im Wind wiegende Feld aus meinem Fenster gesehen und dachte, ich erzähle dir von einem schläfrigen Gott, dem ich gestern begegnet sein könnte, anstatt dir wenig durchdachte Antworten auf zu viele durchgekaute Fragen zu geben.
Wann hast du zuletzt einem Fremden geholfen? Ist gut, ich hör ja auf, was soll ich dir denn sonst erzählen. Ja, es geht mir gut, dir auch? Schön, ja, ich studiere immer noch; ich lebe in derselben Wohnung mit derselben Aussicht auf die Berge und auf die Felder hier draussen; ich glaube, es sind Weizen, wenn ich ehrlich bin.
Da draussen passiert eine ganze Welt – ja, nein, es geht mir wirklich gut, aber da draussen passiert eine ganze Welt an mir, an uns vorbei, und ich sitze hier und starre und staune und denke mir Geschichten aus, an denen ich gerade ein bisschen lieber teilhaben würde als dieser Konversation. Tut mir Leid, ich wollte nicht abschweifen.
Doch, ein kleines bisschen wollte ich schon abschweifen, tut mir Leid.
Was hast du denn so gemacht?
Hab lange darüber überlegt, ob ich die Geschichte veröffentliche, ob ich sie nochmals überarbeiten möchte... Schlussendlich würde ich sie gerne einigermassen abschliessen, also kann ich sie genau so gut hier hin packen. Nicht mein Lieblingswerk, aber es hat ein paar Elemente drin, die mir sehr gut gefallen.
Ansonsten - (tiefer Seufzer) okay, ich schwöre, ich bin in der Lage, mehr als nur vibe-heavy Urban Fantasy "in einer undefinierten Welt existieren Götter und alles ist ominös und es ist wahrscheinlich eine Metapher"-Geschichten zu schreiben. Aber nicht heute.
Dieser Entwurf ist tatsächlich deutlich älter als Isch's Geschichte. Die ersten paar Absätze dieses Werkes entstanden Mitte 2020, als mein Laptop gegen Ende einer Vorlesung wegen leerem Akku starb, ich kein Kabel dabei hatte und in einer Viertelstunde das Gebäude sowieso für meinen Feierabend verlassen hätte. Die verbleibende Zeit verbachte ich mit einem Kugelschreiber und meinem Notizblock; diese Notizblätter verschwanden dann eine Weile in meiner Tasche, ehe sie abgetippt wurden und dann eine weitere Weile in meinem Ordner rumgammelten. Der Anfang hat mir immer sehr gut gefallen (und ich denke, das ist alles, was man wissen muss, um meinen Schreibstil zu verstehen), weshalb ich ihn vervollständigen wollte.
Das schlussendliche Ende wurde von diesem exzellenten Musikvideo inspiriert (nicht, dass dies ein wertvoller Kommentar wäre, aber es ist eine ausgezeichnete Band und ich empfehle sie gerne weiter).
Rekommentare, d.h. Dankesagen:
Vielen lieben Dank für deine lieben Worte! Ugh, das Echo des Gedichts in deinem Feedback zu lesen ist echt cool, scheinbar kam meine beabsichtigte Idee tatsächlich ähnlich rüber. Als ich das Gedicht damals schrieb, war es tatsächlich aus einer sehr menschlichen Perspektive; der Wunsch oder die Absicht, so sicher und standhaft wie ein Baum zu existieren. Die "Doppeldeutigkeit" wat entsprechend sehr beabsichtigt, und offenbar icht ganz verloren.
Würde mich freuen, dich wieder mal zu sehen!
Immer ein Vergnügen, dich hier begrüssen zu dürfen!
Zitatbei Dantes Schulweg komme ich nicht umhin zu glauben, dass die genannten Monster und Fabelwesen gar nicht wirklich da sind, sondern lediglich in Danas Vorstellung existieren. Dementsprechend könnte sich der Text darauf verstehen, die innersten Ängste in extremer Form zu zeigen, obwohl das Umfeld durchaus freundlich anmuten
Das zu lesen war eine angenehme Überraschung - in einem ersten Entwurf war das tatsächlich die geplante Absicht (es war auch die ursprüngliche Idee meiner Partnerin). Mit der Zeit wurde es etwas verdünnt und verwässert, die Knochen sind noch da, aber das Fleisch ist ein anderes, ich bin nicht davon ausgegangen, dass es sich besonders klar herausliest. Scheinbar doch!
ZitatSelbst, wenn dem nicht so sein sollte, ist die Begegnung mit dem Tod höchstpersönlich sehr amüsant geworden und ich mag das Zusammenspiel zwischen Dana und Hein. Auf mich machen sie den Eindruck, als würden sie sich schon immer kennen und sich gegenseitig ihre Ängste nehmen. Eine innige Freundschaft also.
Das war sicher noch klarer beabsichtigt und freut mich umso mehr, zu lesen :D
Heyhey, waren tatsächlich nicht meine letzten Worte hier - vielen Dank für deine positiven Worte! Ich hoffe, meine Literatur war eine gute Zeit, vielleicht hast du von diesen Werken ja auch was, wer weiss. c: