Kapitel 6: One wish to grant
|| The drug, the drug is what understands me
Silence stole the voices in my head ||
~ Egypt Central - The drug
Die Uhr wollte nicht aufhören zu schlagen. Stündlich verkündete sie ihr klingendes, singendes Signal, informierte die im näheren Umfeld befindlichen Personen, wie viel Zeit, nein, dass seit ihrer letzten Stimmerhebung eine ganze Stunde vergangen war; dass der Weg von Minuten und Sekunden unaufhörlich voranschritt, ja, einem quasi davon lief, in grazilen Sprüngen in die Endlosigkeit entfloh. Ihr Vergehen berücksichtigte weder Naturkatastrophen, noch gerade zersplitternde Beziehungen, verpasste Termine oder den Wunsch, mehr von ihrer Kostbarkeit zu besitzen.
Außer ihm selbst, so schätzte Benjamin, begehrte das wohl so ziemlich jeder Mensch auf Erden, mehr Zeit, eine höhere Anzahl vergönnter Jahre, in denen man entsprechend immensere Projekte auf die Beine stellte oder sie schlichtweg in etwaiger Art und Weise genoss, tat, was einem spontan einfiel, sich keine Gedanken über das berühmt berüchtigte Morgen machte, die Ernüchterung eines jeden Vergnügens, bei der für manche Personen, vorwiegend Teenager, ein Kater als erster Punkt an der Tagesordnung stand und die folgenden Stunden mit seiner Anwesenheit beglückte. Für Benjamin hatte es etliche ‚Morgen‘ gegeben, zwar nicht dieser entzugslastigen, nachhaltigen Sorte, dennoch zu viele, an denen er nach einer zermürbend unruhigen Nacht aufgewacht war, und im gleichen Zuge ebenfalls der beständige Hass auf seine Wenigkeit. Sobald der Flammenstern sich über dem Horizont erhob, loderte synchron dazu eine Stichflamme der Abscheu in seinem Bewusstsein auf, deren Zungen begierig ihre Freunde Depressivität und Verzweiflung herbeirief, um den inzwischen fast Erwachsenen ihre volle Macht spüren zu lassen, Tag für Tag. Prinzipiell schlaftrunken begab er sich im Alltagstrott dann zum familiären Frühstückstisch, bloß, um erfolgreich in falsches Lächeln aufzusetzen und die Leute, die er liebte, in nahezu trügerische Sicherheit zu wiegen. Sie durften sich keinesfalls sorgen, er wollte unter allen Umständen ein Gefühlschaos der negativen Gattung aufgrund seiner Probleme verhindern, wollte niemandem zur Last fallen, geschweige denn in Gefahr bringen, weil ihm die Kontrolle seiner Falschheit nicht oblag. Wenn er seinen Eltern eine heile Welt präsentierte, wenn er ihnen zeigte, dass ihm nicht das Geringste an Liebe oder Zufriedenheit, an Glückseligkeit, an Lebensfreude fehlte, ließen sie ihn mit großer Wahrscheinlichkeit in Ruhe und er müsste sich nicht ständig vor ihnen rechtfertigen.
Nach wie vor tickte die Wohnzimmeruhr in ihrer Monotonie, gedachte keineswegs, das im Folgenden zu unterbinden. Doch selbst, wenn sie es getan hätte, Benjamin fände in dieser Nacht ohnehin keinen Schlaf.
Nachdenklich und gleichermaßen deprimiert betrachtete er die von den einfallenden Stadtlichtern angestrahlte Decke, studierte ihr chaotisches, weiß schimmerndes Muster und wünschte sich, er wäre imstande, einen Tausch mit ihr zu vereinbaren, der ihm nur fair erschien. Die den Raum oberhalb begrenzende Mauer sollte einmal in ihrem Dasein eine wahrhaft schwere Last ertragen. Unabhängig vom auf ihr gebetteten Fußboden des nächsten Apartments, der sie in ihrer Funktion ja von zusätzlichen Gewichten befreite. Ein einziges verdammtes Mal sollte sie drohen in ihrer ach so stabilen Konstruktion zu reißen, zu brechen, unter der Bürde, die man ihr auflud, entkräftet einstürzen. Vielleicht hörte sie, falls sie in den Genuss jener Erfahrung gelangte, dann auf, den Braunhaarigen zu verspotten, indem sie ihm mit ihren zahllosen Furchen eben das Durcheinander aufzeigte, das in seinem momentanen Leben griff; die Unordnung, sämtliche Neuheiten, die er urplötzlich gezwungen war zu verarbeiten und natürlich dürfte er damit nicht hadern. Andernfalls, sollte ein Anflug fiesen Pessimismus‘ sich in seinem Denken einnisten, verursachte er wohl bloß noch mehr Unheil im Umfeld der Personen, denen er grenzenlosen Dank und Respekt zollte. Dafür, dass sie ihn nicht zur Strafe für das Verhängnis, welches er brachte, krankenhausreif geprügelt oder ihm auf sonstige Weise Schmerz zugefügt hatten. Keine Frage, unaufhörliche Agonien bedeuteten für ihn nichts Ungewöhnliches oder in der Hinsicht Verwerfliches, weilte er seit Anbeginn seiner Erinnerung von psychischen Qualen gepeinigt auf diesem Planeten, dennoch lag es fernab seines Interesses, weitere Massen davon zu erleiden. Es sei denn, es handelte sich dabei um eine Variante der Bestrafung für Missetaten, die er an sich selbst vollziehen konnte.
In dem Fall hieß er die Verletzungen herzlichst willkommen, freute sich gar, dass sie ihn erneut besuchten, in der Gewissheit, sie lösten den Druck in ihm, ermöglichten im wieder Luft zum Atmen. Die alleinige Perspektive in seinem Sinne, ein innerliches Ersticken zu vermeiden. Ersticken am toxischen Smog seiner Sorgen und Ängste, seiner Depressionen, dem Fluch seiner Vergangenheit, der Benjamin wahrscheinlich bis in den ersehnten Tod verfolgte. Sofern man ihm den irgendwann gestattete, irgendwann in ferner Zukunft, vielleicht…
Und im Krankenhaus, Gott, sein Schicksal wäre endgültig besiegelt, müsste er je in eine solche Institution und sich dort längere Zeit aufhalten. Garantiert würden sie seine Kräfte entdecken, anschließend Fragen stellen, viele Fragen, bekämen seine Identität heraus, würden erst an ihm herum experimentieren und danach seine Eltern informieren. Oder sie ließen diese komplett aus dem Spiel und lieferten ihn unmittelbar an die Regierung aus, welche ihn als eine Gefahr höchsten Ranges einstufte und ihn auf ewig in einem geheimen Verlies einsperrte, damit er ihr perfekt gestricktes System aus Wohlstand und Observation nicht gefährdete. Andererseits konnte er statt einer Bedrohung ebenso mit Hilfe seiner Kräfte eine nützliche Waffe verkörpern, weshalb sie ihn seines Verstandes beraubten und mit ihm eine neue Kampfmaschine kreierten, bereit, Unschuldige zum Wohle des Landes zu meucheln. Zum Schutze der allgemeinen Sicherheit, so würden sie es vermutlich für die Presse formulieren, zur Abwehr potenzieller Gefahren, vermeintlicher Feinde, um den Frieden zu wahren. Seite an Seite mit Armeeflugzeugen und Panzern schwärmte er aus, beseitigte alle seinen Weg behindernden Faktoren, ob Mensch, Pokemon, Gebäude…
Schrecklich. Schlimmer als sein Leben an sich, dachte Benjamin während seiner fantasiegeschwängerten Vorstellungen. In seiner jetzigen Existenz vermochte er immerhin, Gefühle zu empfinden, seine Umwelt bewusst wahrzunehmen, Entscheidungen zu treffen, für sich selbst zu sprechen. Ohne das… würde er nicht in der Lage sein, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Und diese Erkenntnis stach erbarmungslos einen Dolch in seine sensible Seele. Er wüsste nicht einmal, wenn seine Eltern da vor ihm stünden, ehe er sie im nächsten Moment brutal abschlachtete, seine geliebten Eltern, die er zu ihrem eigenen Wohl verlassen hatte, damit sie durch seine Unberechenbarkeit keinen Schaden erlitten. Oder er vergäße, was Shohei für ihn zu opfern bereit gewesen war…
Ihm hatte er schon so Unmengen an Pech bereitet, Benjamin schämte sich so sehr dafür, ihm überhaupt begegnet zu sein. Automatisch, als wollte er seinen zitternden Leib von der Umgebung, die vor ihm bangte, abschirmen, zog er die rote Fleecedecke näher an seinen Kopf heran, und drehte sich möglichst leise auf seine linke Seite. Vor seinen leeren Seelenspiegeln nun das schwach scheinende Grau der Sofarückenlehne, das linke Ohr in der Weichheit und Nachgiebigkeit eines Kissens begraben, welches seine Liegeposition um einige Zentimeter aufstockte. Benjamin fragte sich, wieso er Hitze so anders als der Rest der Bevölkerung empfand, schwitzte er doch kein Bisschen unter dem dichten Stoff, fast gänzlich darunter verborgen, und das im Sommer. Trug seine außergewöhnliche Macht die Verantwortung für die Mutation seiner Sinne? Noch eine Sache, welche eine Differenz zu normalen Menschen schuf. Er hasste es, nicht die Fähigkeit zu besitzen, Vergangenes, nein, besser seine Geburt ungeschehen zu machen, um all die Schlechtigkeiten der Leute um ihn von vorn herein auszuschließen. Schließlich stellte sein bisheriges Leben ja ein einziges heilloses Debakel dar.
Er musste mit Shohei reden, sprangen seine Überlegungen ungeachtet anderem zu dem Thema, das ihn aktuell am meisten beschäftigte. Irgendwie musste er mit ihm kommunizieren, glaubte Benjamin zumindest, um sein schlechtes Gewissen wenigstens in gemildertem Maße zu besänftigen. Doch dieser hasste ihn, hasste die Tatsache, dass er für den Urheber seiner Probleme den Gnädigen spielte, ihm Obdach gewährte, Nahrung, ihm Kleidung lieh, hasste Benjamins Präsenz allgemein, da erwog der dieser keinerlei Zweifel, zumal Shoheis Verhalten Bände sprach.
Lediglich kurz angebundene Antworten, falls er dies bei ihm für notwendig befand, ansonsten fast kontinuierliches Schweigen, es ähnelte sturer Ignoranz, sowie Abscheu. Zu offensichtlich, als dass es etwaige Rückschlüsse bezüglich seiner Eindrücke vom Jüngeren gestattete.
Shohei erlaubte Benjamin, bei ihm zu wohnen – Mitleid begünstigte diese Geste seinerseits - , ja, allerdings verstieß das insgeheim wohl vollkommen gegen die Prinzipien eines jeden Individuums, ein solches Privileg einzuräumen, demjenigen gewidmet, der mit dem Scheitern seiner Beziehung verschuldet war..
Rasch schlug er seine Bettdecke zur Seite, und kurz darauf spürten seine bloßen Füße die wohltuende Kühle des Parketts.
***
Sollte er es wirklich wagen, ihn mitten in der Nacht zu stören?
Nach wie vor erklang leise das regelmäßige Ticken der Wohnzimmeruhr in Benjamins Ohren, jedes davon ein erbarmungsloser Peitschenhieb auf seine zum Zerreißen angespannten Nerven. Seinem Puls wohnte eine immense Intensität bei, sein Herzmuskel arbeitet auf Hochdruck, damit es Muskeln, sowie Nervenzellen mit ausreichend Blut versorgte. Er versuchte krampfhaft, seine Atmung ruhig zu halten, und auf irgendeine Art und Weise den Kloß aus seiner Kehle zu entfernen, der seine Stimme abwürgte. Was dachte er sich eigentlich dabei, einen hart schuftenden jungen Mann zu tiefster Nachtstunde mit einem solch nebensächlichen persönlichen Anliegen zu belästigen? Ihn aufgrund einer derartigen Lappalie aus seiner verdienten Ruhe zu reißen, in der er vielleicht gerade die schönste Zeit seines bisherigen Lebens an der Seite von Geneviève verbrachte? Könnte er das Shohei nicht auch genauso gut morgen sagen, wenn dieser wach wäre?
Nein, protestierten seine Schuldgefühle unverzüglich, es gab kein Zurück. Da er schon direkt vor der Zimmertür, merkwürdigerweise nur angelehnt statt fest verschlossen, stand, und seine Hand erhoben hatte, auf dass sie das Holz begrüßte und Einlass forderte. Ein schmaler Lichtstreif stahl sich verhohlen in die düstere Weite des Flurs, beschien die Bilderrahmen auf der direkt neben der Pforte befindlichen Kommode, die Momentaufnahmen, die Tore zu längst gestorbenen Zeiten, ehe er sich in den Tiefen der Finsternis verlor, separate Strahlen vergeblich ihre Stärke innerhalb der übermächtigen Truppen suchten. Fortwährend lächelten die unbeweglichen Gesichter in die eisige Finsternis hinein, lachten sogar über höchst dramatische Ereignisse, deren schweigsames Publikum sie symbolisierten, kümmerten sich keinen Deut um Verzweiflung, Wut oder Trauer. Die darauf abgebildeten Personen lebten ganz in ihrer eigenen Welt, in einer, die des Krisenbewusstseins und der emotionalen Zugrunderichtung überdrüssig geworden war. Benjamin beschloss kurzerhand, ein Seitenblick hatte genügt, sie später genauer zu bestaunen, interessierte es ihn schon in gewissem Maße, wen man darauf erkannte und ob es sich dabei unter Umständen um nähere Verwandte von Shohei handelte. Sofern dies ebenfalls zutraf, erführe er liebend gern mehr über sie und ihre Verbindung zu Shohei, denn nebeneinander her leben, ohne wirklich etwas vom jeweils anderen zu wissen, ohne Details zu kennen, das lag außerhalb Benjamins Absichten.
Der trügerische Schein aus Shoheis Zimmer missfiel hm deutlich, doch spähte er mittels des dünnen Spaltes zwischen Tür und deren Fassung in den Raum, so erkannte er bloß ein niedriges Nachttischchen samt einer von der Größe her angepassten Schirmlampe, die Quelle der angenehm dosierten Helligkeit, daneben die Ansätze eines Schlafplatzes. Holzgestell und darin eingebettet eine Matratze, bezogen mit einem himmelblauen Laken. Ansonsten sah er nichts außer weißer Tapete. Nun ja, im spärlichen Glimmen des Lämpchens schätzte er sie weiß ein, sicher war er sich nicht. Schließlich ergriff er endlich die Initiative. Sein Atem stockte, als er anklopfte.
„Shohei?“, fragte Benjamin vorsichtig in die nagende Stille hinein. War sein einseitig so bezeichneter Kumpan vor Müdigkeit eingeschlafen, ohne das Licht auszuschalten? Hätte er es versehentlich vergessen? Es entsprach keineswegs Shoheis Charakter, so achtlos mit Strom umzugehen, besaß er ohnehin nicht allzu viel Geld, und außerdem verachtete Shohei jene Energiekonzerne, welche zu ihrem eigenen Nutzen die Umwelt und somit die letzten verbleibenden Pokemon mit ihren toxischen Abfällen vergifteten. Benjamin hatte ihn sich häufig genug darüber lamentieren gehört, welches Ausmaß an Hass er auf diese Leute hegte, auf die Krawattenträger in dunklem Anzug, die andere unter ihrer Profitgier leiden ließen und ebenso wenig vor Leichen Halt machten. Nein, schlussfolgerte er abschließend, etwas stimmte hier nicht, soweit vermochte er Shohei bereits einzuschätzen. „Kann ich… vielleicht…“, fügte er nach einer Weile des Nichtantwortens hinzu, in der Annahme, sein gewollter Gesprächspartner schliefe tatsächlich.
Der Glanz der Lichtkörnchen spiegelte sich fahl in seinen kastanienbraunen Iriden, inzwischen beherbergten sie einen enttäuschten Ausdruck. Seine Hand fuhr sich ratlos durch sein zerzaustes Haar, sodass sich noch strubbeligere Figuren aus dem schon vorhandenen Wirrwarr formten. Shohei wollte also nichts von ihm hören, das bewies seine Reaktion auf Benjamins Kommunikationsversuch eindeutig. Erneut strichen seine vor Nervosität zitternden Finger einige Strähnen beiseite, entfernten sie aus seinem nach wie vor abgemagerten Antlitz. Warum –
Plötzlich ertönte unverständliches Gemurmel aus dem Zimmer seines Vermieters, in keinster Weise auf Anhieb zu identifizieren, und Benjamin stolperte vor Schreck ein paar Schritte zurück. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet, weshalb sein Herz in seiner Brust so stark gegen den um es liegenden Widerstand hämmerte, dass man meinen könnte, es platzte sogleich. Blut rauschte in Benjamins Ohren, während er versuchte, seine nunmehr aufgeschlitzten Nerven zu beruhigen. Wieder vernahm er gebrabbelte Laute, erstarrte diesmal aber nicht, er war mehr oder weniger in mancherlei Hinsicht vorgewarnt. „Shohei, alles in Ordnung?“
Seine Stimme prägten Verunsicherung, Zweifel und sogar ein Hauch von Furcht, wie er im Nachhinein an sich feststellte. Angst vor dem, was ihn dort drinnen erwartete, welches Szenario sich ihm in diesem Zimmer darbot, allerdings drängte sich ihm unausweichlich die Gewissheit auf, keine Zeit mehr verlieren zu dürfen. Und ohne weitere Abwägungen der Sachlage, scharrte er seinen Mut zusammen – gleichsam ignorierte er seine höflichen Manieren – und erklärte sich zum Herrn der Situation.
Shoheis Zimmer beinhaltete im Prinzip nichts Außergewöhnliches, sondern eher alles, was einem auch in jedem anderen Schlafzimmer begegnete, welches man inspizierte.
Links von Benjamin befanden sich der kleine Nachttisch, den er vorhin bereits über die Ausmaße der angelehnten Tür entdeckt hatte, sowie nun das Bett in seiner vollen Größe. Hellholz umschloss die himmelblau gekleidete Matratze, auf der, sofern notwendig, voraussichtlich ebenfalls zwei Leute nebeneinander ausreichend Platz, genügend Freiraum besaßen. Ob dies bei einer solchen Begebenheit aber tatsächlich der Intention des Gastes, sowie denen des Hausherrn entsprach, das zweifelte Benjamin wohl berechtigt an, nachdem er Shoheis Ex-Freundin kennen gelernt hatte. Shohei verkörperte, ebenso wie er selbst, eben im Endeffekt nur einen Mann.
Oberhalb des azuren Stoffes schwebte majestätisch, schier unberührt, und das bereitete Benjamin am meisten Sorgen, eine in verschiedenen Violetttönen gestreifte Bettdecke. Sie ragte ein wenig über den Fußrand des Bettes hinaus, fast bis zum Parkett. Am Gegenstück dazu, dem Kopfende, einige simple Stoffkissen, schwarz, rot, eines sogar grün, bei denen anscheinend nicht auf den Einklang mit dem Rest der Bettwäsche geachtet worden war. Makellos geglättet ruhten sie an ihrem Platz, Benjamin erspähte darauf nicht die geringste Spur von Benutzung in der heutigen Nacht, keine Einkerbung, erst recht keine Vertiefung, die vielleicht von einem Kopf stammte. Rasch sprossen die Blüten des Unbehagens in Benjamin, vervollständigten ihren Reifeprozess von Unruhe zu blanker Furcht, gar Panik. Von Hinterlist geleitet streuten sie ihre unheilbringenden Samen in ihm, pflanzten gefährlich toxische Setzlinge der Unsicherheit in den entsprechend emotionalen Gebieten seiner Seele. Was sollte er tun?
Das Zimmer verfügte nicht über ein sonderlich weitläufiges Volumen, bei einem einfachen Apartment war kein Zimmer extrem groß oder bot zahllose Möglichkeiten, Mobiliar in ihm zu platzieren. Aber viel mehr… in einigem Abstand zur hinteren Bettkante stand ein Schrank an der dort silbrig blitzenden Wand, der vom Parkett bis zur Decke reichte. Rechts neben der Tür erhob sich eine etwas höhere Dunkelholzkommode aus der Ebene der Mauer, hellere Maserungen verwoben sich zu den abstraktesten und interessantesten Gebilden, stellten ungeahnte Verbindungen zwischen sich her… und während seiner verträumten Gedanken bemerkte Benjamin zunächst nicht den in Rot gehüllten Beinabschnitt, welcher versteckt hinter dem Möbelstück lagerte, bloß schwierig auszumachen. Wahrhaftig beschrieb die minimal ausgestreckte Gliedmaße die eines lebenden Wesens, zuckte doch hin und wieder der nackte Fuß an dessen Ende. Benjamins Augen weiteten sich vor Entsetzen, dieses allerdings äußerte sich bei ihm nicht in einer Paralyse, also einer absoluten Bewegungsunfähigkeit, sondern in einem stümperhaften Straucheln in Richtung des vermutlich Verletzten, anstatt einer flüssigen Gangart. In wahrlich ernsten Momenten vermochte man ihn nicht ganz so leicht in seinem Verhalten zu beirren, sein schnelles Reaktionsvermögen herrschte mit eiserner Faust.
Tatsächlich, Shohei hatte es bevorzugt, die Nacht zu Seiten von Wand und Schränkchen zu verbringen, umgarnt von der gefährlichen Kühle des Parketts, und nicht im wärmenden Schutze seiner viereckigen, nahezu quadratischen Schlafstätte. Schlaff lehnte sein Leib gegen die harte Mauer, sein Zustand für Benjamin ein Schreckensbild schlechthin, und er glaubte kaum, was er da erblickte.
Überwiegend fielen Shoheis schwarze Strähnen ihm in sein blasses Antlitz, dessen Mimik gar nicht mehr zu existieren schien. Seine Züge strahlten pure Apathie aus, Neutralität, Abwesenheit, in der einzig seine roten Iriden ihnen Gesellschaft leisteten. Doch nicht einmal diesen wohnte ihre eigentliche Intensität und Leuchtkraft inne. Trübe überschattete ihren eigentlichen Glanz, von Leere erfüllt starrten sie Benjamin an, nein, durch ihn hindurch, als würde er nicht gerade direkt vor ihm knien und an seinen Schultern rütteln, direkt ins Nichts, in Unendlichkeit. Die Schwärze seiner Pupillen verdrängte einen enormen Teil des ach so schönen Rotes, stahl den funkelnden Rubinen ihr Strahlen, die Gelegenheit, sich in ihrer vollen Pracht vor ihrem Betrachter zu entfalten.
Mit Erleichterung registrierte Benjamin ein Heben und Senken von Shoheis entkleideter Brust, er lebte also, womit eine Hürde schon genommen wäre. Allerdings, und das verängstigte ihn bezüglich des Zustandes des Älteren, verliefen die Atmungen Shoheis bloß unter Anstrengung, jedenfalls in seiner jetzigen Pose, bei der sein Bauch, so wenig Fett auch an ihm heftete, sein Zwerchfell unangenehm beeinträchtigte.
„Shohei, was hast du –“, begann Benjamin stockend, unfähig, die richtigen Worte zu finden. Welche Fragen sollte er ihm denn stellen, die er in seiner Art Trance beantworten konnte? Wer garantierte ihm, dass Shohei seine Antworten in Wahrheit kleidete? Hektisch huschten Benjamins Augen über den Körper seines provisorischen Vermieters, auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt, einem Indiz, von dem sich behaupten ließe, es löste derartiges Verhalten bei einem Menschen aus. Solch eine Version von Tagtraum, von ‚Alles-ist-mir-egal‘ Stimmung resultierte keineswegs aus schlichten Gedanken, auch nicht denen der negativen Sorte. Sie mussten von einem Urheber herrühren, einem Auslöser. Fieberhaft dachte er nach, spielte Szenarien in seiner Fantasie ab, die sich mit hypnotisierenden Dürften, Lichteffekten oder Nerven am Körper beschäftigten, welche man für gewünschte Zwecke betätigte - bis er das schmale Röhrchen in Shoheis rechter Hand entdeckte. Sofort schlug er es beiseite, mehrere violette Tabletten kullerten dabei aus dem Behälter. „Wie viele, Shohei? Wie viele hast du davon geschluckt?“ Unaufhörlich versuchte er, der Fixpunkt Shoheis zu werden, umfasste sanft dessen Gesicht, wandte es sich zu, schaute fokussiert in die emotionsarmen Seelenspiegel, die der mental nicht Präsente seinem Umfeld offenbarte.
„Sie war… einfach alles…“, verkündete Shohei nur in ständiger Wiederholung, manchmal zeichnete sich unterdessen ein untugendhaftes, fast verführerisches Lächeln auf seinen leicht zitternden Lippen ab. Eine andere Stellungnahme bezog er nicht zu dem einseitigen Interview, welches man mit ihm zu führen gedachte. „Sie war… alles…“
Benjamins Aufregung wuchs, er scheiterte kläglich, seinem Gegenüber eine brauchbare Information zu entlocken, die ihm eventuell in seinem Tun weiterhälfen, die bewirkten, dass er wusste, wie er dergleichen zu händeln hätte. So einen Vorfall zu bewältigen war ihm gänzlich unbekannt und ein weiteres Mal verfluchte er seine stupide Idiotie. Kurz erwog er es, einen Krankenwagen zu rufen, doch… Sie würden es nicht bei einer simplen Behandlung belassen. Sie würden Details fordern. Und zwar von Benjamin, nicht vom prinzipiellen Patienten. Identität, Abstammung, Herkunft, Grund des Aufenthaltes in Kanto… er flöge auf und sie beanspruchten ihn für Forschungszwecke, er erhielte Spritzen, man zwänge ihn zu fortlaufender Tabletteneinnahme, bestünde auf etliche Experimente. Schließlich sammelten die Arenaleiter doch sämtliche Daten ihrer Mitmenschen, gern Untertanen genannt, oder nicht? Jedoch, und das versuchte die Regierung vehement zu unterdrücken, wusste Benjamin von deren Machenschaften. Und er wusste gleichsam, dass sie ihm keine ruhige Sekunde mehr gönnen würden, erführen sie von seinen ihr System gefährdenden Kenntnissen. Sanitäter standen also außer Frage.
„Mann, Shohei, du darfst jetzt nicht… ich bin dir doch noch etwas schuldig, und bevor ich das nicht beglichen habe…“ Behutsam, dennoch fest ergriff Benjamin Shoheis rechten Arm, wollte ihn so dazu ermutigen, mit ihm gemeinsam aufzustehen, um ihn im Anschluss irgendwie zumindest ins Bett zu hieven. Wenn er noch länger auf dem Parkettboden ausharrte, holte er sich womöglich eine Erkältung. Doch Shohei warf Widerreden ein. Energisch stieß er Benjamin von sich, murmelte dabei etwas, das nach Schuldzuweisung und Hassbekundung klang. Mit einem solchen Kraftaufwand in derartigem Zustand hätte Benjamin nie gerechnet, weshalb es ihm nicht gelang, das Gleichgewicht zu wahren, und hinten über fiel. Glücklicherweise hatte er lediglich in gebückter Haltung an Shoheis Seite gehockt, daher gestaltete sich der ‘Sturz‘ nicht allzu arg.
Der zweite Ansatz hingegen fruchtete. Mittlerweile befand sich Shohei auf seinen eigenen Beinen, wackelig, unsicher, aber er stand. Oder eher klammerte er sich krampfhaft an seinen minderjährigen Mitbewohner, welcher langsamen Tempos auf die fedrige Matratze zusteuerte. Ein Leichtes stellte das nicht gerade dar, handelte es sich bei Shohei ja um einen erwachsenen jungen Mann. So kostete es Benjamin eine Menge Anstrengung, sich selbst samt seiner zusätzlichen Last voran zu bringen. Zentimeter für Zentimeter schritten sie auf das plötzlich so weit entfernte Bett zu, und mit jeder Minute schien Shohei sich weniger auf seine Muskeln oder seine Eigendynamik zu konzentrieren, als vielmehr auf den Halt, den Benjamin ihm spendete. „Reiß dich zusammen…“, entgegnete dieser schwer atmend, „Bald kann ich dich nicht mehr – “ Allerdings würgte Shohei ihn wortwörtlich mitten im Satz ab, indem er sich kichernd – das erste Mal im Laufe der letzten Bemühungen – von allein bewegte und sich im Zuge dessen vollends von hinten an Benjamin hängte. Die Arme über dessen Schultern und den Kopf dort abgelegt hinderte er Benjamin am Fortfahren in seinen Absichten.
„Benjamin…“, säuselte Shohei von Hoffnungslosigkeit überwältigt, verzweifelt, Trost suchend. Seine schwarzen Strähnen, sie waren so zerzaust als entspränge er einem Tornado, beschränkten die Funktion seiner matten Iriden, antriebslos, gedemütigt, zutiefst verletzt warfen sie einen Schatten auf sein Antlitz. Er begehrte Geneviève nach wie vor, sie bedeutete das Fundament seiner Existenz, und jetzt, da sie ihn allein gelassen hatte, gab es für ihn keinen Grund mehr, seine Disziplin aufrecht zu erhalten.
„Shohei, w-was hast du….“, stammelte der in der Umarmung Gefangene verwirrt, ungewollt schlich sich ein Hauch von Rot auf seine Wangen. Niemand hatte ihm bislang in solch einer Art und Weise gezeigt, dass er sich am Boden krümmte und sich nicht mehr alleine im Leben zurecht fand, geschweige denn je Ansprüche jener Sorte gestellt. Er stand in Shoheis Schuld, da dieser ja quasi als Lebensretter fungiert hatte, nicht mehr und nicht weniger. „Du hast Drogen genommen, du bist nicht bei – “ Verbissen presste Benjamin seine Zähne aufeinander, als Shohei seine Arme um dessen Bauch schlang und die Distanz zwischen den beiden Jungen verringerte.
„Ich will nicht… ständig allein sein…“, gestand Shohei ihm schließlich wispernd und vergrub sein Gesicht, so gut es ihm möglich war in seiner Verfassung, in Benjamins Hals, der es keineswegs wagte, sich bloß ansatzweise zu rühren. Einerseits hegte er die Angst, Shohei verlöre bei einer falschen Bewegung daraufhin den Halt und stürzte unglücklich, verletzte sich lebensgefährlich, stürbe in seinen Armen, ohne dass er etwas hätte tun können. Auf der anderen Seite empfand er tiefes Mitleid mit Genevièves ehemaligem Freund, musste er zu Drogen greifen, um Erlösung aus seiner Misere zu finden, oder unter Anweisung davon danach suchen. Benjamin hätte ihn eher als einen ruhigen, bedächtigen Menschen eingeschätzt, der, sollte man ihn verstimmen, seine Abneigung zwar innerhalb seiner Aussagen demonstrierte, im Endeffekt jedoch jeglichen Gram in sich hinein fraß. Und es deprimierte Benjamin, denjenigen, mit dem er zur Zeit zusammen wohnte, so gebrochen zu sehen, so vom Leben enttäuscht. Doch zunächst musste er Shohei von ihrem jetzigen Platz ins Bett befördern, gleichgültig wie.
Höchst vorsichtig tätigte er einen kleinen Schritt, dann noch einen, wartete ab, ob sein Ballast ihm folgte – und siehe da, er wehrte sich nicht. Als die beiden endlich das Schlafdomizil erreichten, sandte Benjamin einen stummen Dank gen Himmel. Er als personifizierte Stütze drehte sich geschickt zur Seite, sodass sein zusätzliches Gewicht sanft aufs Bett sank, natürlich erst, nachdem er die Stoffdecke beiseite geschlagen hatte. Unverzüglich richtete er sich wieder auf, um ja Shoheis Reichweite und dementsprechend einer weiteren Umklammerung zu entfliehen. Auf einmal konnte dieser seine Motorik einigermaßen steuern, aus eigener Fähigkeit heraus zog er auch seine Beine auf die weiche Matratze und nahm eine bequeme Seitenlage ein.
Man erkannte kaum mehr Schmerz oder Qual in seinem Antlitz, seine Züge wirkten vollkommen entspannt und friedvoll, und man könnte meinen, es wäre eine Nacht gleich jeder anderen. Aus seinem leicht geöffneten Mund erklangen leise und regelmäßige Atemgeräusche, als jagte er bereits seit Stunden seinen Traumfantasien hinterher. Ausschließlich Benjamin kannte die entsetzliche Wahrheit, wusste, was sich just hier für ein Szenario abgespielt hatte, und er beschloss, Shohei wenigstens teilweise seinen Wunsch zu erfüllen.