Part V: Für die Zukunft!
Rücken an Rücken standen Raven und Xell und trieben mit tanzenden Flammen und züngelnden Blitzen ihr Gegenüber, 50 Kilo in harte Schalen gepanzerte Krakengestalten, immer weiter zurück. Der schnabelähnliche Mund von Ravens Widersacher rasselte aufgebracht, als ein Funke auf seinen dornenversehenen Rückenpanzer krachte. Raven spürte einen Luftzug, im selben Moment löste sich der Druck von seinem Rücken. Xell hatte Abstand zu Raven eingenommen und ging nun in den Nahkampf. Der Boden zitterte, Staub bröselte von der Decke herab, Xells triumphierender Kampfschrei fegte durch die Höhle, erstarb aber so jäh wie er gekommen war und verwandelte sich in leises Fluchen. Raven hatte keine Gelegenheit, sich herumzudrehen oder um sich um das Wohlergehen seines Freundes zu sorgen. Die Stacheln an dem Panzer von Ravens missgelaunten Widersacher leuchteten alarmierend auf. Raven schnappte nach Luft, seine Beine stießen ihn hart vom Boden ab, Sekunden bevor eine Salve nadelspitzer Lichtpfeile die Erde an seiner noch eben gestandenen Position zersiebten. Ravens Pfoten setzten wieder auf dem Boden auf. Seine Krallen schlugen in den aufgeweichten Höhlenboden und gaben ihn den notwendigen Halt, von der erdrückenden Gewalt seines eigenen Elektro-Angriffs nicht überwältigt zu werden. Der Blitzschlag pflügte über den Boden weg, zertrümmerte auf seinem zerstörerischen Streifzug einen kleinen Felsen und ließ die Luft aufgewirbelte Steindolche weinen. Noch ehe der Stromfluss aber sein Ziel finden konnte, zog sich das krakengleiche Pokémon in seinen Panzer zurück. Seine steinerne Behausung wurde augenblicklich von Ravens Attacke eingehüllt und leuchtete in einem gleißenden Gelb auf. Raven bohrte seine Krallen nun noch tiefer in das Erdreich hinein und ließ die knisternde Verbindung zwischen sich und seinem Gegner nicht abreißen. Sein Herz hämmerte kraftvoll in seinem Brustkorb und begann unter den ihm auferlegten Strapazen laut zu schreien. Ein wütender Kampfschrei entrann gleichzeitig seiner Kehle, der Schmerz in seinem Kopf verdoppelte und der Lärm in seinem Trommelfell verdreifachte sich. Der Fluss aus purer Energie wuchs rapide mit dem Abklingen seines Kampfesschreis an. Qualm stieg an den Stellen auf, an denen flüchtige Blitze auf ihrem zerstörerischen Trieb den Höhlenboden versengten. Inmitten seines regungslos in seinem Panzer verharrenden Gegners hatte sich zwischenzeitlich ein Krater gebildet, der mit jeder Sekunde an Bodenlosigkeit wuchs und das ausharrende Pokémon Millimeter für Millimeter tiefer in den Boden hinein drückte. Die aufgewirbelten Gesteinsfragmente zerfielen mittlerweile bereits in der Luft zu Staub, bevor sie den Boden erreichten. Raven fühlte seinen Herz wie ein kraftvoll auf ihn selbst einschlagender Hammer, jedes Quäntchen Luft hatte seine Lungen verlassen, die Bilder um ihn herum wurden langsam aber sicher unscharf.
Noch ein letztes Mal beschwor er seine letzten Kraftreserven auf, jagte eine weitere zerstörerische Druckwelle durch die Stromverbindung, bevor er diese endgültig kappte. Länger hätte er sie ohnehin nicht aufhalten können. Augenblicke später füllte er seine Lungen wieder mit Luft – der rettende Atemzug. In seinen Ohren klingelte es noch und alles um ihn herum, das Brüllen seiner Kampfgefährten, die Intensität von Xells Flammenbällen, sogar den fernen Aasgeruch, konnte er nur vage wahrnehmen. Weißer Rauch stieg von dem noch immer in seinem Panzer ausharrenden Gegner auf; nichts aber rührte sich. Keine schlingernden Tentakel kamen zum Vorschein, kein rasselnder Schnabel, keine Augenschlitze funkelten ihm wütend entgegen und kein Leben regte sich mehr.
„Raven! Ich könnte hier etwas Hilfe gebrauchen!“
Raven wirbelte um die eigene Achse dem flehentlichen Schrei seines Freundes Xell entgegen, so schnell, auf dass seinen Gliedern ein erbostes Knacksen entfuhr. Seine Pupillen weiteten sich, als er seinen hilfeschreienden Freund und dessen würgende Stimme unter einem Meer von aufdringlichen und wild peitschenden Tentakeln verschwinden sah. Noch immer war Ravens Brustkorb wie zugeschnürt und doch versetzte ihm die unbändige Sorge um Xells Wohlergehen den notwendigen Schub. Vier fuchsige Pfoten trommelten über den vernarbten Höhlenboden, sein eigener Atem peitschte ihm ins Gesicht, die nicht weniger furchterregende Gestalt des gepanzerten Zwillings von Ravens eben erst gefällten Feind kam mit jedem seiner wütenden Schritten näher. Kräftig stieß er sich vom Boden ab und noch kräftiger rammte er im freien Flug seine Schulter gegen die steinharte Schale seines Widersachers, unter dem sein Freund begraben lag, und schmetterte diesen von Xell herunter. Zu der Schwärze, die sich immer mehr von Ravens Orientierungssinns einverleibte, gesellten sich nun noch kleine tanzende Sterne und ein metallischer Geschmack, der ihm in der heißen Kehle lag – Blut. Raven würgte das warme Rinnsal in seiner Galle herunter. Seine Kiefer malmten - vergebliche Versuche, den pochenden Schmerz in seiner Schulter irgendwie klein zu halten. Mit Schmerztränen in den Augen suchte Raven den Blick seines Freundes und konnte glücklicherweise erleichtert ausatmen. Xell sah schrecklich aus: Kleine, rote Pusteln zeichneten sein schweißnasses Gesicht, sein Fell stand wild verstrubbelt in sämtliche Himmelsrichtungen ab und seine Nase blutete - und doch war er in Ordnung. Mit fest an sein Herz gepresster Hand röchelte er seinem Freund entgegen und besprenkelte ihn versehentlich mit seinem Speichel. Ein etwas schwächliches Lächeln formte sich auf seinen Zügen.
„Ich ...“, er hustete, „ich ... wusste, ... dass du mich ... nicht hängen lässt ...“
Raven konnte sich wieder fassen, die Gewalt in seinem zertrümmerten Körper schien mit der Gewissheit, Xell in Sicherheit zu wissen, schlagartig wieder die altbekannten Züge anzunehmen. Auch er lächelte seinen noch immer am Boden liegenden Freund entgegen.
„Ich doch nicht“, sagte er.
Xells Augen huschten an seinem Freund vorbei, sie weiteten sich, ein wütender Kampfschrei gepaart mit über den Boden peitschenden Tentakeln zerriss die Zweisamkeit.
„Pass auf!“
Raven verlor den Boden unter den Füßen und prallte auf selbigen auf, gleichzeitig blieb es ihm aber erspart, das eben erlebte Schicksal seines Freundes zu teilen. Mit ganzer Kraft hatte Xell seinen Freund zur Seite gestoßen und war gleichzeitig seitlich über den Boden gerollt, um nicht wieder unter einem Meer von schlingernden Tentakeln begraben zu werden. Ein Zentner Lebendgewicht hämmerte mit vernichtender Gewalt genau auf die Stelle, an der Xells Leib vor Wimpernschläge noch am Boden gefesselt war. Beide, Raven und Xell, rappelten sich auf und blickten direkt in die starren und zugleich wütenden Glubschaugen des Pokémons, das fast zu Xells Verhängnis geworden war. Ein Wasserschwall entrann seinem schnabelähnlichen Maul, zerfetzte massives Gestein und schlug auf seiner Jagd nach den zurückweichenden Raven und Xell eine zentimetertiefe Bresche in den Boden. Raven konnte die Gewalt des Wassers und die dadurch aufgewirbelnden Steinfragmente auf sein Trommelfell einhämmern hören, während er auf seinem Rückzug Purzelbäume schlug. Wieder griff die Finsternis nach ihm und wieder mobilisierte er seine letzten Kraftreserven. Seinem rasenden Kampfschrei gesellte sich der Xells hinzu. Weißer Qualm stieg auf und schob sich wie ein Nebelschleier vor die Augen. Es zischte und krachte, als sich Xells züngelnder Flammenstrahl mit dem gleichzeitig abgefeuerten Stromschwall Ravens vereinten und die unaufhörliche Wasserfontäne aus dem Maul des Pokémons immer weiter zurückdrängte. Raven knickte ein, die Kraft verließ ihn. Die durch den schweren Dunst ohnehin verworrenen Bilder verschwammen und doch ließ er den Fluss der Elektrizität, die sich direkt aus seinem Fell entlud, nicht abreißen und verlangte seinem zermalmten Körper weiterhin alles ab. Er fühlte seine Beine nicht mehr. Mit seinem nach Atem ringenden Husten verlor er die Kontrolle über seine Attacke, die in diesem Moment schlagartig erlosch – und auch Xells tanzender Feuerstrahl verlor seinen Kampfwillen, bis dieser schließlich gänzlich gebrochen war und erstarb. Eines nach den anderen von Ravens Gliedmaßen klappten nach und nach ein, bis er schließlich vor Erschöpfung bäuchlings auf dem kalten Boden lag. Auch Xell sackte zusammen und fiel atemringend auf den Boden. Nichts regte sich in dem schier undurchdringlichen Nebelschleier, in dem ihr Gegner verschwunden war. Raven und Xell röchelten ihre Erschöpfung im Duett aus ihren Leibern heraus und schnappten nach dem lebensrettenden Sauerstoff. Die Luft war heiß und dunstig und doch zwang sich Raven, Augenblicke vor dem vollständigen Kollaps, jedes Quäntchen von dem Sauerstoff in seinen glühenden und blutschmeckenden Rachen.
Die Sekunden verstrichen. Sekunden, in denen man bangend den undurchdringlichen Nebelschleier zu röntgen versuchte. War es vorbei?
Ravens klägliche Aufstehversuche erstickten noch im Keim. Sah man von einfachen Atemholen und blinzeln ab, hatte er nahezu jegliche Körpergewalt verloren. Sein Kopf hing schlaff auf der dreckigen und kalten Erde, sein heißer Atem wirbelte den Staub auf und ließ ihn kurz in der Luft tanzen, bevor er langsam wieder gen Boden schwebte. Auch Xells Bemühungen waren zum Scheitern verurteilt. Kurzerhand ließ er sich von den Knien bäuchlings auf den Boden fallen. Seine Fingernägel kratzten kraftlos über den Boden. Erneut hustete Raven, eine Reaktion auf einem widerlichen Kratzen im Hals, was er im Nachhinein bereute. Drei Mal röchelte er und drei Mal wurde es ihm rabenschwarz vor den Augen. Und doch wurden seine Sinne mit jedem weiteren Luftholen ganz langsam wieder schärfer. Verschwommene Bilder wurden zunehmend klarer, das Gefühl des kalten Bodens und die heiße Luft, die ihn umgaben spürbarer, sogar den Aasgeruch der langsam vor sich hin verrotteten Fische konnte er wieder leicht in der Nase brennen fühlen.
Ein kalter Schauer jagte Raven urplötzlich über den Rücken und ließ ihn wie im bittersten Winter frösteln. Der Boden zitterte merkbar auf, ein tobendes Brüllen durchbrach den Frieden. Keiner von beiden, weder Raven noch Xell, die in parallelen Abstand von etwa fünf Metern zueinander lagen, mussten lange suchen, um die Ursache des erneuten Tumults zu finden. Hätte er die Kraft gefunden - Raven hätte sich wohl ungläubig die Augen gerieben. Zwei paar krallenbespickte Beine schabten über den Boden und eines von ihnen erkannte Raven in seiner hilflosen Lage sofort. Plaudagei und sein ihm fast dreifach überragender Gegner tauchten vor den Augen Ravens und Xells auf. Die sensengleichen Arme von Plaudageis Gegner lagen über Kreuz und stemmten sich mit aller Gewalt gegen den kleinen rosaroten Schnabel, der ihm erbost Paroli bot. Die braunen Pupillen des sensenschwingenden Monstrums verengten sich hasserfüllt, während ihn der kleine Papagei, mit dem gleichen geringschätzigen Gesichtsausdruck, immer weiter zurückdrängte. Plaudagei setzte einen seiner Füße noch vorne und drückte seinen Gegenüber wie einen sturen Felsen einfach von sich weg. Sein Gegner stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Die sichelgleichen Klingen blitzten bedrohlich auf, doch zitterten gleichzeitig. Die Krallen von Plaudageis Widersacher zogen eine tiefe Furche in die Erde, während sein Besitzer Zentimeter für Zentimeter weggeschoben wurde.
„Kneif mich ...“, entrann es Xell, noch immer atemringend am Boden gefesselt, fassungslos aus dem Hals.
Auch die wohl gefährlichste Waffe Plaudageis, sein Schnabel, zitterte unter der Last der beiden Klingen nun bedrohlich und doch wagte er einen weiteren Schritt. Wie ein Schwert, das eine gekreuzte Schneide abwehrte, stieß Plaudagei schließlich die beiden Sensen vor ihm gekonnt nach oben. Raven hatte nur kurz geblinzelt, als Plaudagei plötzlich auf dem Kopf seines Gegners thronte, seine Krallen in den glatten Kopf schlug und seinen Schnabel gleichzeitig wie ein Werkzeug, das Metall bearbeitete, auf den schildähnlichen Kopfpanzer seines Feindes krachen ließ.
„Nicht – noch - einmal – hörst – du?!“ Jedem seiner krächzenden Worte verlieh er mit einem fuchtigen Schlag seines Schnabels mehr und mehr Nachdruck. Die Sensen des aus Leibeskräften brüllenden Ungeheuers heulten auf ihrem hungrigem Kreuzzug durch die Luft, verfehlten aber den kleinen Vogel, der seine hackenden Attacken unbeirrt fortsetzte. Raven schluckte seine Übelkeit, die ihm erneut die Kehle hinaufkroch, herunter, während er die Bilder, die sich vor ihm wie ein Film abspielten, betrachtete. Noch immer nach Plaudageis befiederten Leib dürstend, stolperte das ebenholzfarbene Pokémon langsam aus Ravens Sichtweite. Seine Züge lösten sich zögerlich in dem ungelichteten Dunstschleier auf. Alles, was blieb, waren die Geräusche von wütendem Metall und einem aufgebracht hackendem Schnabel, die die Luft durchsiebten, und das Kampfgeschrei der beiden Kontrahenten.
Raven robbte verzweifelt über den Boden, schlug seine Krallen in das harte Erdreich. Er musste irgendwie helfen, irgendwie wieder auf die Beine kommen ... Jeder Millimeter seiner kriechenden Fortbewegung kostete ihn sämtliche seiner in dieser kurzen Zeit kümmerlich angesammelten Kraftreserven. Aufgebrachte Funken lösten sich knisternd aus seinem Fell, während er sich zähneknirschend dem weißen Vorhang und dem Getümmel, das er vor neugierigen Augen verborgen hielt, näherte. Dann plötzlich – Stille. Das Aufeinanderkrachen von Sensen und Schnäbeln erstarb jäh, ebenso das Brüllen der Kontrahenten.
Die gespenstische Stille lag tonnenschwer auf Ravens zum Zerreisen gespannten Nerven. Warum war es still? Was war geschehen?
„Pl-Plaudagei?“, rief er verunsichert in den Nebelschleier hinein. Ereignislose Sekunden verzogen. Dann erneut: „Plaudagei?“, rief er erneut. Diesmal beherrschte Furcht den Ton seiner Stimme.
Schweres Poltern hämmerte plötzlich auf und ließ den Boden, auf dem Raven lag, zittern. Wieder polterte es, und wieder ... Das Geräusch näherte sich schnell und gewann zunehmend an Kraft. Es waren Schritte. Schritte, die zu schwer für den fast schwebenden und federleichten Körper Plaudageis waren. Es war ...
„Nein!“ Raven versagte die Stimme. Sein Fell flimmerte alarmierend auf. Die Umrisse von Plaudageis Widersacher nahmen durch den weißen Vorhang Gestalt an, ein mahagonibrauner Fuß, an dessen Spitze zwei scharfe Pranken klafften, trat aus dem Nebelschleier hervor, die dunklen, erbarmungslosen Augen des gepanzerten Schalentiers erfassten Raven. Er trat nun gänzlich aus dem Dunst hervor, eine bedrohlich blitzende Sense wurde in die Höhe gerichtet, zerriss die Luft, schnellte herab ... Ravens Herz stand still. Wie im Zeitraffer sah er die blanke Waffe auf sich, noch immer wehrlos auf dem Boden liegend, zuschnellen. Er schloss die Augen. Die panischen Rufe Xells, das Hämmern der Gedanken in seinem Kopf und das Metall, das eine Schneise in die Luft zog – sie waren seine Wiegenlieder, wenn er nun, für das letzte Mal in seinem Leben, die Augen schloss ...
Der Schmerz aber ... blieb aus. Worauf wartete er? Warum beendete er nicht sein grausiges Werk, beendete das Leid seines ihm schutzlos ausgelieferten Gegners und begrub die Hoffnung der Welt auf einen neuen Morgen? Warum tat er es nicht ...? Raven öffnete die Augen einen Spalt weit – gerade noch rechtzeitig, um zu betrachten, wie der Koloss von einem Schnitter plötzlich ohrenbetäubend mit dem unbarmherzigen Boden kollidierte. Raven riss seinen Kopf zur Seite, wo seine Augen bereits von einem gleißenden Blitzen scharfer Klingen fast geblendet wurden. Die Blätter an Reptains Armen nahmen wieder ihr markantes Grün an, seine gelben Augen leuchteten Raven wie funkelnde Sterne entgegen.
„Na, alles klar?“