Fröhliche Weihnachten nachträglich, Hyaku und ein cooles, erfolgreiches Jahr 2012!
Nachtmusik
Schneeflocken tanzten durch die unendliche Schwärze der Dezembernacht. Sie flogen mal hierhin, mal dorthin, umkreisten sich in spielerischen Reigen. Jede einzelne war vollkommen, ein Symbol der Einzigartigkeit und für die Menschen auf dem blauen Planeten waren sie ein Teil von Weihnachten. Doch sobald die Eiskristalle auf dem Boden aufkamen, blieben ihnen nur noch Sekundenbruchteile, bevor sie sich zu einem weiten Weiß vereinten. Einige von ihnen ereilte jedoch das Schicksal, zu klarem Wasser zu schmelzen.
Das kleine Mädchen kauerte in dem Schutz ihres Kinderzimmers, welches im Dunklen so bedrohlich wirkte wie nie. Ihr Atem ging leise, ein lautloser Hilferuf in der Stille. Die Dunkelheit spielte ihren großen Kinderaugen grausame Streiche, verformte die vertrauten Umrisse ihrer Stofftiere zu hämischen Grimassen und selbst das hölzerne Schaukelpferd, ein treuer Begleiter des Kindes, verwandelte sich in ein laut schnaubendes Ungeheuer. Viel hätte nicht gefehlt und das Kind wäre in Tränen ausgebrochen.
Es sehnte sich nach einer mütterlichen Umarmung, nach einem liebevollen Gute Nacht Kuss und einer heißen Milch mit Honig. Nichts vertrieb die Albträume besser. Aber als sie lauschte, hörte sie nur die streitenden Stimmen ihrer Eltern. Wie jede Nacht, in der sie schlaflos in der Dunkelheit kauerte. Keiner kümmerte sich um sie. Sie war unscheinbar.
Vielleicht war das unwichtig.
Vielleicht verstand sie nichts.
Aber vielleicht wollte sie es auch gar nicht.
Es war manchmal besser, einfach zu tun, als verstünde man kein Wort; es ersparte Schmerzen und Enttäuschungen. Aber soweit dachte die Kleine noch nicht. Die Nacht machte ihr Angst, raubte ihr die schönen Träume und ließ sie schlaflos im Morgengrauen zurück. Dann schimpfte Mama, weil sie schon am Frühstückstisch einschlief und in der Schule vor lauter Müdigkeit nicht aufpassen konnte. Manchmal war es auch schon passiert, dass die Hand der Mutter ausrutschte. Dann brannte die empfindliche Kinderwange, so dass sie nachts, in ihrem Bett, nur noch länger weinte.
Das Mädchen setzte sich auf. Die Bettdecke raschelte, zerknautschte den dicken Elefanten. Ein leiser Wind strich ums Haus, ließ die Gardinen vor dem Fenster flattern. Kalte Luft drang durch das gekippte Fenster und das Kind fröstelte. Aber nach ihrer Mutter zu rufen, damit diese das Fenster schloss – das traute sie sich nicht. Bestimmt würde Mama wieder wütend werden. Und das wollte das kleine Mädchen nicht.
Plötzlich wurden die braunen Kinderaugen groß. Eine einzelne Schneeflocke trieb ins Zimmer, der Wind trug sie bis zu dem Mädchen. Statt zu Boden zu sinken, verharrte sie in der Luft. Staunend streckte das Kind eine kleine speckige Hand nach dem Kristall aus; doch als die warme Haut das Eis berührte, zerschmolz sie zu einem winzigen Wassertropfen. Und in diesem Wassertropfen spiegelte sich das lächelnde Kindergesicht.
„Sakura“ Die Stimme klang warm, fürsorglich wie die ihrer Mutter, wenn sie einmal nicht schlecht gelaunt war. Verwirrt blickte sich das kleine Mädchen um, entdeckte jedoch niemanden. Hatte sie sich getäuscht, hatte ihre Fantasie ihr einen Streich gespielt?
„Sakura“, erklang ihr Name erneut und ein helles Licht erstrahlte im Zimmer. Obwohl es in den Augen des Mädchens schmerzte, schloss sie diese nicht. Und als das Licht verlosch, stand mitten auf dem abgewetzten Teppich eine Gestalt.
Ihr langes weißblondes Haar schimmerte wie blankes Silber, während sie mit behutsamen Schritten auf das Bett zuging. Ihre dunkelblauen Augen lächelten mit ihrem Mund um die Wette; von ihr ging ein helles Strahlen aus, wie das einer Kerze. Sie setzte sich auf die Kante des Bettes.
Sakura starrte die Frau an. Auf ihrem Rücken erstreckten sich weiße Flügel, die so weich aussahen wie die eines Vogels. Doch die Fremde erschien wie ein Traum, so dass sie sich nicht traute, die Flügel zu berühren. Oder gar mit der Fremden zu sprechen.
Die Fremde lächelte. „Warum scheust du dich so?“
„Bist du… ein Engel?“ Sakura überwand ihre Angst, um diese Frage zustellen. „Ein richtiger Engel?“ Die Fremde lachte wie ein Glockenspiel. „Gibt es denn auch unechte Engel? Aber ja, ich bin ein Engel. Sogar ein ganz besonderer…“
Die Kleine sprang sofort auf den geheimnisvollen Ton an; aufgeregt zupfte sie am Ärmel des weißen Kleides der Frau. „Warum?“, fragte sie neugierig. „Oh, bitte, verrate es mir! Warum?“
„Weil ich den Schutzengel bin“, entgegnete die Angesprochene. „Mein Name ist Lariel. Ich habe gesehen, wie traurig du immer bist, wenn sich deine Eltern streiten.“
„Woher weißt du das?“
Lariel gluckste. „Ich beobachte dich von meiner Wolke aus. Weißt du denn nicht, woher wir Engel kommen?“ Sakura wurde leicht rot, weil sie dachte, sie habe Lariel nun beleidigt. „Doch; ihr wohnt im Himmel und dient Gott. Oder?“, setzte sie noch etwas unsicher dazu. Lariel nickte und strich Sakura sanft übers Haar. Dann begann sie leise zu summen, eine langsame und gefühlvolle Melodie. Sie bewirkte, dass Sakura müde wurde. Doch noch wollte sie nicht schlafen; sie hatte noch ein paar Fragen.
„Was macht ein Schutzengel?“
Lariel unterbrach ihr Summen, um das kleine Mädchen erstaunt anzusehen. Dann jedoch erschien wieder das warme Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht. „Schutzengel beschützen die Menschen, besonders die Kinder. Wir vertreiben Traurigkeit und bringen Freude, vor allem zur Weihnachtszeit. Und wir sind bei euch, wann immer ihr uns braucht.“
„Immer?“, hakte Sakura nach und Lariel nickte bekräftigend. „Immer.“
Dann begann sie erneut zu summen. Und diesmal versuchte Sakura gar nicht erst, sich gegen die einschläfernde Wirkung zu wehren. Sie schloss seufzend die Augen, kuschelte sich an Lariel und lauschte ihrer Melodie. Das leise Summen ging bald in ein Lied über.
„Märchen schreibt die Zeit
Immer wieder fort
Eben kaum gekannt, dann doch z gewandt
Unerwartet klar.
Stunden nur zu zweit
Ehe sich verschließt
Ist bei beiden dann ganz ohne Zwang;
Die Schöne und das Biest.“
Sakura bemerkte in ihrer Vorstufe zum Schlaf noch, dass sie dieses Lied kannte. Es war ihr Lieblingslied; aus dem Musical „Die Schöne und das Biest“. Ihre Oma hatte es ihr immer vorgespielt, als sie noch bei ihnen gelebt hatte. Sie lauschte weiter den vertrauten Worten.
„Ewig wie die Zeit
Ewig unbewegt
Ewig altbekannt
Ewig imposant
Wie die Sonne aufgeht.
Märchen schreibt die Zeit
Es ist ein altes Lied
Bittersüß verwirrt, dass einzeln man irrt
Und doch vergibt
Jedes Licht der Sonne
Strahlend sich ergießt
Märchen schreibt die Zeit
In des Dichters Kleid
Die Schöne und das Biest.“
Schon fast glockenhell und rein sang Lariel die letzten Verse des Liedes.
„Märchen schreibt die Zeit
In des Dichters Kleid…
Die Schöne und das Biest.“
Nachdem auch der letzte Ton verklungen war, betrachtete der Engel das Kind. Selig schlief sie und träumte vermutlich von ihrem liebsten Märchen. Lariels Aufgabe war erfüllt.
Trotzdem blieb sie noch einige Stunden, bevor sie spürte, wie sich der neue Tag ankündigte. Ein letzter Blick auf das Kind, dann stand sie auf und flüsterte leise Worte in der Engelssprache. Das helle Licht umgab sie erneut, doch als es verebbte, war Lariel verschwunden.
Lariel tauchte kein weiteres Mal mehr auf; dennoch war nach dieser Nacht Sakuras Leben verändert. Ihre Eltern hörten auf sich zu streiten und hatten endlich wieder Zeit für ihre einzige Tochter. Obwohl ihr Lariel nicht verboten hatte, ihnen von dem nächtlichen Besuch zu erzählen, sagte sie es nie. Etwas in ihr wusste, dass man ihrer Geschichte keinen Glauben schenken würde. Und außerdem war das so bei Geheimnissen.
Oft saß Sakura nachts am Fenster und hoffte, dass ihr Schutzengel noch einmal kommen würde. Aber das Zimmer blieb leer.
Doch manchmal, wenn sie in der Stadt unterwegs war mit ihren Eltern, spürte sie die Blicke von jemandem im Rücken. Nie war jemand hinter ihr, doch sie ahnte, dass in diesen Momenten Lariels sanfter Blick auf ihr lag.
Und sie ihr zulächelte.