Part 6: Petri Fungus, Ray!
Federnden Schrittes und mit der brennenden Sonne im Genick bewegte sich Ray Valentine voran – den Kopf voller Flausen, eine muntere Weise aus seinem unerschöpflichen Vorrat an Videospielmusik auf den Lippen. Zuvor war er einer der ersten gewesen, die aus der Aula der Gondelstation ins Freie getürmt waren. Die Aussichten, zu welchen turbulenten Abenteuern ihn die abwechslungsreichen Landschaften führen würden, wirkten in seiner kindlichen Vorstellungskraft schier unbegrenzt. Umso beflügelter setzte Ray unbeschwert einen Fuß vor den nächsten, sein Pfeifton wurde noch fröhlicher. So viele Möglichkeiten boten sich ihm, so viele Freundschaften könnten geschlossen werden, so vielen Gefahren hinter den vielen kräftigen Baumstämmen oder unscheinbaren Gebüschen lauern.
Fast schon enttäuscht schaute Ray über die Schulter, wo er soeben einen dornigen Hagebuttenstrauch ereignislos passiert hatte. Was er erwartete? Selbst Auge in Auge mit einem zähnefletschenden Blumenkohlmonster mit Knoblauchgeruch vom Planeten der Hausaufgaben klang in der blühenden Phantasie des Raikous nach dem größten Spaß seines Lebens. Fast fühlte sich Ray in die Abenteuer seines Lieblingscomic-Helden hineinversetzt. Wer kannte ihn nicht - Bakmi, das kleine Pokémon? Der kleine Vollwaise - seit seinem ersten Atemzug auf sich alleine gestellt - in einer Welt voller Gefahren und Abenteuer. Die aufregende Reise von Bakmi und seinen Freunden über Berge, Täler und Ozeane sollten ihn jedoch in seine ihm unvertraute Heimat führen, Rays Weg hingegen zu einem neuen Gefährten und gleichzeitig Spielkameraden für Sheinux.
„Stark! Stark! Stark! Ray Valentine voll in seinem Element. Jetzt fehlen nur noch die kleinen Pokémon. Wo seid ihr? Huhu, kommt raus. Hat jemand eines gesehen? Hier muss es doch nur so von ihnen wimmeln ... Ist ja nicht so, dass man hier bei all dem Grün nicht leben könnte. Oder spielen die hier Verstecken – Räuber und Gendarm vielleicht? Nun kommt schon ...! Kann mir mal jemand sagen, wo ich hin muss? Und warum red ich wieder nur mit mir selbst, kann mir das mal jemand sagen ...?“
Einsamkeit – ein von Ray verhasster Umstand. Niemand da, mit dem er reden konnte, kein Spaß, keine Stimmung. Warum aber sollte man ihm auch dieses Dilemma aufzwingen, wenn es doch Mittel und Wege gab, dem entgegenzuwirken?
Sheinux nahm immer schärfere Konturen an, bis er sich gänzlich auf dem grasbewachsenen Untergrund materialisiert hatte. Er streckte sich lang, gähnte der bereits fast im Zenit stehenden Sonne keck entgegen, bevor er sich Ray zuwandte. Beide lächelten einander an.
„Fit?“ Sheinux beantwortete die Frage seines Freundes durch das mehr als lässige Kratzen seines rechten Ohrs mit einer Hinterpfote. Ray befand diese ganz und gar niedlich anzusehende Geste mehr als deutlich und setzte sich in Bewegung – Sheinux schloss sich ihm an und trottete getreu an seiner Seite.
Viele Wege hatten sich Ray bei seinem Aufbruch ins Unbekannte erschlossen. Warum er gerade diesen dazu auserkoren hatte, sein Ziel zu sein, konnte er auch bei tiefgründiger Überlegung nicht beantworten. Norden, Süden, Westen, Osten – alle Himmelsrichtungen waren ihm aus seinem Blickwinkel der Dinge gleich vorgekommen. Manch eine brave Seele hätte sein rasches Handeln sicherlich als überstürzt, hitzköpfig, vielleicht sogar ungestüm bezeichnet, wenn er nicht von dutzenden seiner Mitschüler, die ebenso wie er gehandelt hatten, begleitet worden wäre.
Der lange Aufstieg zu der Hochebene hinauf war gemeistert, die vielen Quittenbäume lichteten sich mehr und mehr. Ihrer ersetzten vereinzelte Haine aus Bambus. War einem die Luft noch nicht dünn genug, konnte man den Aufstieg des Bergrückens gen Westen oder Osten fortsetzen. Beiden Wanderern schwebte nach dieser schweißtreibenden Angelegenheit jedoch etwas anderes vor und setzen daher ihren Weg unbeirrt nach Norden, eine Senke hinab, fort.
„Nux-Nux?“
Zu Beginn des Schuljahrs hätte Ray die Frage seines Freundes sicherlich mit einem ratlosen Schulterzucken und gequälten Lächeln beantwortet. Das Band ihrer Freundschaft reichte in der Zwischenzeit aber bereits so tief, dass die gröbsten sprachlichen Barrieren längst überwunden waren.
„Sonja? Öhm ...“ Ray blickte über die Schulter. Dass aber seine Klassenkameradin mitsamt Gepäck und vorwurfsvollem Blick - bezüglich Rays unkameradschaftlichen Verhalten ihr gegenüber - plötzlich hinter ihm aus dem Nichts auftauchen würde, erwartete er natürlich nicht. Insgeheim musste er sich sogar zugestehen, dass er sie in seinem Übereifer völlig vergessen hatte.
„Keine Ahnung – irgendwo dahinten, denke ich ...“ Ray nickte in die entgegengesetzte Laufrichtung. „Sie kommt schon klar.“ Trotz seiner Worte war ihm plötzlich aber sehr unangenehm in der Magengegend zumute, jetzt da er derart in flagranti ertappt worden war. Zwar gab Sheinux seinem Partner mit einem ungenierten Lachen zu verstehen, dass er in Rays Situation wohl nicht anders gehandelt hätte, dennoch aber plagten Ray herbe Schuld- und Gewissensbisse. Doch was half es? Umkehren konnte er schlecht. Sonja konnte überall sein ...
Schönreden wollte Sheinux das Verhalten seines Kameraden wohl nicht, doch verstand das kleine Pokémon es gut, Ray in ein Gespräch zu vertiefen und ihn somit von der Frage nach Sonjas Verbleib abzulenken.
„Sh-Ei, brurrw ruww Ein-Ru Shnux?“
„Er war direkt hinter mir, hab’ ihn dann aber aus den Augen verloren. Aber du kennst ja Eagle: Er hätte den Teufel getan, zu zweit loszuziehen. Ha! Wenn es nach dem ginge, hätte er noch immer seine Einzelzelle. Ich glaube allerdings, Skip ist etwas zu hartnäckig für den Guten. Er war dem Vogel dicht auf den Fersen, als ich die beiden zum letzten Mal gesehen habe. Bei Eagles kurzer Zündschnur würde es mich aber stark wundern, wenn wir von ihm so schnell nichts mehr hören würden. Ich kann die Lunte fast schon riechen. Irgendetwas liegt in der Luft ...“
Vor Ray und Sheinux krümmte sich die Hochebene zu einer kleinen Kuppel - es ging ein kurzes Stück wieder aufwärts, bevor bereits wieder ein kleines Gefälle einsetzte. Ein einladender Windhauch erfasste die zwei, strich durch Haar und Fell und spendete eine angenehme Kühle. Die letzten beiden Quittenbäume, die sich verbittert gegen die Übermacht der immer zahlreicher werdenden Bambus-Haine auflehnten, wurden ereignislos passiert. Ray blieb dem Trampelpfad, der ihn bislang sicher geleitet hatte, treu und schlug einen Weg immer weiter Richtung Westen ein. Wiederholt ertappte er sich dabei, wie seine Hand nervös in die Hosentasche fuhr, wo er das aufgewärmte Metall des komprimierten Pokéballs spürte. Seine schwindenden Nerven gaben Ray deutlich zu verstehen, dass der Einsatz des Pokéballs längst überfällig war. Die Chance dazu erübrigte sich allerdings offenbar, wollten ihm seine Augen keinen bösen Streich spielen.
„Was zum ...? Bin ich im falschen Film?“
Ein letzter Schritt über die knöchelhohe Grasebene, dann stoppte Ray plötzlich. Die üppige, mit vereinzelten Gänseblümchen, Rittersporn und Salbei-Blumen gesäumte Umgebung wich nicht sonderlich von dem bisher Gesehenen ab; mit nur einem Unterschied – einem gewaltigen Unterschied. Über die Jahre hinaus hatte die Laune der Natur den Stamm einer betagten Weide wie einen Korkenzieher wachsen lassen. Das allerdings war nicht der Anlass, warum Ray seine ziellose Suche so abrupt beendet hatte: Am Fuße des Stammes lag allem Anschein nach ein Pokéball. Was aber für ein Exemplar! Ein handelsüblicher Pokéball, wenn er sich nicht in seinem komprimierten, taschenfreundlichen Zustand befand, hatte in etwa die Größe einer kleinen Orange oder ausgewachsenen Apfels. Dieses Schmuckstück menschlicher Schmiedekunst jedoch reichte einem Jugendlichen sogar bis ans Knie. Was für ein gewaltiges Pokémon darin wohl ruhen musste, wenn ihm nicht aber vielleicht irgendwer einen bösen Streich spielen wollte ...?
„Verstehst du das?“
Die Frage war an Sheinux gerichtet; blieb allerdings unbeantwortet. In diesem Moment besaßen er und Ray markante Ähnlichkeit mit ihren Pendants Evoli und Sonja, zumindest der Gesichtsausdruck beider stimmte haargenau bis ins kleinste Detail überein. Auch Sheinux verschränkte fragend den Kopf.
Etwa zwanzig Meter Abstand lagen zwischen ihnen und ihrer Entdeckung. Es wirkte irgendwie grotesk, auch abseits der unnatürlichen Größe, gleichzeitig aber gerade deswegen verlockend. Konnte es Ray wagen, einfach hinzugehen und sich aus der Nähe ein Bild zu machen?
„Nur die Harten kommen in den Garten ...“ Ein letzter Blickwechsel mit Sheinux änderte nichts an Rays für seine Verhältnisse äußerst sorgfältig gefassten Entschluss. Natürlich war er äußerst skeptisch, was die Echtheit seiner Entdeckung anbelangte, doch wenn er jetzt kniff und diesen Augenblick untätig verstreichen lassen würde, würde er es sich womöglich sein Leben lang vorwerfen.
Merkbar vorsichtiger als es üblicherweise seine Art war, tastete er sich auf leisen Sohlen über den Grasteppich heran. Getreu, jedoch wachsam war auch Sheinux seinem Freund in dieser unvorhersehbaren Situation an der Seite und pirschte sich heran. Die Umrisse des Pokéballs vergrößerten sich mit jedem noch so kleinen Schritt, der zurückgelegt wurde. Er wirkte nun, bei näherer Betrachtung, eher wie eine Malerei auf Karton-Papier. Weniger Meter trennten sie nur noch vor dem ersten Kontakt; der Moment, der die schmutzigen Zweifel in seinen Gedanken davonwaschen oder aber die Seifenblase seiner Träume zerplatzen lassen sollte. Ray baute sich vor dem Abbild des Pokéballs auf, sein Zeigefinger fuhr in die Richtung seines Ziels ...
„Holla die Waldfee!“
Der Finger hatte kaum das Material berührt - das sich keinesfalls wie ein handelsüblicher Pokéball, sondern merkwürdig weich und dehnbar anfühlte – als Ray seinen eben gefassten Entschluss bereits schon wieder bitter bereute und vor Schreck einen gewaltigen Satz zurück hinlegte. In seinem Vorstellungsvermögen hatten einige Dinge existiert; keinesfalls aber die Eventualität, dass die vermeintliche Kapsel plötzlich wie Espenlaub zu zittern beginnen könnte und ihr Körperteile aus dem Nichts entspringen würden.
„Wandelnder Pilz“ beschrieb die Kreatur wohl am treffendsten, die sich so unverwechselbar in Schale geworfen hatte, bevor Ray mit seiner Berührung die Tarnung hatte auffliegen lassen. Der Hut, welcher eben seltsamerweise einem Pokéball zum Verwechseln ähnlich sah, hatte wohl seinen Dienst als Schutz vor der grellen Nachmittagssonne erfüllen sollen. Die Entlarvung hatte den Stiel des Wesens dazu veranlasst, seine Deckung fallen zu lassen, den Schirm in die Luft zu hieven und somit den Rest seines Körpers vor den Augen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Zwei schwarze Augen und eine dicke Knollennase lugten aus dem wendigen Schaft hervor, aus dessen Seiten zwei kleine, nur ein bis zwei Zentimeter lange Stängel sprossen, die man schon fast als Ärmchen betiteln konnte.
Ray fiel es, nachdem er diesen gewaltigen Schreck überwunden hatte, äußerst schwer, sich wieder zu fassen. Irgendwie war ihm ja zum Lachen zumute, wenn er sich sein eigenes, dämliches Gesicht in Gedanken vorstellte. Gleichzeitig aber begannen seine analytischen Fähigkeiten in seinem Kopf auf Hochtouren zu arbeiten. Jegliche Zweifel waren von ihm gefallen: Ein Pokémon, keine Frage, wenn auch von ganz eigenartiger Natur. Sheinux fauchte dem flatternden Schirm mit eingeklemmtem Schwanz aus sicherer Distanz entgegen. Ihm war die abstruse Situation deutlich weniger geheuer, als es bei seinem Partner der Fall war.
„Ich hab’ da eine aberwitzige Idee ...“
Umso länger der Blick des Menschen auf dem zum Leben erwachten Wesen ruhte, desto mehr und mehr konnte er sich mit dem anregenden Gedanken anfreunden, dieses Pokémon in seinen Reihen begrüßen zu dürfen. Allein die Vorstellung, welch Schindluder er mit den Fähigkeiten des quiekenden Pilzes treiben könnte, der so unberechenbar seinen Schirm in alle Richtungen schlingern ließ, waren durch und durch interessant. Wie viele seine Mitschüler würden wohl ebenso leichtsinnig wie er auf die verblüffende Tarnung hereinfallen? Welch interessante Kräfte mochten noch unter der großen Pilz-Kappe schlummern? Letztendlich kam Ray zu dem einzig sinnigen Schluss und es gab nur eine Möglichkeit, diese Entscheidung zu besiegeln.
Die Zeit stockte, stand fast still. Wild um die eigene Achse rotierend suchte sich Rays geworfener Pokéball seinen Weg durch die zum Zerreisen gespannte Luft. Die Pupillen des Pilzes bekamen gerade noch so viel Zeit, sich erregt zu weiten, bevor der Pokéball gegen seine Schirmkappe prallte, einen Augenblick regungslos in der Luft schwebte, dann das Pokémon ohne weitere Warnung erfasste, von der Wurzel des Stiels bis zum Hut in das geheimnisumwobene Innere zog und zu guter Letzt zwischen den kargen Grashalmen zu den Wurzeln der Weide fiel.
„Das ... war es?“
Man musste sich inständig fragen, in welcher Hinsicht der Unterrichtsterror der letzten beiden Wochen gerechtfertigt war. Pausenlos hatte man sie mit Stoff malträtiert, mit Hausaufgaben und Sonderunterrichtseinheiten bestraft, das Gelernte immer und immer wieder aufs Neue wiederholt ... Und für was? So gesehen völlig für die Katz.
Ungeachtet der völlig überflüssigen Plagen der vergangenen Woche sah Ray keinen Anlass dazu, die Freude über seinen Erfolg in irgendeiner Hinsicht zu zügeln. Erst einen monströsen Triumphschrei dann einen gewaltigen Sprung später wollte sich der siegreiche Raikou ganz seinem Fang hingeben, doch zeugte der Käfig, der nur vermeintlich zur Strecke gebrachte Beute, von deutlicher Gegenwehr. Rays Finger - bereits verlangend ausgestreckt - ließen von der fahrig in alle Richtung zappelnden Kugel ab, hinter dessen Schloss und Riegel der erbitterte Konflikt zwischen dem widerspenstigen Pokémon und seinen ihm gewaltsam auferlegten Ketten vonstatten ging.
„Nein!“
Die Gefängniswände bröckelten, die Fesseln wurden gewaltsam gesprengt. Unfähig das Wesen hinter seinen Mauern weiterhin zu bändigen, gab es der Pokéball notgedrungen wieder frei. Der gleißende Lichtblitz löste sich aus dem Kerngehäuse der Kugel und ergoss sich unmittelbar vor Rays Beinen und knapp unter Sheinux’ Kragenweite. Der Fangversuch war missglückt, die Revolte dafür umso erfolgreicher. Mit der wiedergewonnenen Freiheit allein wollte sich der aufständische Flüchtling allerdings nicht begnügen: Er sühnte nach bitterer Rache.
Mensch samt Gefährte reagierten zu langsam. Ehe sie es sich versahen, fanden sie sich inmitten eines bläulichen, übelriechenden und arglistig im Hals kratzenden Sporennebels wieder, dessen Wiege in den Lamellen des Pilz-Pokémons lag. Atemringend fasste sich Ray an die Kehle. Die Kontrolle sickerte ihm sekundenschnell aus den Beinen, die Sinne schwanden dahin. Er ging auf die Knie. Die brennenden Augen schrieen nach kühlenden Wasser oder dem erlösenden Schlaf.
„...einux ...“
Sheinux waren ebenfalls unlängst die Beine zusammengeklappt und war für die Ignoranz seines Partners mit einem unangenehmen Bauchklatscher bestraft worden. Die sonst so frohen, großen gelben Augen kullerten wie Flipperkugeln in den Höhlen herum, bis die Augenlider dem schrecklichen Bild einen Riegel vorschoben. Ray tat es Sheinux augenblicklich gleich; seine Landung endete jedoch mit einem äußerst scheußlichen Aufprall seines Kinns auf dem Boden. Die taube Zunge schmeckte ein kleines Blutrinnsal zwischen den Zähnen. Sein Versuch Luft zu holen mündete in einer spektakuläre Achterbahnfahrt seines Verstandes und dem stechenden Gefühl beider Lungen, die sich im Todeskampf immer wieder krampfhaft zusammenzogen. Ihm war speiübel. Die bereits verblassenden Bilder wirbelten herum. Sheinux, der Pilz, die knöchrigen Wurzeln des Baumes, die Grashalme davor, alles ... Dunkelheit ...
„Bleibt ... stehen!“
„Wa-was? Urgh! Sheinux? Ist ja gut ...!“
Wie man nach einer viel zu kurzen Nacht, in der man einer Überdosis hirnzellenschädigenden Videospielen ausgesetzt war, viel zu viel Cola-Koffein und fettiges Junk-Food konsumiert hat, und die üblichen acht Stunden gesunden Schlaf auf magere fünfundvierzig Minuten reduziert hat, am elegantesten dem neuen Tag antritt – darin scheiden sich die Geister. Manche ziehen einen besonders lauten Wecker vor, so laut, dass es einem noch Minuten danach in den Ohren klingelt; andere dagegen vertrauen auf eine kräftige, kalte Dusche, die sämtliche Müdigkeit auf Eis legt. In Rays Fall traf zu diesem Zeitpunkt – obwohl er weder das eine, noch das andere bevorzugte – beides zu. Eine schrille, äußerst hysterisch klingende Stimme – Ray vermochte sie im Moment seines ruckartigen Erwachens nicht zuzuordnen – sorgte für den unerfreulichen Weckruf, Sheinux’ feuchte, kitzelnde Zunge für die mehr oder weniger erfrischende Morgendusche; die polkatanzenden Kopfschmerzen in seinem Schädel sorgten für den Rest, um ihn endgültig wieder in die Welt der Lebenden zurückzuführen. Wild mit den Händen rudernd schreckte Ray genau dort aus seinem traumlosen Schlummer auf, wo er unfreiwillig in den Schlaf gewogen worden war: am Fuße der Korkendreher-Weide. Von dem Schlummerpilz fehlte jedoch - nach stichprobenartiger Auskundschaftung der näheren Umgebung und in Anbetracht seiner Desorientierung - jede Spur, so auch von dem schrillen Wecker. Leicht schwummrig und auch noch recht wackelig auf den Beinen war es ihm, als er sich endlich in ganzer Lebensgröße aufrichtete. Die übrigen Lebensgeister wollten nur langsam in den matten Körper zurückkehren. Viel schneller dafür die traurige Gewissheit über das ernüchternde Endergebnis seines tollkühnen Auftaktes.
„Von ’nem Pilz in die Pfanne gehauen worden – und dann noch ohne Butter ...“ Ray las den inhaltslosen Pokéball auf, der so bitterlich von ihrem Misserfolg zeugte. Auf gleicher Augenhöhe schaute er parallel dazu seinen Partner energisch an. „Wenn du es nicht weitererzählst, tu ich es auch nicht. Okay?“
Mit einem Zwinkern seinerseits besiegelte Sheinux dieses geheime Abkommen. Ray lächelte dankbar. Doch das Lächeln bestand nur wenige Augenblicke, denn musste er sich an diesem Punkt einfach eingestehen, dass die gemeinsame Pilzjagd unweigerlich zum Ende gekommen war, noch bevor sie eigentlich richtig begonnen hatte. Leerer Pokéball, eine schmachvolle Niederlage und rasende Kopfschmerzen als unerfreuliche Nebenwirkung eines überflüssigen Nickerchens. Ein bitterer Wehrmutstropfen für einen Tag, der ursprünglich nicht besser hätte starten können. Trotz des frühen Mittagschlafes fühlte sich Ray äußerst schwach auf der Brust, gar empfand er in seinen Gliedern noch größere Erschöpfung, als vor dem langen Marsch. Das Trostpflaster an der ganzen Geschichte, so redete er sich selbst in stillen Gedanken ein: Nur wenig Zeit war seit dem erlebten Zwischenfall ins Land gezogen, wie ein rascher Blick auf die Uhr bestätigte; das, und natürlich die Hoffnung, dass niemand Zeuge dieser peinlichen Eskapade geworden war.
„Dreck verdammter!“
Müde und erschöpft lehnte sich Ray Valentine mit dem Rücken an den unförmigen Stamm der Weide, der einzigen Zeitzeugin, die wohl noch in Jahrzehnten von dieser beschämenden Glanzleistung ihre hämischen Lieder singen und deren Blätter spätestens zur goldenen Jahreszeit die Botschaft in alle Winde hinaustragen würde. Fehler seinerseits räumte sich Ray nach näherer Betrachtung der Geschehnisse mehr als genug ein, lautete er schließlich nicht den Namen seines Zimmerkameraden, an dem jegliche Kritik einfach abperlte. Er konnte die belehrenden Worte seiner Lehrer beinahe hören. Dass er die Risiken nicht sorgfältig genug abgewogen hätte, ja, das wäre wohl Professor Cenras Kommentar zu der dieser Geschichte gewesen. Professor Armadis sähe es sicherlich ähnlich, nur mit einem Hauch mehr Rückendeckung und wohl der Ermutigung, an dieser Stelle bloß nicht das Handtuch zu werfen und es einfach erneut zu versuchen. Auf Professor Finchs überflüssige, geistreiche Gehirnkapriolen konnte Ray natürlich gut und gern verzichten ...
Keine mächtigen Trompetenstöße einer aufmarschierenden Armee, kein warnendes Leuchtfeuer am Firmament, noch nicht einmal das leise Grollen einer dunklen Wolke am Horizont – keine Ankündigung ging der gewaltigen Detonation voraus, die plötzlich wie ein Lauffeuer über das Landschaftsbild rollte. Wenn es einen übermächtigen Gott gab, so musste dieser wohl gerade zornestrunken seinen Fuß auf die Erde geschmettert haben. Eine übermächtige Windböe folgte dem Donnern, erfasste die wehrlos nachgebenden Zweige und Blätter der Bäume, zwang Grashalme und zierliche Blumen für den nur kurzen Augenblick in die Knie, und ein ganz und gar überraschter Baumbewohner schüttelte es wie Fallobst von seinem Ast und somit direkt vor die Augen des nicht weniger überraschten Menschen mit seinem Pokémon-Begleiter.
Die verstrickte Kette der Schlag auf Schlag eingetretenen Ereignisse sorgte in Rays Kopf für fast noch mehr Durcheinander, als eine mit allerlei Tücken und Feinheiten gespickte Mathematik-Klausur. Rekapitulation der Dinge: Irgendjemand hatte irgendwo aus irgendwelchen Gründen sich irgendeinen Ulk erlaubt und es irgendwie ordentlich krachen gelassen. Der Spaß war aufgegangen und hatte für ordentliche Furore gesorgt; insbesondere bei dem kleinen, tropengrünen Wesen, das es vor Schreck glatt aus seiner Baumbehausung gefegt hatte, nur knapp auf allen Vieren gelandet war und sich nun vor den verblüfften Augen von Ray und Sheinux befand.
Nur äußerst selten forderte der erste Eindruck eine derart positive Reaktion von Ray herauf – hier aber wurde es regelrecht verlangt. Das Auftreten des vom Baum geworfenen Pokémons war – anders konnte man es gar nicht beschreiben – einfach nur cool. Fast so, als ob es das Allernormalste der Welt wäre, wie eine reife Frucht von seinem privaten Schlafplatz abgeerntet zu werden, richtete sich das fremde Pokémon ruhig und völlig unbeeindruckt auf. Die großen, gelben, ovalförmigen Schlitzaugen fixierten Ray, während es sich mit seinen dreifingrigen Händen den gröbsten Schmutz von den Gliedern und dem langen, wie ein Fächer gebauten Schwanz, der allerdings in der Länge deutlich größer war und in der Breite den Kürzeren zog, abklopfte; doch mit einer Gleichgültigkeit, als ob der Mensch und dessen Partner nur Luft wären. Die Lässigkeit und Desinteresse, mit der das grüne Pokémon Ray begegnete, ja diesem schon die kalte Schulter zeigte ... jeder einzelne Umstand beeindruckte Ray nur noch mehr. Es stand außer Frage, dass der Baumbewohner bereits seit der Ankunft des Menschen über dessen Existenz Bescheid wusste. Der Zustand einer peinlichen Berührung im Bezug auf die lächerliche Vorstellung von vorhin, welche somit zweifelsohne einen Zuschauer gefunden und womöglich köstlich amüsiert hatte, blieb allerdings aus, so weit reichte Rays Erstaunen über das Auftreten des Fremdlings hinaus.
Das sonst so kühle Metall des Pokéballs, den Ray noch immer fest umschlossen in seiner rechten Hand hielt, sonderte plötzlich eine verlangende Wärme ab. Runde zwei sollte beginnen; dieses Mal jedoch ohne peinliche Patzer, auch wenn dies zwangsläufig bedeutete, dieses Stück Arbeit ganz im Sinne des Schulunterrichts zu verrichten. Bereits der bloße Blick zum Gefährten genügte völlig, um dem anderen das Vorhaben klar zu erklären. Sheinux nickte und nahm vor seinem Partner Formation ein. Der Tanz konnte beginnen ...
Noch nicht einmal Sheinux’ speerartiges Rammmanöver wirkte beeindruckend auf das fremde Baum-Pokémon. Gekonnt, doch weiterhin völlig für alles Weltliche desinteressiert wich er mit einem gewaltigen Sprung den galoppierenden Schulterblättern seines Gegners aus. Sheinux bremste seinen nur kurzen Spurt ab und wirbelte herum. Gerade noch erhaschte er einen kurzen Blick darauf, wie sein Gegner ihn kopfschüttelnd und mit gekreuzten Armen spottgleich den Rücken zukehrte.
„Lass dich nicht verarschen. Schnapp ihn dir!“
Doch auch die nächste, nicht weniger brachiale Aktion war von nicht weniger Erfolg gekrönt, als es bereits die letzte war. Abermals hob der Gegner ab, sprang über Sheinux’ Kopf hinweg und landete unmittelbar am Fuße des Baums. Sheinux schnaubte seinem eben wieder sicher auf den Füßen gelandeten Widersacher eine Vielzahl der wüstesten Flüche in der den Menschen unverständlichen Pokémonsprache entgegen; sein Gegenpart begegnete diese Geste mit einem kühlen Schulterzucken und rümpfte abfällig die Nase. Blind vor rasender Wut stürmte Sheinux zum dritten Mal in Folge auf das trickreiche Geschöpf zu. Zu spät, um über eine unverhoffte Versöhnung nachzudenken, zu spät, um ein zeitweiliges Friedensangebot anzunehmen, zu spät, eine andere Alternative in Betracht zu ziehen, doch auch zu spät, um noch rechtzeitig vor der schmerzhaften Kollision mit dem massiven Baumstamm abzubremsen ...
„Stopp, Shei...!“
Nun waren es menschliche Flüche, gepaart mit frustriertem Aufstöhnen, die bitterlich in die Welt ausgestoßen wurden. Lediglich der rettende Sprung hinterrücks war notwendig gewesen, um der Gunst der Stunde habhaft zu werden und sich so geschickt aus der Gefahrenzone zu manövrieren. Pech für den Vierbeiner, dass er mit dem Missen seines eigentlichen Zieles nun, ohne es zu wollen, mit dem harten Holz vorliebnehmen musste. Sein Schimpfen erstickte so schnell, wie seine verspäteten Abbremsversuche und das hässliche Geräusch beim Zusammenprall mit dem Baumstamm. Benommen und angeschlagen taumelte Sheinux wenige Schritte zurück, bevor er über seine eigenen Beine stolperte und leise stöhnend hinterrücks umkippte. Ob gewollt oder nicht – Sheinux war seinem gewieften Artgenossen auf den Leim gegangen und auch die beschwichtigenden Worte seines menschlichen Gefährten, der sich sofort seiner annahm, vermochten weder die Schande noch die pulsierende Beule an der Stirn zu schmälern. Die gelben Schlitzaugen des trickreichen Pokémons spähten aus halber Baumeshöhe auf die Geschehnisse in Bodennähe herab. Hände und Füße waren fest auf der Rinde verankert, sodass er sich problemlos auf der Stelle halten konnte, vergleichbar mit einer lästigen Fliege, die an der Wand klebte und auf der Lauer nach einem Stück Zucker lag. Doch noch nicht einmal der Anflug eines spöttischen Lächelns entblößte sein nach wie vor völlig gelassenes Gesicht, wie man es in Anbetracht der Situation eigentlich hätte erwarten können. Doch konnte man es drehen und wenden wie man wollte - auch dieses Vorhaben war ein gehöriger Schlag ins Wasser. Der Unterschied zum ersten Versuch bildete natürlich der Umstand, dass die Ursache der ganzen Affäre noch immer am Ort des Geschehens war, wenn auch mittlerweile - dank seiner Kletterkünste - aus der Reichweite von Sheinux’ Möglichkeiten, Vergeltung für diese Schmach zu üben. Auch so aber erweckte Sheinux nicht gerade den Eindruck, besondere Lust daran zu hegen, in das Domizil seines Rivalen einzudringen, um dort möglicherweise noch einmal den Kürzeren zu ziehen; zumindest ließ sein geknickter Blick in die Höhe dies vermuten. Der Heimvorteil lag dort, auf den dünnen Ästen in gut und gern sechs Meter Höhe, erst recht auf der gegnerischen Seite. Ray sah es ähnlich, wenn allerdings mit etwas mehr Zuversicht. Zwei Reinfälle ... Na und? Der Tag war noch jung, das Spiel noch lange nicht vorbei. Einzuräumen war jedoch, dass es ihm im Moment noch an guten Ideen fehlte. Guter Rat war teuer und die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten stark begrenzt. Auch sein Blick schlängelte sich an dem Korkendreherstamm hinauf, bis er den Ast erreichte, von dem aus das flüchtige Pokémon gelassen und mit dem Rücken an den mächtigen Schaft des Baumes gelehnt hinabblickte. Ihre Blicke kreuzten sich. Das Nicht-Blinzel-Duell ging zugunsten des Pokémons. Seine Selbstbeherrschung war schlichtweg beeindruckend. Was konnte man dieser Ruhe entgegensetzen? Ja, was?
Ray besann sich auf sein unmittelbares Umfeld. Natürlich gab es auch dort den ein oder anderen Sonderling. Logan Sokol beispielsweise, seines Zeichens bereits unumstrittener Jahrgangsbester und Sieger des großen Grundkurs-Turniers - ihn hatte man noch nie dabei beobachten können, seine gelassene Fassung zu verlieren, oder dass er einfach seine Logik ablegte. Rational, nicht emotional – und da konnte kommen, was oder wer wollte. Selbst Eagle hatte sich bei ihm, seinem schärfsten Rivalen, die Zähne ausgebissen. Ihn dagegen in Rage zu versetzen war recht einfach, auch wenn er sich meist kühl und distanziert der Außenwelt auf den ersten Blick präsentierte. Ein falsches Wort aber und er explodierte. Dann konnte man sich auf etwas gefasst machen. Von Ruhe und Gelassenheit konnte dann nicht mehr die Rede sein; ebenso überlegtes Handeln suchte man bei dem Hitzkopf in diesem Moment vergeblich. Die Frage war: Konnte man den grünen Baumhüpfer womöglich ebenso aus der Reserve locken, sodass er alles um sich herum vergaß und seine lückenlose Deckung einfach fallen ließ? Durch was konnte man dieses Pokémon so provozieren, dass man es nicht auf den Baum, sondern auf die Palme brachte?
„Einfach ...“, murmelte Ray, dem auf diesen Gedanken plötzlich die hysterisch kreischende Mädchen-Meute vom ersten Turniertag in Erinnerung kam. Er kramte kurz in seiner Hosentasche und wurde schnell fündig. „Zeit für meinen ,Ladykiller’.“ Wenn ihn das nicht in Rage versetzte, dann nichts. Wer konnte schon sein Mütchen kühl halten, wenn der Preis dafür war, sich bedingungslos mit einem Spuckröhrchen beschießen zu lassen? Natürlich forderte dieses Vorhaben selbst auf der Gegenseite Tribut, auch wenn dies für Ray lediglich bedeutete, den eiligst von Sonja abgekritzelten Hausaufgabenentwurf für den Mathematikunterricht am Montag zu kostbarer Munition zu verarbeiten.
„Was solls ...?“ Er zerknüllte das Paper. „Halt dich bereit“, meinte er an Sheinux gewandt und stopfte sich einen Papierfetzen in den Mund.
Auf dem Lande gehörte die Furcht, von einem Spuckkügelchen getroffen zu werden, offenbar nicht zum Alltäglichen, was wohl auf die Seltenheit dieser seltsamen Waffe zurückzuführen war; dies oder selbst die durchweichteste Papierkugel ließen einen echten, abgebrühtesten Kerl vom Lande völlig kalt. Da es Rays lebendige Zielscheibe beinahe vor Schreck von seinem Ast geworfen hatte, war ersteres zweifelsohne der Fall. Das Geschoss hatte sein Ziel, wenige Millimeter über dem rechten Nasenloch, problemlos erreicht. Die erste sichtbare Reaktion auf diese Tätlichkeit blieb nicht lange auf sich warten. Mit einer nicht zu geringen Portion des Abscheus kratzte sich das kurzzeitig vor Schreck gelähmte Pokémon das nasse Geschoss vom Gesicht. Doch auf dem ersten Treffer sollten schnell weitere folgen. Siegessicher leckte sich Ray die Lippen und setzte erneut an. Bald schon war die Luft erfüllt von ganzen Projektil-Schwärmen, was einst eigentlich als Hausaufgabe auf dem Lehrerpult als Hausaufgabe hätte landen sollen. Abzüglich einiger ausreißerischer Querschläger war Rays Trefferquote – dafür, dass seine Zielscheibe durch seine vergeblichen Ausweichmanöver von Ast zu Ast alles daran setzte, nicht noch weitere Schläge einzustecken – überragend gut.
Mit der würdevollen Zurückhaltung des Baum-Pokémons war es spätestens mit einem Treffer ins offene Auge endgültig aus und vorbei. Ray hatte seinen Munitionsvorrat gerade aufgestockt und wollte eben einen neuen Kugelhagel heraufbeschwören, als der Geduldsfaden seines Opfers endgültig riss und es sich rasant den gewundenen Baumstamm herunter bewegte. Sheinux nahm sofort eine schützende Stellung vor seinem Partner ein; der aber gebot seinem vierbeinigen Gefährten mit einer eindeutigen Handbewegung sich in Geduld zu üben. Ein verstohlenes Grinsen huschte Ray über das Gesicht. Sein Plan trug reiche Früchte; sie mussten lediglich noch geerntet werden. Eben dies konnte sich allerdings als schwieriger herausstellen, als der erste Blick vermuten ließ, denn die Früchte ... sie trugen Stacheln und wollten sich nicht widerstandslos pflücken lassen.
Lediglich ein zorniges Augenfunkeln in Richtung des Schützen ging dem ersten Vergeltungsschlag voraus, ohne das Ray seinen Kopf nicht rechtzeitig aus der Schlinge hätte ziehen können. Schneller als es dem Raikou eigentlich lieb war, musste er seinen rechten Arm aus der Reichweite eines peitschenden Schwanzhiebs seines Gegners ziehen. Sheinux fauchte erregt, hielt aber auf den ausdrücklichen Befehl seines Partners die Stellung. Ray hatte nach seinem rettenden Satz noch nicht richtig Fuß gefasst, als die beiden Füße des Pokémons sich abermals kraftvoll vom Boden abstießen, es im Flug halb um die eigene Achse wirbelte, die Luft mit seiner strafenden Rute entzwei pflügte und diesmal auf den Kopf des Menschen zielte. Rays rettender Rückwärtssprung war wenig grazil, erfüllte aber völlig seinen Zweck. Zwei Mal in Folge war er der drohenden Tracht Prügel seines Lebens mit knapper Not entronnen. Auf ein drittes Mal wollte er es gar nicht erst anlegen – und die Chance dafür, sie war da! Der peitschende Schwanz sauste durch die Luft; Ray packte zu. Abblocken, so wie er es aus dem Unterricht mitgenommen hatte, wenn vielleicht auch nicht ganz so, was seine Lehrer darunter verstanden. Mittel zum Zweck; erfüllte schließlich das waghalsige Manöver des Raikous voll seine geplanten Absichten. Die Augen des plötzlich kopfüber in der Luft baumelnden Pokémons weiteten sich erschrocken, Arme und Beine schlugen erregt in alle Richtungen aus, fast wie ein zappelnder Fisch am Haken, der um sein klägliches Überleben kämpfte. Nichts aber vermochte den eisernen Griff des Menschen zu lockern. Der anfängliche Schreck und auch die ziependen Schmerzen, als Ray den Angriff mit bloßen Händen abgefangen hatte, saßen ihm noch arg in seinen Gliedern. Erschwerend hinzu kam, dass er im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände damit zu tun hatte, unter keinen Umständen den Halt an dem weichen, erschlafften Hinterteil zu verlieren. Es gab keinen Anlass, weitere Zeit zu schinden. Jetzt oder nie!
„Hau ihn weg!“
Keine Taten aber folgten auf diese Worte. Zum ersten Mal sträubte sich Sheinux vehement davor, einem von Rays Wünschen nachzukommen. Seine Skrupel waren allerdings auch gerechtfertigt. War schließlich die Gefahr groß, seinem besten Freund durch die nachfolgende Handlung beträchtlichen Schaden zuzufügen.
„Sh-Ei ...!“
„Bisschen spät für spontane Planänderungen, meinst du nicht?!“
Das Gewicht des zappelnden Bündels wuchs stetig an, die boxenden Faustbewegungen und Tritte gewannen an Treffsicherheit. Rays Kräfte dagegen schwanden dahin. Selbst mit dem tatkräftigen Einsatz beider Hände wollte ihm die Bändigung seines Gefangenen kaum noch gelingen. Die Arme verkrampften sich immer mehr. Der schwitzigen Hände verloren mehr und mehr den Halt. Es war nur noch eine Frage der Zeit ...
„Mach schon!“, brüllte er.
Ray sah sich innerlich bereits mit der Gewissheit konfrontiert, dass er jeden Moment als ungewollter Sparringpartner oder gar als Sandsack herhalten musste, als endlich Sheinux’ lang ersehnter Kampfschrei ihm neuen Mut einflößte. Es war soweit, sein Einschalten in die Auseinandersetzung stand unmittelbar bevor.
Die über Jahre hinweg antrainierten Zockerreflexe machten sich bezahlt: Zeitgleich mit dem Erwachen von Sheinux’ schlummernden Kräften reagierte Ray blitzschnell. Das bläuliche Glühen von Sheinux’ Fell hatte noch nicht völlig die gewohnte Intensität gewonnen, als Rays Fingerkuppen von seinem Opfer abließen und das Pokémon einen knappen Meter gen Boden stürzte. Gerade noch rechtzeitig rollte sich Ray zur Seite ab, als auch bereits ein Funkenstrom durch die Luft peitschte, nur knapp sein rechtes Ohr verfehlte, dafür aber das eigentliche Ziel gänzlich in einem knisternden Meer der Schmerzen ertränkte. Das bloße Ausmaß der Energie, die sich gewaltsam den kleinen Körper einverleibte, stellte nur vom Zuhören selbst die kleinsten von Rays Augenbrauenhaare steil zu Berge. Wie schon zuvor gab es auch aus diesem Haltegriff kein Entrinnen, nur mit dem Unterschied, dass dieses knisternde Gefängnis mit den unausstehlichsten und heimtückischsten Qualen verbunden war, die man sich nur vorstellen konnte. Die nicht ersticken wollenden Kräfte, die die Luft aufwühlten und sich gewaltsam das grüne, sich vor Schmerzen windende und aus Leibeskräften brüllende Pokémon einverleibten, ließen selbst die bloßen Gedanken an eine Flucht im Keim ersticken.
Die spannungsgeladene Vorführung war nur von kurzer Dauer; von einer Zugabe sah man ab. Sheinux’ Gebete an den Donnergott erstickten, der Stromfluss verebbte, die in alle Himmelsrichtungen gestreckten Glieder des von den Blitzen gebeutelten Opfers zuckten noch. Der Spuk aber - er war vorbei. Spätestens als Ray die Position seiner schützend über den Kopf geworfenen Hände lockerte und seinen Blick auf das Häufchen Elend festigte, sollte das Schicksal des Baum-Pokémons endgültig besiegelt sein. Widerstandslos musste sich das ohnmächtig geschlagene Geschöpf dem unerbittlichen Sog des von Ray aus kürzester Distanz geschleuderten Pokéball unterwerfen. In dem mysteriösen Inneren angekommen, sah es dann wieder ganz anders aus. Wie bereits bei dem ersten Fangversuch zuvor, brach auch hier ein heftiger Protest zwischen zwei unvorstellbaren Mächten aus. Auf der einen Seite hatte das verschleppte Pokémon nicht das Geringste für die ihm mutwillig auferlegten Ketten übrig und setzte sich erbittert zur Wehr; eine Wehr, die auf der anderen Seite der Pokéball mit seinen dicken Mauern gut zu unterdrücken wusste. Ray und Sheinux, die einzigen Außenstehenden, denen das Spektakel zuteil wurden und überhaupt auch nur ansatzweise Mutmaßungen anstellen konnten, welch streitgeladener Konflikt wohl im Inneren der ein Eigenleben entwickelten Kugel vonstatten ging, beobachten beinahe atemlos das fuchtige Hin und Her des Balls. Ein Ende war auch zu dem Zeitpunkt nicht in Sicht, als der Pokéball gegen die mächtigen Wurzeln der Weide prallte und der Zweikampf einfach auf dem Kopf fortgeführt wurde – es machte keinen Unterschied. Dann plötzlich, ohne weitere Vorwarnung, erglimmte das Kernstück der Kugel, das Leben erlosch daraufhin schlagartig. Stille.
Bereits zum zweiten Mal an diesem sehr erlebnisreichen Tag pirschte sich Ray überaus vorsichtig als es eigentlich seine Art war heran. Diesmal jedoch hätte ihn sein laut in die Welt hinausschlagendes Herz verraten, wenn nur außer ihm und Sheinux jemand da gewesen wäre, die dem schnellen Trommeln hätten lauschen können. Innerlich kämpfte er noch mit dem Zwiespalt, ob ihm sein Unterfangen tatsächlich gelungen war. Als er dann aber das warme Metall des schlafenden Pokéballs in seinen Händen spürte, fielen auch die letzten Zweifel von ihm ab. Es war geschafft.
„Geschafft!“ Sollte es doch jeder hören, die ganze Welt mit ihm und Sheinux ihren gemeinsamen Triumph feiern. Es gab allen Anlass dazu, diesen Triumph mit einem gigantischen Siegesschrei in alle Winde hinauszutragen. Der Stein, er hätte gar nicht größer sein können, der ihm mit einem Mal vom Herzen fiel und eine schier unendliche Last so ungestüm von ihm abwälzte, dass es ihm im ersten Moment ganz schwindelig auf den Beinen wurde. Sich einfach der Schwerkraft hinzugeben und auf den Boden fallen zu lassen, schien seinen aufgewühlten Gefühlen als Belohnung nur gerecht.
Sichtlich erschöpft ließ es sich einfach neben seinen nicht weniger körperlich und geistig ausgezehrten Partner nieder. Die Beine weit von sich ausgestreckt und die Hände deutlich zittriger als sonst ruhten seine Augen auf der kleinen Kugel zwischen seinen Fingern, die nicht nur auf Knopfdruck zu der Größe einer Murmel zusammengeschrumpft war, sondern auch seinen neuen nun neusten Freund beherbergte. Freund - so hoffte er zumindest. Es gab allerdings nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob das eben gefangene Pokémon den Menschen als solchen anerkannte.
Weder konnte Ray seine Gedanken zu Ende sammeln, noch seinen neuen Gefährten zur Begrüßung wieder der Freiheit entlassen – zu beidem kam er nicht. Viel zu groß war der Schock und die Verwunderung darüber, dass plötzlich ein kleines, vierbeiniges, Geschöpf mit rostbraunem Fell und buschiger Rute sich seiner und Sheinux’ Position mit schwankenden Schritten und glasigem Blick näherte. Ray und Sheinux tauschten nur kurz Blicke, als sie beide schnell wieder auf den Beinen waren und das verwirrte Geschöpf empfingen. Es war Evoli. Nur war das Bild, abseits der Tatsache, dass Evoli einen völlig verstörten, geistesabwesenden Eindruck machte und das sonst so ordentlich gepflegte Fell völlig verstrubbelt war, merkwürdig fremd: Von Sonja fehlte jede Spur ...