Dann geht es heute erst einmal weiter :)
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[24.08.2011 – M20 – Kleiderfragen]
Sie saßen beim Frühstück. Heidenstein hatte gefrorene Brötchen aufgebacken, die er mit Magarine und Marmelade, Pakhet dagegen mit Frischkäse aß. Am Ende aß sie ohnehin wenig zum Frühstück – der Kaffee war dagegen wesentlich wichtiger. Eine große Tasse stand vor ihr auf dem Wohnzimmertisch.
Ein leises Klacken ließ Pakhet aufhören. Es klang, als würden Steine gegen das Küchenfenster geworden werden.
Die Küche, die eigentlich einmal eine Kaffeeküche gewesen war, ehe Heidenstein diesen Abschnitt des Krankenhauses zu seiner Wohnung umgebaut hatte, lag direkt hinter dem Wohnzimmer und hatte keine Tür, die man hätte schließen können. Da sie im fünften Stock lag, sollte es allerdings auch niemanden geben, der so einfach würde Steine an das Fenster werden können.
Sie drehte sich um.
„Was?“, fragte Heidenstein und sah auf.
Pakhet seufzte, als sie erkannte, was der Auslöser für das seltsame Geräusch war: Eine Dohle klammerte sich an dem sehr schmalen Fenstersims fest zu klopfte mit dem Schnabel dagegen. „Murphy“, sagte sie und ging zum Fenster hinüber, um es zu öffnen.
Die Dohle flatterte herein und nahm die Gestalt des schwarzhaarigen, hellhäutigen und ausgesprochen nackten Teenagers an.
„Warum zur Hölle hast du deine Kleidung nicht gebunden?“, fragte Pakhet und sah weg. Der Junge trieb sie damit noch zur Verzweiflung.
Das Prinzip war eigentlich einfach: Gebundene Kleidung war auf die eigene Aura eingestimmt, weshalb Gestaltwandler sie einfach mit sich verwandeln konnten. Es war eine Methode für jede Art von Gestaltwandler nicht ständig nackt darzustehen. Für alle anderen war es vor allem von Vorteil, um Kleidung mit in andere Ebenen zu nehmen – sei es die Astralebene oder die Anderswelt. Zur Hölle, Murphy hatte Kleidung an sich gebunden, um mit ihr in die Anderswelt zu gehen und jetzt …
„Du musst sehen, Pakhet“, erwiderte der Junge, ohne sich darum zu bemühen, seine Blöße zu bedecken. „Ich bin ein sehr modischer junger Mann. Muss es ja auch sein, als Crashs Manager und alles, nicht? Und da kann ich es mir doch nicht erlauben ständig dieselbe Kleidung zu tragen. Und du weißt wie auszehrend dieser Rituale sein können, oder?“ Er seufzte schwer. „Davon abgesehen will ich doch niemanden diese Aussicht vorenthalten.“ Er gestikulierte seinen ganzen Körper entlang.
„Die siehst aus wie ein magerer Teenager“, erwiderte sie und ging zurück ins Wohnzimmer, um den Rest ihres Brötchens und vor allem den verbleibenden Kaffee zu vernichten.
„Ein sehr hübscher magerer Teenager“, protestierte Murphy und lehnte von hinten gegen das Sofa.
Pakhet trank Kaffee und schenkte sich damit erst einmal keine Antwort.
„Ich kann die Kleidung leihen“, meinte Heidenstein und stand auf.
„Aber du kleidest dich langweilig“, grummelte Murphy.
Pakhet fiel auf, dass er nie etwas zu dem Unterschied zwischen dem „alten Heidenstein“ und dem „nicht ganz so alten“ Heidenstein angemerkt hatte. Dabei war der Junge nie um eine blöde Bemerkung verlegen. Hatte er es auch bereits länger gewusst?
„Ich möchte dennoch keine nackten Teenager in meinem Wohnzimmer haben“, murmelte Heidenstein und ging zu seinem Zimmer, dessen Tür direkt neben dem Sofa war, hinüber. Diese Wohnung war erstaunlich gedrängt.
„Warum bist du hier?“, fragte Pakhet. „Gibt es etwas neues?“
„Ja und nein“, meinte Murphy. „Ich fliege gleich los und tausche Positionen mit Siobhan, um das Wasserwerk zu beobachten. Der Geist scheint weit weniger Probleme mit Müdigkeit zu haben.“ Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Da war allerdings auch ein Ausdruck in seinem Gesicht, der Pakhet neugierig machte.
Sie hob eine Augenbraue. „Was?“
„Ach, der Möwengeist ist seltsam.“ Murphy schüttelte den Kopf. „Sehr … Anschmiegsam, für eine Möwe. Und sie riecht nach Fisch.“
„Wundert dich das?“
Er zuckte mit den Schultern. „Zum Teil schon.“
Heidenstein war aus seinem Zimmer zurück und reichte Murphy das weite T-Shirt, dass er meistens zum Training trug, und eine entsprechende weite Jogginghose.
Murphy verdrehte die Augen, schlüpfte aber in die Kleidung, die an ihm aussah, als hätte man ihm eine Zeltplane übergezogen. Heidenstein war weder übergewichtig, noch übermäßig muskulös, doch er war groß gewachsen, anders als der Junge in dieser Gestalt. Und Pakhet war sich beinahe dessen sicher, dass er seine Gestalt nicht wechselte, weil er Energie für die Überwachung sich aufsparen wollte.
Er seufzte melodramatisch. „Da könntest du mal passende Klamotten haben.“
„Pass auf, Murphy“, meinte Pakhet amüsiert. „Sonst kaufe ich noch Kleidung für dich.“
Murphy musterte sie, die sie noch immer schwarze Trainingshose und Tanktop trug. „Wäre etwas farblos, aber zumindest …“ Er hob die Hände, wobei die Ärmel des T-Shirts an seinen Armen schlackerten.
„Ich sehe schon.“ Pakhet lächelte matt.
Murphy grinste. „Also, ja, ähm. Siobhan wird nachher wohl vorbei kommen“, meinte er. Er wandte sich schon wieder zum Gehen. Wahrscheinlich war die Kleidung wirklich überflüssig gewesen. Dann aber hielt Murphy inne. „Ach ja, und ich habe mit Smith geredet. Wenn du morgen Zeit hast, werde ich mit dir zu einer Magierin fahren, die Tränke und Artefakte herstellt.“
„Okay.“ Pakhet musterte ihn. „Wieso du?“
Murphy wich ihrem Blick aus. „Sagen wir es mal so, ich kenne sie noch.“ Dann erschien wieder sein übliches Grinsen auf seinem Gesicht. Er lief rückwärts in Richtung des offenen Küchenfensters. „Ich muss dann mal, sonst wird mich Siobhan noch zu Tode hacken.“ Damit stolperte er – ziemlich sicher absichtlich – über seine Hosenbeine und nahm noch im Sturz die Gestalt eines Rabens an, der aus dem Fenster flatterte und verschwand.
„Ich hätte ihm wirklich keine Kleidung raussuchen müssen, hmm?“, meinte Heidenstein und sammelte Hose und Shirt vom Boden auf.
„Nein“, antwortete Pakhet und seufzte. „Vielleicht sollte ich ihm wirklich etwas kaufen.“
Heidenstein sah sie mit einem milden Lächeln an. „Um ihn zu nerven?“
„Um zu verhindern, dass er hier nicht öfter nackt rumspaziert“, meinte sie. „Und ja, vielleicht auch, um ihn etwas zu ärgern.“ Sie seufzte und wandte sich wieder dem Kaffee zu.
Ihre Nacht war nicht besonders erholsam gewesen. Sie hatte zu viele Alpträume gehabt. Aber zumindest waren ihre Wunden weiter verheilt.
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[25.08.2011 – SI02 – Beobachtungen]
Der Morgen verging langsam. Pakhet hasste es, weiterhin im Krankenhaus zu sitzen, nichts zu tun, doch gab es im Moment wenig, was sie tun konnte. Sie musste sich auf die anderen verlassen. Murphy und Siobhan, sowie die seltsame Möwe, um die beiden Orte zu beschatten, auf Smith und Jack, um eventuell weitere Hilfe zu besorgen, auf Alice, um Informationen über den Ring herauszufinden. Sie selbst konnte nicht unauffällig die Orte beschatten. Sie selbst kannte auch kaum jemanden außerhalb der Organisation, den sie um Hilfe bitten konnte. Ebensowenig war es ihr möglich Informationen aus dem Dark Net ziehen.
Kurzum: Sie fühlte sich nutzlos.
Sie verbrachte die Zeit damit, vor dem Fernseher zu sitzen und ihrem Handy missmutige Blicke zuzuwerfen, darauf wartend, eine Nachricht von irgendwem zu bekommen. Irgendeine Information, die sie weiter brachte, die es ihr erlaubte, selbst tätig zu werden.
Doch für über zwei Stunden war ihr Handy still da gelegen.
Umso mehr zuckte sie zusammen, als es nun dennoch vibrierte. Eine Textnachricht. Von Heidenstein, der sie darüber informierte, dass Siobhan unten im Krankenhaus angekommen war.
„Komme“, schrieb sie und stand auf.
Sie war bereits bekleidet, trug auch ihre Prothese, um dem Gefühl der Unvollständigkeit, dass sie ohne verspürte, zu entgehen.
Sie machte sich auf den Weg in den Keller des Krankenhauses. Wenn sie ehrlich war, war sie froh um die Ablenkung, die ihr dies erlaubte. Verdammt, wie sehr wollte sie etwas tun?
Siobhan wartete im Besprechungszimmer, wo sie sich auch am Tag zuvor getroffen hatten. Sie saß am Tisch, schaute etwas auf ihrem Handy nach und hatte eine Krankenhaustasse, die dem Geruch nach mit Kaffee gefüllt war, vor sich stehen.
„Hey“, meinte Pakhet und kam rein.
Siobhan blickte auf. „Hey.“ Sie lächelte.
„Hat Murphy dich abgelöst?“
Die Magierin nickte. „Ja. Ich war allerdings kurz zu Hause, um etwas zu essen.“ Sie sah bei weitem nicht so müde aus, wie Murphy am Vortag. Vielleicht konnte sie besser damit umgehen, so lange wach zu sein. Vielleicht hatte sie auch entsprechende Fähigkeiten. Einige Magier waren fähig, ihre Energiereserven durch Rituale aufzufüllen und damit mehrere Tage am Stück wach zu bleiben, zu arbeiten.
„Nicht schlimm.“ Pakhet hätte sich auch nicht darüber beschwert, wäre die Antwort nur schriftlich gewesen. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“
„Ja“, antwortete Siobhan. „Ich habe an den Wasserwerken beobachtet, wie insgesamt acht bewaffnete Leute angekommen sind. Ich nehme an, sie waren Söldner. Die Ausrüstung war nicht Straßengangtypisch.“
Pakhet nickte. Das passte zu dem, was sie von Michael erfahren hatte. „Etwas neues vom Hotel?“ Immerhin konnte es sein, dass Siobhan Informationen von ihrem Schutzgeist oder was auch immer die Möwe war, bekommen hatte.
„Trixie sagte, dass ein junges Mädchen von jemanden weggebracht worden sei. Sie wusste aber nicht, ob es eins unserer Kinder war“, antwortete Siobhan.
Verdammt. Wenn sie eins der Kinder verkauft hatten, war die Wahrscheinlichkeit, dieses Kind – oder diesen Jugendlichen, versuchte sie sich zu verbessern – zu retten gering. Es war zu schwer nachzuvollziehen, wohin die Jugendlichen gebracht wurden. Vielleicht in ein Bordell, vielleicht in eine Miene oder auf Felder, vielleicht aber auch ganz woanders hin.
„Danke“, sagte sie dennoch matt. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie wollte etwas sinnvolles sagen, auch wenn ihr im Moment wenig einfiel. „Was ist mit der Möwe, ich meine, Trixie? Kann sie das Haus länger bewachen? Murphy sagte, sie hat weniger Probleme.“
Siobhan lächelte ein geheimnistuerisches Lächeln, wie Pakhet es schon zu oft bei Magiern gesehen hatte. „Geister brauchen nicht zwangsläufig Schlaf. Außerdem hat sie einen Schwarm hier in der Stadt. Verbündete, wenn man so will, die für sie übernehmen können.“ Sie zwinkerte. „Mach dir um sie keine Sorgen.“
Pakhet nickte, seufzte. „Okay.“
Siobhan musterte sie. Für einen Moment schien es, als wolle sie noch etwas sagen wollen, doch dann setzte sie den Kaffee an, trank. „Wenn du mich entschuldigst. Ich will mich für ein paar Stunden hinlegen.“
„Sicher“, meinte Pakhet. „Du musst wegen so etwas auch nicht herkommen.“ Wieder konnte sie sich ein Seufzen nicht unterdrücken. „Aber danke für deine Hilfe.“
„Gerne“, antwortete Siobhan. „Es ist doch immer wieder gut, das richtige zu tun, oder?“ Sie sagte es auf eine Art, die etwas zu suggerieren schien.
Pakhet verstand nicht, zuckte mit den Schultern. „Ja.“ Sie ließ das Wort vage klingen, sah Siobhan an. „Wirklich. Danke.“
Siobhan lächelte nur. „Ich sage Bescheid, wenn ich was neues höre.“ Damit leerte sie die Tasse, stellte sie ab und stand auf. „Ansonsten bis morgen.“
Pakhet nickte. „Bis morgen.“
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[25.08.2011 – S08 – Kontakte]
Siobhan war seit zwanzig Minuten gegangen, als Pakhets Handy erneut klingelte. Smith rief an.
„Ja?“, fragte Pakhet, ohne ein Wort der Begrüßung. So etwas war mit Smith nicht notwendig.
„Pakhet, ich habe eventuell jemanden, der uns helfen kann“, begann Smith, ebenso grußlos.
Etwas an seinem Tonfall, ließ sie aufhorchen. Er schien unsicher, ganz so, als wüsste er nicht, wie sie reagieren würde.
„Ja?“, fragte sie.
„Ich habe mich mit einigen Organisationen im Bereich des Jugendschutzes in Verbindung gesetzt“, erwiderte Smith. „Um genau zu sein habe ich Jack beauftragt, das für mich zu machen. Er hat einige Kontakte, die in dem Bereich tätig sind, speziell was Menschenhandel mit Kindern und Jugendlichen angeht.“
Das war alles andere als genau. Smith schien absichtlich vage zu formulieren. Doch Pakhet erinnerte sich sehr wohl noch an die Worte Jacks. Er hatte ihr bei ihrem Treffen gesagt, dass er bei solchen Operationen öfter ausgeholfen hatte. Speziell bei einer Organisation. „Interpol“, sagte sie und schürzte ihre Lippen.
Smith schwieg. „Ja“, sagte er dann.
„Du weißt, dass ich mich bei denen nicht sehen lassen kann“, erwiderte Pakhet. „Ich …„
„Du wirst relativ sicher nicht von Interpol gesucht, Joanne.“ Smith betonte ihren eigentlichen Namen deutlich, hob ihn hervor. „Du weißt das. Du bist keine Terroristin.“
„Ich will darauf nicht wetten“, murmelte sie. Sie mochte den Gedanken so gar nicht.
„Ich gehe dagegen jede Wette ein“, erwiderte Smith. „Auch weil ich habe nachsehen lassen. Das US-Militär sucht dich, sonst niemand. Nicht einmal FBI oder CIA. Um es dir eiskalt zu sagen: Du bist nicht wichtig genug.“
Sie seufzte. Nicht, dass sie es nicht eigentlich wusste. „Michael wird nicht mögen, dass du mir das so sagst.“ Hatte er ihr doch immer vorgehalten, dass sie nicht fort konnte, solange man nach ihr suchte.
„Michael wird auch nicht mögen, dass ich dir hierbei helfe. Wenn es mir darum ginge, Gefallen bei Michael zu sammeln, hätte ich deine ganze Aktion an ihn verraten“, erwiderte Smith und sie war sich sicher, dass sein Gesicht nun ein breites Grinsen trug.
Sie seufzte. „Bist du dir sicher, dass wir der Polizei vertrauen können?“
„Wir vertrauen der Polizei oft genug, wenn wir uns von ihnen für Beihilfe bezahlen lassen, oder?“
Das war etwas anderes. Das war lokale Polizei in Südafrika, manchmal auch den Nachbarländern. Polizei, die chronisch unterbezahlt war, oftmals leicht bestechlich und die leider zu oft die Hilfe von Spezialisten brauchte. Doch sie sagte es nicht. „Ja“, seufzte sie.
„Also. Ich habe mit Jack gesprochen. Jack mit seinen Kontakten. Sie würden sich heute Abend mit dir in Johannisburg treffen.“
„In Johannisburg?“, fragte sie ungläubig.
„Ich habe einen Flug arrangiert. Du würdest dich in zwei Stunden mit Jack am Flughafen treffen.“
„Wie gut, dass du mich vorher darüber informierst.“ Sie konnte den Sarkasmus nicht mehr im Zaum halten, schnaubte leicht. Sie verstand zu gut, dass Smith es bereits so arrangiert hatte, um ihr die Entscheidung abzunehmen. Verdammter Idiot!
Smith wartete, dass sie noch etwas sagte, doch als sie schwieg, seufzte er. „Pakhet. Du weißt genau so gut wie ich, dass du Hilfe brauchst. Du brauchst mehr Leute, als wir so stellen können.“
Pakhet schwieg.
„Du weißt genau so gut, wie ich, dass wir hier einen chronischen Mangel an Polizisten haben“, fuhr er schließlich fort. „Und Jack hat diese Kontakte, also bin ich der Meinung, dass wir, wenn du es mit der Sache wirklich ernst meinst, diese nutzen sollten.“
Noch einmal schnaubte sie. Verdammt. Warum musste alles, was er sagte, so viel Sinn machen? „Ich weiß“, murmelte sie leise.
„Also?“, fragte Smith.
Sie sah die weiße Krankenhauswand auf der anderen Seite des Zimmers an. Verdammt. „In Ordnung. Ich treffe mich mit Jack. Der internationale Flughafen?“
„Korrekt.“
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[25.08.2011 – J03 – Flug]
Jack wartete auf sie. Wie sie hatte er nur leichtes Gepäck. Sie würden am Folgetag zurückreisen. Ach, verdammt, wahrscheinlich war es ohnehin besser, wenn sie für ein, zwei Tage aus der Stadt verschwand. Es gab nichts, was sie hier tun konnte, und je länger sie hier war, desto wahrscheinlicher war es, dass irgendjemand, den die Leute hinter dem „Casino“, hinter der Organisation, angeheuert hatten, es auf sie anlegte. Also war es nur gut, wenn sie nach Johannisburg flog. Also … Ach, sie konnte sich nicht selbst überzeugen. Sie hasste die Aussicht mit Interpol zu sprechen noch immer.
„Hallo, Honigschnute“, meinte Jack grinsend, als sie auf ihn zukam.
„Nenn' mich noch einmal so und du …“, begann sie, wurde aber von ihm unterbrochen.
Er verdrehte die Augen. „Spar's dir“, murmelte er. „Es gibt nichts, mit dem du mir Angst einjagen kannst.“
„Bist du dir sicher?“ Sie schnaubte.
„Ziemlich.“ Er musterte sie. „Du bist ein guter Mensch. Du wirst mir nichts tun. Schlimmstenfalls versetzt du mir einen Kinnhaken.“ Er zuckte mit den Schultern, seufzte. „Schmerzen machen mir keine Angst.“ Etwas desillusioniertes lag in seiner Stimme. Nein, etwas anderes. Reue? Sie war sich nicht sicher, schnaubte nur wieder.
„Ein guter Mensch?“, fragte sie.
„Du willst diese Kinder retten“, erwiderte er. „Mit denen du nichts zu tun hast. Bist bereit darüber andere Leute aus, wie ich vermute, eigener Tasche zu bezahlen. Ja, wenn du mich fragst, qualifiziert dich das, Zuckerfee.“
„Geht es noch alberner?“, murmelte sie.
Er grinste. „Du hast gar keine Ahnung, mein Goldeselchen“, schnurrte er.
„Idiot.“
Er lachte. „Ja, das geht auch.“
Womit hatte sie das nur verdient. „Was willst du damit erreichen?“
Wieder zuckte er mit den Schultern. „Es macht mir Spaß.“ Er grinste. „Weißt du, die Tatsache, dass du dich so darüber aufgibst, macht es beinahe noch amüsanter.“
„Oh, pass auf, ein Internettroll“, murmelte sie.
Er zwinkerte ihr zu.
Verdammt. Was er konnte, konnte sie auch. „Okay, Hoppelhäschen, was sind das für Leute, mit denen wir uns treffen?“
Den Spitznamen nahm Jack mit einem Grinsen auf. „Tony Chase, eigentlich Brite“, erwiderte er. „Er hat mehrere Stiche gegen Menschenhandelsorganisationen geleitet. Speziell jene, die Kinder nach Europa verschiffen. Wir haben Glück, dass er aktuell hier ist. Er ist vertrauenswürdig und ein guter Mann.“
„Wie sieht es mit seinem Wissen über, nun“ – Pakhet räusperte sich – „das Übernatürliche aus?“
„Er weiß, was es gibt“, erwiderte er. „In diesen Bereichen …“ Jack verstummte und für einen Moment verblasste sein Grinsen. „Sagen wir es einmal so: So etwas, wie du beschreibst, ist nicht selten.“ Er schüttelte den Kopf. „Nun, Dämonen schon. Aber zumindest werden Tränke verwendet, um Kinder gefügig zu machen. Weniger Nebenwirkungen als Drogen, weißt du? Weniger Schaden an der Ware.“ Seine Stimme wurde bitter.
Pakhet musterte ihn. Warum interessierte er sich eigentlich so für diese Dinge. Es schien so gar nicht zu dem Rest seiner Persönlichkeit zu passen. Es sei denn, natürlich … Ein Gedanke kam ihr. Konnte es sein? Es wäre eine Erklärung, doch sie war sich nicht sicher. Sie würde sicherlich nicht danach fragen.
Sie nickte bloß. „Ich verstehe, denke ich. Ich wollte nur sicher gehen … Die Polizei …„
„Lokal, ja“, erwiderte er. „International … Zumindest Abteilungsleiter wissen Bescheid. Meistens.“ Jack bemühte sich wieder um sein sorgloses Grinsen. „Es wird nur nicht zu oft darüber gesprochen, wenn es nicht relevant wird. Und wann wird es schon einmal relevant?“
„So, wie du klingst, bei diesen Operationen öfter“, murmelte Pakhet.
„Verschiedene Einsatzgebiete“, erwiderte Jack und lächelte. „Wusstest du, dass Interpol eine eigene Abteilung für Sonderfälle der Art hat?“
Sie sah ihn an. „Ich habe davon gehört.“ Um genau zu sein hatte sie vielleicht fünf oder sechs Mal Missionen erledigt, bei denen sie vermutet hatte, dass der Auftraggeber zu einer internationalen Sicherheit gehörte, während der- oder diejenigen offenbar über Dämonen, Fae und Taschendimensionen bescheid wussten. „Aber sie haben selbst wenig Leute mit Talent.“
Jack zuckte mit den Schultern. „Vielleicht.“
Tatsache war, dass ein Großteil der ohnehin schon kleinen, magischen Community vorsichtig war, wenn es darum ging, sich und all das was mit ihnen zu tun hatte, der Allgemeinheit zu offenbaren. Und diejenigen, die – wie sie, Heidenstein und die anderen in der „Firma“ – weniger Probleme damit hatten … Nun, für sie gab es besser bezahlte Arbeit, als bei der Polizei.
Es hatte keinen Sinn, über das Thema länger zu philosophieren. Stattdessen sah sie sich um. „Wir sollten einchecken, oder?“ Immerhin hatte sie ihr Ticket bisher nur auf dem Handy.
„Da hast du vollkommen Recht, Cherie“, meinte Jack, endlich wieder grinsend. „Ich habe damit nur auf dich gewartet.“
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[25.08.2011 – P01 – Polizeikontakt]
Zu Pakhets Erleichterung fuhren sie nicht nach Pretoria, wo das eigentliche Südafrika-Hauptquartier von Interpol war, sondern zu einem chinesischen Restaurant in Linden. Es war eindeutig besser, als zur Polizeistation zu fahren. Dennoch war es ihr nicht ganz wohl dabei, so öffentlich zu sein.
Der Tag war klar, sonnig, etwas kühl, aber noch immer warm genug, als dass Jack ein leichtes, wenngleich langärmliges Hemd ohne Jacke trug. Derweil hätte Pakhet selbst bei Hitze nicht auf ihre Jacke und die Lederweste verzichtet.
Jack führte sie zu einem Platz hinten im Restaurant. Der Tisch war leer, doch laut Smith würde das Treffen auch erst in zehn Minuten, um sieben stattfinden.
„Gibt es noch etwas, das du mir über diesen Chase erzählen kannst, Mäuschen?“, fragte Pakhet.
„Was willst du wissen, Bärchen?“, erwiderte er.
Würden sie das die ganze Zeit machen? Sie war mit solchen Spitznamen nicht einmal gut. Aber verdammt, sie wollte sich auch nicht weiter von ihm verarschen lassen. „Also, er kommt aus den UK und …? Was für eine Art Mann ist Chase?“
„Jemand mit einem übertriebenen Sinn für Gerechtigkeit.“ Jack hob die Hand, um einen der Kellner rüber zu winken und bereits Getränke für sie zu bestellen – ohne Pakhet zu fragen.
Sie beschloss, es zu ignorieren, auch wenn sie normal kein Bier trank. Schon gar nicht zu chinesischem Essen. „Inwiefern?“
„Er würde sich auch gegen Vorschriften stellen, um etwas zu tun, dass er als richtig und gerecht erachtet.“ Jack lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schenkte ihr wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Du wirst ihn mögen, Bunnybu.“
Sie verdrehte die Augen. Was auch immer das heißen sollte.
Sie konnte eine gewisse Nervosität nicht unterdrücken. Egal was Smith sagte, sie misstraute der Polizei, speziell internationaler Polizei. Immerhin war internationale Polizei oftmals auch nicht von Söldnern angetan – sofern sie ihre Dienste nicht gerade dringend benötigten. Ach, es gab so viele Gründe ihnen gegenüber misstrauisch zu sein. Sie trug nicht umsonst eine ihre Baretta in ihrem versteckten Holster.
„Sieh an“, meinte Jack und stupste sie an.
Sie hatte sich mit dem Rücken zur Wand gesetzt, hatte eine Übersicht und sah zwei Personen, die in Zivil zu ihnen hinüberkamen.
Der eine hellhäutig, breit gebaut. Sein Haar rotblond. Er hatte einen kurz gehaltenen Vollbart. Die erste Assoziation, die er bei ihr hervorrief, war ein alter Seemann, nicht ein Polizist.
Seine Begleitung war weiblich, afrikanisch. Ihre Haut war dunkel, ihr Haar, ähnlich wie das Pakhets kurz gehalten, aber kraus.
Der Seemann nickte Jack zu. Es war wahrscheinlich Chase. Die Afrikanerin war wohl eine Kollegin. Sie kamen beide zu ihnen hinüber.
Chase zog einen Stuhl vor, bot ihn seiner Kollegin an, ehe er sich auf den zweiten Stuhl, ihnen gegenüber setzte.
„Jack“, meinte er mit einem milden Lächeln. „Ich hätte nicht gedacht, dich so schnell wieder zu sehen.“
Jack hielt sein Bier in der Hand, musterte ihn. „So schnell? Es waren neun Monate, alter Brummbär.“ Also gab er allen Leuten seltsame Spitznamen.
„Kam mir weit weniger vor.“ Chase zuckte mit den Schultern.
Jack setzte sein Glas ab, musterte die Kollegin, die Chase mitgebracht hatte. „Das wäre wohl der Moment unsere Begleitungen vorzustellen, nicht wahr?“
„Wie du meinst. Das hier ist Officer Lesedi Botha, von der lokalen Division für vermisse Kinder und Kindesmissbrauch.“
Jack schenkte Botha ein gewinnendes Lächeln, das die Frau unsicher erwiderte. Dann wandte er sich Pakhet zu. „Das hier ist Pakhet. Sie ist diejenige, die diesen Ring gefunden und die ganze Operation ins Rollen gebracht hat.“
„Pakhet, hmm?“ Chase musterte sie aufmerksam. „Das ist kein gewöhnlicher Name, oder?“
Sie zuckte nur mit den Schultern. Er wusste wahrscheinlich, dass es ein Codename war, aber sie hatte keine Lust mit ihm darüber zu sprechen. Sie begnügte sich damit, ihr Schweigen mit einem Schluck des Biers zu begründen.
Ein Kellner kam zu ihnen hinüber, fragte, ob sie bestellen wollten. Sie wollten. Gut, da es vielleicht einfacher war über dem Essen zu reden. Es war zumindest einfacher Gründe zu finden, nicht zu antworten.
„Also, Ms Pakhet“, meinte Chase, „was können Sie mir genau über den Fall erzählen?“
Sie würden so tun, als sei sie kein Söldner, oder? Zumindest würde sie unter dem Vorsatz weiterspielen. „Wir haben eine Webseite im Dark Web entdeckt, auf der Jugendliche verkauft, teilweise versteigert wurde. Vorrangig für Sexarbeit, allem Anschein nach.“ Sie unterdrückte ein Räuspern, wollte nicht zu nervös wirken. „Wir konnten der Spur eines dorthin gebrachten Mädchens folgen und haben ein Gebäude gefunden, in dessen Keller die“ – sie wollte „Kinder“ sagen – „Jugendlichen gefangen gehalten wurden.“ Wie erklärte sie, was passiert war am besten? „Wir waren nur zu zweit und haben nicht mit magischer Verteidigung gerechnet.“
„Magisch?“, fragte Chase.
„Dämonen“, erwiderte Pakhet.
Bhuta musterte sie. „Was für eine Art Dämonen?“
Wusste sie mehr? Pakhet holte ihr Handy hervor, suchte die Bilder heraus, die sie abgespeichert hatte. „Ein Schakal und eine große Schlange.“ Sie zeigte die Bilder, ohne ihr Handy aus der Hand zu geben.
„Und der Beschwörer?“, fragte Bhuta.
„Ich habe einen Mann gesehen. In einer Taschendimension. Ich kann jedoch nicht sicher sein, ob er der Beschwörer war.“
Chase runzelte die Stirn. „Das ist ungewöhnlich.“
„Ja“, erwiderte Pakhet. „Ich weiß.“ Sie blickte ihm direkt in die Augen. Er hatte hellblaue Augen. „Wie dem auch sei.“ Nun trank sie doch einen Schluck, um gegen ein weiteres Räuspern anzukämpfen. „Ich habe das Gebäude beobachten lassen. Man hat die Kinder seither fortgebracht. In ein Hotel.“ Für den Moment verschwieg sie die Wasserwerke, sie schienen so deutlich eine Falle zu sein.
„Hotel?“ Chase sah Bhuta an.
„Das ist nicht ungewöhnlich“, meinte die Frau.
Pakhet nickte. Das wusste sie. Es war eigentlich der übliche MO von Menschenhändlern, Kinder von Hotels aus zu verkaufen. So üblich, dass internationale Kinderschutzorganisationen gezielt dagegen vorgingen und Datenbanken von Hotelzimmern anlegten.
„Glauben Sie, dass das Hotel auch magisch gesichert wurde?“ Chase sah sie an.
Pakhet zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste sie es nicht. Doch der Kellner, der die ersten Teller mit dem Essen, gewährte ihr Zeit, die Antwort zu verzögern.
Schließlich seufzte sie. „Ich denke nicht, dass man Dämonen im Hotel positioniert hat, sofern der Hotelbetreiber nicht mit der Organisation zu tun hat, was ich nicht ausschließen kann.“
Jack stieß sie leicht an, schenkte ihr einen langen Blick. Er hatte deutlich bemerkt, dass sie die Wasserwerke ausgelassen hatte.
Ach, verdammt. „Man hat fünf oder sechs der Jugendlichen auch in das alte Wasserwerk gebracht.“ Sie beobachtete Chase. „Ich nehme an, dass es eine Falle ist. Man wird den Ort sichern.“
Chase strich sich über seinen Bart. Seine Stirn war in Falten gelegt, doch dann nahm er die Stäbchen, die neben seinen Teller gelegt worden waren. „Wie haben sie all das herausgefunden?“
Pakhet tat es ihm gleich. „Gute Spione.“ Sie nahm etwas von dem mageren Hähnchenfleisch, das auf ihren Nudeln lag, auf, führte es zu ihrem Mund.
„Ah.“ Auch Chase aß.
Für eine Weile herrschte Schweigen. Sie und Chase aßen, Bhute schien unsicher, was sie sagen sollte, und Jack war offenbar genervt. Er räusperte sich.
„Weshalb wir hier sind: Wir brauchen Hilfe, um die Jugendlichen daraus zu holen, sie möglichst sicher unterzubringen, sie medizinisch und psychologisch zu versorgen.“
Chase nickte. „Anders gesagt: Ihr braucht ein Einsatzkommando.“
Pakhet ließ ihre Stäbchen sinken. „Ich werde mich um das Wasserwerk kümmern. Auch wenn es zuträglich wäre, würden die Behörden sich danach um die Jugendlichen kümmern.“
„Sie können nicht einfach um Hilfe bitten und dann beschließen, dass Sie sich um einen Teil selbst kümmern“, warf Bhute mit gerunzelter Stirn ein. „Was qualifiziert Sie überhaupt dafür?“
Jack schenkte ihr wieder ein breites Lächeln. Wenn er es für seine Geheimwaffe hielt, war es in Pakhets Augen nicht sehr erfolgreich. „Glauben Sie mir, Pakhet ist sehr qualifiziert.“ Dabei redete er so, als würde er sie tatsächlich kennen. Dabei hatte er sie nicht einmal kämpfen sehen. Doch im Moment sollte sie sich nicht darüber beschweren. Sie konnte nicht zulassen, dass die Polizei sich an den Wasserwerken einmischte. Das war eine Falle, die wahrscheinlich ihr galt und verdammt noch mal ihre beste Chance, Informationen zu die Leute hinter der Organisation zu erhalten. Davon abgesehen widerstrebte es ihrem Stolz, jemand anderes sich darum kümmern zu lassen.
Wenn diese Leute glaubten, sie könnten sie in so einem Hinterhalt hinrichten, würden sie schon sehen, was sie davon hatten.
„Sind dort auch Kinder?“, fragte Chase.
„Von allem, was wir wissen, ja“, erwiderte Pakhet. „Fünf oder Sechs. Meine Spione konnten es nicht genau sagen.“ Sie sah erst ihm, dann Bhute fest in die Augen. „Aber meine Leute und ich können uns darum kümmern. Wir brauchen vor allem Hilfe für das Hotel und für die Unterbringung der Jugendlichen.“
„Ich gehöre übrigens zu ihren Leuten“, erklärte Jack mit einem weiten Grinsen. „Also kein Grund zur Sorge.“ Glaubte er wirklich, dass diese Worte beruhigend wirkten?
Chase seufzte, legte seine Stäbchen ab und ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. Er verschränkte die Arme und dachte offenbar nach.
„John“, meinte Bhute leise, aber nicht leise genug, als dass sie es nicht hörten. „Wir können nicht einfach einige“ – sie sah zu Pakhet und Jack – „Söldner mit einer solchen Operation …“ Wahrscheinlich hatte sie tatsächlich so etwas wie Autorität über ihn. Immerhin unterstand Interpol, solange sie in Südafrika agierten, den örtlichen staatlichen Sicherheitskräften.
„Wir beauftragen des Öfteren Söldner mit solchen Operationen.“ Er seufzte. „Ich denke wir können darüber reden.“ Er hob selbst sein Glas um zu trinken. „Können Sie uns weitere Bilder, Beweise über die Situation besorgen?“
Pakhet nickte. „Ja. Fraglos.“
„Dann werden wir sehen, was sich machen lässt.“
„Wie schnell?“, fragte Pakhet.
„Zwei Tage. Vielleicht drei.“ Er räusperte sich und sah sie an, sagte aber nichts mehr.