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Mut. Stärke. Schönheit. Kühnheit. Anmut. Treue. Altruismus. Rücksicht, Gewandtheit, Intelligenz… Eine Liste von Eigenschaften, noch scheinbar endlos fortsetzbar, allesamt solche, die ich selbst besitzen sollte, wenn es nach den Klischees gehen sollte. Tatsächlich trafen diese häufig auf jene zu, denen sie nachgesagt wurden – meinem Volk. Eine Gemeinschaft, wie geschaffen dazu, ruhmreiche Helden in unvergesslichen Geschichten zu werden, was eine Rolle war, die wir nicht selten einnahmen.
Auch auf mich traf einiges davon zu; mit Waffen vermochte ich umzugehen wie wenige andere. Auch als schön konnte man mich wohl bezeichnen, denn obwohl ich selbst es nicht getan hätte, war ich nicht selten von jungen Männern umgeben, die mich um einen Spaziergang, einen Tanz, manchmal gar meine Hand baten. Nie hatte ich zugestimmt, obgleich ich in dem Alter war, in dem Elfen zumeist einen Partner fanden – mir waren sechzig Jahre Lebenserfahrung eigen, in Menschenohren eine lange Spanne, während ich von einigen älteren Spitzohrigen deswegen noch belächelt wurde.
Allerdings wusste ich, dass ich den Antrag angenommen hätte, wenn er mich gefragt hätte, der mich jedoch nicht viel mehr beachtete als jede andere. Vermutlich hatte er meinen verdorbenen Charakter durch die Fassade von gutem Aussehen hindurch erkannt, bevor er sich bewiesen hatte. Bevor Eifer- und Selbstsucht hervorgebrochen waren und mit ihnen Feigheit, gepaart mit einer unehrwürdigen Art von Mut.
Ich versuchte noch immer, die Schuld auf den anderen Elfen zu schieben, was mir aber nicht gelang. Es war nicht sein Fehler, dass er die Gesellschaft anderer gebildeter Persönlichkeiten, die manchmal ein beschwerliches, doch immer ein höchst interessantes Leben führten, jener eines Mädchens vorzog, das zwar aus gutem Hause kam, aber kaum etwas zu erzählen hatte und in seinen Augen vielleicht hübsch, sicherlich jedoch nicht schön war.
Panor. Auch er war kein Modell für einen Vorzeigeelfen, denn sein Gesicht besaß nicht die gewöhnlichen Züge meiner Art. Trotzdem war er mir schöner vorgekommen als alle anderen Männer, und mein Gedächtnis bestätigte meine Vorstellung von einem hoch gewachsenen, kurzhaarigen Elf mit ozeanblauen Augen, in deren Anblick man sich allzu leicht verirren konnte. Der Braunhaarige hatte nicht selten mit mir gesprochen, doch nie hatte ich den Eindruck verlieren können, dass er es nur tat, um mich und seinen Ruf als galanter Mann nicht zu verletzen. Er war ein Waldläufer, der sämtliche Pfade im Gebiet rund um unsere Heimat Mensyl kannte und die dort lebenden Wesen liebte, aber manchmal Einhörner fing, um sie dem König bereitzustellen.
Wenn er nicht erkrankt war, was bei meiner Art ungewöhnlich gewesen wäre, würde er mit Sicherheit bald vorbeikommen und den Körper entdecken, der zu meinen nackten Füßen Laub lag. Meinen Körper.
Als ich mich genauer betrachtete, kam ich wie immer zu dem Schluss, dass mein Äußeres sehr langweilend war und die Linien meines Gesichts nicht perfekt wie die vieler meiner Genossinnen. Dies war der andere, weniger gewichtige Grund, weshalb ich mich darauf gefreut hatte, nicht mehr alle Tage wieder dasselbe hässliche Mädchen in den Spiegeln zu sehen. Nun sah ich den Beweis dafür, dass mein Wunsch Erfüllung gefunden hatte, in der wie von Zauberhand vernarbten Wunde an meinem Hals, ein sauberer Schnitt.
Die Sonne ging unter und ließ den Vollmond zurück, während mein Gewissen sich tiefschwarz färbte. Ich musste daran denken, wie meine Familie wohl reagieren würde, wenn sie die Nachricht durch Panor erfuhr. Er selbst hatte wahrscheinlich bloß mit der Wimper gezuckt – es war unwahrscheinlich, dass ihm noch kein Vogel oder ein anderes Tier die Neuigkeit überbracht hatte.
Im zarten Morgengrauen erbebte das Laub unter Hufschlägen, die in raschem Rhythmus auf den Boden niederprasselten. Kurze Zeit später brach der erste Reiter aus dem Dickicht in die kleine Lichtung hinaus. Es überraschte mich, dieses traurige Gesicht als Panors zu identifizieren. Es stimmte mich glücklich, aber gleichzeitig auch wütend auf mich selbst. Ich hatte ihn so sehen wollen, um zu erfahren, ob ich ihm etwas bedeutete.
Elegant glitt er vom Rücken seines Einhorns, eilte zu mir, kniete neben dem, was ich einmal gewesen war, nieder. Er strich mit einer unsicheren Bewegung mein kastanienfarbenes gewelltes Haar zurück und blickte auf mein lebloses Gesicht, so langweilig wie bei Lebzeiten. Dennoch sah er so lange in meine geöffneten hirschbraune Augen, bis ihm die Waffe in meiner Rechten auffiel. Es war ein alter Dolch aus Drachenbein, einem der wenigen Materialien, die einen Elfen innerhalb kürzester Zeit töten konnten, ohne auf schmerzhaften Widerstand zu stoßen. Das Mordwerkzeug war schmucklos, sah man von dem Wappen auf der bleichen Klinge ab.
Panor und ich bemerkten zeitgleich das Merkwürdige: Es handelte sich nicht um das Zeichen, das in meinem dünnen Mantel eingearbeitet war, sondern um ein vollkommen anderes. Allerdings wussten weder mein Verehrter noch ich selbst, welcher Familienname dazu gehörte. Es musste ein wohlhabendes Geschlecht sein, denn Drachenbein war unglaublich teuer.
"Lass es gut sein, Kleiner. Sie ist tot, du kannst nichts daran ändern und wir sollten es ihren Eltern sagen." Ein alter Elf mit langem schwarzem Haar zog den widerwilligen Jüngeren auf die Beine. Selbstverständlich kannte ich ihn, denn er war ein berühmter Krieger, ein begnadeter Schütze. Er hieß Findan.
Insgesamt waren sechs Elfen versammelt. Nun kamen sie in einer Runde zusammen, um über meinen Tod zu diskutieren; Panor blieb sehr stumm und beharrte nur darauf, dass ich nicht feige Suizid begangen hatte, obgleich alles darauf hinwies.
Sie wollten mich gerade auf einem siebten Einhorn heimbringen, als Alaron, ein Schmied, unvermittelt vornüber fiel und im Laub landete. Dass dieses weich war, erfreute ihn nicht mehr; zwischen seinen Schulterblättern ragte ein Pfeilende aus dem blutgetränkten Wams hervor. Es musste ein verzauberter Pfeil gewesen sein, damit er ihn derart hatte verletzen können – oder aus Drachenbein?
Aus Schock hatte niemand reagiert, was ihnen zum Verhängnis wurde; erst klappte die zierliche Ylthin mit durchschlagenen Schläfen zusammen, dann traf ein anderer Pfeil Vinrael. Er lebte noch, und dies ließ dem scheinbar unsichtbaren Jäger in den Baumkronen laut auffluchen. Sofort schoss Talanar in die entsprechende Richtung; der Schatten stöhnte auf, huschte jedoch unerkannt weiter. Im nächsten Moment erlosch Vinraels Leben endgültig durch die Magie des Geschosses, während noch ein leicht triumphierendes Lächeln seine Lippen zierte. Nun waren allein Panor und der andere Waldläufer übrig; Findan war unbemerkt verschwunden.
Talanar gab ziellos einige Angriffe von der Sehne, erntete als Lohn jedoch lediglich einen Pfeil, der in seinen Hinterkopf eindrang und auf der anderen Seite über dem linken Auge aus der Stirn herausragte.
"Wo bist du? Zeige dich, elender Feigling!", rief Panor nach einigen Augenblicken in die Totenstille hinein. Die Antwort bestand aus höhnischem Gelächter.
"Wer ist hier mutlos? Warst nicht du es, der sich jahrelang nicht traute, diesem kleinen Mädchen seine Zuneigung zu gestehen? Und wie schade, jetzt ist sie tot und du weinst wie eine schwache Frau! Aber ich will mal nicht so sein…", erläuterte Findans Stimme verächtlich. Zugleich sprang er von einer Fichte hinab, ebenso weit von mir entfernt wie Panor.
"Du…", begann der Braunhaarige, während der andere über die Schulter nach einem Geschoss griff – und keines fand. Er musste selbst leicht grinsen. "Na, zu viele Eichhörnchen getötet? Ich sagte dir doch, wir sind nicht zum Essen hier", spottete der Jüngere. Dann machte er zwei schnelle Sätze, war bei mir und nahm meinen Dolch. Doch Findan war noch ebenso gelenkig und presste ihn in der nächsten Sekunde aufs Moos hinunter.
"Du wirst mich nicht daran hindern, das Opfer an unsere Erdenmutter darzubringen, Kleiner! Darauf habe ich Jahrhunderte gewartet, und nun ist der Blutmond schon am Verblassen!", zischte der Mörder und drückte die Spitze seines Schwertes an Panors Kehle. Es machte mich krank, ihn so sehen zu müssen, dem Tode näher, als dass es gesund sein konnte.
Geistesgegenwärtig vollführte ich einen Hieb zwischen die Beine des Wahnsinnigen. Der Weg meiner Faust von einer Dornenranke begleitet, die seinen Unterleib umschlangen und festhielten. Der Braunhaarige rollte sich von seinem vor Schreck gelähmten Gegner fort. Schnell erhob er sich und streckte den bewaffneten Arm nach Findan aus.
"Niemals werden Sylanna oder gar Asha ein Opfer von einem Verrückten annehmen, der Unschuldige tötet!", fauchte er, schien allerdings nicht in der Lage zu sein, ihn tatsächlich umzubringen.
Vorsichtig berührte ich seine Rechte, umfasste mit ihm das Heft der Waffe, um ihm meine Kraft zu geben. Und es gab keinen Widerstand, als die Klinge schließlich Findans Kehle durchtrennte und im Blut des Opfers badete. Panor hob sie hoch ins Licht der Morgensonne; es wusch den Dolch vom Makel des Tötens rein und brannte ein neues Wappen in ihn ein, jenes, das benutzt worden wäre, wenn wir beide geheiratet hätten.
"Ayenthrael?", fragte er flüsternd. Langsam drehte er das traurige, doch unbeschreibbar schöne Gesicht von der Leiche weg, so, dass mein Blick den seinen traf. Konnte er mich etwa sehen, obwohl ich ein Geist war? "Yenthra, ich werde dich nie vergessen. Und nun… solltest du dich zu Asha erheben." Während er dies versprach, hüllte ein seltsames Licht mich ein, gleißend hell und dennoch angenehm. Ein ebenso eigenartiger Sog erfasste mich und zog mich in die Höhe, immer ferner von denen, die ich liebte.
Mein Blick ruhte auf dem Wald, meiner Heimat. Zum ersten Mal sah ich all seine Einzelheiten und verstand, warum Panor sie so sehr liebte – diese Überbleibsel eines Urmeeres, grün wie die nun von Blut gesprenkelten Smaragde, die meine Kleidung zierten. Mein Körper war schon von gefallenen Blättern bedeckt, von Wurzeln uralter Pflanzen umschlungen, die ihn verdeckten und in eine unergründliche Tiefe zogen. Anscheinend hatte Sylanna, die Mutter aller Pflanzen und Tiere, meinen Leib doch noch als Geschenk genommen.
Ich hatte nie zu der Sorte Menschen gehört, die gerne viel erzählten; mein Rolle war es schon immer gewesen, andere zum Reden zu bringen, ihnen mit einer Mischung aus Verständnis und Beharrlichkeit ihre tiefsten Geheimnisse zu entlocken. Doch jetzt, wo ich fühle, dass meine Seele die Welt verlässt, verspüre ich den Drang, meine Gedanken mit jemandem zu teilen. Welch Ironie des Schicksals, dass das nun unmöglich ist…
Ein unglaubliches Gefühl der Leichtigkeit überfällt mich. Ich bin ein Staubteilchen, winzig, körperlos. Unter mir liegt eine Straße mit dem typischen Charme einer Großstadt: eng, vollgestopft mit Autos, die falsch geparkt haben und dreckig. Ein Taxifahrer im Stau diskutiert überaus gestenreich mit dem Typen in dem knallroten Sportwagen vor ihm, vermutlich darüber, wer von beiden die größere Gefährdung für den Straßenverkehr ist.
Zu beiden Seiten ragen Hochhäuser auf, in deren höheren Etagen sich breitschultrige Männer mittleren Alters mit unsagbar zufriedenem Gesichtsausdruck eine Zigarette anzünden und zusammen mit der protzigen Lederausstattung ihrer Büros das perfekte Klischee eines Managers mit zu viel Geld abgeben (ich muss es wissen, ich kann nämlich durch die Fenster sehen). Also eigentlich alles ganz normal, wenn auf dem Bürgersteig nicht eine erschossene Leiche liegen würde. Ich nämlich.
Ich bin -oder besser gesagt war- Journalist, ein ziemlich guter sogar, wenn ich das mal rückblickend behaupten darf. Ich arbeitete bei einer großen Tageszeitung und verdiente ziemlich gut, nicht zuletzt deswegen, weil mir keine Recherche zu schmutzig, keine Story zu heiß war. Trotz meiner Jugend hatte ich bereits bei der Aufdeckung und publikumswirksamen Verbreitung einiger Skandale meine Finger mit im Spiel gehabt… Klingt es arrogant, wenn ich das sage? Sollten die letzten Gedanken eines Menschen nicht seiner Familie, seiner großen Liebe oder so gewidmet sein? Nun ja, so jemanden gibt es bei mir nicht. Alice kommt dem aber am nächsten. Alice, ich bin wirklich froh, dass du in der Redaktion geblieben bist, sonst hätte dieser Wahnsinnige dich vielleicht auch erwischt.
Wobei, wenn du anstatt meiner… besser, ich lasse das.
Sie war meine Assistentin und die wohl cleverste, junge Frau, die mir je begegnet ist. Mit ihren achtzehn Jahren gehörte sie eigentlich in ihre Universität, doch mit dem, ‘was normale Menschen taten‘, hatte sie nie viel anfangen können, weshalb Alice Morrena, anstatt brav auf dem Campus zu lernen oder sich zumindest während wilder Studentenfeiern zu betrinken, ihre Freizeit damit verbrachte, mir bei meiner Arbeit zu helfen. Zugegeben, sie ist genial. Eines Tages hätte sie mir bestimmt Konkurrenz gemacht. Eine berühmte Schauspielerin war in Paris beim Seitensprung erwischt worden -Alice wusste es als Erste. Ich begann gerade, einen Artikel über die neueste Entscheidung am Bundesgerichtshof zu schreiben -schon hatte sie passende Bilder organisiert. Einer meiner ekelhaften Kollegen hatte eine tolle Story ausgegraben -meine Assistentin lieferte mir prompt eine bessere. Und sie war es auch, die Unstimmigkeiten in einem Bericht über die Finanzen der Miltans GmbH entdeckte. Das jetzt genau zu erklären, würde mehr Zeit benötigen, als mir noch bleibt, daher kürze ich das Ganze wohl besser ab, in dem ich an der Stelle wieder einsetze, an der Alice mich bereits überredet hatte, ein wenig zu recherchieren. Tatsächlich förderte ich schon bald weitere Informationen zu Tage, die auf gefälschte Zahlen, Schiebereien von Produktionsgütern sowie mehrere geheime Konten im Ausland schließen ließen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war ich wie besessen. Viele werden das wohl kaum verstehen können, doch wenn man -wie ich- keine Familie, keine Freundin und keine Hobbies oder sonstige Interessen für irgendetwas, das nicht meine Arbeit betrifft, hat, kann man sich sehr leicht in einer bestimmten Sache verbeißen. Doktor Newman, mein Psychiater, arbeitete eine gefühlte Ewigkeit mit mir an einer “lockereren Einstellung”- geholfen hat es nicht wirklich. Mein täglicher Kaffeekonsum verdreifachte sich, gleichzeitig schlief ich immer weniger und wenn, dann auf einer kleinen Couch in der Redaktion. Bei der Suche nach Quellen redete ich stundenlang auf völlig unschuldige Leute ein (den ein oder anderen hab ich vielleicht auch bedroht) oder saß solange vor dem Computer, bis meine Augen tränten.
Meine Wohnung sah ich mehrere Wochen lang überhaupt nicht mehr, wobei wohl insbesondere die Dusche hier zu erwähnen ist. Alice unterstützte mich so gut es ihr möglich war, obwohl sie natürlich ihr Studium nicht völlig vernachlässigen durfte.
Aber dennoch reichte unsere Arbeit nicht aus, um einen fundierten Artikel zusammenzubekommen, den meine Vorgesetzte auch widerstandslos drucken lassen würde. Wir fanden ein Indiz nach dem anderen, aber keinen stichhaltigen, eindeutigen Beweis. Selbst die Informanten, die wir auf die ein oder andere Weise aufgabelten, konnten uns nicht weiterhelfen. Die Sache schien im Sande zu verlaufen -bis zu dem schicksalhaften Tag, an dem unsere Zeitung eine Anfrage direkt aus der Chefetage der Miltans GmbH, die ihr Geld übrigens mit Immobiliengeschäften verdient, erhielt. Vor Kurzem war die gesamte Branche in einer Imagekrise geraten, angeblich erhoffte man sich von einem kleinen Interview einen Vertrauensgewinn bei der Bevölkerung. Was für eine traumhafte Gelegenheit! In fieberhafter Eile stimmte ich zu, machte sofort ein Treffen in einem der Büros aus und hätte fast auch noch Alice mitgenommen, aber sie sah derart übermüdet aus, dass ich sie stattdessen nach Hause schickte. Erwartungsvoll machte ich mich auf den Weg- und geriet auf halbem Weg plötzlich in eine Schießerei. Keine Ahnung, wie das eigentlich so passieren konnte. Ein Banküberfall? Es ging alles zu schnell. Mein Mörder muss bereits seit Ewigkeiten verschwunden sein.
Ich hatte mir bisher noch nie Gedanken über den Tod gemacht, schließlich war ich gerade mal 30. Trotzdem schwebt mein Geist im Moment knapp fünf Meter über dem Boden, während sich die Polizei und vor allem neugierige Gaffer um meinen toten Körper scharen. Sogar der Taxifahrer hat sein Streitgespräch unterbrochen, damit er dem kleinen Schauspiel auf dem Bürgersteig zuschauen kann. Super, so beliebt war ich noch nie. Doch langsam beginnen die Konturen vor -nun ja- ‘meinen Augen’ verschwimmen, anscheinend soll ich jetzt endgültig das Diesseits verlassen. Mal überlegen, würde ich irgendetwas noch gerne loswerden, bevor… was auch immer passiert?
Nein. Irgendwie deprimierend: die sehr ungenauen Umstände meines Todes, meine Arbeit, Alice; mehr hatte der Journalist Daniel J. nicht zu erzählen. Ausnahmslos jede Religion auf Erden wäre maßlos enttäuscht. Welch erheiternde Vorstellung.
Aber vielleicht liegt gerade hier das Problem. Nehmen wir Menschen uns nicht viel zu wichtig, dass wir behaupten, unser Tod wäre etwas Besonderes? Täglich sterben Millionen von Tieren und Pflanzen, halten wir das für etwas Besonderes? Nein, doch stirbt einer von uns, redet man von Schicksal, Gott und Himmelsreichen, wo geflügelte Engel ein paar Lieder trällern. Wie arrogant. Natürlich könnte ich versuchen, einen höheren Sinn in mein Sterben hineinzuinterpretieren. Ich glaube bloß, es gibt keinen.
Plötzlich kommt ein Wind auf und trägt meine körperlosen Gedanken mit sich, fort von dieser Welt. Viel Glück euch allen, hoffentlich findet ihr auf eurem Lebensweg das, was ihr sucht. Ich selbst jedenfalls kann Derartiges nicht von mir behaupten.
Meine Wahrnehmung ist getrübt, ich spüre es kaum. Die Luft ist schwer und bedrückt mich. Ich fühle es oder doch nicht? – ich weiß es nicht, denn ich habe meine Menschlichkeit verloren. Wie lange bin ich nun hier gefangen? Ohne Liebe, ohne Leben, ohne Leidenschaft, ohne Hoffnung. Ich sehe die Welt durch einen Schleier, aber…dieser dichte, graue Schleier, ich kann ihn einfach nicht durchbrechen, egal wie sehr ich es versuche. Ich will fort von hier, ich muss fort von hier! Wieso schaff ich es nicht? Was muss ich nur machen, um fortzukommen?
Wie lange ich doch schon auf das Ende warte, doch je länger ich hier verweile, desto weiter entfernt es sich von mir. Mein Geist verblasst und meine Erinnerungen schwinden – je länger ich auf dieser Welt bin, desto weniger kommt sie mir bekannt vor. Die Kälte umhüllt mich und die Langeweile wird zu meinem größten Vergnügen. Wieso bin ich so verwirrt? Ich sehe die Welt verschleiert, doch ist sie mir klarer als je zuvor. Die Luft scheint mich ersticken zu wollen, doch es gelingt ihr einfach nicht, auch wenn ich es mir wünschen würde. Ich habe alles versucht, wirklich alles, doch nun bin ich am Ende meiner Kreativität angelangt. Lohnt es sich überhaupt noch weiterzumachen oder soll ich es einfach so akzeptieren wie es ist?
Nein, ich kann es nicht akzeptieren, es muss doch eine Lösung geben. Vielleicht gab es in all der Zeit einen Hinweis. Vielleicht hab ich bereits eine Lösung gefunden und erinnere mich nur nicht. Aber ich habe doch so vieles schon erlebt und es würde eine Ewigkeit dauern meine gesamten Erinnerungen zu durchforsten. Ich hätte nichts zu verlieren – länger als ewig kann ich sowieso nicht warten, doch was ist, wenn es noch einen einfacheren Weg geben würde? Wären meine Anstrengungen umsonst? Jedoch gibt es bekanntlich einen einfachen und einen richtigen Weg, doch was nutzen mir Anstand und Tugend, wenn niemandem dadurch geholfen werden würde? Welch verzwickte Situation dies doch ist.
Was wäre, wenn ich noch eine Mission auf dieser Welt hätte, die ich beenden müsste, ehe ich die ewige Ruhe finden könnte? Doch das ewige Nachdenken entbehrt mich nach und nach meiner noch guten, geistigen Verfassung. Womit habe ich dieses Schicksal nur verdient?
Das ewige Leben, eine faszinierende, doch auch abscheuliche Vorstellung. Doch was ich durchlebe ist weder Leben noch Tod – es ist einfach nur grauenhaft! Ich fühle die Leere, mein Leben zieht Tag ein, Tag aus an meinem inneren Auge vorbei, doch ich sehe nicht, was ich anders hätte machen können. Ich entdecke nichts Nennenswertes, das ich verbessern hätte können, nichts, das ich anders machen hätte sollen. Warum quält mich das Schicksal nur so? Warum ausgerechnet mich? Was habe ich denn nur falsch gemacht?
Ich würde alles geben, um diesem grässlichen Dasein zu entfliehen, doch ich fürchte, ich wiederhole mich…was soll ich auch machen, wenn mir immer wieder dieselben wehleidigen Gedanken durch den Kopf schwirren. Ich selbst bin zerrissen zwischen Leben und Tod, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, zwischen allem und nichts. Was bin ich?
Wie eine Reflexion…eine Reflexion des Lebens und allem damit verbundenen, doch bin ich von diesen Dingen so differenziert wie ich nur sein könnte. Was nutzen mir all die Antworten auf meine unzähligen Fragen überhaupt?
Selbst wenn ich eine Lösung finden würde, wüsste ich nicht, ob sie richtig wäre. Das macht die Sache für mich uninteressant, doch kann ich es nicht als unwichtig abstempeln, auch wenn es mir danach belieben würde endlich von diesen unbeantwortbaren Fragen loszukommen…von einer aber nicht: Hatte mein Leben einen Sinn?
Ich habe ja nie daran geglaubt, dass der Sinn allen Lebens derselbe wäre, sofern es überhaupt einen geben würde. Sowie jedes Lebewesen seine Individualität besitzt, so hätte auch jedes Leben seinen eigenen Sinn. Doch ist ein Mensch überhaupt fähig, diesen Sinn zu entdecken? Falls ja, könnte er ihn dann begründen?
Je mehr ich mich darum bemühe, eine Antwort zu finden, desto eher schweife ich vom eigentlichen Thema ab und beginne zu philosophieren. Die Philosophie spendet meiner Seele den einzigen Trost und ohne sie wäre ich bereits in einer Manie verloren, doch vielleicht würde mir das helfen, all das hier zu vergessen. Was wäre, wenn das hier der Sinn meines Lebens wäre? Muss ich lernen loszulassen?
Der Nebel lichtet sich, die Dunkelheit schwindet. Freude durchdringt seine Seele und just in diesem Moment nimmt sein Leiden ein Ende. Muss ein Mensch einfach nur loslassen können, um seinen Frieden zu finden?
Fahles, bläulich schimmerndes Mondlicht schien auf die Blätter am Waldboden und durchdrang die Finsternis am Fuße der riesigen Nadelbäume.
Ein kühler Wind strich über die moosbedeckten Stämme vom Sturm entwurzelter Kiefern, kräuselte das ruhige Wasser eines Gebirgsbachs und formte das knöchelhohen Gras draußen auf der Ebene zu raschelnden Wellen.
Hier, in dieser Nacht, ruhte das Leben. Füchse schliefen wohlbehalten in ihrem Bau, Mäuse kuschelten sich unter das Laub. Selbst die Tiere der Dunkelheit waren noch nicht erwacht, jene leisen, tödlichen Räuber, deren angestammter Platz die Nacht war, denn sie fürchteten das Licht des Mondes.
Wahrscheinlich war Ich das einzige Wesen, das heute hier einsam durch die Wälder streifte. Denn der Tod und seine Geschöpfe schlafen niemals.
Ein Nebelschleier legte sich über den schnell fließenden Bach, der meinen Weg kreuzte, silbrig schimmernd wie eine endlose Schlange aus geschmolzenem Metall.
Ich sah in das Wasser, um wie so oft mein Spiegelbild zu betrachten, und fand es so wie immer:
Ein weißer, muskulöser Puma mit tiefschwarzen Augen blickte zu mir hoch.
Der Wind ließ meine Gestalt verschwimmen, während ein unheimliches Licht, ähnlich dem der Sterne, mein Fell umspielte.
Es hatte sich nichts verändert. Seit tausenden von Jahren blickte ich nun in diesen Bach, und es hatte sich immer noch nichts verändert.
Ich streifte unter den Mammutbäumen hindurch, die ich schon vom Sprössling an begleitet hatte, und wusste, dass ich keine Wahl hatte, als mich in mein Schicksal zu fügen.
Ich als Wächter des Waldes, als Heiler der Seelen.
Konnte meine jemand retten? Ich rief es in die Nacht hinaus, aber aus den Schatten kam keine Antwort. Niemand kam, um mir die Bedeutung des Lebens zu erklären. Was nutzte der andauernde Kampf, wenn am Ende niemand als Sieger daraus hervorgehen konnte? Warum strebte jeder nach Perfektion? Alles war unvollkommen. Weshalb akzeptierte das niemand?
Die Zeit hatte, wie vieles andere für mich, keine Bedeutung mehr.
Schon lange hatte ich gelernt, meinen Körper aufzugeben, ihn in der irdischen Welt zurückzulassen und durch Raum und Zeit zu reisen.
Meist verzichtete ich darauf, denn solche Ausflüge kosteten sehr viel Kraft, und es gab keine Garantie, dass ich wieder ins Jetzt zurückkehren konnte.
Aber wenn ich mich daran erinnerte…
Es war tatsächlich etwas Besonderes in meinem Dasein, das es wert war, dafür Risiken einzugehen. Wenn man in den letzten Frühling zurückkehren konnte, überstand man jeden Winter.
Das fröhliche, hoffnungsvolle Wesen der Tiere hier in den Wäldern erhellte tags die Erinnerungen an die trüben, einsamen Nächte.
Ich musste sie beschützen, das war meine Aufgabe, schon seit ewigen Zeiten. Ich reiste durch die Jahre und durfte meist doch nur zuschauen.
Der Wind verstärkte sich, während die Zweige der Bäume raschelten und die Blätter in den Böen zu tanzen. Ein kühler Hauch ließ mich schaudern. Schnuppernd hob ich den Kopf und bemerkte sofort, dass Regen in der Luft lag. Oben am tiefschwarzen Himmel dräuten Wolken heran und verschluckten das restliche Licht des Mondes. Noch ehe die ersten Tropfen fielen, hallte der Donner, als würde eine mythische Gestalt auf die Felsen einhämmern und mit Gewalt riesige Stücke aus dem Berg brechen.
Kaum zwei Minuten später brach das Wüten der Natur endgültig los. Kaskadenartig ergoss sich der Regen über den Wald, und alsbald klebte das Fell kalt an meinem Rücken.
Ich zog knurrend die Schultern ein und legte genervt die Ohren an.
Die Dunkelheit vertiefte sich, während ein grausam peitschender Sturm die Kiefern unerbittlich zur Seite drückte. Tiefe Pfützen bildeten sich in den wenigen geschützten Kuhlen am Erdboden.
Ich setzte mich unter den gewaltigen Stamm eines Mammutbaumes und beobachtete lange, wie Blitze am Himmel von einer Wolke zur Nächsten zuckten.
Ein grell Weißer schlug in einen Höhenzug nicht weit entfernt ein.
So, wie es jetzt aussah, konnte der Sturm noch einige Zeit dauern.
Verfluchtes Nordamerika, dachte ich und machte es mir unter einer Wurzel des Baumes bequem, die gewölbt in die Luft ragte und so einen sicheren Platz gegen die Flut bot.
Ich legte die Pfoten übereinander und schaute den Tropfen beim Fallen zu.
Draußen tobte der Wind unvermindert weiter, Donner hallte von der einen Bergflanke zur Anderen, und immer noch trommelten große Hagelkörner auf die Steine.
Ich schloss die Augen, und selbst wenn ich niemals schlafen konnte, so drifteten meine Gedanken dennoch in die Ferne ab, ich sehnte mir den Tag entgegen, den Moment, wo ich wieder die aufblühenden Blumen auf der Ebene sehen und die Nacht hinter mir lassen konnte.
Es juckte mir in den Fingern, einfach durch die Zeit zu reisen, aber ich durfte meine Fähigkeiten nicht wahllos gebrauchen, denn das war es, was mich von den anderen, seelenlos gewordenen Geistern unterschied.
Zwei weitere Stunden später ließ es endlich ein wenig nach.
Ich schüttelte mich und tapste benommen aus meinem Versteck. Zum ersten Mal drang ein Lichtstrahl der Sterne durch das Blätterdach.
Bald würde der Morgen anbrechen, der Horizont färbte sich schon langsam heller.
Ich atmete tief ein und genoss die Stille, die sich über den Wald gelegt hatte. Nachdem das Gewitter weiter gezogen war, lebte die Natur wieder auf und erwachte aus ihrem nächtlichen Schlaf. Tautropfen überzogen das Moos auf den Bäumen, die Luft roch nach frischem Gras und Tannennadeln.
Ich saß einfach nur da und beobachtete, wie die Sonne langsam hinter den Bäumen auftauchte und ihren rosigen Schein über die Welt legte.
Plötzlich und völlig unerwartet drang ein leiser, erschöpfter Ruf an meine Ohren, weshalb ich mich schnell umdrehte und mit großen Augen nach dem Ursprung des Schreis suchte.
Ein kleines Füchschen trottete müde aus einem Dornbusch heraus, das Fell voller Stacheln.
Erstaunt beobachtete ich, wie es den Kopf langsam hob und dann, als es mich erkannte, erleichtert auf mich zu kam.
“Rhydian!”, sagte der kleine Fuchs und hoppelte einige Meter näher.
Besorgt musterte ich ihn. “Was ist denn passiert?”
Er tapste auf der Stelle umher und sah einem Schmetterling hinterher.
“Sag schon”, forderte ich ihn sanft auf und hockte mich hin, sodass ich mit dem Fuchs auf Augenhöhe war.
“Ich hab mich verirrt”, gestand er und fuhr fort: “Bei dem Sturm. Da waren plötzlich so seltsame Schatten unter den Bäumen, und meine Mutter hat gesagt, wir sollten abhauen.”
Vielleicht Wölfe, dachte ich bedrückt und stupste mein kleines Findelkind in die Seite. “Wir finden sie schon wieder. Wo sind denn deine Geschwisterchen?”
“Weiß nicht”, erklärte das Füchschen und blickte sich nervös um. “Ich hab Angst bekommen und bin einfach fortgelaufen. Aber… Rhydian?”
Die letzten Worte hatte ich nicht mehr mitbekommen. Ich schickte meine Sinne auf die Suche nach den Vermissten, schloss die Augen und folgte in Gedanken den Spuren der Füchse.
Das war mehr als eine einfache Konzentrationssache. Als Geist verfügte ich zwar über gewisse Fähigkeiten, aber schwierig war es jedes Mal wieder.
Endlich hatte ich sie entdeckt. “Komm mit”, rief ich dem kleinen Fuchs zu und sprintete los. Meine Füße folgten einer deutlichen Linie, die ich in Gedanken gezogen hatte, und die mich zu einer einsamen kleinen Lichtung führen würden. Nach zwei Minuten nahm ich das Füchschen auf meinen Rücken und flog regelrecht durch die Luft. Vielleicht kam ich zu spät.
Oh bitte, ich musste es schaffen, denn ich spürte auch eine dunklere Gegenwart, die nichts Gutes bedeuten konnte. Je näher wir kamen, desto klarer sah ich im Geiste die Umrisse dreier Wölfe vor mir, die eine kleine Gruppe Füchse umkreisten.
Verdammt.
Mit einem gewaltigen Satz brach ich durch das Unterholz, hinaus auf die Lichtung, und spürte, dass es zumindest für einen von ihnen zu spät war.
Der Fuchs auf meinem Rücken begann, zu wimmern und krallte sich in mein Fell, während ich langsam den Blick zur Seite wandte und sah, wie die Wölfe ehrfurchtsvoll vor mir zurückwichen.
Eigentlich griff ich niemals in den ewigen Kreislauf ein. Fressen und gefressen werden, so lautete das immer wieder zitierte Gesetz.
Die drei Raubtiere warfen einen misstrauischen Blick auf mich und verschwanden dann in den Schatten.
Bedächtig schritt ich auf die vor Angst zitternden kleinen Füchschen zu, die am Boden kauerten und sich um den Körper ihrer toten Mutter geschart hatten.
Ich spürte meinen Begleiter von seinem Sitzplatz springen, fassungslos und unsicher auf den Beinen wie ein junges Reh.
Mühsam setzte ich mich neben sie, begutachtete, plötzlich traurig geworden, die lange, blutende Wunde, die sich über die Seite der Füchsin zog, und bedauerte, dass ich nicht früher gekommen war.
Eine halbe Ewigkeit später fragte ein sehr junger Fuchs mich mit rauer Stimme: “Rhydian, kannst du nichts tun? Kann sie ein Geist werden?”
Ich starrte ihn an. Sollte ich? Schließlich stand es mir frei, ihre Seele nun an die Welt zu bannen.
“Ich tue es”, sagte ich mit belegter Stimme, und beugte mich über den reglosen Körper der Füchsin.
“Erwache”, befahl ich. “Bleib bei uns.”
Ich fing ihren Geist auf, schloss ihn wieder in sein irdisches Gefäß ein und schloss die Augen, als eine Welle aus Erschöpfung über mich hereinschlug.
Ein silberner Schleier wehte durch die Luft und hüllte den toten Fuchs ein. Mit einem Seufzen regte er sich und hob den Kopf.
“Guten Morgen, meine Liebe”, begrüßte ich sie sanft.
“Rhydian… Ich glaub´s nicht!” Sie blickte an sich herunter und bemerkte, dass sich ihr früher rötliches Fell komplett weiß gefärbt hatte. Die Füchse drängten sich um ihre Mutter.
“Danke”, sagte sie.
Und so blickten nun zwei Wächter dem neu beginnenden Tag entgegen.
Eine einsame Gestallt stand an dem frischen Grab, das noch nicht mal ein Grabstein zierte. Nur ein hölzernes Kreuz verkündete den Namen, der hier begrabenen Person. Obwohl die Beerdigung schon mehrere Stunden zurücklag, war der Junge noch immer da und starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf die frischen Blumen, die den Erdhügel verdeckten. Selbst der prasselnde Regen, der ihn inzwischen bestimmt schon bis auf die Knochen durchnässt hatte, schien ihn nicht zu stören. Aber es war fraglich, ob er überhaupt etwas wahrnahm.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, versuchte ihn zu berühren und glitt ungebremst durch ihn hindurch. Er konnte es nicht spüren, aber was hatte ich auch erwartet, immerhin war ich nicht mehr als eine wandelnde Erinnerung. Mein Körper ruhte in einem Sarg unter dem Erdhügel, vor dem der Junge stand. Wie grausam muss das Schicksal sein, wenn es zwei Liebende auf diese Weise auseinanderreist? Ich war hier an diese Welt gebunden und ich fühlte, dass ich nicht gehen konnte, bis ich meine Aufgabe erfüllt hatte. Und so hart das auch klingen mag, ich musste den Menschen, den ich am meisten liebte dazu bringen, mich zu vergessen. Nur dann könnte ich Ruhe finden. Aber es schmerzte so neben ihm zu stehen und doch scheinbar Welten von ihm entfernt zu sein. Ich sah seinen leeren Blick und wünschte mir von ganzem Herzen, ich könnte ihn in den Arm nehmen und alle Last und allen Schmerz von ihm nehmen. Doch ich konnte nicht, denn ich war zu grausamer Untätigkeit verdammt.
Zeit verlor ihre Bedeutung, ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie lange wir an meinem Grab standen. Irgendwann hob er den Kopf und ging. Ich folgte ihm und mein Herz war schwer vor Kummer. Es tat so weh ihn leiden zu sehen. Den Blick starrgeradeaus gerichtet und mit versteinertem Gesicht schritt er voran. Leere und allesverzehrender Schmerz spiegelten sich in seinen Augen und es zerriss mich fast, dass ich nicht s tun konnte, um ihm zu helfen.
Es dauerte nicht lange, bis wir das Einkaufzentrum erreichten. Auf vier Ebenen waren verschiedene Läden um den freien Platz in der Mitte gruppiert, der mit Springbrunnen und kleinen Restauranttischen dekoriert war. Hier in diesem Gebäude hatten wir beide uns kennengelernt. Die Erinnerung an damals schmerzte und hätte mir wohl die Tränen in die Augen getrieben, wenn ich noch einen Körper besessen hätte. Was wollte er hier? Für ihn musste es doch genauso schwer wie für mich, hierherzukommen. Nach all der Zeit, die wir zusammen gewesen waren, verstand ich zum ersten Mal nicht, was er vorhatte. Zielstrebig ging er zum Fahrstuhl und fuhr mit ihm ins oberste Stockwerk. Ich blieb dich an seiner Seite. Eine gläserne Reling begrenzte den breiten Weg dieser Etage, die den freien Platz im Erdgeschoss nicht überspannte.
„Hier hat alles begonnen!“, murmelte der Junge, während er die tanzenden Wassersäulen unter sich betrachtete. Seine Stimme war brüchig vor Trauer und Schmerz. Ich wollte weinen und hätte alles dafür gegeben, wenn ich in diesem Moment meinen Kopf an seine sonst so starke Schulter hätte lehnen können. Er hätte mich in den Arm genommen, wie er es schon so oft getan hatte und mir ein Gefühl von Geborgenheit gegeben. Nun brauchte er mich und ich konnte ihn noch nicht einmal berühren, geschweige denn wenigsten ein Funke der Kraft zurückgeben, die er mir in all der Zeit geliehen hatte. Ich wollte ihn doch nicht leiden sehen. Ich liebte ihn über alles und wollte, dass er glücklich war oder es zumindest wieder wurde. „Warum musstest du mich verlassen?“, flüsterte er und als ich mich ihm zuwandte, sah ich, dass er den Blick zu dem gläsernen Dach erhoben hatte und die tief grauen Wolken durch, die vom Regen trübe Scheibe, betrachtete. „Ich frage mich, ob du irgendwo dort oben bist und auf mich wartest.“, setzte er wieder an, „Bestimmt bist du dort, immerhin warst du ein guter Mensch.“ Kaum sichtbar glitten feine Tränen seine Wangen hinab. Es stimmte, ich wusste ja selbst nicht, warum ich noch hier auf der Erde verweilen musste. War es eine Strafe für etwas das ich getan hatte? Und wenn ja, was könnte so schlimm gewesen sein um so eine Strafe zu rechtfertigen?
Eine Gruppe kam lachend und plaudernd an uns vorbei, ohne Notiz von uns zu nehmen, was bei mir auch nicht allzu schwer war. Mir war das egal. Sie waren ohnehin nur Schatten am Rande meiner Wahrnehmung. „Aber lange wirst du nicht mehr allein sein.“, murmelte er mit einer Entschlossenheit, die mich schaudern ließ. Trotzdem brauchte ich einige Sekunden, bis ich endlich verstand, was er vorhatte. Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Blitz und lähmte meinen Verstand. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Wie um meinen furchtbaren Verdacht zu bestätigen sprach er leise weiter: „Ich werde dir folgen meine Liebste, dann können wir endlich wieder zusammen sein.“ Nein! Das durfte er einfach nicht. Panik erfasste mich, ich griff nach seiner Hand, um ihn festzuhalten und glitt durch ihn hindurch. Wie konnte ich ihn von seinem wahnsinnigen Vorhaben abbringen, wenn ich ihn nicht berühren konnte? Es gab keinen Weg. Ich konnte nichts tun. Wut und Verzweiflung angesichts meiner Machlosigkeit brachen über mir zusammen und begruben mich unter sich.
Er blickte erneut nach unten, schien die Entfernung abzuschätzen und trat dann einen Schritt von dem Geländer weg. Verzweifelt schlang ich die Arme um ihn, doch er lief einfach durch mich hindurch. Ich hatte keinen Körper, keine Hände um ihn zu halten und keine Stimme um ihn zu rufen. Was ich sah und fühlte war nur eine Illusion, ein aus meiner Erinnerung geborenes Trugbild von etwas, das nicht mehr da war. Am liebsten hätte ich geweint, doch auch das war mir vergönnt. „Hier hat alles angefangen und hier wird es auch enden.“, murmelte er leise. >>Nein! Tu das nicht!<< Mein Schrei verging ungehört.
Er machte wieder einen Schritt nach vorn und packte das Geländer fest. Ich versuchte zu schreien und gab ihm mit meiner Phantomhand eine Ohrfeige, die allerdings auch nichts brachte. Entsetzt registrierte ich, wie er das Gewicht auf die arme verlagerte und sich vom Boden abstützte. Ohne nachzudenken sprang ich an ihm vorbei und wollte ihm meine Hände gegen die Brust stemmen. >>Mach das nicht, hörst du. Lebe! Tu es für mich. Geb dich nicht auf! Bitte, bitte bittebitte hör auf<<, flehte ich stumm, zwecklos. Wie von selbst glitt mein Blick zur Erde und ich hätte am liebsten überrascht aufgekeucht. Ich stand mitten in der Luft, vier Stockwerke über dem Boden. Oder besser, ich schwebte. Als ich noch lebte hatte ich panische Höhenangst gehabt. Und dieser ungewöhnliche Anblick verwirrte mich einen Augenblick so sehr, dass ich nicht mehr auf meinen selbstmordgefährdeten Freund achtete. Diesen Moment nutze er, wenn auch unbewusst, um sich über die Reling zu ziehen. Ein tonloser Schrei entfuhr mir, als er einfach durch mich hindurch stürzte. Meine Höhenangst war vergessen. Es gab nur noch eines auf dieser Welt, was für mich zählte und das war er. Ich durfte ihn nicht sterben lassen. Er musste leben.
Wir stürzten Seite an Seite in die Tiefe. Verzweifelt versuchte ich ihn zu packen, doch ich glitt bei jedem Versuch durch ihn hindurch. Es war zum verrückt werden. Warum hatte ich keinen Körper? In den Filmen konnten Geister doch auch feste Gegenstände packen, warum ging das bei mir nicht? Die Antwort war einfach, aber ich wollte sie nicht wissen: Weil das einfach nur Filme waren und nichts mit der Realität zu tun hatte. Viel zu schnell kamen wir am Boden an. Ungebremst sauste ich in den Stein. Verkrüppelte Erinnerungen von Atemnot und Todesangst kamen in mir hoch. Ich zwang sie nieder und schwebte nach oben um aus dem Beton herauszukommen. Doch ich hatte mich lieber in der Erde verkriechen sollen, denn was ich sah, brach mir das Herz. Ich hatte versagt, hatte das einzige verloren, das mir noch wichtig gewesen war. Ich konnte es nicht fassen. War jetzt wirklich alles vorbei?
Licht glomm auf und umschloss seinen toten Körper. Ich ignorierte die aufgeregten Stimmen und die Schreie der Menschen, die nun von allen Seiten zum Unglücksort strömten. Sie schienen das Leuchten nicht sehen zu können. Aber für mich war es mehr als deutlich. Es sammelte sich und zischte dann in einem gleißenden Strahl gen Himmel. Kaum war er verloschen, setzte mein Verstand wieder ein. Er war aufgefahren, erlitt nun ewige Ruhe, während ich für immer an die Welt der Lebenden gebunden war. Ich hatte meine Aufgabe nicht erfüllen können. Und die Ewigkeit ist eine verdammt lange Zeit.
Der Schmerz traf mich mit voller Wucht. Ich würde ihn nie wieder sehen! Das Glasdach des Gebäudes zersplitterte und ein regen aus Scherben prasselte auf die Menschen herab. Sofort fuhr ein eisiger Wind herab und peitschte die dicken Regentropfen in alle Richtungen davon. Sein Heulen war der Schrei, der sich jetzt endlich von meinen Lippen löste. Zu spät! Schaufensterscheiben zersprangen, als ich meinen Kummer in die Welt hinausschrie. Warum hatte ich nicht ein paar Minuten früher herausgefunden, wie ich mich verständigen konnte? Warum hatte ich ihn sterben lassen.