So Leute, heute habe ich mal was nettes für euch:
Ich habe gestern die Kurzgeschichte Digimon Tamers 1984 ins Deutsche übersetzt ;)
Natürlich wie immer die üblichen Dinge: Don't steal. Don't use without asking. Thank you.
Es war erst Anfang Oktober, aber die Luft war so kalt, dass es sich bereits wie im tiefsten Winter anfühlte. Und obwohl sie im Gebiet der Bucht geboren und aufgewachsen war, konnte sie sich noch immer nicht an das Wetter in Paolo Alto gewöhnen.
Während sie ihren Einkaufswagen über den Parkplatz des Einkaufszentrum fuhr, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, die Nachschübe zu kaufen, um die ihre Mitbewohnerin Jackie sie gebeten hatte. Auf halben Weg zu ihrem Auto, zu dem sie hastete, um dem eisigen Wind zu entkommen, blieb sie stehen, unsicher, was sie tun sollte.
Genau in diesem Moment blieb ein alter, mitgenommener Dodge mit einem altersschwachen Rasseln vor ihr stehen.
„Hey, Sie sind doch Daisy, oder?“
Ein junger, japanischer – oder vielleicht chinesischer? - Mann lächelte sie freundlich an.
„Nennen Sie mich bitte nicht so. Ich kenne Sie nicht einmal, weshalb ich gerade nicht sicher bin, ob ich es mir gefallen lassen muss, dass Sie mich bei einem Spitznamen rufen, den ich nicht einmal mag.“
„Oh. Das tut mir leid. Ich bin Janyuu Lee von der McCoy Research Facility. Aber Sie können mich Tao nennen, wie es eigentlich jeder tut.“
McCoy? Etwa das ewige Blumenkind Rob McCoy?
Sie war überrascht. Dieser natürliche, asiatische Mann schien weit von ihrer Vorstellung jemandes entfernt, der sich mit Professor McCoy abgeben würde.
„Nun gut, Tao. Ich nehme an, Sie wollen etwas von mir?“
„Natürlich. Deswegen habe ich nach Ihnen gesucht.“
„Nach mir gesucht?“
Der Grund, warum Tao nach ihr gesucht hatte, war, sie zu fragen, ob sie Professor Rob McCoys Research Facility beitreten wollte.
Alles, was sie über Professor McCoy wusste, entstammte dem Gerückt, dass er als Highschool-Schüler Zeit mit seinem Idol John C. Lilly und den Delfinen auf Hawaii verbracht hatte. Außerdem war seine Forschungsarbeit weit von den Dingen entfernt, mit denen sich Daisy normal beschäftigte.
Der einzige Grund, warum sie überhaupt zustimmte, sich auf ein Gespräch einzulassen, war, dass sie sich von Taos natürlicher Art angezogen fühlte. Allerdings sollte sie bald erfahren, dass er bereits mit einer japanischen Frau verheiratet war.
Die McCoy Forschungseinrichtung war eine L-förmige Hütte, die nicht allzuweit vom Campus der Universität entfernt lag.
Hierher kam sie am folgenden Nachmittag.
Man war offensichtlich noch dabei, das Gebäude in eine Forschungseinrichtung umzuwandeln, so dass weder die Mainframes, noch die Terminalcomputer aufgebaut waren und stattdessen in Boxen zusammen mit unsortierten Ordnern und Dokumenten jeden Zentimeter des Bodens einnahmen.
„Daisy, Sie sind gekommen!“ Ein sanftes Lächeln erhellte Taos Gesicht, sobald er sie sah.
Es waren außer ihnen auch noch andere Studenten dort: Da war Babel, ein dürrer, afroamerikanischer Junge, der gerade erst sein Studium begonnen hatte, und Curly, eine außergewöhnlich hübsche indische Frau. Offenbar gab es außerdem noch einen japanischen Studenten, der sich an dem Projekt beteiligte.
Jeder von ihnen hatte einen anderen Fokus im Studium: Babel studierte theoretische Physik, Curly Quantentheorie und Tao Kommunikationssprachen.
Daisy selbst studierte Software und Robotik. Ihr Spitzname kam von dem Lied, das Hal 9000, die wohl berühmteste aller KIs, in seinen letzten Momenten gesungen hatte.
Das einzige, was sie alle gemeinsam hatten, war, das keins ihrer Studienfächer besonders populär war – also warum um alles auf der Welt waren sie hier bei McCoys zusammengekommen?
Ihre Neugierde war geweckt!
Als Professor McCoy endlich selbst erschien, war er tatsächlich vollkommen anders, als sie erwartet hatte. Auch wenn er einige Hippie-Ausdrücke aus den 70ern verwendete, trug er doch kein Batikshirt und zeigte ihr auch kein Peace-Zeichen, als sie sich vorstellte.
Während sie mit ihm sprach erfuhr sie so auch, dass er zwar unter Lilly gelernt hatte, aber das er dabei hier – an der Westküste – gewesen war und sicher nicht in Hawaii. Auch hatte McCoy selbst noch nie auch nur einen Delfin berührt. Allerdings war sein Spitzname „Dolphin“.
„Diese Spitznamen lassen es wirken, als wären wir in einer Gang oder dergleichen.“
„Vielleicht... Aber immerhin werden wir das berühmteste Team in Palo Alto werden!“, meinte der dürre Kerl, Babel, und streckte sich.
„Und mit was genau?“
„Nun, wir versuchen eine neue Welt zu bauen.“
„Was...?“
Curly sah sie nur stumm an, wobei ihr hübscher, schwarzer, langer Pferdeschwanz leicht hin und her schwang.
Eine neue Welt? Meinte sie etwa so etwas, wie eine Simulation?
Es war schließlich McCoy – Dolphin – der antwortete:
Ja, sie würden eine World-Building Simulation entwickeln. Aber was an diesem Projekt neu sein würde war, das diese Welt im Netzwerk gespeichert würde und dass die Kreaturen, mit denen sie diese Welt „beleben“ wollten, etwas vollkommen neuartiges sein sollten.
Sie wollten Leben durch künstliche Intelligenz erzeugen.
Die erste AI Society würde sich erst 1987 zusammenfinden. McCoys Team formte sich bereits drei Jahre zuvor.
Anders, als Tao, fand Daisy es schwer, mit ihm auszukommen.
Sein Haar wuchs ihm fast bis zur Hüfte und er zeigte nur selten irgendwelche Emotionen. Er war wortkarg, sprach aber manchmal in kryptischen Sätzen mit sich selbst. Alles, was ihn zu interessieren schien, war, wie man diese Welt im Netzwerk von der Welt hier draußen aus beobachten konnte.
Auch wenn Daisy nicht wusste, wer ihm diesen namen gegeben hatte, so nannte man ihn „Shibumi“. Sie glaubte, dass dies etwas ähnliches wie „Zen“ heißen musste.
Mit den anderen freundete sie sich jedoch schnell an und sie brauchte nicht lang, um zu realisieren, was sie tun musste.
„Leben zu erschaffen kann nicht leicht sein. Auch wenn der wirkliche Gott wohl keine Probleme damit gehabt hat.“
Das junge Team – der „Wild Bunch“, wie sie sich nannten – diskutierte über ihren Fortschritt und ihre Ziele, während sie sich über geliefertes Essen vom Chinesen hermachten.
Sie hatten eine grobe Idee von den digitalen Kreaturen, aber sie konnten sich nicht wirklich, wie eine komplett neue Lebensform aussehen würde.
Shibumi saß etwas abseits von den anderen und kaute laut schmatzend auf einigen gebratenen Nudeln herum, ehe er plötzlich sagte: „Als ich kein Kind war, habe ich mir allerhand Monster ausgedacht.“
„Monster? Wie Godzilla und so?“
„Nein... Nun, ja, solche auch. Halt so Dinge, die man als Kind im Fernsehen sieht.“
„Ja, ich nehme an, Kinder sind dabei sehr fantasievoll.“
Dolphin, der ihnen still zugehört hatte, stand auf einmal auf und ging zum Telefon hinüber. „Ich bin es. Ist Keith schon zuhause? Oh, er ist noch in der Schule. Natürlich. Ja. Sag mir Bescheid, wenn er... Nein, warte, ich komme jetzt nach Hause.“
„Was war das jetzt, Dolphin?“
Mit einem beschämten Lächeln nahm Dolphin ein Foto von seinem Schreibtisch und zeigte es den anderen. Ein Blick auf den Jungen, Keith, genügte, um ihnen zu sagen, dass es Dolphins Sohn war.
„Was haltet ihr davon, wen ich Keith bitte, sich ein paar Designs für uns auszudenken?“
„Das ist eine gute Idee. Ein Kind hat keine Vorstellung, wie künstliches Leben aussehen soll und wie nicht. Vielleicht kann er dadurch etwas wirklich neues und einmaliges entwickeln!“
„Monster... Ja, das ist es, was wir wirklich erschaffen wollen...“
Und so kam es, dass die künstlichen Lebensformen, die der Wild Bunch erschaffen wollte, am Ende Digimon genannt wurden – Digitale Monster.
Dolphins zehnjähriger Sohn zeichnete freudig ein Digimon nach dem nächsten.
Er war ein begeisterter Videospieler und teilte die Digimon nach Attributen auf, gab ihnen sogar nummerierte Level, neben Fähigkeiten und Lebenskraft.
Da frühe künstliche Intelligenz, wie Von Neumanns zellulärer Automat und Conways Spiels des Lebens aus Computerspielen entstanden waren, empfand es Dolphin als vollkommen natürlich, dass auch Digimon Aspekte von Videospielcharakteren hatten.
Als er sich Keiths Zeichnungen besah, bemerkte Tao, dass diese sich in kindliche und erwachsene einteilen ließen. Auch wenn Keith es sich wahrscheinlich nicht so gedacht hatte, erkannte Tao, dass Digimon einige Charakteristika früherer Stufen übernahmen, wenn sie sich entwickelten und wuchsen.
Er bestand darauf, dass der Begriff Evolution (Entwicklung) essenziell für diese Digimon, diese Lebensformen, die sie erschaffen wollten, war und begann sogleich selbst einen Algorithmus dafür zu entwerfen.
„Aber wenn wir die wichtigen Voraussetzungen für die Evolution einschließen, würde das nicht zu künstlich geplant wirken?“
„Ja, Tao. In der Natur hat immerhin alles einen Auslöser und einen Effekt.“
„Ich stimme euch zu, dass es eine weitreichendere Grundlage geben muss. Aber ich glaube, dass die Evolution der Digimon nicht nur auf das Laden ihrer Gegner, das absorbieren von Elementen und das einfache Wachstum zurückgehen sollte.“
Shibumi, der selbst ihnen den Rücken zugewandt still an einem der Computer gearbeitet hatte, sprach auf einmal, ohne sich zu ihnen umzudrehen. „Entelecheia.“
„Was ist das?“
„Ich glaube, dass hat etwas mit Aristoteles zu tun. Was meinst du aber damit, Shibumi?“
„Ich meine, wir reden hier über externe Kräfte, die etwas leblosem Leben einhauchen. Es gibt keinen Grund, dergleichen in die Digimon zu bauen. Immerhin gibt es genug davon in dieser Welt.“
„In dieser Welt?“ Mit einem bitteren Lächeln sah Tao auf Shibumis unnahbaren Gesichtsausdruck. „Digimon können nur in ihrer Welt leben. Sie haben nichts mit der realen Welt zu tun.“
Shibumi blieb still.
Der Rest von ihnen wandte sich schließlich wieder ihrer Arbeit zu.
Während Daisy Tao beriet, arbeitete sie auch weiter an ihrem eigenen Projekt, was darin bestand ein Interface zwischen der realen Welt und dem Netzwerk zu finden.
In ihrem Ideal kommunizierten die Digimon über etwas, dass sie sich wie Alan Kays geplantes Dynabook (um den heutigen Begriff zu verwenden: Laptop) vorstellte, etwas komplett kabelloses, mit dem man zu jeder Zeit auf das Netzwerk und dort gespeicherte Informationen zugreifen konnte. Eins von Kays ersten Bildern zeigte junge Kinder, die auf einer Wiese mit Dynabooks arbeiteten.
Es sollte etwas so einfaches sein, dass auch ein Kind es benutzen konnte, aber in Daisys Vorstellung war es etwas noch simpleres, das zeigen sollte, wie geeignet die Unschuld eines Kind für den noch kaum erforschten Bereich des Netzwerkes sein sollte.
Sie nannte ihr Netzwerkinterface das „Ark“. Sei wollte etwas, dass das Gefühl hervor rief, selbst im Netzwerk zu sein, selbst wenn man dieses nur von außerhalb beobachtete.
Schließlich entwarf Dolphin das Kernprogramm der Digimon, den Digicore, und die ersten primitiven Digimon wurden im Mainframe des Wild Bunch „geboren“.
Im frühen Sommer 1985 wurde eins der Terminals in Dolphins Labor aufgesetzt, um die Welt der Digimon zu zeigen.
Mit der Zeit hatte das Experiment des Wild Bunch angefangen die Aufmerksamkeit von anderen Studenten und auch Fakultäten auf sich zu ziehen, und einige kamen nun zu ihrem Labor um zu schauen, was dort vor sich ging.
Die Digimon waren noch immer nicht mehr, als ein Code, der von einigen Pixeln dargestellt wurde, doch sie schienen bereits eigenständig und zeigten einen Überlebensinstinkt, der sie mutig gegen andere, die größer, als sie selbst waren, kämpfen ließ.
So erhielten die verschiedenen Arten schließlich auch Namen: Die Regeln dafür waren einfach: Die Namen bestanden aus einen Wort – nicht selten gekürzt oder leicht abgewandelt – das sie beschrieb und endeten auf einem „mon“, was kurz für „Mosnster“ war. Agumon, Leomon, Devimon und so weiter.
Natürlich war es Keith gewesen, der diese Idee gehabt hatte.
Dolphins Haus war etwa zwei Blöcke von ihrer Forschungseinrichtung entfernt, so dass er schließlich Kabel von dem Labor bis hin zu einem Computer bei sich zuhause legte (was natürlich illegal war), so dass er die Digimon auch von dort beobachten konnte. Damit bereitete er so schließlich auch seiner Frau und Keith einige Freude.
So war es keine große Überraschung, dass es Keith war, der es zuerst bemerkte. Dies war nicht die Schuld des Wild Bunch, denn sie waren einfach mehr darauf konzentriert, das System zu verbessern und neue Algorithmen zu testen, als darauf die Digimon zu beobachten. Einfach gesagt: Keith schenkte ihnen einfach die meiste Beachtung.
„Papa, da geht was seltsames vor sich“, sagte er, kaum das Dolphin einen Fuß in seine Wohnung gesetzt hatte, als er von der Arbeit zurückkam.
„Was meinst du? Seltsam?“
„Schau!“
Dolphin schaute auf den Monitor, der die Welt der Digimon anzeigte.
Garurumon und Kuwagamon und einige andere Digimon waren damit beschäftigt, miteinander zu kämpfen, doch ein Digimon am Rand des Bildschirms schien ihn direkt anzusehen.
„Was für ein Digimon ist das?“
„Weiß nicht...“
Es war nicht verwunderlich, dass Keith das Digimon nicht erkennen konnte. Auch wenn er all die Digimon selbst entworfen hatte, so waren sie doch in einer Pixelmatrix dargestellt und in Code umgeschrieben worden. Einige waren noch einfach zu erkennen, doch bei anderen war es praktisch unmöglich zu sagen, wie sie ursprünglich einmal ausgesehen hatten.“
„Hmm, das sind einige verschiedene Digimon. Es ist nicht überraschend, dass einige sich anders verhalten, als die anderen. Das ist es, was wir erreichen wollten... Nun komm, lass uns endlich zu Abend essen.“
Ohne diesem unbewegten Digimon einen weiteren Gedanken zu schenken – diesem Digimon, das ihn, in der realen Welt, direkt anzustarren schien – machte sich Dolphin zusammen mit Keith auf den Weg in die Küche.
Nach Dolphin waren auch Curly, Babel und Tao nach hause gegangen, während Daisy noch blieb und versuchte ihr Ark-Programm über „Trial & Error“ weiterzuentwickeln.
Einer der Bildschirme auf ihrem Schreibtisch zeigte ein Flowchart des Arkprogramms und das andere zeigte die Welt der Digimon.
Auch auf ihrem Bildschirm war das seltsame Digimon, das direkt in die reale Welt zu starren schien, zu sehen.
Als sie es bemerkte, lächelte sie und winkte ihm zu.
Langsam wurde es wieder Zeit für sie, sich ihrer eigenen Arbeit zuzuwenden. Sie hatte ein Angebot von einem jungen Hippie von einer aufsteigenden PC-Firma bekommen, der sie gefragt hatte, ob sie nach ihrem Abschluss bei der Firma arbeiten wollte. Auch wenn sie zuerst ihre Doktorarbeit abschließen wollte, blieb ihr so nur noch eine begrenzte Zeit, die sie mit den Digimon verbringen konnte.
Deshalb beeilte sie sich nun, das Ark, als einen Weg Kommunikation zwischen den Welten zu ermöglichen fertig zu stellen.
Tao hatte bereits seinen Evolutions-Algorithmus fertiggestellt und half ihr, aber sie hatten noch immer keinen Durchbruch mit dem Konzept, dass diese Kommunikation möglich machen sollte.
Es waren nur noch wenige Jahre bis zum 21. Jahrhundert...
Das 21. Jahrhundert, das wie eine entfernte Zukunft gewirkt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. So auch das Jahr, in dem der Film spielte, aus dem Daisy ihren Spitznamen erhalten hatte... Das Jahr 2001 hatte einen besonderen Platz in ihrem Herzen.
In dem Jahr würde sie vierzig sein. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie sie selbst dann sein würde. Würde sie verheiratet sein? Würde sie Kinder haben? An was würde sie dann arbeiten?
Sie fühlte Aufregung und jene gewisse Unsicherheit.
Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie sich Tagträumen hingegeben hatte und es nun bereits nach zehn war.
Sie hatte ihrer Mitbewohnerin nicht gesagt, dass sie erst so spät nach Hause kommen würde, und griff nun nach dem Telefon, um sie anzurufen. Doch es war kein Freizeichen zu hören.
„Seltsam. Ich frage mich, woran es liegt.“
Keins der Telefone im Labor funktionierte.
Auf einmal wurde sie sich dessen bewusst, wie weit das Labor vom eigentlichen Campus entfernt war und wie allein sie – von den Digimon auf ihrem Bildschirm einmal abgesehen – war. Sie seufzte und ließ sich auf ihren Stuhl fallen, als wolle sie einschlafen. Es fühlte sich beinahe an, als würde Gott ihr ein Zeichen geben, dass sie für heute aufhören sollte.
Sie stand auf, nahm ihren Autoschlüssel und wollte gehen, doch genau in dem Moment durchbrach ein Geräusch die Stille.
„W-Was?!“
Es war ein lautes Kratzen.
Daisy sah zur Tür. War draußen etwas? Jemand?
Sie stand von ihrem Stuhl auf und bewegte sich langsam auf die Tür zu, um an ihr zu lauschen.
Sie konnte kaum etwas, außer dem Geräusch des Ventilators, hören. Spielte ihr nur jemand einen Streich? Babel vielleicht?
Sie öffnete die Tür. Alles, was sie sehen konnte, waren die Lichter auf dem Parkplatz.
Eine warme, nächtliche Brise fuhr ihr durchs Haar.
So stand sie dort für einige Augenblicke und sah sich um, ehe sich ihr Gesicht langsam abkühlte.
Es war nichts. Zeit nach Hause zu gehen.
Mit diesem Gedanken drehte sie sich noch einmal um und sah etwas, das ihr beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ: Tiefe Kratzspuren waren auf der Außenseite der Tür zu sehen. Es sah beinahe so aus, als hätte ein gigantisches Ungeheuer mit seinen Krallen an der Tür gekratzt.
Schnell floh sie wieder ins Innere das Gebäude und statte auf die Tür. Nach Atem ringend befahl sie sich selbst ruhig zu werden.
Es gab keine Tiere in Paolo Alto, die derartige Kratzspuren hinterlassen konnten. Zumindest hatte sie von keinen gehört. Doch das waren definitiv Kratzspuren.
Ohne großartig darüber nachzudenken bewegte sie sich in die Mitte des Raumes. Wahrscheinlich fühlte sie sich in der Nähe der Wände zu gefährdet.
Erneut versuchte sie, jemanden mit dem Telefon zu erreichen, doch noch immer funktionierte dies nicht. Doch das Netzwerk... Die Verbindung zwischen dem Mainframe des Labors und dem Campus funktionierte noch.
Daisy hastete zu ihrer Tastatur und sendete kurzerhand eine Email an alle Adressen ihrer Universität. Irgendjemand musste noch an seinem Computer sein und die Nachricht lesen.
Da zog plötzlich etwas ihren Blick auf den zweiten Monitor.
„Huh?“
Etwas fehlte.
Das Digimon in der unteren rechten Ecke, das sie zu beobachten schien, war verschwinden.
Daisy öffnete ein Fenster, das eine Übersicht der digitalen Welt zeigte, die sie schnell über das Netzwerk ausbreitete. Ohne Frage würde es bald einen explosionsartigen Anstieg in der Zahl der Digimon, ähnlich wie im Kambrium, geben.
Doch jetzt war es noch möglich die gesamte Welt auf einen Blick zu sehen und sie konnte das seltsame, unbekannte Digimon nirgendwo erkennen. Sie sah schließlich über den Code und bemerkte eine Stelle, an der sich eine große Menge Daten angesammelt hatten. Sie besah es sich genauer.
Das L-förmige Gebiet wirkte seltsam vertraut. Es sah genau so aus wie Dolphins Labor.
„Was zum Teufel...?“
Ein einzelner Pixel zeigte eine digitale Lebensform im L-förmigen Bereich.
„Bin das etwa ich?“
Es klingelte in ihren Ohren. Sie wusste, dass sie herausfinden musste, was hier vor sich ging – und das so schnell wie möglich – doch eigentlich wollte sie es lieber gar nicht wissen. Ihre Gedanken waren wie eingefroren.
Der Bereich, auf den sie nun sah, war nicht die L-Form, sondern das Gebiet direkt außerhalb dieser. Davor bewegte sich ein Wesen halb so groß wie das Gebäude.
Sie hörte das tiefe, kehlige Knurren eines Tieres und fuhr herum. Sie konnte nichts sehen.
Natürlich konnte sie das nicht! Wie sollte sie auch? Sie konnte nichts sehen, was in der realen Welt nicht existierte!
Doch dann begann das Gebäude zu ächzen und zu schwanken. Das Wesen lehnte sich gegen das Dach und rüttelte an dem Gebäude.
Daisy schrie und kauerte sich, die Hände über den Ohren, zusammen.
Die von der Decke hängenden Lampen schwankten heftig. Babels Tastatur und auch Stapel Papier fielen vom seinem Schreibtisch zu Boden.
„Das kann alles nicht passieren. Das ist nicht, was wir entwickelt haben! Es ist unmöglich, dass etwas aus einer virtuellen Welt in die reale Welt kommt! Ich bilde mir das nur ein!“
Daisy warf den Bildschirm, der die Welt der Digimon anzeigte, zu Boden.
Sie zerstörte Bildschirm um Bildschirm und öffnete schließlich die Tür zum Keller, ehe sie die Stufen hinunterhastete um den Mainframe auszuschalten.
Stille.
Ihr hastiger Atem schien im Raum widerzuhallen.
Dann, plötzlich, hörte sie ein heftiges Klopfen an der Tür.
Wieder hielt sie sich die Ohren zu und kauerte sich zusammen, schloss ihre Augen. Sie redete sich ein, dass dies alles nur ein Traum war, nichts weiter als ein Alptraum. Sie redete sich ein, dass sie sich all das nur einbildete.
Als etwas sie am Arm backte, schrie sie laut auf und versuchte sich loszureißen.
„Nun reiß dich zusammen! Ich bin es!“
„Shibumu...“
Er war immer so unnahbar gewesen, doch jetzt sah er sie grimmig an.
Die Campus Polizei behauptete später, dass die Ereignisse jener Nacht das Ergebnis eines Orkans waren, doch niemand im Wild Bunch glaubte dies.
Die Digimon entwickelten sich weiter, doch in jener Nacht waren einige Digimon vom Mainframe verschwunden. Da der Wild Bunch befürchtete, dass ein Virus vielleicht das Netzwerk beschädigte, konnten sie nicht nachvollziehen, was mit diesen geschehen war.
Sie führten ihr Experiment fort, doch in 1986 waren die Finanzen ihres japanischen Sponsors aufgebraucht und auch, wenn Dolphin versuchte, das Projekt aus eigener Tasche am Laufen zu erhalten, so lohnte es sich am Ende nicht und wurde schließlich audgelöst.
Eine kleine Abschiedsfeier wurde im bereits leergeräumten Labor gehalten.
„Oh, wo ist Shibumi?“
Offensichtlich war der distanzierte, japanische Mann bereits in sein Heimatland zurückgekehrt.
Daisy sah zu seinem leeren Schreibtisch hinüber, wo er immer mit dem Rücken zu ihnen gesessen hatte, still am Netzwerksystem arbeitend.
Auf seinem Tisch war eine einzelne 5‘-Diskette in einer blauen Hülle.
Sechs Monate später als Daisy bereits an einer GUI für eine PC-Firma arbeitet, erhielt sie eine Email von einer Adresse, die einen vertrauten Spitznamen enthielt.
Sie war von Tao.
Er lebte nun in Japan, zusammen mit der japanischen Frau, die er geheiratet hatte, und auch wenn er noch immer Student war, war er nun von einer japanischen Computerfirma angestellt, die mit der ihren konkurierte.
„Es ist schon eine Weile her, dass wir miteinander gesprochen haben...“
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als sie begann die Email zu lesen.
„Wie geht es dir?
Erinnerst du dich an die Diskette, die Shibumi zurückgelassen hat? Ich habe mich tatsächlich nicht zurückhalten können und sie direkt untersucht, doch war ich mir nicht sicher, ob ich jemand anderem davon erzählen sollte. Doch wegen all dem, was dir in jener Nacht passiert ist, glaube ich, dass du zumindest ein Recht hast, es zu erfahren.“
Daisy war sich nicht sicher, ob sie weiterlesen sollte. Shibumi hatte sie in jener Nacht gerettet, war ihr „Ritter in glänzender Rüstung“, ihr „Samurai“ gewesen. Was hatte er getan?
„Offenbar hat Shibumi sich nicht nur auf seine eigene Forschung konzentriert. Er hat außerdem einige Algorithmen zu meinem Evolutions-Programm, Entelechia, hinzugefügt.“
Evolution?
Als sie darüber nachdachte, erinnerte sie sich, dass Shibumi etwas darüber gesagt hatte, das der Schlüssel zur Evolution der Digimon in der realen Welt lag.
Tao endete damit ihr mitzuteilen, dass er in den letzten sechs Monaten nichts von Shibumi gehört hatte.
Daisy sagte sich selbst, dass die Digimon nichts mehr mit ihr zu tun hatten.
Doch die Digimon verbreiteten sich in der Welt auf eine Art, die sie nicht erwaret hatte.
Die Digimon-Daten im Netzwerk wurden zum Public Domain.
Dann begann eine japanische Spielefirma aus der Idee der Digimon mobile Spiele herzustellen, die sich bei Kindern auf der ganzen Welt großer Beliebtheit erfreuten.
Eines Tages, während eines Einkaufsbummels, sah sie ein Kind, das mit einem dieser kleinen, Ei-förmigen Spielekonsolen spielte. Sofort dachte sie an das Projekt, mit dem sie sich so lange beschäftigt hatte. Das Ark war einen Schritt näher daran, Realität zu werden.
Doch Daisy dachte nach diesem Tag nie wieder an die Digimon...
Das heißt: Nicht bis 2001...
The END?