Kapitel 15: Wieder allein
Part 1: Das Ende einer Freundschaft?
Eine tiefe Schneise brannte sich unter dem Trommelfeuer meinen Pfoten auf dem feuchten Waldboden. Dreck, Tannennadeln und Laub wurde wild aufgewirbelt und mussten unbarmherzig meinem Weg weichen. Ich rannte. Wohin, wusste ich nicht. Immer tiefer in den Wald hinein führten mich meine Beine. Ich musste fort. Fort von all den schrecklichen Dingen, die sich mit jedem meiner weiteren Schritte mehr und mehr von mir entfernten. Sinnflutartig sickerten immer mehr Tränen aus meinen Augen und durchweichten mein Gesicht. Meine Sicht, dank der sich langsam verabschiedenden Sonne schon recht knapp bemessen, wurde mit jeder weiteren Träne, die sich aus meinen verquollenen Augen löste, schlechter und schlechter. Nichts und niemand kreuzte meinen Weg, nichts räkelte sich im dichten Unterholz, schon gar kein liebliches Vogelgezwitscher zur Verabschiedung des sterbenden Tages drang an mein Ohr, ja nicht einmal ein Insekt, wollte sich mir in den Weg stellen.
Es konnten Minuten, vielleicht sogar Stunden gewesen sein, in denen ich ziellos in die unheimliche Fremde eindrang, bis ich schließlich und endlich, am absoluten Ende meine Kräfte angelangt, zusammensackte.
Wären nicht meine schluchzenden Klagelaute gewesen, die bitterlich, doch ungehört durch den Wald hallten, hätte man meinen können, der gesamte Wald sei völlig ausgestorben gewesen.
Den Kopf kraftlos auf dem modrig riechenden Waldboden liegend, und schluchzend unter meinen beiden Vorderpfoten vergraben, wäre ich am Liebsten einfach nur still und heimlich gestorben. Endlich die lang ersehnte Erlösung finden. Loslassen von dieser Welt mit all seinen Lügen und dem unbeschreiblichen Schmerz, der mich innerlich zu zerreisen drohte.
Warum nur? Warum hatte er mich so schändlich hintergangen? Wie konnte er mir überhaupt die ganze Zeit über mit dieser Gewissheit in Gedanken ins Gesicht schauen? Sich vor aller Welt als meinen Freund bekennen? All das Leid, die Schmerzen, die Qualen und die Opfer, die ich für ihn erbracht und ertragen hatte... Einfach alles...
„Was hast du eigentlich erwartet? Er ist schließlich was er ist: ein Mensch“, sagte eine boshafte Stimme in meinem Kopf. „Falsch und verlogen. Sein eigenes, kümmerliches Wohl über alles und jedem. Du warst nichts weiter als sein Spielzeug – seine Marionette.“
Ja, richtig... Anfangs hatte ich tatsächlich so gedacht. Bereits als ich in die Fänge meines ersten Trainers geraten war. Von der vertrauten Umgebung meines geliebten Zuhauses entführt, hatte ich mich müssen auf die kranken Spielereien meines Ex-Trainers einlassen müssen... Auch als ich Stan zum ersten Mal begegnete, stand es für mich keine Sekunde zur Debatte, dass er in irgendeiner Weise anders sein könnte. Doch irgendwann, im Laufe unserer gemeinsamen Reise, verformte sich das von mir erdachte Feindbild von den Menschen immer mehr. So seltsam es auch klingen mag: ich hatte Stan einige Zeit sogar richtig in mein Herz geschlossen. Ihn, und seine ganz besondere Art, die Welt aus seiner merkwürdigen Perspektive zu betrachten.
Doch diese unbekümmerten Tage waren nun endgültig vorbei. Mit dem ungestümen und unüberlegten Angriff auf die Person, welche mir nicht nur einmal, sondern zweimal das Leben gerettet hatte, war mein Leben nun nicht mal einen Pfifferling mehr wert. Ich hatte meine Grundprinzipien, nach denen mein ganzes Leben lang zwar streng, dafür aber glücklich und zufrieden gelebt hatte, auf eine solch dreiste Art und Weise verraten, dass ich nun mein Dasein als Verächteter fristen musste. Ohne Stolz und ohne Ehre. Die letzte Hoffnung, mich jemals wieder in den satten und hohen grünen Gräsern meiner Heimat sehen zu lassen, lag heftig zuckend, kilometerweit von mir entfernt. Mein Leben war verwirkt.
Das, unter ihrer schier tonnenschweren Laub- und Nadellast Ächzen der Waldbäume, dröhnte wie hämisches Gelächter von oben auf mich herab. Zurecht... So seht mich schließlich an. Ich, Sheinux, einst ein berühmt berüchtigter Revierherrscher, gefürchtet von meinen Feinden und geschätzt von meinen Bewunderern, nun nichts weiter als ein in einem völlig fremden Land verstoßener Niemand. Ehrlos und verachtet.
Langsam rappelte ich mich unter dem immer lauter werden Geknarze der hölzernen Giganten um mich herum. Meine Augen brannten, mein Mund war trocken und meine zitternden Beine drohten jeden Moment unter der Last meines Körpers zusammenzubrechen. Doch ich lebte. Alles war verloren, doch mein nun mehr unbedeutendes Leben ging unbarmherzig weiter. Jeder einzelne Tag, so verlockend und schön er auch aussehen mag, war nun nichts weiter als eine niemals endend wollende Bestrafung für mich. Es gab keine Erlösung für mich, denn ich konnte nicht zurückkehren. Niemals...