Kapitel 3: Habe die Ehre?
Part 1: Das etwas andere Erwachen
Bereits nach kurzer Dauer hatte mich Stans ruheloser Schlaf aus seinem Schlafsack getrieben. Ich fühlte mich irgendwie stark an den anfänglichen Beginn unserer gemeinsamen Reise zurückversetzt, da war dies nämlich beinahe alltäglich gewesen. Je länger wir allerdings unterwegs waren, desto mehr verbesserte es sich allerdings. Wer konnte allerdings ahnen, dass Stan plötzlich rückfällig wird? Immer wieder stöhnte er im Schlaf leise auf, wälzte sich unruhig hin und her und lediglich die Anstrengung des Einschlafens trieb ihm den Schweiß in Strömen auf die Stirn. Bildete ich mir das nur ein oder beschäftigte ihn tatsächlich irgendetwas? Ich wohnte diesem Bild des Jammers noch einige Minuten bei, bevor mich die Müdigkeit übermannte. Noch mit meinem letzten wachen Augenblick hatte ich mir selbst vorgenommen, Stan darauf anzusprechen. Doch am nächsten Morgen hatte ich es schon wieder vergessen ...
Kein nervenzerfressendes Stöhnen oder das ständige Rascheln eines Schlafsackes war mehr zu hören, als mich die Sonnenstrahlen sanft aus meinem Schlummer kitzelten. Das kleine Lagerfeuer, das Stan am gestrigen Abend noch auf die Schnelle mühselig und aus Leibeskräften entflammt hatte, knisterte noch leise vor sich hin und ein Teil Restwärme strahlte von ihm aus. Ein herzhaftes Gähnen entwich mir; gleichzeitig meldete sich mein Magen lautstark zu Wort - kein Wunder. Seit dem Frühstück gestern hatte ich – Feurigels egoistischer Fressgier sei’s gedankt – nichts zwischen die Zähne bekommen. Konnte ich Stan guten Gewissens wecken? Andererseits schien er endlich Ruhe gefunden zu haben. War mein Magen wichtig genug, um diese Friedlichkeit zu beenden? Zu dem Zeitpunkt, als unsere Reise begonnen hatte, hätte ich vor dieser Entscheidung nicht mal mit der Wimper gezuckt. Jetzt aber ... Irgendwie konnte ich es nicht – oder vielleicht doch? Diese Frage musste ich an diesem Morgen glücklicherweise nicht mehr für mich beantworten. Mein leiser innerlicher Konflikt wurde auf die wohl plötzlichste und haarsträubendste Art und Weise unterbrochen, die man sich überhaupt nur vorstellen kann.
„Guten Morgen, Sheinux. Gut geschlafen?“
„Oh ja, danke. Ich ...“
Erst jetzt realisierte ich, dass ich diese sanfte und piepsende Stimme überhaupt niemandem zuordnen konnte. Wer hatte da gerade gesprochen? Panisch schweifte mein Kopf umher, doch niemand war da. Nur ich und Stan, der noch immer in seinem Schlafsack leise vor sich hin schlummerte.
„Huhu, hier unten, du Dummerchen!“, erklang sie abermals.
Mich kribbelte es innerlich unangenehm und bereits die ersten Fellhaare stiegen alarmierend in die Höhe, als ich mich der Geräuschquelle zuwendete und ...
„Huch!“
So ruckartig war ich aufgesprungen, dass es mir, mangelnds angetriebenem Kreislauf, im ersten Moment noch ganz schwarz vor Augen war. Meine Beine zitternden und ich schwankte anfangs bedrohlich. Ein kleines Geschöpf sah mich mit ihren hell strahlenden blauen Augen an. Sie hatte offenbar die ganze Nacht neben mir verbracht, ohne dass ich es überhaupt realisiert hatte. Mit hängendem Kiefer gaffte ich ihr entgegen.
„Tihihi“, kicherte sie leise. Amüsiert strich sie sich mit ihrem rechten Vorderbein etwas die grüne, grasgleiche Haarpracht von ihrer Stirn und rückte sich gleichzeitig die rosarote Blume, die etwa in Schläfenhöhe saß, zurecht. Ihre vier weißen Beinchen drückten den kleinen Körper nach oben, was sie allerdings kaum größer machte, als wenn sie lag.
„Wer – wer bist ...“ Tollpatschig, wie ich war, biss ich mir auf die Zunge und verschluckte mich an meiner eigenen Flüssigkeit. Nach einem heftigen Hustenanfall fragte ich dann: „Äh – mit wem habe ich die Ehre?“ Wangen, Nase, ja selbst meine Ohren glühten. Gott, war die süß!
Die Fremde lächelte geheimnisvoll. Ihre Augenlider blinzelten nur ungeheuer langsam. Sie kicherte, antwortete aber nicht.
„Äh – deinen Namen habe ich – also, habe ich nicht ganz so – mitbekommen.“ Hilfe, stellte ich mich selten blöd an! Da wirkte selbst Stan, der Thronprinz des Selbstzweifels, der Fürst der Unentschlossenheit, der unangefochtene Großmeister des Zwiespalts, regelrecht harmlos im Vergleich zu mir. Warum musste ich nur rot werden, warum musste ich mich nur so verkrampfen, warum bloß ...?
„Da wird doch wohl nicht einer schüchtern sein?“, piepste sie amüsiert. „Die ganze Nacht über hast du so lieb mit mir gekuschelt.“
„Äh ...“ Jetzt versagte mir die Stimme. Meine versteinerte Zunge lag in meinem völlig ausgetrockneten Mund brach.
„Du darfst mich Shaymin nennen“, kicherte sie*. Shaymin amüsierte sich offensichtlich königlich über mein tölpelhaftes, stangleiches Verhalten. Welche Schmach für einen legendären Voltensobezwinger ...
„Schö- schöner Name“, würgte ich schließlich hervor.
Shaymins weiße Wangen nahmen einen Hauch rosa an. „Oh, findest du?“, lachte sie. „Das ist sehr süß von dir, Sheinux, ehrlich.“
„Wo- woher kennst du eigentlich meinen Namen?“
„Tihihi.“