Ich glaube, der gefährlichste Aspekt dieser dünnen Eisschicht liegt darin, dass man nicht genau weiß, ob bzw. wann sie einbricht oder ob sie eventuell sogar schon eingebrochen ist. Ein Spruch, der im Scherz gesagt wird, ist für denjenigen, an den er gerichtet ist, eventuell schon eine Beleidigung. Man kann den Leuten nicht in den Kopf schauen. Viele sagen, dass es ihnen nichts ausmacht, wenn man ab und zu einen kleinen Scherz ablässt, aber in Wirklichkeit sieht es anders aus. Natürlich könnte man hier argumentieren, dass das potentielle Opfer der Gegenseite lieber so schnell wie möglich den Riegel vorschieben sollte, bevor es noch schlimmer wird. (Und schlimmer wird es immer, weil Menschen gerne ihre Grenzen testen und je nach Umstand immer weiter ausdehnen.) Aber welcher Mensch gibt schon gerne zu, dass er verletzlich ist, noch dazu vor mehreren Leuten? Genau diese Kleinigkeiten sind es, die Menschen in Täter und Opfer aufteilen.
Mobbing ist eine Form der Gruppendynamik, die sich schnell und instinktiv verselbstständigt. Es gibt zwar spezielle Definitionen von Mobbing, in denen es heißt, dass richtiges Mobbing erst nach mindestens drei Monaten fortlaufender Dauer anfängt, aber davon halte ich ehrlich gesagt nichts. Mobbing beginnt dort, wo ein Einzelner unter der Dynamik von vielen anderen zu leiden hat. Die beiden Parteien müssen einander nicht einmal hassen. Es reicht ja schon, wenn eine Gruppe von fünf Personen einen Freund dazu drängt, am Ballermann die Sau rauszulassen, obwohl dieser das gar nicht möchte. Natürlich kann man hier nicht von Mobbing im klassischen Sinne sprechen, aber das Verhalten ist relativ ähnlich.
Ein kleines Beispiel hierzu: In den USA gab es mal eine Gruppe von Studenten, die sich von den anderen abgeschottet hat. Als es darum ging, einen Freund in den erlesenen Kreis aufzunehmen, wurde von ihm in einer Mutprobe verlangt, jede Menge Wasser zu trinken. Der Student ist im Rahmen dieses Tests an einer Hyponatriämie gestorben. Vor Gericht waren die schuldigen Studenten allesamt geständig und kleinlaut. Sie gaben an, nicht gewusst zu haben, was sie in diesem Moment taten. Das mag wie eine billige Plattitüde klingen, und verurteilen muss man so etwas auch, aber irgendwo und irgendwie kann man auch ein kleines bisschen Verständnis für solche Taten aufbringen. Mit Blick auf die menschlichen Instinktreste und das menschliche Verhalten unter Adrenalin erscheint so ein Verhalten zwar immer noch unakzeptabel, aber verständlich. (Das heißt nicht, dass ich die Täter in Schutz nehme. Ganz im Gegenteil, mit "verständlich" meine ich hier die kognitive Wahrnehmung, nicht die gesellschaftliche.)
Im Grunde kann man auch Leute zu den Tätern zählen, die vorgeben, sich aus allem heraushalten zu wollen. Hierbei bin ich auch kein Kind von Traurigkeit, wie ich zugeben muss. In meiner ehemaligen Klasse gab es einen Schüler, der in der Klasse keinen einzigen männlichen Freund hatte. Das heißt natürlich, dass er den Proleten unserer Klasse auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen ist, als er vor und nach dem Sportunterricht in die Männerumkleide wollte. Ich habe mir daraus wenig gemacht und habe mich deswegen im Hintergrund gehalten. Die anderen haben ihn getreten, auf ihn eingeprügelt und den Inhalt des Mülleimers auf seinem Kopf ausgeleert. Gut, man muss fairerweise sagen, dass er die ganze Klasse immer von oben herab behandelt hat, vor allem auf Basis seiner guten Kenntnisse in Mathematik. Aber das rechtfertigt so ein Verhalten keineswegs. Und obwohl ich mich aus dieser Sache herausgehalten habe, bin ich unter dem Strich ebenfalls schuldig, weil ich es nicht verhindert habe. Der Grund liegt klar auf der Hand: Man hat Angst, dass man die nächste Zielscheibe für die Peiniger wird, wenn man für die falsche Person Partei ergreift.
Zu meiner halben Ehrenrettung muss ich allerdings auch sagen, dass ich später immer gegen Mobbing an unserer Schule gearbeitet habe. Das entschuldigt allerdings nicht den Umstand, dass ich meine Hilfe in diesem speziellen Fall verweigert habe.