Skull Dance [NaNo-Projekt, beendet]

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    Für den NaNo 2023 habe ich mir als Ziel gesetzt, eine Origin Story zu meinem Charakter aus dem Kalos-RPG zu kreieren. Eine Kurzform dazu existiert bereits, aber wer sich nicht spoilern lassen möchte, sollte den Link vorerst am besten nicht aufrufen. Mein Ziel wäre es daher nun, jeden Tag einen Part zu schreiben. Vorkenntnisse zum RPG sind nicht zwingend notwendig.


    In diesem Sinn: Viel Spaß beim Lesen!




    Part 1


    „Glückwunsch zur bestandenen Prüfung! Jetzt kannst du endlich deine eigene Praxis eröffnen!“

    Wie oft hatte Henri diese Nachricht nun schon auf seinem Smartphone überflogen? Obwohl es eigentlich ein Grund zur Freude gewesen wäre, so war der junge Mann zutiefst in seinen Grundfesten erschüttert worden. Nichts hatte ihn bisher mehr motiviert, als endlich eine Praxis für Pokémon-Veterinärmedizin zu eröffnen. Und dennoch hatte ein Fauxpas des Prüfungskomitees dafür gesorgt, dass er sich so weit wie möglich von diesem Traum entfernen wollte. Betrübt saß Henri auf dem kühlen Boden seiner Wohnung in Hauholi City und dachte über verschiedene Dinge nach. Ob ein Pokémon ohne Absicht durch seine Hände das Leben ausgehaucht hätte? Was wäre gewesen, hätte er nicht schnell genug reagiert?

    Lustlos drückte er die Nachricht seiner Mutter weg und öffnete eine Nachrichtenplattform seiner Wahl. Vielleicht konnte er sich dadurch ablenken und auf andere Gedanken kommen. Morgen. Ja, morgen würde es schon wieder besser werden.

    Henris Blick glitt kurz zu Fleur, einem Curelei. Mit Beginn des Studiums in Alola wurde sie als Partner-Pokémon an seine Seite gestellt und seither konnte er sich keinen Moment mehr ohne ihre lockere und freudige Art vorstellen. Aktuell hatte sie sich mit dem Blumenkranz auf dem Bett eingerollt und schlief ruhig. Er lächelte. Auch für Fleur war es ein anstrengender Tag gewesen und daher ließ er ihr ausreichend Zeit, um sich zu erholen.

    Nachdem Henri die Lokalnachrichten aus Alola gecheckt hatte, kam er schließlich bei den Internationalen News an. Keine großen Überraschungen so weit. Hier ein versuchter Pokémon-Raub. Da ein gewonnenes Turnier. Nichts, das er nicht schon jeden Tag irgendwann gelesen hätte. Er rief die Übersichtsseite auf, um die Nachrichten besser filtern zu können und bemerkte, dass erst kurz zuvor ein neuer Artikel veröffentlicht wurde. Dieser handelte von seiner Heimat Kalos und beim Lesen der Schlagzeile weiteten sich seine Augen.

    „Xerneas und Yveltal: Aufruhr in der Kalos-Region.“ Direkt darunter befand sich farblich markiert der Hinweis „Hier klicken, um zum Live-Ticker zu gelangen“.

    Der Griff um das Smartphone wurde fester. Seine Hände zitterten.

  • Part 2


    Wie gelähmt las Henri den ersten Artikel durch. Dieser sprach von einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes, die sich in Kalos ausbreitete und keinen Halt vor irgendetwas zu machen schien. Offenbar hatten Xerneas und Yveltal damit zu tun, die aus noch unbekannten Gründen zeitgleich in der Region aufgetaucht waren und durch ihre Kräfte das natürliche Gleichgewicht außer Kontrolle geraten ließen. Worte wie „Zerstörung“ und „Zombies“ nahm der junge Mann zuerst nur am Rande wahr, bis er am Ende die Tragweite bereits etwas besser greifen konnte.

    Sofort schloss er den Browser und durchforstete die Kontakte auf seinem Smartphone. Seine Eltern! Hoffentlich war ihnen nichts passiert.

    Henri tippte auf das Telefonsymbol und schaltete direkt danach den Fernseher ein. Sonderberichterstattungen waren bei solchen außergewöhnlichen Ereignissen nicht selten und tatsächlich war eine in genau sieben Minuten beim lokalen Sender geplant. Angespannt und mit zusammengebissenen Zähnen wartete er nun darauf, dass das Piepen aufhörte und jemand abhob.

    „Kein Anschluss unter dieser Nummer“, antwortete die Tonbandstimme aus dem Lautsprecher.

    Kraftlos ließ Henri den Arm mit dem Telefon sinken und fiel rücklings auf sein Bett. Dadurch wurde Fleur unsanft geweckt, die sich nun verschlafen die Augen rieb. Gedanken wirbelten ziellos in seinem Kopf umher, bis er verstand, was das womöglich zu bedeuten hatte.

    Obwohl Fleur besorgt war und mit ihrer hellen Stimme nachfragte, was los war, tippte Henri die Nummer seiner Mutter manuell ein und versuchte es erneut. Nach einigen langgezogenen Momenten wurde ihm allerdings erneut gesagt, dass sich darunter kein Anschluss befände.

    Währenddessen hatte die angekündigte Sondersendung begonnen. Dort wurde im Groben erläutert, was Henri bereits in dem Artikel gelesen hatte: Weitflächige Zerstörungen, aggressive Pokémon, die an das Aussehen und Verhalten von Zombies erinnerten, sowie Xerneas und Yveltal als Ursprung dieser Ereignisse. Zusätzlich wurde das Videomaterial einer Drohne rund um Nouvaria City gezeigt, bis diese plötzlich kein Bildsignal mehr sendete. Wie die Sprecherin betonte, wurde das technische Gerät wohl von einem wilden Pokémon zu Fall gebracht.

    Henri zog die Beine an und beobachtete unruhig das Geschehen auf dem Bildschirm. Fleur hatte unterdessen ihre kleinen Hände auf seine Schulter gelegt und sah ihn mit besorgtem Blick an. Einen Versuch wagte er noch, seine Mutter zu erreichen. Doch auch dieses Mal blieb das Telefon stumm. Obwohl er das Smartphone beinahe zur Seite legen wollte, wurde er mit einem plötzlich erschallenden Klingelton selbst angerufen. Es dauerte einen Moment, bis Henri verstand, um wen es sich handelte.

    Seine ältere Schwester.

  • Part 3


    Sekunden vergingen, in denen Henri das Telefon einfach nur läuten ließ. Schließlich wischte er das Symbol zum Abheben zur Seite und legte das Smartphone an sein Ohr.

    „H-hallo Vivi.“

    „Henri! Schön, deine Stimme zu hören!“ Ein erleichtertes Seufzen war am anderen Ende der Leitung zu vernehmen, bevor seine Schwester Vivienne wieder zur Sache kam. „Ich wünschte, wir könnten unter besseren Umständen miteinander reden. Hast du die Nachrichten mitbekommen?“

    Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, den er mühevoll hinunterschluckte. Sie konnte nur eine Sache meinen.

    „Meinst du wegen Kalos? Ja, ich habe vorhin zur Berichterstattung im Fernsehen eingeschaltet.“

    „Okay, dann muss ich dir ja nichts mehr erzählen. Hör zu, ich …“

    „Ich konnte Maman nicht erreichen!“, fiel Henri ihr plötzlich ins Wort. Er bemerkte schließlich, dass er sie unterbrochen hatte. „Pardon, ich … fühle mich nur durcheinander.“

    „Deswegen wollte ich gern mit dir reden.“ Vivienne ließ ein paar Sekunden verstreichen, in denen sie sich lediglich gegenseitig anschwiegen. „Aktuell befinde ich mich in Einall in der Nähe des Panaero-Flughafens und es ist die Hölle los. Flüge nach Kalos wurden allesamt gestrichen und niemand weiß so richtig, wie es weitergeht. Die Regierung hat wohl jegliche Einreise unterbunden, bis die Situation unter Kontrolle gebracht wurde.“

    Stumme Worte bildeten sich auf Henris Mund, die er sich nicht laut auszusprechen traute. Konnte bei diesem Aufeinandertreffen der Gewalten überhaupt etwas unternommen werden? Er bezweifelte, dass eine Lösung schon bald in Sicht sein würde.

    „Das … ist radikal, aber nachvollziehbar“, sagte er.

    „Ja. Ich wollte dir mitteilen, dass ich gleich mit Chérie nach Aquarellia aufbrechen werde.“ Als Zustimmung erklang im Hintergrund ein langgezogenes, lautes Brüllen, das Henri als jenes von Viviennes UHaFnir erkannte. „Sie schafft den langen Flug mit Leichtigkeit und ich möchte unsere Eltern in Sicherheit wissen.“

    Henri war nicht sonderlich von ihrer Aussage überrascht. Seine Schwester war schon immer sehr pflichtbewusst gewesen und hatte das Wohl ihrer Familie immer vor andere Dinge gestellt. Dennoch zog sich sein Herz zusammen. Schließlich wollte sie sich mitten in das unbekannte Chaos begeben.

    „Chérie ist stark, ja. Aber …“

    Er schaffte es nicht, den Satz weiter auszuformulieren und ließ dabei wieder die Stille Überhand nehmen. Vivienne schien zu verstehen, worauf er hinaus wollte und sie sprach sanft weiter.

    „Ich passe auf mich auf. Wenn es wirklich hart auf hart kommt, kann ich mich auf mein Team verlassen. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich wieder bei dir. In Ordnung?“

    „J-ja.“ Mehr brachte Henri in diesem Moment nicht heraus.

    „Bon. Oh, und herzlichen Glückwunsch zu deiner bestandenen Prüfung! Ich hatte bisher leider noch keine Zeit, deine Antwort zu erwidern. Mich freut es aber, dass du deinem Traum endlich einen Schritt näher bist!“

    „Danke.“

    „Dann bis bald, Henri. Du hörst von mir. Pass auf dich auf!“

    „Ja, bis bald. Hoffentlich.“

    Ein Piepton bestätigte, dass Vivienne aufgelegt hatte. Henris Arm mit dem Telefon zwischen den Fingern sank hinab und er ließ es auf das Bett fallen. Mit halb offenem Mund sah er zur Zimmerdecke und dachte darüber nach, was heute alles geschehen war. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen und schüttelte den Kopf. Was, wenn Vivienne etwas passierte? Oder seinen Eltern? Schließlich fiel er seitlich auf das weiche Kopfkissen und verkrallte eine Hand darin.

    Fleur hatte sich von seiner Schulter gelöst, bevor er sich in eine liegende Position brachte. Noch immer voller Sorge schwebte sie näher an ihn heran und bemerkte, dass er weinte. Sie hatte Henri noch nie so aufgelöst gesehen und wusste daher nicht, was sie tun sollte. Am Ende entschied sie sich, die Ranke mit den Blüten von sich zu lösen und den fertiggestellten Blumenkranz sachte auf seinem Kopf abzulegen. Anschließend ließ sich Fleur still auf dem Kissen nieder und schloss die Augen.

    Das Zimmer war nur noch von der Berichterstattung im Fernsehen und einem leisen Schluchzen erfüllt.

  • Part 4


    Zwei Tage waren vergangen, in denen Henri nach eigenem Gefühl nur die notwendigsten Dinge erledigt hatte. So sehr er sich auch von der aktuellen Situation abzulenken versuchte, misslangen ihm doch sämtliche Versuche in diese Richtung. Im E-Mail-Postfach seines Laptops befanden sich bereits einige Entwürfe für Bewerbungen an in der Nähe befindliche Pokémon-Center und Veterinärspraxen. Bisher hatte er jedoch keine einzige davon abgeschickt. Der junge Mann hatte keinerlei Bedenken, dass er durch seine Kenntnisse aufgenommen werden würde, um die nötige Routine für seine Arbeit zu erlangen. Allerdings fürchtete er nach der Prüfung, erneut einem Pokémon mehr zu schaden als ihm zu helfen. Er wurde von dem Gedanken übermannt, dass jederzeit ein Missgeschick passieren und sich die Situation eines Patienten verschlechtern konnte. Es lähmte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte.

    Mit einem selbstgemischten Beerensalat saß Henri im Schneidersitz allein auf seinem Bett, wo er sich von Dokumentationen zur Lebensweise von Pokémon berieseln ließ. Selbst kannte er nur Kalos und Alola zu gewissen Teilen und er war daher sehr interessiert, wie Pokémon beispielsweise in Johto lebten. Zwischendurch war in einer Informationssendung auch Professor Platan aus Illumina City zu Gast. Er betonte zwar, keine Expertise zu den Legendären Pokémon Xerneas und Yveltal zu besitzen, jedoch klärte er auf, warum ihr gleichzeitiges Auftauchen in Kalos äußerst ungewöhnlich war. Laut überlieferter Geschichten wechselten sie sich nahezu immer ab und es gab nur wenige bekannte Aufzeichnungen zu einem Aufeinandertreffen der beiden. Durch ihre Kräfte konnten sie ihrer umliegenden Natur entweder das Leben entziehen oder es ihm erneut geben. Der natürliche Kreislauf wurde auf diese Weise allerdings so außer Kontrolle gebracht, dass nicht nur die Wildnis in einigen Teilen der Region zu wuchern begann und Naturkatastrophen eintraten, sondern auch Pokémon von diesen plötzlichen Ereignissen befallen wurden. Immer mehr häuften sich Berichte über Zombie-Pokémon, die scheinbar willenlos auf alles Jagd machten, was sich ihnen in den Weg stellte, und die die Menschen in den Städten bedrohten. Zu allem Überfluss schienen sie durch die Umwandlung auch wesentlich zäher geworden zu sein.

    Gespannt lauschte der junge Mann den Worten des Professors, die in seinen Ohren plausibel klangen. Dennoch verfiel er dabei in Gedanken. Ein Dasein zwischen Leben und Tod war keine angenehme Vorstellung und er konnte kaum ahnen, wie sich die betroffenen Pokémon fühlen mussten.

    Henri nahm sein Smartphone in die Hand und versuchte, Vivienne anzurufen. Keine Rückmeldung, genauso wie die letzten Male. Er seufzte kraftlos. Sie hatte zwar versprochen, sich zeitnah zu melden, allerdings machte er sich um sie Sorgen. Was, wenn es nicht nur am fehlenden Empfang lag, sondern ihr tatsächlich etwas zugestoßen war?

    Fleur kam durch das offene Fenster in die Wohnung zurück. In ihren Händen befand sich eine Blume von den anliegenden Feldern. Ruhig beobachtete sie Henri, wie er enttäuscht das Telefon wieder auf das Kissen legte und sie schob sich in sein Blickfeld. Mit einem freudigen Ruf übergab sie schließlich ihr kleines Geschenk und drehte sich einmal im Kreis.

    Henri nahm die Blume zwischen die Finger und roch an ihr. Ein süßlicher Duft stieg in seine Nase und entlockte ihm ein Lächeln.

    „Merci, dass du da bist.“

  • Part 5


    Die Sonne schien nachmittags noch immer besonders stark, weswegen Henri einen Spaziergang am Strand nahe Hauholi City machte. Eine Woche war mittlerweile seit dem Unglück vergangen und der versprochene Anruf von Vivienne blieb nach wie vor aus. Viele Stunden, in denen er sich darüber Gedanken machte, wie seine Zukunft aussehen könnte. Tatsächlich fiel es ihm aber schwer, eine klare Antwort darauf zu finden. Die Entwürfe im E-Mail-Postfach hatten sich vermehrt, jedoch wurde davon keine verschickt. Obwohl Henri nur einen Klick davon entfernt war, seinem Traum näherzukommen, zögerte er.

    In lockeren Klamotten schlenderte er über den Sand und beobachtete die Menschen und Pokémon in der Umgebung. Sie alle waren mit solcher Freude hier unterwegs, dass es ihn beinahe neidisch machte. Insgeheim dachte er sich, dass es vielleicht auch einfach Selbstverständlichkeit war, die sich in den Köpfen der anderen Menschen ausgebreitet hatte. Noch bis vor kurzem hätte Henri selbst so gedacht, dass es in Alola vermutlich keine Sorgen gab. Der Schein trügte wohl.

    Gedankenverloren schritt er an der mit einigen Graffitis bemalten Ufermauer entlang, bis er sich beim Übergang zum Meer befand. Hier war er für sich allein, um das an Land schwappende Wasser wie hypnotisiert zu betrachten. Immer wieder versuchte es, eine gewisse Schwelle zu überschreiten, nur um sich direkt danach zurückzuziehen. Ob sich das Wasser wohl auch manchmal fragte, warum es das eigentlich tat?

    Im Sand bemerkte Henri eine Dose aus Metall, die wohl von den Gezeiten angespült wurde. Er hob sie hoch und bemerkte, dass es sich dabei um eine Spraydose für dunkelgrüne Farbe handelte. Kurz war der junge Mann versucht, sie einfach in den nächsten Sammelbehälter zu werfen. Stattdessen schüttelte er sie und drückte mit dem Zeigefinger den Auslöser an der oberen Seite. Ein kleiner Schwall Farbe kam unter hohem Druck heraus und färbte den Sand an der Stelle mit grüner Farbe.

    Einige Sekunden bedachte Henri die Dose mit missbilligendem Blick, bis er einen Entschluss fasste. Er ging zur Ufermauer hin und begann, Buchstaben auf die Steine zu sprayen. Die Lettern wurden dabei allesamt unterschiedlich groß und im Gegensatz zu den anderen Graffitis besaß sein Kunstwerk weder Form noch Design. Dennoch fühlte er sich mit einem Mal so erleichtert wie schon seit einigen Tagen nicht mehr. Die angestauten Gefühle entkamen durch die Spraydose auf eine beinahe magische Art und Weise.

    Als er schließlich fertig war, besah er den Schriftzug, der mit lediglich einer Farbe nicht unbedingt den besten Eindruck machte. „Kalos“ stand dort nun. Obwohl die Erstellung von Graffiti nicht zu seiner Persönlichkeit passte, ließ es Henri auf andere Gedanken kommen. Die nervenaufreibenden Stunden waren plötzlich wie weggeblasen.

    Gerade als er gehen wollte, kamen zwei Gestalten näher. Henri konnte anhand der eingängigen Outfits und der vermummten Gesichter bereits erkennen, dass es sich um zwei Personen von Team Skull handelte. Wo sie auftauchten, gab es in aller Regel nichts zu lachen, da sie immer für die ein oder andere Schandtat verantwortlich waren. Wohl oder übel musste er an den beiden vorbei.

  • Part 6


    Mit jedem weiteren Schritt konnte Henri die zwei besser erkennen. Den Gesichtern nach zu urteilen handelte es sich um einen Mann und eine Frau jüngeren Alters. Was die beiden wohl dazu bewogen hatte, Team Skull beizutreten? Wie erwartet ließen sie ihn allerdings nicht vorbei und stellten sich vor ihm auf.

    „Yo, was geht ab?“, fragte die Frau mit verschränkten Armen und erntete dafür einen enttäuschten Seufzer von ihrem Kollegen.

    „Mit den Moves kannste niemals jemanden beeindrucken! Pass auf.“ Der Mann stellte sich breitbeinig hin, beugte den Oberkörper etwas nach hinten und hielt beide Arme in einer lockeren Pose nach vorne. „Ey, yo, rück deine Pokémon raus, aber zackig!“

    Henri presste die Lippen aufeinander und überlegte, warum sie unbedingt Pokémon stehlen wollten. Für Kämpfe wirkten die zwei nicht trainiert und daher ballte er lediglich die freie Hand zur Faust.

    „Selbst wenn ich eines dabei hätte, hättet ihr es sicher nicht bekommen. Verschwindet und verderbt mir nicht die Laune!“

    Die Augen des Mannes weiteten sich und er schreckte theatralisch zurück.

    „Nix zu holen? No way! Dann kommste eben nochmal davon!“

    Obwohl er nicht damit gerechnet hatte, trat der Typ von Team Skull zur Seite und wollte Henri tatsächlich passieren lassen. Die Frau ließ die Arme sinken und schüttelte den Kopf.

    „Beeindruckende Moves! Ich bin gespannt, wie du das den anderen erklärst.“

    „Wäre ja nich’ so, als würden wir davon leben“, antwortete er bissig. Henri entschied, dass nun der beste Zeitpunkt war, um sich aus dem Staub zu machen. Sollten sie sich doch weiterhin streiten.

    „Sekunde mal!“, rief die Frau plötzlich und entriss ihm plötzlich die Dose aus der Hand. Ruckartig fuhr Henri herum und wollte bereits protestieren. Bis ihm einfiel, dass sich die Rüpel wohl die Zeit damit vertreiben wollten, deutete sie bereits auf seinen gemalten Schriftzug.

    „Hast du das gesprayt?“

    Er verstand nicht, worauf sie hinaus wollte und nickte einfach nur. Warum war es so wichtig zu erfahren, ob er sich künstlerisch betätigt hatte? Die Frau gab jedoch nicht sofort eine Antwort und nahm Henri bei der Hand, um ihn wieder in Richtung der Ufermauer zu ziehen. Schließlich zückte sie selbst eine Spraydose mit schwarzer Farbe und begann, sich dem Gestein zu nähern.

    „Du brauchst zwei Farben, damit der Schriftzug was hermacht. Siehst du?. Der Anfang ist dir schon mal gelungen.“

    Die folgenden Minuten verbrachte sie damit, den einzelnen Buchstaben schwarze Ränder verschiedenster Stärke hinzuzufügen. Als sie fertig war, konnte das Wort nicht nur besser gelesen werden, sondern war auch optisch deutlich ansprechender als zuvor. Ein kurzer Blick zu den übrigen Graffitis zeigte Henri, dass es den anderen nun etwas mehr glich.

    „Nich’ schlecht“, kommentierte der Mann ihre Arbeit. „Hast wie immer ein gutes Händchen dafür. Aber warum zeigst du ihm das?“

    „Er kann nicht so unsympathisch sein, wenn er Graffiti malt. Scheint ja einiges durchzumachen, wenn er sich so sehr für Kalos einsetzt.“

    „Schlimme Geschichte. Wir können froh sein, aktuell nich’ dort zu sein.“

    Nachdem die Frau dem gesprayten Wort noch einige Feinheiten hinzugefügt hatte und zufrieden war, gab sie Henri die grüne Farbe zurück. Der nahm die Dose verblüfft an und sah die beiden abwechselnd an.

    „Sorry, Bro’. Bist doch nich’ so übel wie gedacht“, murmelte der Mann verlegen und kratzte sich am Hinterkopf.

    „Machen wir uns auf den Weg“, sagte sie zu ihm und richtete das Wort erneut an Henri. „Wenn du noch mehr über Graffitis lernen willst, komm vorbei. Wir treiben uns eigentlich immer hier in der Gegend herum. Kannst uns eigentlich nicht verfehlen.“

    Die beiden Mitglieder von Team Skull breiteten die Arme nach vorne aus, als würden sie auf diese Weise eine Art Abschiedszeichen mitteilen. Anschließend machten sie sich von dannen und ließen Henri zurück. Dieser sah ihnen lange nach, bis er die Spraydose in seiner Hand begutachtete und den Kopf schüttelte. Was war das eben gewesen?

  • Part 7


    Henri kam erst am späten Abend wieder zurück in seine Wohnung. Die Spraydose hatte er zwischenzeitlich in den nächstbesten Müllbehälter geworfen, auf den sich direkt einige hier lebende Sleima gestürzt hatten. Es war ein seltsamer Tag gewesen, angeführt von seiner anfänglichen Lustlosigkeit, der Wut darüber, nichts tun zu können und letztendlich der Begegnung mit den beiden Mitgliedern von Team Skull. Obwohl er schon so viel von dieser Gruppierung vernommen hatte, hätte er niemals gedacht, dass sie tatsächlich so umgänglich sein könnten. Mehr noch: Besonders die Frau hatte einen äußerst hilfsbereiten Eindruck gemacht. Befand sie sich vielleicht noch nicht so lange im Team oder war das einfach ihre Art, mit den Menschen umzugehen?

    Was auch immer sich hinter der zuvorkommenden Tat verbarg, vermochte Henri nicht zu erahnen. Er beschloss, es dabei zu belassen und sich zuerst einmal unter die Dusche zu begeben. Die ganztägig scheinende Sonne hatte ihn etwas hitzig zurückgelassen und daher hoffte er, sich auf diese Weise abkühlen zu können. Das prasselnde Wasser hinterließ ein angenehmes Gefühl auf der Haut und wusch die Sorgen des Tages ab. Es wirkte regelrecht befreiend für ihn.

    Erfrischt und mit neuer Kleidung setzte sich Henri nach einiger Zeit auf das Bett und entließ Fleur aus dem Pokéball. Es kam nicht häufig vor, dass er die Zeit für sich alleine verbringen wollte und über die späte Anwesenheit seines Partner-Pokémons war er nun doch sehr froh. Fleur schwebte im Raum und streckte ihre Arme weit nach vorne, um die Anspannung in den Gliedern zu vertreiben. Anschließend nahm sie die lose Blütenranke zwischen die Hände und vollführte mit lachenden Lauten eine Drehung. Danach näherte sich Fleur Henri und wartete auf seine Reaktion. Der junge Mann lächelte.

    „Du bist ja wirklich gut drauf“, meinte er und hielt ihr eine Hand hin. Als Reaktion klatschte sie ein und schmiegte sich danach nahe an sein Gesicht. In diesem Moment wurde Henri umso klarer, wie froh er sein konnte, jemanden um sich zu haben. Wäre das nicht der Fall, hätte er womöglich einen weitaus tieferen Fall zurückgelegt, als ihm lieb gewesen wäre. Obwohl ihn noch immer die Unsicherheit über die unklare Situation einzuholen versuchte, fühlte er sich wesentlich entspannter. Das hatte er sicherlich Fleurs Lebensfreude zu verdanken.

    „Ich hoffe, du bist für morgen wieder bereit?“, fragte Henri sein Pokémon. Nickend stimmte sie zu, dass sie alle Kraft in den Teilzeitjob stecken würde. Während der Lernzeit hatte er in einem in der Nähe befindlichen Café als Kellner ausgeholfen, wobei auch Fleur kleinere Arbeiten erledigen durfte. Das Arbeitsklima war sehr entspannt und mit der Leitung verstand er sich prächtig. Bevor die Abschlussprüfung anstand, wurde den beiden eine vorübergehende Freistellung gegönnt, um sich vorzubereiten und die danach anfallenden Arbeiten erledigen zu können. Das empfand Henri nicht als selbstverständlich und er erinnerte sich, wie oft er am letzten Arbeitstag ein Danke für diese Geste geäußert hatte. Morgen war die Frist zu Ende und sie mussten wieder pünktlich erscheinen.

    „Bon. Dann sollten wir den letzten Abend in Freiheit noch einmal genießen, nicht wahr?“

    Als Antwort band Fleur den Blumenkranz zusammen und ließ ihn über Henris Kopf fallen. Anschließend begutachtete sie ihr Kunstwerk und lachte mit hellen Rufen, während sie um ihn herum wirbelte. Der junge Mann konnte ein Prusten kaum unterbinden. Die Aufgewecktheit seiner Partnerin war schon längst auf ihn übergegangen..

    Ein Anruf von Vivienne blieb nach wie vor aus und das Telefon blieb generell still. Die nächsten Stunden vergingen allerdings wie im Flug und an Sorgen war kaum zu denken.

  • Part 8


    Der erste Tag im Café seit der Abschlussprüfung war für Henri sehr entspannt. Die Gäste waren bis auf eine Ausnahme sehr locker und hatten Spaß daran zu plaudern. Einige kamen während ihrer Pausen gerne hierher und genossen eine Tasse heißen Kakao oder Cappuccino. Dabei kamen auch ihre Pokémon, sofern sie welche dabei hatten, nicht zu kurz. Zwar erhielten diese keine Heißgetränke, jedoch eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses in Form einer speziellen Süßigkeit. Sie war mitunter einer der Gründe, warum sich so viele Gäste hier einfanden.

    „Ein Geheimnis“, sagte Keoni, der Inhaber, immer mit vorgehaltenem Finger, wenn er nach dem Ursprung gefragt wurde. Er betonte allerdings jedes Mal, dass auch die Pokémon eine Auszeit verdient hätten. Nicht selten wurden sie von Trainern in viele Kämpfe verwickelt und auf diese Weise konnten sie etwas entspannen.

    Henri vermochte dem ruhigen Ambiente ebenfalls einiges abzugewinnen. Häufig hatte er es auf diese Weise geschafft, seine Laune zu heben oder sich vor schwierigen Arbeiten zu beruhigen. Auch wenn er selten von sich selbst erzählte, so hörte er den Geschichten und Erlebnissen anderer Menschen gerne zu. Währenddessen konnte sich Fleur dank ihrer quirligen Art mit den meisten Pokémon unterhalten und ein angenehmes Aroma über die Blüten an der Ranke verteilen. Ihre Anwesenheit wirkte natürlich, was nicht zuletzt an der für Alola passenden Einrichtung lag.

    Erst gegen Ende seiner Schicht, als es bereits Nachmittag wurde und keine Gäste mehr zugegen waren, holte Henri die Realität wieder ein. Am Morgen hatte er sich bereits darauf eingestellt zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Die Arbeit hatte ihn allerdings so sehr eingenommen, dass er dafür keinerlei Zeit aufwenden konnte. Während er einige Tassen abräumte und die Tische putzte, war er so in Gedanken versunken, dass er Keoni zuerst nicht hörte.

    „Henri!“, erschallte sein Name plötzlich laut und der Angesprochene erwachte aus seinem Tagtraum. Anschließend atmete er die angestaute Luft aus und blickte in das nachdenkliche Gesicht des Inhabers.

    „Du machst den Eindruck, als würde dich etwas beschäftigen.“

    „Nun“, begann der junge Mann und dachte nach, wie er die Sache am besten ansprechen konnte. Jedes einzelne Wort wirkte als Beginn aber fehl am Platz und die anschließende Stille dauerte deutlich länger, als ihm persönlich lieb war. Fleur war währenddessen damit beschäftigt, eine Tasse nach der anderen hinter die Theke zu bringen. Keoni wartete geduldig auf eine Reaktion. Die äußerte sich darin, dass Henri die Schultern wieder hängen ließ. Er nickte verstehend.

    „Ich kann mir denken, worum es geht“, setzte Keoni weiter an und verschränkte die Arme. „Lass dich nicht zu sehr von deinen Gedanken leiten. Du wirst dich sonst am Ende nur selbst niedermachen und ich denke nicht, dass das deine Liebsten wollen.“

    Henris Augen weiteten sich. Natürlich hatte er ihm anfangs erzählt, dass er aus Kalos stammte und dort seine Familie lebte. Ob Keoni mit dieser Anspielung vielleicht darauf hinaus wollte? Oder hatte er in Wahrheit nur gut geraten?

    „Ja, vermutlich“, gab der junge Mann zurück und machte sich wieder an die Arbeit. Keoni beobachtete ihn dabei und nahm schließlich selbst einen Putzlappen in die Hand. Mit diesem machte er sich daran, die noch verbliebenen Tische abzuwischen.

    „Danke, dass du heute da warst. Wenn es dir leichter fällt, kannst du morgen gerne Zuhause bleiben.“

    „Nein!“, rief Henri und mäßigte seine Stimme sofort wieder. „Also, nein, es geht schon. Ich benötige die Abwechslung sowieso und ich bin gerne hier. C’est la vie.“

    Keoni nahm die Aussage still hin und wandte sich stattdessen Fleur zu. Sie hatte die letzte Tasse zurückgebracht und er belohnte sie daher mit einer der hauseigenen Süßigkeiten. Mit beinahe quiekenden Lauten drehte Fleur eine Runde und nahm schließlich die Leckerei an, um sie in Ruhe zu vernaschen. Ein Lächeln huschte über Keonis Gesicht.

    „Du hast eine gute Partnerin. Sei dir dessen bitte immer bewusst.“ Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu: „Falls du reden möchtest, ich bin für dich da.“

    Die Blicke der beiden trafen sich und Henri bemerkte den strengen, wenngleich besorgten Blick seines Gegenübers. Verhalten nickte er und wandte sich zum Gehen. Nachdem Fleur aufgegessen hatte, schwebte sie schnell an seine Seite und begleitete ihn durch die offene Tür nach draußen.

    „Bis morgen“, sagte Henri und hob eine Hand als Abschiedsgeste. Ob Keoni noch etwas gesagt hatte, wusste er im Nachhinein nicht mehr.

  • Part 9


    Sein Weg führte ihn vom Café zu einem naheliegenden Park mit großer Grünfläche. Dort ließ sich Henri auf einer im Schatten eines Baumes liegenden Bank nieder. Er breitete beide Arme auf der Rückenlehne aus, bis er den Kopf empor reckte und seufzte. Der beinahe wolkenlose Himmel ließ keinen Verdacht aufkommen, dass die Launen der Natur das Wetter ändern würden. Mele-Mele zeigte aufs Neue, wie schön Alola sein konnte.

    Fleur erkannte, dass er einige Zeit hier verweilen und nachdenken wollte. Daher nutzte sie die Gelegenheit, die Wiese nach schönen Blumen abzusuchen und an ihren Kranz zu hängen. Ihr helles Lachen war stellenweise immer wieder zu vernehmen.

    An Henris Ohren drangen bald auch schon die aufgeregten Laute von fünf Kindern. Als er sich zu ihnen umblickte, sah er sie an einige der hier lebenden wilden Pokémon heranpirschen. Beinahe jeder Versuch endete allerdings damit, dass eines der Kinder nach einem Hechtsprung bäuchlings im Gras landete und verdattert aussah, nichts gefangen zu haben. Währenddessen wurden einige Fotoaufnahmen gemacht, um die Erinnerungen daran noch längere Zeit zu behalten.

    Eines der Kinder verhielt sich in Henris Augen sehr still und lachte mit einer selbst für junge Menschen unnatürlichen Stimme. Möglicherweise bildete er sich das auch nur ein. Die übrigen Bewegungen waren nicht auffälliger als bei den anderen. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass sich unter ihnen ein Pokémon versteckte. Während seiner Ausbildung hatte er zumindest von einigen Exemplaren gehört, die dazu imstande waren. Ob es wohl auch gerne dazugehören und Spaß haben wollte?

    Als der junge Mann länger darüber nachdachte, wirkte dieses Vorgehen wie das Aufsetzen einer Maske. Nicht aufzufallen, sich einzugliedern und das Leben weiterhin zu genießen. Allerdings würde es auch zwangsläufig dafür sorgen, die eigene Motivation zu hinterfragen. Wie würden wohl andere in solch einer Situation handeln?

    Ein Blick auf sein Smartphone zeigte ihm lediglich die aktuelle Zeit. Nach wie vor war kein Anruf von Vivienne angekommen und auch Henris Versuche, sie zu erreichen, führten ins Nichts. Gedankenverloren betrachtete er die Ziffern der Digitaluhr, die Minute für Minute voran schritten. Im spiegelnden Display konnte er sein eigenes Gesicht sehen. Keine Maske schirmte ihn vor der Wirklichkeit ab und dennoch fühlte er sich in diesem Moment wie ein Außenseiter.

    Nach einer gefühlten Unendlichkeit hatte Henri einen Entschluss gefasst. Er stand auf und sperrte während der Bewegung den Bildschirm des Smartphones. Als er es eingesteckt hatte, blickte er sich suchend nach seinem Partner-Pokémon um.

    „Fleur?“, rief er in eine Richtung und versuchte zu erspähen, ob sie irgendwo in die Höhe schießen würde. Tatsächlich nutzte sie noch die Gelegenheit, eine letzte Blüte aufzunehmen, bevor sie zu Henri zurückkehrte. Um sich zu präsentieren, drehte sie sich einmal im Kreis und ließ das Aroma der entdeckten Blumen wirken. Seine Mundwinkel zogen sich etwas nach oben.

    „Chic siehst du aus! Machen wir uns auf den Weg? Ich möchte gerne etwas erledigen.“

    Das ließ sich Fleur nicht zweimal sagen! Erfreut darüber, Henri so motiviert zu sehen, begleitete sie ihn aus dem Park in Richtung des Strandes. Tags zuvor hatte er erzählt, sich dort aufgehalten zu haben und seinem umherschweifenden Blick nach zu urteilen, schien er etwas oder jemanden zu suchen.

    Einige Zeit verging, bevor er schließlich fündig wurde. Die beiden Mitglieder von Team Skull hielten sich etwas abseits der Menge auf, sodass sie nicht sofort von der Straße ausgehend gesehen werden konnten. Bei ihrem Anblick zögerte er zuerst. Sollte er sie wirklich ansprechen? Am Ende schluckte er den Kloß in seinem Hals hinunter und trat näher. Sie waren in ein Gespräch vertieft, wobei die Frau bald auf ihn aufmerksam wurde.

    „Na, sieh mal an, wer da antanzt“, kommentierte sie Henris Auftauchen trocken, sodass nun auch der andere Rüpel den Blickkontakt aufnahm. „Scheinst uns ja sehr vermisst zu haben.“

    „Is’ ja nich’ so, als hättest du es ihm nich’ angeboten“, erinnerte sie der Mann an die Aussage des Vortages. Enttäuscht schnaubte sie und verengte die Augen zu Schlitzen.

    „Manchmal frage ich mich, ob du meine Auftritte absichtlich schlecht machst.“

    „Gern geschehen!“, gab der Angesprochene lachend zurück und sie schüttelte den Kopf. Die Dynamik zwischen den beiden war besonders und Henri merkte, dass sie schon einige Zeit gemeinsam umherzogen. Sofern sie sich nicht ohnehin schon länger gekannt hatten.

    „Möchtest du noch mehr über Graffitis lernen?“, fragte die Frau und wollte aus ihrer Tasche bereits die Dose mit schwarzer Farbe herausholen.

    „Non, aber ich möchte euch gern um etwas bitten.“

    Die Augen beider Skull-Mitglieder weiteten sich und sie sahen sich irritiert an. Offenbar hätten sie im Leben nicht damit gerechnet, bei einer Sache behilflich sein zu können. Jedenfalls warteten sie gespannt auf Henris Antwort.

    Einatmen. Ausatmen. Er war sich sicher, die richtige Entscheidung zu treffen.

    „Darf ich … Ich möchte euch gern beitreten.“

  • Part 10


    Auf Henris Aussage hin zog die Frau die Augenbrauen hoch und der Mann hob abwehrend beide Hände vor sich.

    „No way!“, war dabei seine erste erschrockene Antwort, wobei sie wesentlich gefasster, wenngleich argwöhnisch agierte.

    „Gestern hast du uns noch abschätzig angesehen und heute legst du eine völlige Kehrtwende hin, um dich uns anzuschließen? Ist dir eigentlich bewusst, was du da sagst?“

    Zur Untermauerung ihrer ernst gemeinten Frage verschränkte sie die Arme und lehnte sich nach vorne. Mit einer solch heftigen Reaktion hatte Henri nicht gerechnet und im ersten Moment war es ihm auch angenehm, sich erklären zu müssen. Wenn sie ihm Vertrauen schenken sollten, würde er dem aber nachkommen müssen.

    „Um ehrlich zu sein weiß ich nicht, wo ich sonst hin soll. Die letzten Tage waren wahrscheinlich die schrecklichsten meines Lebens und mittlerweile …“

    Er schluckte und dachte darüber nach, wie viel er offenbaren sollte. Würden ihn die beiden vielleicht auslachen? Team Skull würde sich wohl jeder offenen Lücke bedienen, um andere Menschen zu schikanieren. Henri beschloss, die Sache noch bedeckt zu halten.

    „… fühle ich mich wie ausgesetzt. Ohne richtiges Ziel und ohne Zukunft.“

    Die Frau machte keine Anstalten, auch nur einen Finger zu rühren. Währenddessen hatte der Mann seine Haltung zurückerlangt und bot Paroli.

    „Wir sind nich’ für deine Probleme zuständig! Team Skull hat keine Zeit dafür, dass …“

    Ein Arm schnellte vor sein Gesicht und er verstummte direkt, als er die Geste realisierte. Die Frau hatte sich nun offenbar eine Meinung gebildet und wollte Henri weiter zur Rede stellen.

    „Ziemlich dramatische Ansage. Mein Kollege hat aber recht. Das Team ist keine Wohlfahrt und wir besitzen nicht den Nerv, jeden aufzunehmen, der sich über sein privilegiertes Leben beschwert. Damit bist du an anderen Orten vermutlich besser aufgehoben.“

    Die Aussage versetzte ihm einen Stich. Gleichzeitig verwunderte es ihn nicht, dass in den Reihen dieser Gestalten nicht für alle Platz war. Möglicherweise war es auch nur ein Gerücht gewesen, dass Team Skull ausschließlich aus Mitgliedern besteht, die bei der hiesigen Inselwanderschaft das Nachsehen hatten. Bei diesem kulturell tief in der Region verankerten Brauch war es üblich, dass sich Teilnehmende verschiedenen Prüfungen stellten. So konnten sie nicht nur mehr Selbstvertrauen erlangen, sondern auch sich selbst und ihre Pokémon besser kennenlernen. Über die Prüfungen wusste Henri kaum Bescheid, dafür jedoch von der Tatsache, dass bei weitem nicht alle die Inselwanderschaft abschließen konnten, die sie bestritten. Ob die beiden ihm gegenüberstehenden Menschen jemals damit in Berührung gekommen waren?

    Plötzlich kam ihm seine Bitte nicht nur egoistisch, sondern auch lächerlich vor. Aus welchem Grund wollte er sich mit Team Skull abgeben? Nur, um sich selbst vielleicht besser zu fühlen und die anfallenden Sorgen zu vergessen? War er dazu überhaupt imstande? Henri ballte die Faust und sah betreten zu Boden. Schließlich sprudelten die Worte nur aus ihm heraus.

    „Ihr habt vielleicht recht. Ich weiß allerdings wirklich nicht, was ich machen soll. Meine Familie befindet sich in Kalos und lebt vielleicht nicht mehr, da ich sie inmitten der Zerstörung nicht erreiche. Beinahe hätte ich unabsichtlich einem Pokémon das Leben genommen. Die Zukunft ist aktuell so ungewiss, dass es mir schwer fällt, einen klaren Gedanken zu fassen. Und ihr …“, dabei sah Henri der Frau mit festem Blick in die Augen, „kennt dieses Gefühl doch sicher, n'est-ce pas?“

    Beinahe wollte er die letzten Worte korrigieren, beließ es aber dabei. Die Grundaussage blieb bestehen und beide Skull-Mitglieder schienen darüber nachzudenken, was sie machen sollten. War es der richtige Weg, ihnen so viel zu erzählen? Andererseits würde es nichts bringen, sich zu verstecken. Insbesondere, wenn sie ihm vertrauen sollten.

    Fleur hatte unterdessen nur die Diskussion zwischen den Menschen beobachtet und nichts dazu gesagt. Bisher wurde sie von Team Skull auch ignoriert und daher schätzte sie, sich auch nicht einmischen zu müssen.

    Es war schließlich der Mann, der zuerst die Stille zwischen den dreien brach und Henri eine Hand reichte. Nach einigem Zögern nahm dieser den Handschlag an.

    „Malio der Name.“

    Die Frau schnaubte und sah ihn abschätzig an.

    „Du denkst also wirklich, dass wir uns auf ihn einlassen sollen?“

    „Hör mal, ich weiß, du magst das nich’ sonderlich, alle dahergelaufenen Typen aufzunehmen. Er sucht aber Hilfe und warum sollten wir ihn abblitzen lassen? Das entspricht nich’ dem Teamgeist, den uns Fran vermittelt hat.“

    Sie wirkte von seiner Antwort nicht allzu sehr überzeugt und beäugte Henri herausfordernd. Sofern er es nicht besser wusste, hätte sie sich nach seiner Bitte wohl am liebsten entfernt und ihn stehen gelassen. Dennoch schien sich etwas in ihr zu regen, da sie sich nach einem deutlich sichtbaren Seufzen umdrehte und mit ausgestrecktem Zeigefinger zur Straße deutete.

    „Komm mit. Ich bin übrigens Katie.“

  • Part 11


    Malio und Katie. Obwohl sie nicht sonderlich begeistert über die Entwicklung schien, hatte sie Henri zumindest ihren Namen genannt. Angesichts der ruppigen Art war das womöglich schon als kleiner Erfolg zu verbuchen. Katie schritt voran, gefolgt von Malio und Henri, der sich ebenfalls in Bewegung setzte und den beiden folgte.

    „Henri. Also, das ist mein Name.“

    „Exotisch“, sagte sie und warf den Kopf während des Gehens herum. „Du sagst, du kommst aus Kalos?“

    „O-oui“, war seine knappe Antwort. Gedanklich stellte sich Henri bereits darauf ein, mehr über sich erzählen zu müssen, jedoch kam es gar nicht so weit. Katie grinste verschmitzt und sah wieder nach vorne.

    „Das erklärt das Graffiti von gestern. Wie lange bist du schon hier?“

    „Einige Jahre. Ich habe hier ein Studium verfolgt.“

    „Und Curelei hast du dabei als Partner-Pokémon erhalten?“

    Es überraschte Henri nicht, dass Katie zu diesem Schluss kam. Alle Studierenden bekamen Pokémon an ihre Seite gestellt und als von hier stammende Frau musste sie darüber wohl bestens Bescheid wissen.

    „Sie sollte mir beim Lernen helfen, ja“, murmelte er und sah dabei nach links zu seiner Partnerin. Fleur bemerkte den Seitenblick und setzte ihr breitestes Lächeln auf. Unwillkürlich erwiderte Henri die Mimik.

    „Hm.“

    Nachdem Katie nichts mehr sagte, erkundigte sich Malio, ob alles in Ordnung sei. Sie blieb jedoch still und gab einfach nur den Weg vor. Mittlerweile hatten die drei den Strand verlassen und gingen durch die belebten Straßen von Hauholi City. An allen Ecken waren Touristen zu erkennen, die ihre Zeit Einkaufsbummeln oder der Erkundung der Stadt widmeten. In gewisser Hinsicht konnte Henri sie verstehen. Als er zum ersten Mal in Alola angekommen war, hatte er auch Probleme damit zu bestimmen, wo es als Erstes hingehen sollte. Seine Beobachtungen blieben allerdings nicht unbemerkt. Es war Malio, der den Menschen um sie herum einen abschätzigen Blick zuwarf und einige unverständliche Worte murmelte. Aus welchem Grund das geschah, konnte Henri nicht sagen. Obwohl er interessiert war, wollte er es in diesem Moment allerdings auch nicht ansprechen.

    Nach einiger Zeit bogen sie in eine Seitengasse ein. Die noch immer recht hoch stehende Sonne sorgte dafür, dass sie gut ausgeleuchtet wurde. Katie führte die Gruppe voran und blieb letztlich vor einer Tür stehen. Mit dem Knöchel ihres Zeigefingers klopfte sie mehrmals rhythmisch dagegen, bis sich nach einigen Sekunden das Schloss hörbar drehte. Der Eingang öffnete sich und Henri erkannte, dass im Inneren ein weiteres Mitglied von Team Skull stand. Hätte er es nicht besser gewusst, handelte es sich hierbei wohl um ein Versteck der Bande.

    Katie trat in den dunklen Raum ein, dicht gefolgt von Malio. Henri zögerte im ersten Moment, spurte jedoch, als sich sein Blick mit dem des Rüpels beim Eingang kreuzte. Dieser ließ ein höhnisches Lachen erklingen.

    „Wen habt ihr denn da mitgebracht?“, fragte er an Katie gewandt, während er die Tür wieder schloss und verriegelte. Die Angesprochene nahm ihre Mütze ab, schüttelte die Haare hin und her und würdigte ihn keines Blickes.

    „Ein Neuer. Du legst besser keine Hand an ihn, Xan. Ansonsten bekommst du es mit mir zu tun.“

    „Oh, also ein Lover“, kommentierte Xan ironisch mit der Intonation auf dem letzten Wort. Er kümmerte sich jedoch nicht weiter darum und setzte sich auf eine Couch in der Ecke, um eine Serie im Fernsehen weiter zu sehen. „Dann viel Spaß euch beiden.“

    Katie hatte ihr Mundtuch nach unten gestreift und verdrehte die Augen. Währenddessen konnte Henri die Einrichtung genauer begutachten. Nichts wies darauf hin, dass sie in ärmlichen Verhältnissen lebten oder sich einem geringen Anspruch beim Mobiliar stellen mussten. Angesichts dessen, was der junge Mann bisher über Team Skull gehört hatte, verwunderte ihn die Situation deutlich. Sie widersprach völlig dem, was sich andere Menschen über die Gruppierung erzählten.

    Auch Malio ließ sich auf der Couch nieder, nachdem er sich von seinem Mundtuch befreit und eine Getränkedose aus dem Kühlschrank genommen hatte. Noch bevor Henri eine Frage stellen konnte, bat ihn Katie in einen der angrenzenden Räume. Gemeinsam mit Fleur ging er der Bitte nach und betrat das auffällig bunte und geräumige Zimmer. Sein Blick schweifte umher, um die neuen Eindrücke aufzunehmen. Verschiedene Poster diverser Bands an den Wänden deuteten auf einen speziellen Musikgeschmack hin.

    „Noch hast du Zeit, dich anders zu entscheiden.“

    Henri sah in ihr entschlossenes Gesicht. Sie verzog keine Miene und blickte ihn aus bläulichen Augen starrend an. Ohne die auffällige Montur des Teams wirkte sie keineswegs bedrohlich. Sie zwirbelte einige Strähnen der etwa schulterlangen braunen Haare mit einem Finger zusammen.

    „Nein, ich möchte hier bleiben“, sagte Henri und schüttelte den Kopf.

    Schmunzelnd deutete Katie auf das einzelne Bett, auf dem er Platz nehmen sollte. Er kam der stillen Aufforderung erneut nach und realisierte, dass es sich wohl um ihr Zimmer handeln musste. Sie selbst lehnte sich mit dem Rücken an die geschlossene Tür und verschränkte die Arme.

    „Nun denn. Willkommen in meinem Reich! Erzähl mir etwas über dich.“

  • Part 12


    Etwas? Unzählige Gedanken wirbelten sofort in Henris Kopf umher. Katies plötzliche Offenheit hatte ihn direkt auf dem falschen Fuß erwischt, sodass er nicht wusste, wo er beginnen sollte. Zumal er das Gefühl hatte, schon alles Wichtige am Strand erzählt zu haben.

    „Eigentlich gibt es gar nicht so viel über mich zu sagen“, begann Henri und stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab. „Ich lebe normalerweise in Kalos und bin für ein Studium hier. Seit über einer Woche habe ich aber keine Möglichkeit, nach Hause zu kommen.“

    „Davon habe ich mitbekommen. Ganz üble Sache, was da drüben abläuft.“

    „Die Nachrichten sprechen von einem merkwürdigen Aufkommen von Zombie-Pokémon. Xerneas und Yveltal scheinen damit zu tun zu haben.“

    „Hm. Studierst du zufällig Medizin?“, fragte Katie und sein Kopf fuhr hoch. Er hatte nicht mit einem solch abrupten Themenwechsel gerechnet.

    „Veterinärmedizin, ja. Wie kommst du darauf?“

    „Ganz einfach.“

    In diesem Moment stieß sie sich von der Tür ab und ging schnurstracks auf Henri zu. Sie streckte die Hand jedoch nach Fleur aus, die sich in schwebender Position interessiert umblickte. Sie erkannte schnell, dass die Fremde etwas von ihr wollte, ließ das lose Ende der Ranke fallen und umschloss mit ihren kleinen Händen stattdessen einen ihrer Finger. Daraufhin quiekte Fleur vergnügt und Katie lächelte.

    „Curelei sind für ihre Heilkräfte bekannt und du siehst nicht wie ein herkömmlicher Trainer aus. Sie helfen in Pokémon-Centern aus und daher war für mich klar, dass du dich in diese Richtung fortbilden musstest.“

    Im Anschluss nahm sie die Hand zurück und blickte den jungen Mann an. Fleur wich ebenfalls etwas zurück und schmiegte sich an Henris Wange, bevor sie die Ranke wieder zwischen die Hände nahm. Ein aromatischer Duft erfüllte mit einem Mal den Raum.

    „Ihr scheint euch sehr nahe zu stehen“, kommentierte Katie die vertrauliche Geste.

    „Ohne sie wäre mein Leben schwieriger“, gestand Henri und sprach weiter. „War das gestern eigentlich ernst gemeint, dass ihr Pokémon stehlt?“

    Ein unterdrücktes Prusten entkam ihrem Mund und sie hielt die geballte Faust vor die Lippen.

    „Absolut nicht! Ganz sauber sind wir nicht, aber Pokémon haben wir hier noch nie mitgenommen. Die Menschen sollen einfach Angst vor uns haben.“ Sie verschränkte erneut die Arme. „Befehl des Bosses. Er legt wohl viel Wert auf das Image. Dass ich dich gestern angesprochen habe, lag aber nur am Graffiti.“

    Verstehend nickte Henri. Dass sie organisiert waren, konnte anhand der einheitlichen Outfits abgeleitet werden. Ihre letzte Aussage formte jedoch einen neuen Gedanken.

    „Wie kamt ihr eigentlich zu Team Skull?“

    „Ich glaube, du hast meine Aufforderung am Anfang falsch verstanden“, tadelte Katie und wackelte mit ausgestrecktem Zeigefinger hin und her. Anschließend deutete sie zu ihrem Gast. „Hier geht es eigentlich um dich und nicht um mich oder die anderen.“

    „O-oui“, stammelte Henri. „Also, wegen meines Studiums: Eigentlich habe ich die Abschlussprüfung zuletzt bestanden. Allerdings mit Schrecken. Ein Pokémon kam wegen falscher Vorbereitung der Mittel fast ums Leben und ich …“ Er pausierte kurz. „Am selben Tag breitete sich die Katastrophe in Kalos aus. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich noch nie so elend gefühlt.“

    Katie nahm die Aussagen regungslos hin. Offenbar erwartete sie noch mehr Hintergründe, jedoch beließ Henri es dabei.

    „Alles klar. Keine leichte Aufgabe, nach solchen einschneidenden Ereignissen ruhig zu bleiben. Bei mir war es anders.“ Sie schnaubte. „Ich habe schon immer gern gemalt, aber meine Eltern wollten, dass ich später etwas Sinnvolles mache. Was für ein Blödsinn! Irgendwann bin ich abgehauen und habe dabei Malio und Xan getroffen. Seitdem hatte ich auch keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern.“

    „Das ist schade“, meinte Henri sichtlich betroffen. „Was du gestern aus meinem Werk gemacht hast, war sehr faszinierend.“

    „Zu freundlich. Malio sagt das ebenfalls, aber er ist sowieso immer schnell beeindruckt. Wenn du willst, kann ich dir mehr davon zeigen.“ Anschließend setzte sie sich neben ihn aufs Bett. „Nachdem du nun bei uns sein willst, wirst du deine Laufbahn nicht weiter verfolgen, nehme ich an?“

    Es war die Frage, die sich Henri schon in den letzten Tagen hunderte Male gestellt hatte. Obwohl er endlich eine Entscheidung getroffen hatte, lungerten die möglichen Antworten noch immer in seinen Gedanken herum.

    „Ich hätte vermutlich zu viel Angst, dass wieder jemand zu Schaden kommen könnte. Das … möchte ich nicht riskieren.“

    Er faltete die Hände und hielt sie vor sein Gesicht. Katie nutzte den Moment und warf sich rücklings auf die breite Matratze.

    „Deine Sache. Ich fände es aber schade, wenn du dein Wissen aufgibst und nicht nutzt. Vielleicht benötigt ein Pokémon irgendwann einmal genau deine Hilfe.“

    Obwohl die gewählten Worte sicher nur im positiven Sinn gemeint waren, prallten sie an Henri beinahe zur Gänze ab. Er hatte für sich selbst beschlossen, einen Neuanfang zu wagen. Noch wusste er nicht, was ihn genau zu erwarten hatte, da selbst der Beginn mit überraschenden Wendungen gespickt war.

    Katie streckte ihre Arme nach oben hin aus und machte ein angestrengtes Geräusch, als würde sie sich gerade dehnen.

    „Wenn du hier bleiben willst, müssen wir für dich noch freiräumen. Es sei denn, du schläfst gerne auf der Couch.“

    „Kein Problem!“, antwortete Henri schnell. „Ich habe nicht weit entfernt eine Wohnung gemietet. Außerdem muss ich mir sowieso noch Gedanken machen, wie es mit meinem Job weiter geht.“

    „Das macht es einfacher“, gab sie zurück und stand wieder auf. „Lass dir Zeit und mach alles in deinem eigenen Tempo. Ich denke, niemand hier hat erst einmal ein Problem, wenn du weiterhin jobbst. Du solltest nur regelmäßig hier auftauchen.“

    „Merci.“

    Henri seufzte erleichtert auf. Die ganze Sache hätte wesentlich schwieriger werden können. Nun wurde er doch besser als erwartet angenommen.

    Katie ging zur Tür und öffnete diese einen Spalt breit. Anschließend fixierte sie ihren Gesprächspartner und deutete ins Nebenzimmer.

    „Komm, lass uns mit den anderen abhängen. Kein Grund, hier Trübsal zu blasen und nicht etwas Spaß zu haben. Was meinst du?“

    Bejahend folgte er der jungen Frau. Eine andere Welt und ein neues Leben warteten hier auf ihn, aber er war bereit, sich dem zu stellen.

  • Part 13


    In den darauffolgenden Tagen kam Henri mit den täglichen Beschäftigungen der drei Mitglieder von Team Skull in Berührung. Dass sich Katie und Malio häufig in Strandnähe herumtrieben und Menschen verschreckten, hatten sie bereits angedeutet. Auch wenn Henri sie aufgrund unpassender Kleidung nur aus einiger Entfernung beobachtete, so ahnte er bereits, was genau von ihm verlangt wurde. Gleichzeitig konnte er einige nahestehende Passanten vernehmen, die sich großteils mit vorgehaltener Hand und vereinzelt auch lautstark über Team Skull beschwerten.

    Malio hatte einmal beiläufig erwähnt, dass er ursprünglich von Akala stammte und gegen seinen Willen die Inselwanderschaft bestreiten sollte. Er kam tatsächlich so weit, dass er gegen Hala, den Inselkönig von Mele-Mele kämpfen durfte, jedoch unterlag er ihm haushoch. Obwohl er wertvolle Tipps für das Zusammenleben mit Pokémon und den umliegenden Menschen erhalten hatte, wollte Malio sich nicht weiter herumschubsen lassen und gab sein ohnehin ungewolltes Vorhaben auf. Letztendlich traf er auf Xan und einige andere Skull-Mitglieder, bevor sich die beiden quasi selbstständig machten und in Hauholi City niederließen.

    Wie auch immer man es betrachten mochte, hatte Team Skull einen schweren Stand in der Gesellschaft. Obwohl Xan über seine Vergangenheit Stillschweigen bewahrte, hatten wohl sämtliche Leute in dieser Gruppierung negative Erfahrungen mit ihrem Umfeld gemacht. Zudem wollte ihr Boss, dass sich die Menschen vor Team Skull fürchteten. Ob er ebenfalls ein einschneidendes Erlebnis hatte, konnte Henri beim besten Willen nicht ahnen. Er bezweifelte allerdings auch, dass er ihn je zu Gesicht bekommen würde, um ihn danach zu fragen. Im Vordergrund stand für alle jedoch der gemeinsame Zusammenhalt, der sie untereinander verband. Selbst wenn sie sich zum ersten Mal sahen, konnten sie davon ausgehen, sich aufeinander zu verlassen.

    Sollten sie nicht gerade auf offener Straße unterwegs sein, ging das Team einer speziellen Tätigkeit nach. Geschäfte unter der Hand zu organisieren und Waren unbemerkt offizieller Kontrollen weiterzuleiten, war keinesfalls eine einfache Aufgabe. Dennoch konnte das Team wohl die Mittel stemmen, um diese Vorhaben ohne Probleme abzuschließen. Nachdem diese Handel aber meist früh am Tag erledigt wurden, hatte Henri davon noch nichts zu Gesicht bekommen. Wie er darüber denken sollte, wusste er beim besten Willen nicht.

    Von Katie erhielt er zudem Nachhilfe bei der kreativen Umsetzung von Schriftzügen. Schon während der ersten Begegnung hatte sie bereits erkannt, wie viel Verständnis der junge Mann mitbrachte, auch wenn er in der Vergangenheit wenig mit künstlerischer Gestaltung zu tun hatte.

    „Ich habe nur das gemacht, was ich selbst ansprechend finde“, meinte er jedes Mal, was Katie jedoch mit einer schroffen Handbewegung abschüttelte.

    „Mach dich nicht schlechter, als du in Wahrheit bist! Du wirst sehen, dass du das bald perfektioniert hast.“

    Im Gegensatz zum ersten Versuch, als Henri noch mit Wut im Bauch Graffiti gemalt hatte, tat er dies die kommenden Male mit vollem Bewusstsein. Katie wählte zum Üben allerdings immer Orte aus, die ohnehin schon mit diversen Malereien bestückt waren. Die Geste war in seinen Augen überraschend zuvorkommend und er sah immer mehr, dass sie nicht wirklich schlecht sein konnte. In Gesprächen mit Malio bekam er ein ähnliches Gefühl von ihm. Die Erwartungen der Gesellschaft hatten sie beide zu dem gemacht, was sie waren.

    Drei Wochen nach dem Unglück in seiner Heimat kam schließlich der Tag, als ein weiterer Schritt seiner Entscheidung in Angriff genommen wurde. Katie hatte sich um diverse Formalitäten gekümmert und ein passendes Outfit für Henri besorgt. Er fühlte sich in der Magengegend etwas mulmig, als er im Versteck in Hauholi City die weiß-schwarze Kleidung betrachtete. In den letzten Jahren wurde er immer wieder von anderen darauf hingewiesen, sich nicht mit Team Skull einzulassen.

    Nachdem er sich umgezogen und das Mundtuch aufgesetzt hatte, betrachtete Henri sich im Spiegel. Er fühlte tatsächlich eine gewisse Fremde, sich selbst so im Spiegel zu sehen. Nie hätte der junge Mann erwartet, dass sein Leben eine solche Wende hinlegen würde. Und hier stand er nun. Bereit, sich diesem neuen Lebensabschnitt zu stellen und ihn zu bewältigen.

    „Gut siehst du aus!“, meinte Katie und klopfte ihm einmal auf die Schulter.

    „Kann man nich’ anders sagen“, ergänzte Malio und Xan rümpfte etwas abseits stehend nur die Nase.

    „Wenn ihr mit der Lobhudelei fertig seid, können wir uns ja wieder der Arbeit widmen.“

    „Du solltest dich auch mal über die kleinen Dinge freuen“, hielt Katie dagegen und verschränkte die Arme. „Wenn wir alles so gut wie möglich erledigen wollen, müssen wir auch mehr Mitglieder anwerben.“

    „Das ist mir klar. Ihr sollt hier nur kein Theater draus machen.“

    Mit diesen Worten pflanzte sich Xan wieder auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Henri wusste, dass er es eigentlich nicht so meinte und froh über jedes weitere Mitglied war. Sofern Xan sich zu dem Thema je geäußert hatte, ließ er selten außen vor, dass er sich jemand anderes als Henri vorgestellt hatte. In welcher Form, offenbarte er dabei jedoch nie, da es ihm auch nicht wichtig genug war.

    „Bereit, die Bude zu rocken?“, fragte Malio daraufhin und hob die Hand für ein High Five. Obwohl Henri nicht gerne im Mittelpunkt war, empfand er einen gewissen Stolz, nun so weit gekommen zu sein. Zusätzlich erfüllte ihn diese kumpelhafte Art aller Anwesenden mit einem merkwürdigen Gefühl der Einheit. Als wäre er schon immer Teil dieser Gesellschaft gewesen. Ob sich die anderen wohl ähnlich wie er fühlten?

    Energischer als er selbst wollte, klatschte er schließlich ein.

  • Huhu Rusalka!


    Das Kalos-RPG, aus welchem dein Charakter stammt, habe ich zwar bisher leider nicht verfolgt, aber die Hintergrundgeschichte deines Charakters ist auch ohne dieses Wissen spannend zu lesen. Auch wenn mein Interesse im ersten Kapitel hauptsächlich durch die Erwähnung der Kalos-Region und ihrer Legendären Pokémon geweckt wurde, war ich letztendlich keineswegs enttäuscht, dass sich die Geschichte eher auf Henris Leben in Alola fokussiert. Das ist vermutlich zu großen Teilen Henris sympathischem Charakter zuzuschreiben, sowie seiner absolut goldigen Partnerin Fleur. Die beiden bilden auf jeden Fall ein tolles Team mit einer herzerwärmenden Dynamik. Ich mag es vor allem, wie Fleur es mit ihrer niedlichen Art immer wieder schafft, ihren Trainer aufzumuntern. Davon abgesehen finde ich es auch interessant, dass Henri ein Veterinärmedizinstudent ist und gemeinsam mit Fleur zu einem Pokémon-Arzt ausgebildet wurde. Ich bin sehr gespannt, ob diese besonderen Fähigkeiten der beiden im Lauf der Geschichte noch zum Einsatz kommen werden.

    Allerdings ist es auch verständlich, dass für Henri seine abgeschlossene Ausbildung erstmal nebensächlich ist, nachdem er von den Unruhen in Kalos hört. Man erfährt dabei gerade genug über die Geschehnisse dort, um einen groben Eindruck über das Ausmaß der Katastrophe zu bekommen, ohne dass der Fokus der Handlung von Alola abweicht. Auch wenn der Einstieg in die Geschichte mit den furchtbaren Nachrichten relativ unvermittelt und damit auch ein wenig überrumpelnd wirkt, wird danach noch viel auf Henris normalen Alltag eingegangen, was mir gut gefällt. Dadurch kann man seine anfängliche Reaktion auf die Nachrichten immer besser nachvollziehen.

    Dass Henri sich schließlich Team Skull anschließt, ist eine unerwartete Wendung, auch wenn man es beim Titel der Fanfiction eventuell schon erahnen konnte. Die erste Begegnung mit den beiden Mitgliedern war jedenfalls gut durchdacht und führt das Motiv mit dem Graffiti ein, das wohl vor allem bei Katie und Henri eine größere Rolle zu spielen scheint. Auch die typischen Verhaltensweisen der Rüpel hast du hier sehr gut getroffen und es war amüsant zu lesen, wie sie miteinander und mit Henri umgehen. Ich fand es auch interessant zu lesen, wie die Aufnahme in dieses Team aus deiner Sicht abläuft, da ich mir darüber noch nie viele Gedanken gemacht habe. Daher hat es mich beispielsweise überrascht, dass offenbar jedes Mitglied von Team Skull selbst entscheiden kann, wer ins Team aufgenommen werden darf. Dadurch hat Henri zwar bisher noch nicht die Bekanntschaft mit "dem Boss" gemacht, aber eventuell wird das ja in Zukunft noch folgen. Für Henri scheint die Aufnahme jedenfalls relativ reibungslos zu laufen und ich bin gespannt, ob er mit seinem eingeschlagenen Weg zufrieden sein wird. Mit seinen neuen Kolleg:innen versteht er sich offenbar nach ein paar anfänglichen Schwierigkeiten ziemlich gut. Besonders Katie ist auch mir deutlich sympatischer geworden, als ich anfangs gedacht hatte. Ihre Begeisterung für Kunst und ihr Scharfsinn haben mich jedenfalls positiv überrascht. Nun scheint sich sogar eine Freundschaft zwischen den Charakteren zu entwickeln, was den sonst so ruppig wirkenden Skull-Mitgliedern einen ganz neuen Eindruck verleiht.

    Ich freue mich jedenfalls darauf zu erfahren, wie es Henri mit seinem neuen Alltag so ergehen wird, wie sich die Beziehungen zwischen den Skull-Mitgliedern entwickeln und was wohl in Kalos noch geschehen wird.


    Viel Spaß und Erfolg noch beim Schreiben! ^-^

    Liebe Grüße Partner Evoli

  • Part 14


    Während der Arbeit im Café bemerkte Keoni, dass Henri wieder wesentlich konzentrierter war. Er führte es darauf zurück, dass mittlerweile einfach genug Zeit verstrichen war, um sich von den negativen Erlebnissen zu verabschieden. Dennoch erwähnte er beiläufig in einer ruhigen Minute seine Beobachtung ohne besondere Wertung.

    „Du wirkst heute so fidel.“

    Henri, der gerade dabei war, einige benutzte Gläser wegzuräumen, suchte sofort den Blickkontakt. Er konnte sich aber bereits vorstellen, worauf Keoni hinaus wollte.

    „Nicht mehr als sonst. Ist dir etwas aufgefallen?“

    „Nun“, antwortete der Café-Inhaber, während er behutsam einen der hauseigenen Cocktails mischte. „Ich sehe, du hast dich verändert. Du wirkst ruhiger als noch vor einigen Wochen. Auf mich wirkt es, als hättest du dich deinen Ängsten gestellt.“

    Das war tatsächlich nicht falsch, dachte Henri bei sich. Auch wenn er die aktuellen Nachrichten mittlerweile nur noch in unregelmäßigen Abständen verfolgte, so hatte er sich weitestgehend von dem Gedanken gelöst, etwas für seine Heimat tun zu können. Sie fühlte sich mittlerweile besonders weit entfernt an und er hatte in den letzten Tagen nur wenige Gedanken für Kalos aufgebracht.

    „Das ist möglich. Zumindest habe ich neue Freunde gefunden, auf die ich bauen kann.“

    „Möchtest du mehr erzählen? Ich bin interessiert.“

    Mit dem fertigen Cocktail ging Keoni zu einem Tisch und setzte sich dort auf einen freien Stuhl. Eine ausschweifende Handbewegung wies seinem Gegenüber an, dass er ebenfalls Platz nehmen sollte. Es war bereits länger her, dass sich die beiden näher unterhalten hatten und dafür nutzte Keoni gerne die freie Zeit ohne Gäste.

    Abwechselnd blickte Henri vom Inhaber zum Glas, bis Fleur an seiner Seite erschien und es ihm abnahm. Mit ihrer glockenklaren Stimme verlautbarte sie vermutlich, dass sie sich darum schon kümmern würde. Er blieb zuerst etwas verdattert stehen, kam Keonis Bitte aber schließlich nach und setzte sich zu ihm an den Tisch. Dieser reichte ihm daraufhin den Cocktail.

    „Der geht aufs Haus“, meinte er lächelnd und Henri bedankte sich für die Einladung. Er nahm einen großen Schluck durch den Strohhalm und bemerkte direkt den intensiven Geschmack der Granabeeren. Das Aroma erfüllte seine Nase mit einem vertrauten Gefühl. Als er abgesetzt hatte, legte er die Hände übereinander auf den Tisch.

    „Es ist so: Ich habe in den letzten Wochen einige Leute von Team Skull kennengelernt. Gerade, als ich am Tiefstpunkt angelangt war, haben sie mir mehr geholfen, als ihnen vielleicht bewusst war.“

    „Team Skull also?“, fragte Keoni. Er lehnte sich zurück und hielt Daumen und Zeigefinger an sein Kinn, als würde er darüber nachdenken. Henri kannte diese Reaktion bereits von anderen Menschen.

    „Du magst sie nicht?“, bohrte er nach. Sein Gegenüber ließ sich mit der Antwort etwas länger Zeit.

    „Sie haben nicht den besten Stand hier in Alola. Dennoch würde ich nicht sagen, dass sie von Grund auf schlecht sind. Straßenbanden wollen gerne beweisen, dass sie sich gegen den Rest der Welt behaupten können. Aus welchen Gründen das passiert, kann ich allerdings nicht sagen.“

    Eine erstaunlich nüchterne Antwort, wie Henri bemerkte. Hatte er bisher womöglich noch keine Probleme mit ihnen gehabt und nahm sie wie jeden anderen Gast hier auf?

    „Das heißt, du akzeptierst sie so, wie sie sind?“

    „Die Frage ist nicht einfach zu beantworten“, gab dieser zurück und lehnte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. „Ich verstehe, warum sie sich so verhalten. Ein alter Freund hat sich damals nach Ula-Ula aufgemacht, um Team Skull beizutreten. Er fühlte sich in vielerlei Hinsicht von den Menschen betrogen und ich konnte seinen Schmerz nachvollziehen. Unser Kontakt ist sehr unregelmäßig, aber ich freue mich immer, von ihm zu hören und habe daher wenige Einblicke erhalten.“ Er setzte ab und schloss dabei die Augen. „Allerdings rechtfertigt es nicht, wie sie mit den Menschen in der Umgebung umgehen. In meinen Augen wäre die Welt ein besserer Ort, wenn wir uns alle vertragen und respektvoll miteinander umgehen. Dieses Ziel scheint allerdings schwierig erreichbar zu sein.“

    Keonis Ansicht verwunderte ihn kaum. Der seit seiner Geburt in Alola lebende Mann hatte in vielerlei Hinsicht einen großen Weitblick auf jedes Thema und sah daher nicht immer nur das Schlechte in Menschen, sondern auch ihre Motive. Besonders die Erwähnung des Freundes ließ Henri aber Hoffnung schöpfen, dass er seine eigenen Beweggründe darlegen konnte.

    „Jedenfalls habe ich mich …“, begann er und fügte noch leise murmelnd hinzu, „ihnen angeschlossen. Bereits vor einiger Zeit.“

    Erneut zuckte Keoni keinen Muskel und schien über die Aussage nachzudenken. Schließlich schlug er die Augen auf und fixierte Henri mit scharfem Blick.

    „Du bist nun also bei Team Skull?“, fragte er nach, um sicherzugehen, dass er richtig verstanden hatte. Mit einem Mal verspürte Henri eine Schuld in seinem Inneren aufkeimen. Er schalt sich dafür, das erwähnt zu haben.

    „Bist du enttäuscht von mir?“

    „Keineswegs“, antwortete Keoni mit ruhiger Stimme. „Es ist dein Leben. Wenn du der Meinung bist, dass sie dir helfen, dann kann und sollte dich niemand umstimmen. Mich freut es hingegen sehr, dass du wieder zu deiner alten Form zurückgefunden hast.“

    Daraufhin lächelte er und warf einen Seitenblick zu Fleur, die sich etwas entfernt gerade ausruhte. Henri folgte seinem Blick still und setzte wieder an.

    „Danke für dein Verständnis. Ich hatte Angst, dass du dich komplett abwenden würdest, wenn ich dir die Sache erkläre. Darüber hinaus weiß ich noch nicht, wie lange ich hier noch arbeiten werde.“

    „Nimm dir so viel Zeit, wie du benötigst. Welche Entscheidung du auch immer treffen wirst, sie wird gut für dich sein.“

    Mit diesen Worten stand Keoni von seinem Platz auf. Henri hatte immer wieder an dem Cocktail genippt und nahm nun die letzten Schlucke, um ihm das Glas zu übergeben.

    „Danke, dass du heute wieder da warst“, sagte Keoni und ging hinter die Theke. „Du bist mir wie immer eine große Hilfe.“

    „Gern geschehen! Ich hoffe, wir sehen uns morgen wieder.“

    „Bis dann, mein Freund.“

    Henri machte sich daraufhin mit Fleur zu seiner Wohnung auf, um sich für das Treffen mit Katie, Malio und Xan vorzubereiten. Währenddessen dachte er über Keonis Worte nach und realisierte, dass er weiterhin als Freund angesehen wurde. Nach allem, was er offenbart hatte, war das keinesfalls selbstverständlich.

    Mit positiver Einstellung zog er sich um, als plötzlich das Smartphone klingelte. Er nahm das Gerät in die Hand und seine Augen weiteten sich beim Anblick des Namens, der auf dem Bildschirm auftauchte.

    Es war Vivienne.


  • Part 15


    Mehrere Sekunden lang vibrierte das Smartphone in Henris Händen, in denen er nur auf das Display starrte und dem dudelnden Klingelton zuhörte. Schließlich hob er ab und legte das Gerät an sein Ohr. Mit zitternder Stimme sprach er einige Worte.

    „H-Hallo, hier Pineau?“

    „Henri!“, schrie ihn seine Schwester regelrecht an. Sie versuchte mehrfach, sich zu erklären, jedoch vernahm er nur eine erstickte, schluchzende Stimme. Henri presste die Lippen aufeinander. Wie gern wäre er jetzt in ihrer Nähe gewesen, um sie zu umarmen.

    „Lass dir Zeit, Vivi“, flüsterte er ruhig.

    Für den Moment setzte sich der junge Mann auf das Bett. Er ging davon aus, dass sich die beiden viel zu erzählen hatten und er seine Wohnung daher ohnehin nicht verlassen konnte. Mit einer Handbewegung bedeutete Henri seiner Partnerin Fleur, dass es eine Weile dauern könnte. Sie verstand und ließ sich sanft auf der weichen Bettdecke nieder.

    „Ach, Henri, es tut mir leid“, sagte Vivienne, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. „Es tut so gut, deine Stimme zu hören. Ich wollte mich eigentlich schon längst gemeldet haben, wenn in Aquarellia nicht so viele Probleme aufgetaucht wären.“

    „Mir geht es ähnlich. Ich habe versucht, euch zu erreichen, aber kein Anruf kam durch. Erzähl, was ist passiert?“

    Er konnte annehmen, dass sich Vivienne noch immer in Kalos befand und sie daher alle Hände voll zu tun hatte. Nachdem sie sich ursprünglich dorthin aufgemacht hatte, war viel Zeit vergangen und vermutlich auch ebenso viel vorgefallen.

    „Alles. Die Funkverbindungen sind mit Ausbruch der Katastrophe eingebrochen und Menschen wollten voller Panik in die umliegenden Gebiete flüchten. Wir hatten zuerst auch überlegt, Aquarellia hinter uns zu lassen. Wenn nicht alle im Ort zusammengehalten hätten, um die wilden Pokémon zurückzutreiben, wäre es schlimm ausgegangen. Oh, du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Anblick war.“

    Die Berichte in den Medien hatten nie explizite Bilder der Pokémon gezeigt und daher war Henri nicht imstande, sich die Situation vorzustellen.

    „Ich habe von Zombie-Pokémon gehört. Was ist da dran?“

    „Sie waren … Eine hier lebende Forscherin meinte, es könnte mit den Legendären Pokémon zusammenhängen. Also Xerneas und Yveltal. Durch ihr Auftauchen entziehen und geben sie den Pokémon Lebenskraft und dadurch verändern sie sich vermutlich. Äußerlich wirken sie wie so lädiert wie Zombies aus Filmen. Sie sind deutlich aggressiver und ihnen ist anzusehen, dass sie nicht sie selbst sind. Wir hatten Glück, so viele bereitwillige Pokémon im Ort zu haben, die sie zurückgedrängt haben. Dennoch war der Ansturm groß und die Menschen hatten …“

    Vivienne setzte kurz ab und ein grollender Laut konnte leise im Hintergrund gehört werden. Er war undeutlich, aber Henri glaubte, dass sich ihr Trombork Arbrisseau zu Wort gemeldet hatte. Schließlich sprach sie weiter.

    „Nouvaria City wurde überschwemmt und die Regierung in Illumina City kommt offenbar nicht hinterher, den Randregionen zu helfen. Viel zu viele Menschen scheinen in die Stadt geflüchtet zu sein, um sich zumindest an einem sicheren Ort in der Region zu wissen. Aquarellia bleibt zwar noch standhaft und wir wissen aktuell auch von Escissia, dass sie sich halten konnten. Dennoch leben hier viele Menschen in Angst. Unserer Familie geht es so weit übrigens gut.“

    Erleichtert atmete Henri auf. Dass seine Liebsten wohlauf waren, war die beruhigendste Nachricht, die er in den letzten Wochen vernommen hatte. Beinahe stiegen ihm selbst Tränen in die Augen. Allerdings kam er nicht umhin, die Zerstörungen zu betrauern. Nouvaria City war eine schöne Stadt gewesen, wo er sich früher gern aufgehalten hatte.

    „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist schrecklich, das alles zu hören. Mich erleichtert es aber, dass ihr in Sicherheit seid.“

    „Mehr oder weniger. Die Funkverbindung wurde zuletzt etappenweise wieder aufgenommen, um die Systeme nicht zu überlasten. Daher war es mir erst jetzt möglich, Kontakt aufzunehmen. Ich wollte unsere Eltern nicht allein lassen.“

    „Kein Problem!“, beeilte sich Henri zu sagen. „Ich hätte wahrscheinlich dasselbe gemacht, wäre ich in deiner Situation gewesen.“

    „Nicht anders hätte ich es von dir erwartet“, fügte Vivienne lachend hinzu. „Aber genug von mir. Was läuft bei dir? Ich schätze, ich störe dich gerade bei der Arbeit?“

    Henri verfestigte den Griff um das Smartphone. Sie wusste natürlich noch nichts von seinen in den letzten Wochen getroffenen Plänen! Daher ging sie wohl auch davon aus, dass er sich direkt in die Früchte seines Studiums geworfen hatte und bereits Pokémon in einem Pokémon-Center oder einer Praxis behandeln würde. Seine Entscheidung, weiterhin in Alola zu bleiben und bei Team Skull einzusteigen, prasselte plötzlich wie ein starker Regenschauer auf ihn ein und hinterließ ein eiskaltes Gefühl.

    „Also, ja, ich mache gerade Pause und wollte mich dann gleich wieder an die Arbeit machen. Es ist doch anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Bisher kann ich mich aber nicht beschweren.“

    Warum?

    „Das ist schön! Wenn es hier wieder etwas ruhiger wird, würde ich gern vorbeikommen und dir zusehen, falls …“

    „Nein!“, rief Henri panisch und versuchte, seine Stimme zu mäßigen. „Nein, du … solltest vielleicht noch länger in Aquarellia bleiben. Wer weiß, ob die wilden Pokémon nicht irgendwann wieder kommen!“

    Vivienne schien still zu überlegen, bis sie schließlich zustimmte.

    „Ja, du hast vermutlich recht. Die Menschen hier haben zwar schon eine gute Verteidigung aufgebaut, aber sie haben auch sehr auf mich als Verbündete vertraut. Da kann ich sie nicht sofort hängen lassen, genauso wie unsere Familie. Danke für deine Einschätzung!“

    Henris Herz raste, während er einen leisen Seufzer ausstieß.

    „Ansonsten schlage ich mich durch. Die Fluglinien scheinen noch immer gesperrt zu sein und daher kann ich sowieso nicht hoffen, bald nach Hause zu kommen.“

    „Das ist wahr“, antwortete Vivienne und wirkte nun wieder etwas vergnügter. „Wenn es für dich in Ordnung ist, können wir uns aber immer gerne unterhalten. Du weißt ja, wo du dich melden musst.“

    „Natürlich.“

    Henris Hand begann zu zittern. Er überlegte fieberhaft, wie er seiner Schwester noch glaubhaft machen konnte, dass er mittlerweile völlig andere Pläne gefasst hatte.

    „Bon. Dann hoffe ich, dass wir uns bald wieder hören.“

    „Hoffentlich. Also …“

    „Mach’s gut, Henri. Hab dich lieb!“

    „B-bis dann, Vivi.“

    Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch von ihrer Seite und er hörte zur Bestätigung nur noch das markante Piepen, dass sie aufgelegt hatte. Henri ließ die Hand langsam auf das Bett sinken und entließ das Smartphone. Anschließend vergrub er sein Gesicht in den Händen. Sein Herzschlag war beschleunigt und seine Gedanken rasten.

    Warum hatte er Vivienne nur angelogen?

  • Part 16


    Nachdem er die Wohnung verlassen hatte, rief Henri Fleur in ihren Pokéball zurück. In seiner Skull-Montur schritt er anschließend durch Hauholi City. Mittlerweile hatte er sich tatsächlich daran gewöhnt, in dem neuen Outfit auf Ablehnung zu stoßen. Entgegenkommende Menschen gingen ihm auch an diesem Tag aus dem Weg, behielten es sich aber vor, ruhig zu bleiben und ihn nicht zu verärgern. Nicht, dass er ihnen in seinem aktuellen Zustand dumm gekommen wäre. Dazu geisterten zu viele Szenarien in seinem Kopf herum, wie die Sache vom Telefonat vorhin am besten aufzuklären wäre. Grundsätzlich könnte er Vivienne und seinen Eltern einfach die gesamte Geschichte erzählen und alles wäre erledigt. Allerdings wollte er sie nicht enttäuschen, dass er seinen langjährigen Traum aufgegeben und sich einer Straßenbande angeschlossen hatte. Wen es dabei am schlimmsten treffen würde, vermochte Henri nicht zu sagen. Für den Moment beschloss er aber, den Schein aufrechtzuerhalten, bis ihm etwas Besseres einfiel.

    Es war später Nachmittag, als er schließlich beim üblichen Treffpunkt ankam. Das Klopfzeichen zum Eintritt in die Wohnung hatte der junge Mann bereits verinnerlicht und er nahm nur am Rande Malio wahr, der dieses Mal die Tür öffnete. Er hatte sich bereits häufiger gefragt, warum Xan immer zurückblieb und die Stellung hielt.

    „Irgendjemand muss eben aufpassen“, meinte dieser immer gespielt desinteressiert. Angesichts der Tatsache, dass er meistens auf dem Sofa in einer ungelenken Pose vorzufinden war, konnte Henri ahnen, dass er sich einfach nur gehen lassen wollte.

    Katie war wohl unterwegs, da Xan und Malio damit beschäftigt waren, Karten zu spielen. Ein kurzer Blick auf den Tisch offenbarte Henri, dass sie sich dieses Mal Black Jack annahmen. Einsätze standen nicht auf dem Spiel, jedoch wollte das Urteilsvermögen trainiert werden. Risiko und Gewinn lagen bei dem Spiel sehr nah beisammen und obwohl es von außen nicht den Anschein erweckte, konnte dabei durchaus Spannung entstehen.

    Während Malio wieder Platz nahm und mit seinem Kollegen um die Karten feilschte, nahm Henri etwas abseits Platz. Die üblichen Treffen bestanden normalerweise darin, gemeinsam etwas zu unternehmen und Spaß zu haben. In manchen Fällen wurde bis in die Nachtstunden hinein einfach die Zeit außerhalb vertrieben.

    Nach einer gefühlt unendlichen Zeit klopfte es rhythmisch an der Tür. Da die anderen konzentriert waren, stand Henri auf und öffnete Katie. Sie hatte einen kleinen Rucksack umgeschnallt, den sie anschließend in die Nähe des Kühlschranks brachte und einige Lebensmittel herausnahm. Mit einer fließenden Bewegung zog sie während des Sortierens ihr Mundtuch hinunter. Ihr Blick fiel kurz zu Xan und Malio sowie den offen liegenden Karten.

    „Du solltest noch eine nehmen, Malio“, meinte sie und widmete sich wieder ihrer eigentlichen Tätigkeit. Xans wütender Ausruf schien sie jedenfalls nicht zu stören.

    „Hörst du wohl auf, ihm zu helfen?“

    „Ne, ich wollte sowieso keine mehr nehmen“, versuchte Malio sein Gegenüber zu beruhigen und übersprang den Zug. Anschließend hob Xan sofort vom Deck ab und bemerkte, dass er über 21 gekommen war. Er knallte die gezogene Karte auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Malio drehte hingegen seine verdeckte Karte um und offenbarte, dass er mit Xans Karte tatsächlich auf 21 gekommen wäre.

    „Is’ nich’ wahr!“, staunte dieser und Katie lehnte sich süffisant lächelnd mit beiden Händen an die Tischkante.

    „Manchmal hat man kein Glück und häufiger eben Pech. Ihr kennt das doch.“

    Während die beiden erneut die Karten mischten und verteilten, wandte sie sich Henri zu. Dieser hatte sich wieder hingesetzt und dachte intensiv nach.

    „Was läuft bei dir?“, fragte Katie und ihre Blicke trafen sich. Anschließend seufzte er laut.

    „Ich habe vorhin einen Anruf von meiner Schwester erhalten. Aus Kalos.“

    Ihre Augen weiteten sich und ein strahlendes Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht.

    „Das ist ja fantastisch!“, rief sie freudig und zog damit die Aufmerksamkeit von Malio auf sich.

    „Was is’ los?“

    „Hört mal lieber auf, Karten zu spielen“, zischte Katie daraufhin abfällig. „Henris Familie lebt noch!“

    „No way! Is’ ja krass!“, kommentierte Malio die Neuigkeit und legte die Unterarme auf seine Karten, um sich nach vorne zu lehnen. „Wie geht es ihnen?“

    Xan verdrehte die Augen, als er das Desinteresse am Kartenspiel bemerkte. Um das den anderen deutlicher zu zeigen, stützte er den Ellbogen auf den Tisch und mit der Hand seinen Kopf.

    „In Ordnung, denke ich“, sagte Henri und sah zu Boden. „Sie scheinen eine gute Verteidigung aufgebaut zu haben, um nicht von den Pokémon überrollt zu werden.“

    „Immerhin sind sie wohlauf. Und deine Schwester ist noch bei ihnen?“

    Katie verschränkte die Arme und erwartete weitere Berichterstattung. Auch Malio war ganz Ohr, während Xan zum Kühlschrank ging und sich eine Dose Limonade genehmigte. In diesem Moment vibrierte Henris Smartphone, um ihn über eine eingehende Nachricht zu informieren. Lustlos entnahm er das Gerät seiner Tasche und entsperrte den Bildschirm.

    „Sie bleibt vorerst noch dort, ja. Eigentlich reist sie in der Welt umher und für die Menschen war es gut, dass sie sich schnell zurück nach Kalos begeben hatte.“

    Still betrachtete er die Nachricht. „Wie geht es dir, Henri? Vivi hat uns gesagt, dass sie dich erreichen konnte. Ich hoffe, es geht dir gut. ~Mama.“ Er sperrte den Bildschirm wieder und steckte das Gerät ein. Zurückschreiben konnte er später auch noch.

    „Dann is’ zumindest die Sache abgehakt“, meinte Malio mit erleichtertem Ausdruck. „Also ehrlich, mich freut das grade echt. Nich’ auszudenken, wenn sie tatsächlich ums Leben gekommen wären.“

    Dem konnte Henri nur beipflichten. Der Anruf hatte ihn sehr überrascht und gleichzeitig mit gemischten Gefühlen zurückgelassen. Einzig Xan schien sich nicht von der Freude anstecken zu lassen.

    „Zum Glück tut ihr gerade alle so, als wäre die Welt in bester Ordnung“, sagte er und trank von der Limonade.

    „Natürlich nicht.“ Katie verdrehte die Augen und deutete mit einem Arm zu Henri, während sie Xan fixierte. „Aber weißt du, was das bedeutet? Er hat einen Ort, an den er zurückkehren kann, wenn sich …“

    „Nein!“, schrie Henri dazwischen. Sämtliche Augenpaare wandten sich nun ihm zu und er versuchte, den Blickkontakt zu vermeiden. Der junge Mann biss sich auf die Lippen und unterdrückte die aufkeimenden Emotionen.

    „Was meinst du?“, sprach Malio aus, was sich vermutlich alle dachten. Henri benötigte einige Momente, um sich wieder zu fassen.

    „Sie glauben, dass ich hier in Alola arbeiten würde. Als Arzt. Sie wissen nicht, dass ich jetzt hier bei euch bin.“

    Katie ging ein Licht auf, als er zu erzählen begann. Sie wollte bereits auf Henri zugehen, als sich dieser von seinem Platz erhob und zur Tür ging.

    „Ich brauche etwas Zeit für mich.“

    Daraufhin trat er aus der Wohnung und ließ die drei Mitglieder von Team Skull zurück. Xan trank die letzten Schlucke aus der Dose, bis sie geleert war.

    „Alles in bester Ordnung“, murmelte er leise und entsorgte das Behältnis.

  • Part 17


    Mehrere Wochen waren ins Land gezogen, in denen sich Henri darauf konzentrierte, seine neue Rolle innerhalb von Team Skull auszufüllen. Mit der Zeit wurde er immer mehr in die geheimen Handelstätigkeiten eingebunden und durfte sich ab einem bestimmten Punkt auch selbstständig darum kümmern. Am meisten hatte ihn dabei der Ablauf überrascht. Dachte er ursprünglich, dass interessierte Menschen persönlich vorbeikommen würden, wurde alles Notwendige per E-Mail geklärt. Hierzu wurde Henri in den zugehörigen Verteiler mit einbezogen, sodass er gegebenenfalls auch Zuhause darauf zugreifen und sich um Angelegenheiten kümmern konnte. Die Vorgehensweise war für ihn nicht neu und dennoch spannend zu beobachten. Team Skull war wesentlich besser organisiert, als er es je für möglich gehalten hatte. Dass ihm dabei so viel Vertrauen entgegengebracht wurde, empfand er als nicht selbstverständlich. Katie, Malio und Xan genossen aber wohl generell viele Freiheiten, wenn er ihnen bei ihren alltäglichen Gesprächen zuhörte.

    Umso schwieriger empfand Henri hingegen die schriftlichen Unterhaltungen mit seinen Eltern. Während seine Mutter ihm in unregelmäßigen Abständen eine Kurznachricht schrieb und sein Wohlergehen erfragte, blieben diese Versuche von seiner Seite meist unbeantwortet. Immer wieder wurde der junge Mann damit konfrontiert, dass er seinen Liebsten eine Welt vorgaukelte, die eigentlich nicht existierte. Nicht nur, dass er seine Familie belog, war das in gewisser Hinsicht auch eine Lüge sich selbst gegenüber. Mit der Aufnahme bei Team Skull wollte Henri zu seinen Überzeugungen stehen und nun befand er sich in einem Zwiespalt. Traum und Realität lagen so nah beisammen, wie es die Situation erlaubte. Diese Tatsache nagte an seinem Gewissen und er wurde daher häufiger, als ihm lieb war, von Lustlosigkeit geplagt.

    Auch Vivienne gegenüber behielt er Stillschweigen. Wie besprochen hielt sie sich weiterhin in Aquarellia auf, um gemeinsam mit den dort lebenden Menschen nach dem Rechten zu sehen. Die Angriffe wilder Pokémon waren seltener geworden, wenngleich vereinzelt noch immer heftig. Sobald aber alle zusammen hielten, waren auch diese Gefahren meist schnell aus der Welt geschafft. Wie Henri erfuhr, kam Illumina City nach wie vor nicht hinterher, allen Randgebieten in Kalos zu helfen. In der Zwischenzeit hatten die Ortschaften im Süden der Region, also Aquarellia, Escissia und auch Batika, inoffiziell ein Bündnis geschlossen. Zumindest waren sie der Meinung, sich gegenseitig besser unterstützen zu können, als es die Regierung wohl je könnte.

    Während den Gesprächen mit seiner Schwester sprach sie immer wieder an, dass sich Henris Eltern Sorgen um ihn machten. Dabei kam auch zur Rede, falls es Probleme gab, dass sie sich gern bei ihm melden konnte. Er bedankte sich natürlich jedes Mal und gelobte Besserung, dass er sich in Zukunft häufiger melden würde. Bei jedem neuen Versprechen sank er jedoch tiefer in einen Abgrund, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Obwohl ihm nichts lieber gewesen wäre, wollte er selten zurückschreiben. Henri machte sich selbst Vorwürfe und wurde wieder unruhig. Die Situation innerhalb von Team Skull könnte nicht angenehmer sein, jedoch fühlte er sich matt und ohne Energie. Das bekam letztendlich auch Fleur zu spüren. War sie noch bis vor einiger Zeit immer an Henris Seite unterwegs gewesen, ließ er sie immer seltener aus ihrem Pokéball oder überhaupt an sich heran. Tatsächlich war es ihm lieber, allein zu sein und nachzudenken. Dass er sich damit abzukapseln drohte, war ihm für lange Zeit gar nicht bewusst.

    Eines Tages wurde eine Versammlung von Team Skull einberufen. Eingeladen waren vor allem die Gruppierungen aus Mele-Mele, wenngleich auch Mitglieder von den anderen Inseln Alolas erscheinen konnten. Xan erwähnte, dass diese Treffen in erster Linie symbolischen Charakter hatten. Sie waren dazu da, um sich auszutauschen, kennenzulernen und aktuelle Geschehnisse zu besprechen. In ganz seltenen Fällen tauchte wohl auch der Boss auf. Gesehen hatte er ihn seit seiner Zeit im Team allerdings noch nie.

    Henri schlurfte hinter Malio und Katie hinterher, die sich aufgeregt unterhielten. Sie hatten wohl bereits Erfahrung damit, bei einer solchen Versammlung dabei zu sein. Malio kam nicht umhin zu betonen, wie sehr er sich auf das Wiedersehen mit einigen Bekannten aus der alten Bande freute. Auch Xan wurde bei dem Gedanken sentimental. Bedachte man, dass er häufig eher ablehnend reagierte, kam das bei ihm nahezu einem extremen Gefühlsausbruch gleich.

    Schließlich kamen sie bei dem vereinbarten Treffpunkt an. Ein von außen relativ normal wirkendes Restaurant, das durch große Säle zusätzlich Platz für große Feiern bot. Wie die anderen betonten, achtete das Personal nicht darauf, wer hier eintraf, solange alles in geordnetem Rahmen ablief. Offenbar waren die vier besonders früh angekommen, da sich bisher wenige andere Mitglieder hier herumtrieben. Xan und Malio erkannten jedoch schnell eine ihrer Freundinnen aus der ehemaligen Gruppe. Sie begrüßten sich ausgiebig und stellten im gleichen Zug Katie und Henri vor.

    Letzterer hob nur kurz die Hand und widmete sich direkt danach wieder seinen eigenen Gedanken. Er hatte gezögert, mitzukommen und angesichts der vermutlich bald auftauchenden Menschenmenge würde er sich am liebsten an einen ruhigen Ort zurückziehen. Gegenüber den anderen empfand er das allerdings als respektlos. Immerhin hatte er ihnen die Teilnahme zugesichert.

    Mit der Zeit kamen immer mehr Leute an. Einige sahen sich seit sehr langer Zeit wieder und fielen sich aufgeregt in die Arme, während andere ihre Pokémon-Freunde zeigten und Neuzugänge im Team vorstellten. Henri erkannte aufs Neue, dass Team Skull den Zusammenhalt untereinander hoch hielt und sich alle gegenseitig halfen. Es war ungewohnt, so viele Menschen unter einem bestimmten Namen als Einheit zu sehen. Insgeheim fragte er sich, ob nicht sogar die hochgepriesene Gesellschaft etwas von diesen Leuten hier lernen könnte.

    Katie kam wieder auf Henri zu und bat, mit ihr in den großen Saal zu gehen. Dort hatten sich ebenfalls einige Gruppen gebildet, wobei ein Mitglied auf dem Boden vor seinem Pokémon kniete. Zwei weitere standen bei ihm und beugten sich interessiert hinunter. Der Dritte sagte ihnen etwas und blickte dabei panisch von dem Pokémon zu den anderen. Da sie auf dem Weg lagen, kamen Katie und Henri an ihnen vorbei und konnten einige Gesprächsfetzen aufschnappen. Er hatte dieses mausartige Pokémon noch nie in Alola gesehen.

    „Und du weißt wirklich nicht, warum es so schlapp ist?“

    „Keine Ahnung! Als ich es vor einigen Tagen gefunden habe, konnte es sich wie jedes andere Pokémon verteidigen und stark austeilen.“

    „Seine Stirn ist heiß. Sicher, dass es einfach keine Energie hat?“

    Die Diskussion ging noch einige Male zwischen ihnen hin und her, als sich Katie an Henri wandte und ihm leise etwas ins Ohr flüsterte.

    „Könntest du ihm helfen?“

  • Part 18


    Henri betrachtete lediglich die drei Leute von Team Skull und das einzelne Pokémon, das offensichtlich geschwächt auf dem Boden lag. Er wusste, worauf Katie hinaus wollte und in seinem Inneren zog sich alles zusammen. Mit starrem Blick sog er scharf Luft über die Nase ein und ließ sich die Situation durch den Kopf gehen.

    Bevor er eine Entscheidung traf, zückte er sein Smartphone, machte ein Foto des Pokémons und lud es in einer online verfügbaren Datenbank hoch. Sogleich wurde der junge Mann mit einem eindeutigen Ergebnis konfrontiert.

    „Ein Sproxi“, murmelte er, während ihm Katie über die Schulter sah. „Typ Gift und Normal, üblicherweise in Paldea anzutreffen. Friedlich veranlagt, kennzeichnet sein Revier aber mit Markierungen aus Gift.“

    Dass Team Skull häufig Gift-Pokémon mitführte, war Henri bewusst. Daher wunderte es ihn auch nicht, dass das in Alola eigentlich fremde Sproxi eingefangen wurde. Der Datenbank konnte er entnehmen, dass sie nicht besonders groß wurden. Dieses wirkte beim Abgleich mit Bildern sehr jung. Ein kleiner Verdacht kam ihm und so schritt Henri auf die drei zu.

    „Sagt mal, wo habt ihr dieses Pokémon her?“, fragte er in die Runde und der auf dem Boden kniende Mann meldete sich zu Wort.

    „Letztens habe ich auf Akala jemanden getroffen, der es mir geschenkt hat. Meinte, er wäre Züchter dieser Art, aber konnte mit den vier Pokémon, die er dabei hatte, nichts anfangen. Wäre es kein Gift-Typ gewesen, hätte ich wahrscheinlich Nein gesagt.“

    Henri knurrte. Woher auch immer diese Person Sproxi hatte, so war ihr vermutlich nicht bewusst, dass die Pokémon nicht einfach so hier ausgesetzt werden konnten. Es konnte eigentlich nur eines bedeuten, dass es nun so schwach war.

    „Ein Züchter also“, wiederholte er und hielt sich zwei Finger an die Stirn. „Du solltest schnell zum Pokémon-Center. Sproxi ist ein völlig anderes Klima als in Alola gewöhnt und ich vermute, ihm fehlt eine zwingend notwendige Impfung. Erhält es sie nicht bald, könnte es vielleicht verenden.“

    Die Augen des Mannes auf dem Boden weiteten sich, als ihm die Diagnose präsentiert wurde. Ruckartig richtete sich dieser auf und packte Henri am Kragen.

    „Verarsch mich hier nicht!“, rief er, während die anderen beiden versuchten, ihn zurückzuziehen. Katie drängte ihn ebenfalls zurück und hielt ihn mit einer Hand auf Abstand.

    „Pass auf, was du sagst!“, zischte sie und deutete auf Henri. „Er ist Arzt und hat mehr Ahnung davon als du!“

    Henri seufzte. Eigentlich war das die Situation, die er tunlichst vermeiden wollte. Im schlimmsten Fall würde man ihn nun noch weniger ernst nehmen als zuvor, wenn solche Sprüche geäußert wurden. Tatsächlich trat aber das Gegenteil der Fall ein. Die Gewaltbereitschaft war wie weggeblasen und der Mann dachte über Katies Worte nach. Auch Henri ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Er hätte ahnen müssen, dass so etwas einmal passieren würde. Vielleicht war nun diese eine Situation gekommen, in der er sich selbst beweisen musste, dass er sein Handwerk verstand.

    Seine Hand griff zu dem einzelnen, an seinem Gürtel befestigten Pokéball. Er führte ihn nah an seinen Mund und murmelte leise eine Entschuldigung. Danach entließ er Fleur, die sich voller Freude im Kreis drehte und an Henri schmiegte. Unwillkürlich musste Henri lächeln. Wie sehr hatte er dieses Gefühl doch vermisst.

    „Fleur, kannst du Sproxi mit Synthese etwas heilen?“

    Mit einem bestätigenden hohen Ruf nahm sie das Pokémon unter die Lupe und begann danach, vorsichtig die Blumenranke um es zu legen. Zum Schluss schnappte Fleur das lose Ende und konzentrierte ihre Energie. Die Blüten leuchteten auf und ein besonders duftendes Aroma entströmte ihnen. In aller Regel fand Synthese nur beim Anwender Wirkung. Curelei waren jedoch dazu imstande, durch die gesammelten Blumen kleine Energiemengen an andere Lebewesen abzugeben.

    Nach einer Weile löste sich Fleur von ihrem Patienten. Schließlich ergriff der junge Mann die Initiative und nahm Sproxi vorsichtig in seine Hände. Während er es aufnahm, konnte er den unregelmäßigen Atem spüren. Er wandte sich nun dem anderen Mann zu.

    „Es wird für den Moment reichen. Wenn du nicht zum Center willst, mache ich es aber selbst. Kein Pokémon sollte im Stich gelassen werden.“

    Mit diesen Worten begab sich Henri wortlos durch die Menschenansammlung nach draußen und machte sich zum nächsten Pokémon-Center auf. Die Sonne war bereits am Untergehen und tauchte Hauholi City in ein flammendes Orange. Lange Schatten breiteten sich auf dem Boden aus und sorgten auf diese Weise für einen angenehmen optischen Kontrast.

    Während er sich Gedanken machte, wie er die Sache im Center anbringen konnte, wurde sein Name von hinten gerufen. Henri drehte sich um und sah im Laufschritt das Skull-Mitglied, dem das Pokémon gehörte, ankommen. Offenbar war er nicht sonderlich gut trainiert, da er schnaufend Luft holte.

    „Warte, ich komme mit! Das bin ich ihm schuldig“, hechelte er und streckte seine Hand aus. „Parn der Name.“

    Angesichts der überzeugten Worte konnte Henri nur annehmen, dass Katie ihre Finger, oder besser ihre schlagkräftigen Argumente, im Spiel hatte. Was es auch war, konnte ihm aber egal sein. Er reichte Parn die Hand und stellte sich ebenfalls noch einmal vor. Anschließend gingen sie gemeinsam die Straßen entlang, bis sie vor einem auffälligen Gebäude mit großem, rotem Dach standen. Sie traten ein und bemerkten, dass sich nur noch wenige Menschen im Eingangsraum befanden. Sofort trat sie an den Tresen, wo sich die ansässige Schwester befand. Sie wirkte etwas nervös, was vermutlich an den Skull-Outfits lag.

    „G-guten Abend“, sagte sie trotz allem freundlich und verbeugte sich dabei. Ihr Blick fiel sofort auf das Pokémon in Henris Armen. „Wie kann ich euch helfen?“

    „Nun“, entgegnete er schnell. „Wir haben Grund zur Annahme, dass Sproxi nicht ordnungsgemäß geimpft wurde. Mein Freund hat es von einem Züchter erhalten, der vermutlich nicht wusste, wie es in Alola zu halten ist.“

    „Darf ich einmal?“, fragte die Schwester und er legte Sproxi auf den Tresen. Mit einigen geübten Handgriffen betastete sie das Pokémon und maß durch ein Thermometer die Körpertemperatur. Anhand der Verfassung und dem, was Henri erzählt hatte, machte die kurze Diagnose Sinn. Dennoch nestelte sie mit ihren Fingern und blickte sich um.

    „Deine Annahme könnte stimmen. Ich müsste aber erst schauen, ob jemand die Spritze mit dem Impfstoff verabreichen könnte. So leid es mir tut, aber ich habe noch zu wenig Erfahrung damit.“

    Henri ballte beide Hände zur Faust. Wenn es die Situation nicht anders erlaubte, musste er wohl selbst eingreifen. Behände zückte er seine Brieftasche und öffnete die Fächer mit diversen Karten. Obwohl er sich ursprünglich nicht mehr damit auseinandersetzen wollte, befand sich dort ein Ausweis, der ihn eindeutig als Arzt mit abgeschlossenem Studium auszeichnete. Er entnahm ihn und zeigte der Schwester die Vorderseite.

    „Ich kann mich darum kümmern, wenn das Mittel bereitgestellt wird.“

    Argwöhnisch blickte sie auf den Ausweis und schien mehrere Male darüber nachzudenken, ob er echt war. Schließlich deutete sie mit einer Hand zu den hinteren Räumlichkeiten.

    „In Ordnung. Komm bitte mit.“

  • Part 19


    Die ihm entgegengebrachte Skepsis verflog im Nu, als Henri Hand an Sproxi angelegte. Die Schwester brachte in aller Schnelle den benötigten Impfstoff und ließ den jungen Mann den Rest erledigen. Der Ablauf war so reibungslos, als würde er lediglich einer einstudierten Routine folgen.

    Als Henri fertig war, stieß er die angesammelte Luft aus und wandte sich an Parn. Er hatte sich bisher ruhig verhalten, war aber ebenfalls ins Behandlungszimmer mitgekommen.

    „Alles in Ordnung so weit. Komm bitte in drei Wochen wieder zu einem Pokémon-Center, um die nächste Ladung abzuholen. Dann sollte Sproxi auch ausreichend geschützt sein.“

    Sein Gegenüber sah betreten zu Boden.

    „D-danke“, stammelte er. „Und sorry für meinen Ausbruch vorhin. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich vielleicht nicht so ausgezuckt.“

    „Kein Problem“, meinte Henri und schüttelte die Aussage ab. „Es sollte nicht besserwisserisch rüberkommen und eigentlich hatte ich mich sowieso von meiner Profession losgesagt.“

    Parn wusste daraufhin nichts zu erwidern und er nickte still. Die ebenfalls anwesende Schwester nestelte erneut an ihren Fingern, verbeugte sich aber schließlich.

    „Ich möchte mich ebenfalls entschuldigen. I-ich habe keine guten Erfahrungen mit Team Skull gemacht und deswegen …“

    „Wie gesagt, kein Problem.“

    Henri war es regelrecht unangenehm, dass er so im Mittelpunkt stand. Beide hatten keine Gründe, sich bei ihm zu rechtfertigen, da er nur seine Arbeit erledigt hatte. Als er darüber nachdachte, regte sich in ihm allerdings etwas. Es war das erste Mal seit seinem Abschluss, dass er eine Tätigkeit als Veterinär durchgeführt hatte. Anders als in seiner Erwartung ging nichts schief und vielleicht wurde dadurch sogar ein Leben gerettet.

    Mit ungläubigem Blick betrachtete der junge Mann seine Hände. Er hatte nicht viel gemacht und am Ende waren ihm gleich mehrere Menschen dankbar. Aber würde er auch das notwendige Selbstvertrauen aufbringen können, um weitere Behandlungen durchzuführen?

    Fleur, die sich bisher ruhig verhalten hatte, drängte sich dazwischen und suchte nach Aufmerksamkeit. Sie umklammerte mit ihren kleinen Händen zwei von Henris Fingern und er musste über die Geste lächeln. Dieses Gefühl, jemand Vertrautes um sich zu haben, hatte er wirklich vermisst. Von nun an würde er wieder mehr darauf achten, Fleur nicht zu vernachlässigen.

    Sproxi wurde letztlich in den Pokéball zurückgerufen, damit es sich ausruhen konnte. Anschließend verabschiedeten sich Henri und Parn von der Schwester und gingen mit den Pokémon zurück zum Treffpunkt der Skull-Mitglieder. Mittlerweile war die Sonne bereits untergegangen und die Dunkelheit versuchte langsam, Überhand zu gewinnen. Als sie in das Gebäude eintraten, waren bereits einige Leute am Schunkeln. Vermutlich würde er nie verstehen, wie sich Menschen so sehr betrinken konnten, um in eine solche Feierlaune zu geraten.

    Die Wege der beiden trennten sich, als Parn seine Gruppe suchte. Auch Henri hielt nach den anderen Ausschau, wobei er zuerst auf Malio und Xan traf. Sie lachten gemeinsam mit Mitgliedern ihrer ehemaligen Truppe und zumindest Malio vermied es, mehr als notwendig zu trinken. Von ihm erfuhr Henri schließlich, dass sich Katie kurz zuvor nach draußen begeben hatte.

    Also ging er mit Fleur an seiner Seite nach draußen in die Nacht und sah sich um. In einiger Entfernung lehnte sich Katie mit dem Rücken an eine Häuserwand. In unregelmäßigen Abständen zog sie an einer Zigarette, was durch ein helles Glimmen deutlich wurde. Henri trat an sie heran.

    „Ich dachte, du rauchst nicht gerne?“

    Ruhig blies sie die angestaute Luft hinaus und fixierte einen unbestimmten Punkt am gegenüberliegenden Gebäude. Dabei zuckte sie mit den Schultern.

    „Das eine Mal in ein paar Monaten geht schon. Willst du auch mal?“

    Bereitwillig hielt sie Henri die Zigarette hin. Er hatte noch nie geraucht und wollte bereits ablehnen. Allerdings fragte er sich auch, wie oft sich die Gelegenheit ergeben würde. Daher nahm er die Zigarette zwischen die Finger, hielt sie an seinen Mund und sog Luft ein. Innerhalb kürzester Zeit musste er allerdings um sein Leben husten. Der Rauch kratzte und brannte in seiner Lunge, als hätte ein Fremdkörper versucht, sich seiner habhaft zu machen. Katie lachte verschmitzt.

    „Das erste Mal ist immer schrecklich. Mit der Zeit lernt man aber, das richtig anzugehen.“

    Für den Moment beließ Henri es allerdings dabei. Er wollte seinen Tag nicht unbedingt damit verbringen, sich selbst zu quälen. Noch immer hustend lehnte er sich ebenfalls an die Wand und verschränkte die Arme.

    „Ihr hattet wohl Erfolg?“, fragte sie nach einiger Zeit. Schließlich warf sie die Zigarette zu Boden und zertrat sie, um die Glut zu löschen.

    „Der erste Teil ist geschafft und in ein paar Wochen geht es weiter“, gab er zurück und beobachtete ein Sleima, das sich an einer in der Nähe stehenden Mülltonne zu schaffen machte. „Du hattest doch etwas damit zu tun, dass mich Parn verfolgt hat, oder?“

    „Ich habe ihn nur daran erinnert, dass er eine Pflicht zu erfüllen hat.“ Katie schnaubte und ballte eine Hand zur Faust. „Insbesondere, nachdem er dich nicht ernst nehmen wollte, sah ich es als wichtig an, das zu erwähnen.“

    Henri behielt, wie vermutet, recht mit seiner Annahme. Verübeln konnte er es ihr nicht, da sie bereits vor seinem Abgang ungehalten reagiert hatte.

    „Du hättest das nicht machen müssen“, sagte er, woraufhin Katie abwinkte.

    „Ich fühlte mich dabei an meine Eltern erinnert und wollte dir dasselbe Schicksal ersparen.“ Gleichzeitig lachte sie und suchte den Blickkontakt mit Henri. „Aber ich hab’s dir gesagt. Irgendwann ist es so weit, dass du einem Pokémon helfen würdest. Und mich freut es sehr, dass du dich überwunden hast.“

    „Freu dich mal besser nicht zu früh“, entgegnete er leise murmelnd. In vielerlei Hinsicht wusste Henri nicht, ob er sich durch dieses Erlebnis wieder vollständig aufraffen konnte. Dennoch konnte er nicht abstreiten, dass ihn dieser erste Schritt mit positiven Emotionen erfüllt hatte.

    Als er Katie betrachtete, konnte er in ihrer Nähe ein Pokémon schweben sehen. Die Umgebung war zwar dunkel, jedoch sah er, dass es sich um ein Floette handelte.

    „Du hast dich doch immer gefragt, ob ich Pokémon mit mir führe“, sagte sie lachend und deutete auf den Neuzugang. „Die Kleine begleitet mich schon, seit ich von Zuhause abgehauen bin.“

    In Henris Augen war es ein interessanter Moment, dass sie ihr Partner-Pokémon ansprach. Jedenfalls hatte er Katie noch nie in Begleitung eines Pokémons gesehen und daher überraschte ihn Floette durchaus. Die Farbe seiner umklammerten Blüte wirkte im Laternenlicht orange. Schließlich brach Katie die Stille, nachdem sie einige intensive Blicke mit ihrer Partnerin ausgetauscht hatte.

    „Ich habe vor, mich bei meinen Eltern zu melden und ihnen zu sagen, wie es mir geht. Malio hatte Angst, dass ich verschwinden könnte. Meine neue Familie seid aber ihr drei. Ich bin lange genug vor mir selbst weggelaufen und es ist Zeit, dass ich Mut zeige.“

    „Das freut mich!“, antwortete Henri sofort. „Auch, dass du bei uns bleibst. Ohne dich würde es wahrscheinlich schnell langweilig werden.“

    „Mich werdet ihr so schnell nicht los!“

    Noch während sie lachte, kam Fleur Floette langsam näher. Nachdem sie einander ausreichend begutachtet hatten, ließ sie das lose Rankenende fallen und reichte ihrem Gegenüber eine Hand. Floette nahm die Geste mit Freude an und sie schwebten vergnügt durch die Luft. Es waren mitunter merkwürdige Bewegungen, die entfernt an einen Tanz erinnerten. Katie schmunzelte.

    „Kanani ist normalerweise sehr scheu. Dass sie so ausgelassen ist, zeigt nur wieder, wie gut Fleur mit anderen harmoniert.“

    Dem konnte Henri nur zustimmen. Wann immer sich seine Partnerin jemandem näherte, so tat sie das immer mit einer gewissen Unschuld. Auf diese Weise schaffte sie es häufig, ihr Gegenüber in Sicherheit zu wiegen und sich anzunähern. Das natürlich immer nur im positiven Sinn.

    Zögerlich streckte Henri Katie eine Hand entgegen.

    „Möchtest du auch?“, fragte er und deutete zu den beiden Pokémon. Sie sah ihn mit neutralem Blick an und nahm die Einladung schließlich an.

    „Gerne!“

    Obwohl die anderen Skull-Mitglieder ausgelassen feierten, verbrachten die beiden ihre Zeit lieber in der kühlen Nacht. Menschen und Pokémon tanzten ausgelassen umher und feierten ihre persönlichen Erkenntnisse des Tages.