Gary wälzte sich in seinem Bett hin und her. Die Sonne hatte ihn wach gekitzelt, doch der junge Trainer wollte noch nicht aufstehen. Etwas warmes, hartes berührte seine Wange und Gary schrak hoch. Das blaue Ei lag auf seinem Kissen. Es verhält sich immernoch wie ein Stein, dachte Gary und bemühte sich aufzustehen. Das Zimmer wurde von den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster schienen, hell erleuchtet. Der junge Trainer streckte sich ausgiebig und gähnte herzhaft. Dann sah er sich kurz in dem kleinen Raum um. Das andere Bett war leer, doch Jace' Rucksack lag noch auf dem Boden. Gary zog sich schnell ein paar Klamotten über, packte Taschenlampe und Notizbuch in die Hosentaschen, schnappte sich das Ei und verließ das Zimmer.
In der Eingangshalle saßen Jace, Chloé und Lucia an einem Tisch, auf dem eine riesige Tüte mit Brötchen stand. Die anderen Jugendlichen quatschten und lachten. Gary näherte sich dem Tisch und rief: "Guten Morgen!"
Die Anderen antworteten im Chor: "Guten Morgen!"
"Na, gut geschlafen?" fragte Jace.
"Ja hab ich. Ich erkunde mal die Stadt. Ich hab was interesantes entdeckt. Erzähl ich euch später" sagte Gary, schnappte sich zwei Brötchen und verschwand aus dem Pokemoncenter.
Draußen wehte eine kühle Brise. Gary schlang die Brötchen hinunter und ging auf eine alte Dame zu, die vor einem Haus im Schaukelstuhl saß und strickte. "Guten Tag, verehrte Dame. Entschuldigen sie die Störung, aber kann ich sie etwas fragen?"
Chloé kam das vorbereitete Frühstück im Pokemoncenter schon beinahe mickrig vor, wenn sie an das atemberaubende Buffet in der Pension dachte. Hier standen nur ein paar Teller bereit, in der Mitte des Tisches eine große Tüte mit Brötchen und ein paar Eier, fünf um genau zu sein. Aber das Pokemoncenter schien ja auch nicht viel besucht, so war das wohl okay. Chloé und Lucia waren fast zeitgleich aufgewacht, hatten sich schweigend angezogen und waren zu dem einzigen Tisch des Centers gegangen, wo Jace schon auf sie wartete. Die dunklen Ringe unter seinen Augen waren fast vollständig verschwunden, doch man sah Jace noch immer an, wie erschöpft er war, denn seine Haare fielen ihm matt ins Gesicht. Nachdem sich die Mädchen gesetzt hatten, hatten sie begonnen, das Frühstück zu verzehren. Chloé nahm sich ein trockenes Brötchen und belegte es mit einem Ei, da es viel mehr Auswahl auch nicht gab. Es zerging ihr auf der Zunge und abermals merkte sie erst jetzt, wie viel Hunger sie eigentlich gehabt hatte. Binnen einiger Minuten war das erste Brötchen in ihr verschwunden, und sie wollte sich gerade ein zweites nehmen, als Gary aus dem Zimmer geeilt kam und ihr ein Brötchen vor der Nase wegschnappte, sodass keines mehr übrig war. Toll, dachte Chloé und griff sich missmutig das letzte Ei, während Gary schon wieder aus dem Gebäude verschwunden war. Jace starrte ihm mit einer Mischung aus Verwunderung und etwas anderem hinterher, was Chloé nicht deuten konnte. "Der hat an den Ruinen da unten wohl einen Narren gefressen," stellte Jace zwar sachlich, aber dennoch mit einem Grinsen unterstrichen, fest, und die beiden Mädchen mussten gleichzeitig lachen. Lucias Stimme ertönte. "Naja, wir haben ja noch ein bisschen Zeit hier, soll er machen, was er will. Aber wir machen uns heute auch wieder auf den Weg, oder?" Fragend blickte die Blauhaarige in die Runde, und ihre Frage wurde von einem zögerlichen, aber dennoch einstimmigen Nicken beantwortet. Geistesabwesend sah Chloé aus dem Fenster und versuchte, ihren noch immer knurrenden Magen zu ignorieren. Dort draußen sah sie Gary, der sich in ein Haus nach dem anderem schlich. Chloé schmunzelte. "Seht mal, geht Gary jetzt unter die Einbrecher, oder was?" Die Frage ging letztlich in einem Lachen unter, und auch Jace und Lucia stimmten schallend mit ein.
"Sehr interassant. Vielen Dank" sagte Gary und schloss sein Notizbuch. Mit festem Schritt machte er sich wieder auf dem Weg zu den Ruinen. Als er wieder vor dem Eingang der Höhle stand, klappte er erneut sein Notizbuch auf und begann die Gravuren am Eingang abzuzeichnen. Das linke Bild betitelte er mit `Dialga`, während er über die Zeichnung der rechten Gravur `Palkia` schrieb. "Dialga, Palkia, Vesprit, Selfe und Tobutz. Welches Geheimniss bewahrt ihr?" flüsterte der zukünftige Professor vor sich hin.
Als Gary sein Notizbuch schloss, zog er seine Taschenlampe hervor und betrat die Höhle. Erneut verschlang ihn die Dunkelheit. Allerdings war diesmal seine Taschenlampe nicht die einzige Lichtquelle. Eine weitere Lampe strahlte zwei behandschuhte Hände an, die mit Hammer und Meißel Löcher in die Wände schlugen. "Hey! Was machen sie da? Sie vernichten historisch wertvolle Objekte!" schrie Gary den Unbekannten an. Die zweite Lampe schwung von den Händen weg und blendete Gary. Der junge Trainer hielt sich die Hand vor die Augen, als eine raue Stimme von den Wänden wiederhallte.
"Junge, in dieser Höhle gibt es nichts außer dieses eine Bild an der Wand. Obendrein grabe ich hier ganz legal. Ich habe den Ältesten in dem kleinen Dorf hier gefragt. Also spuck mal nicht so große Töne."
Das Licht strahlte wieder die beiden Hände an. Gary hatte das Gefühl, dass es in der Höhle plötzlich noch dunkler war. Der Professor in spe umklammerte seine Lampe noch fester und strahlte den `Forscher` an. Der Mann trug einen Hut auf seinen schwarzen, zerzausten Haaren. Eine kleine, runde Brille saß auf seiner Nase und er hatte einen Drei-Tage-Bart. Seine braunen Klamotten waren mit Staub und Dreck bedeckt. "Und wonach graben sie hier?" fragte Gary, der nun doch etwas neugierig geworden war.
"Nach allem was ich zu Geld machen kann. Das ist mein Beruf. Ich reise für das Museum in Erzelingen durch ganz Sinnoh und grabe nach Ausstellungsstücken. Und könntest du bitte woanders hinleuchten? Du behinderst meine Arbeit!" antwortete der Mann, der dabei noch nichteinmal aufsah.
"Von dem Museum hab ich schon gehört. Dort kann man doch Fossilepokemon wieder zum Leben erwecken oder?" sagte Gary und leuchtete auf den Boden vor sich.
"Ja, dafür musst du allerdings erstmal ein Fossil finden. Ah! Och, schon wieder eine Sphäre..." Der Forscher packte einen kleinen rot schimmernden Edelstein in seine Tasche und stand auf. "Willst du hier nur rumstehen oder warum bist du hier?" Erneut blendete das Licht des Forschers den jungen Trainer.
"Ich wollte weitere Forschungen über diese Höhle anstellen. Woher wissen sie, dass es hier nur dieses Bild gibt?" antwortete Gary.
Der fremde Mann stieß ein schallendes Lachen aus. "Denkst du, du bist der Erste der diese Höhle erforscht, Kleiner? Diese Höhle wurde schon vor Jahrhunderten tausendmal erforscht und hier wurde nur dieses Bild entdeckt mehr nicht. Also mach dir keine Hoffnungen und geh nach Hause."
"Erstens: Nennen sie mich nie wieder Kleiner! Ich bin Gary Eich, der Enkel des berühmten Professor Samuel Eich aus Kanto! Und zweitens: Ich werde nicht nach Hause gehen. Ich werde ihnen helfen und ein Fossil für mein Team finden!" höhnte Gary.
"Ganz schön große Worte für so einen Grünschnabel wie dich, aber wenn du unbedingt willst. Ich zeig dir, wie man buddelt und du darfst, falls wir überhaupt Fossile finden, eines behalten. Alles andere behalte ich, als Lohn für die Mühen, die du mir bereitest. Einverstanden?" bot der Forscher an und streckte Gary seine Hand aus.
Nachdem die drei Trainer ihr kurzes Frühstück beendet hatten, war Jace mit den Mädchen auf ihr Zimmer gekommen, da es allen ziemlich sinnlos erschien, ihn auf ein bis auf ihn leeres Zimmer zu schicken. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ließen sich Chloé und Lucia fast gleichzeitig auf ihre Betten sinken. Erwartungsvoll blickten sie zu Jace. Der wechselte seinen Blick zwischen den Mädchen und Chloé meinte zu erkennen, wie sich eine leichte Röte auf seinem Gesicht breit machte. In Chloé jedoch machte sich ein beklommenes Gefühl breit. Wenn er sich jetzt zu Lucia setzt, ging es der Koordinatorin durch den Kopf, dann hat Gary womöglich doch Recht... Ihr Magen begann sich zu drehen und mit einem Seitenblick begutachtete sie Lucia, der anscheinend das gleiche durch den Kopf ging, da sie versuchte, ihren Blick hinter ihren Haaren zu verstecken, der auf Chloé ruhte. Als hätte das eine Starre in Lucia gelöst, streckte sie gewollt ihren Oberkörper ein wenig nach vorne, räkelte sich spielerisch und sagte mit vor Unschuld triefender Stimme: "Jace, setz dich doch." Sie blinzelte ihn unter ihren vollen Wimpern hindurch an, und einen Moment lang wünschte sich Chloé auch einen so schönen Augenaufschlag, denn ihrer Meinung nach besaß sie fast durchsichtige Wimpern. Chloé biss die Zähne zusammen und ihr Blick traf wieder Jace. Der schaute, eine Augenbraue hochgezogen, auf Lucia, und wirkte skeptisch. Doch Chloé wusste, sobald sie sich anfing Hoffnungen zu machen, würde die Enttäuschung nur noch größer werden. So zog sie ihre Beine an ihre Brust, schlang die Arme herum und legte sich mit ihrem Kinn auf ihre Knie. Doch sie hatte nicht aufgehört, Jace anzusehen. Er erwiderte ihren Blick mit seinen Augen, grün wie Gift, doch wäre es wirklich Gift in ihnen, so hätte Chloé den giftigen Tod gerne in Kauf genommen. Und einen kurzen Moment sah es tatsächlich so aus, als würde sich Jace zu ihr setzen, und ihr Herz flatterte wie ein Smettbo. Doch dann hielt er in der Bewegung inne und sagte mit leiser, zögerlicher Stimme: "Wir wollen doch schnell weiter, oder? Am besten, wir packen unsere Sachen zusammen, sammeln Gary ein und gehen weiter nach...nach?" "Ewigenau!" antwortete Lucia wie aus der Pistole geschossen, und Chloé widmete ihr einen boshaften Blick. Die Blauhaarige sprach weiter. "Dann müssen wir zwar durch den Kraterberg, aber das ist ja kein Ding. Und Ewigenau liegt inmitten eines Waldes, jedenfalls so ziemlich, das ist bestimmt super schön da." Ihre Stimme überschlug sich fast, und sofort hatte sie sich wieder kerzengrade aufgesetzt. Ihr Augen glänzten, als würden Sonnenstrahlen auf einem tiefblauen See tanzen. Doch Jace schien diesen Glanz kaum wahrzunehmen und sprach, mehr zu sich selbst: "Okay, von mir aus. Ich geh dann und pack mein Zeug. Wir treffen uns in fünf Minuten vorne in der Eingangshalle, okay?" Doch er wartete nicht mehr auf die Zustimmung und drehte sich schnell um, um aus der Tür zu verschwinden. Zuvor hatte er noch Chloés Augen gestreift, und kurz hatte sie den Eindruck, als hätte er ihr zugezwinkert. Chloés Mundwinkel zuckten und bildeten ein zaghaftes Lächeln. Kaum war Jace aus der Tür verschwunden, sprang Chloé auf und packte vorsichtig und so sanft wie möglich ihr Ei wieder in ihren Rucksack. "Komm, Lucia," sagte Chloé gedankenverloren. "Wir sollten uns beeilen."
Jace trat gerade aus der Tür des Mädchenzimmers, als er auch schon von Schwester Joy erblickt wurde. "Guten Tag. Ich hab eben einen Anruf von der Schwester Joy aus Trostu bekommen. Bist du nicht Jace, der die Pension von Marie und Jakob übernimmt?" Der Trainer mit den grünen Augen war so überrumpelt, dass er nur mit den Kopf nickte - was dazu führte, dass Kindwurm anfing zu quängeln. "Wir haben hier zwar keinen Supermarkt, aber ein altes Ehepaar verkauft sehr gesunde Kräuter für Pokemon. Vielleicht interessiert dich das. Ich wollte dir nur bescheid sagen" plapperte die Krankenschwester.
"Ähm... Danke" antwortete Jace, drehte sich um und klopfte an die Tür, aus der er vor wenigen Sekunden herausgetreten war.
Als aus dem Zimmer ein "Herein" ertönte, öffnete Jace die Tür und sagte: "Sorry, dass ich störe, aber sollten wir uns hier nicht ein bisschen umsehen, bevor wir weiter reisen? Gary will bestimmt auch seine `Forschungen` beenden."
Beide Mädchen fingen an zu lächeln, als sie Jace sahen und stimmten zufrieden ein. "Ok, sollen wir dann direkt los?" fragte Jace.
"Einen Moment!" sagte Chloé und zog ihr Ei wieder aus der Tasche. "Ok, von mir aus können wir." Nun hielt auch Lucia ihr Ei in den Armen und zu dritt verließen die Trainer das Pokemoncenter. Ein frischer Wind wehte durch die Stadt und die Sonne stand an ihrem Höhepunkt.
Die kleine Gruppe lief an einigen bescheidenen Hütten vorbei, bis sie ein großes Haus erreichten. Das Gebäude war ebenfalls aus Holz und an der Tür hing ein Schild: Kräuterladen - frisch und gesund! "Lasst mal hier rein" sagte Jace und stieß, ohne eine Antwort abzuwarten die Tür auf. In dem großen Raum herrschte ein bitterer Geruch. In den unzähligen Regalen standen die verschiedenen Pflanzenteile. Alles war voll mit Wurzeln, Stielen, Blättern, Blüten und Rinde. Allerdings schien es nichts Frisches zu geben, denn alles war entweder getrocknet oder in einer trüben Flüssigkeit eingelegt. Eine ältere Dame stand hinter einem Tresen und lächelte sie freundlich an. "Guten Tag. Was kann ich für sie tun?"
"Noch nichts. Wir sehen uns ersteinmal um" sagte Jace und verschwand zwischen zwei Regalen. Kindwurm, das es sich in Jace´ Haaren bequem gemacht hatte, hob den Kopf, schnupperte kurz und fing an zu quengeln. "Was ist den Kindwurm?" fragte Jace. Als antwort bekam er nur einen schrillen Schrei zu hören.
Chloé sah sich beeindruckt in dem kleinen Gebäude um. Im ersten Moment hatte es Chloé an ein Hexenhäuschen erinnert: Eine alte, groteskt wirkende Frau begrüßte sie, und überall standen, lagen oder hingen Kräuter, von deren Existenz Chloé noch nie etwas geahnt hatte. Ein merkwürdiger Geruch lag über dem allen - eine Art bittere Medizin, die die Koordinatorin in ihrer Kindheit einnehmen musste, wenn sie die Grippe hatte. Nur roch es hier um einiges schlimmer, sodass Chloé würgen musste und den säuerlichen Geruch mit Mühe versuchte, hinunterzuschlucken. Als Jace aus ihrem Blickfeld verschwunden war, empfand sie ein seltsames Gefühl in ihrer Magengegend - eine Mischung aus Einsamkeit und Angst, dass sie in ein paar Minuten von einer Hexe gefressen werden würde. Sie fröstelte und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Sie drückte ihr hellrotes Ei vorsichtig an sich, und erneut spendete es ihr tröstende Wärme. Sie blickte sich zu Lucia um, die wohl ähnlich wie Chloé selbst empfand, und deshalb wohl absichtlich am Eingang verweilte. Ohne zu Zögern gesellte sich Chloé zu ihr, und trotz aller kleinen Streitigkeiten fühlte sie sich in Lucias Gegenwart etwas sicherer. Dann sah sie wieder Jace, der mit einem breiten Grinsen an den Tresen zu der Hexe - ich meine alte Dame natürlich, ermahnte sich Chloé, trat, mit einer gigantischen Fuhre Kräutern im Arm. Das Kindwurm auf seinem Kopf schien von dem Geruch so umnebelt zu werden, dass es ohnmächtig zu werden drohte - vielleicht überreagierte es aber extra. Stumm bezahlte Jace, und erstaunlicherweise waren die unzähligen Kräuter nicht halb so teuer, wie Chloé es für solch eine Anzahl vermutet hatte. Grinsend kam er auf die Mädchen zu, nachdem er die Gewächse zunächst in eine Tüte und dann in seinen Rucksack gesteckt hatte. "So, wir können weiter." Chloé grinste scheinheilig, da sie sich ehrlich bemühte, den stechenden Geruch, der aus Jace' Rucksack in ihre Nase drang, zu ignorieren, und so nickte sie nur. Jace öffnete die schwerfällige Tür, und der Duft von frischer, reiner Dorfluft überwältigte Chloé so, dass es ihren Verstand vernebelte und sie fast von den Füßen zu kippen drohte. Als sich der Nebel wieder aus ihrem Kopf verzogen hatte, sah sie eine Gestalt auf sie zukommen: Gary, mit einem strahlenden Lachen im Gesicht. Und unwillkührlich fragte sich Chloé, was nur alle an diesem kleinen, merkwürdigen Dorf so zum Lachen brachte.