Ein Tag nach morgen

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  • >>Die Idee<<

    Die Idee ist vor einer ganzen Weile entstanden. Und aus ein paar losen Blättern wurde schnell ein Ordner voller Kritzeleien und Notizen. Tatsächlich ist Twillight an mir vorbeigegangen und ich habe die Bücher nie gelesen, Vampire haben mich allerdings trotzdem interessiert. Vor allen nachdem ich damals den Anime Vampire Knight gesehen habe und den natürlich in den Himmel gelobt habe. XD Erst viele Jahre später kam mir dann die Idee für dieses Buch. Das war vor 4 Jahren. Erst schrieb ich den ersten Ark - Jahre vergingen und ich schrieb nicht weiter - dann folgte der zweite und dritte Ark. Und wieder stoppte ich. Diesen Sommer habe ich mir also vorgenommen mal etwas zu Ende zu schreiben. Momentan arbeite ich an der Überarbeitung was doch etwas mehr Zeit in Anspruch nimmt als ich gehofft habe. Ich glaube die Pandora Hearts und Vanitas no Carte Serie hat mich hier auch sehr inspiriert. Ziel ist es außerdem möglichst viel Neues zu lernen. :3 Wer also etwas zu bemängeln hat immer nur her damit. ^^


    >>Copyright<<

    Die Geschichte und Charaktere entsprangen meiner eigenen Feder. Die Bilder die hier gelegentlich einmal gepostet werden (also zusammen mit einen Kapitel) sind ebenfalls allesamt von mir gezeichnet worden.


    >>Der Klappentext<<

    Wie viele Menschen würden wohl noch sterben müssen? Wie viele würden noch verschwinden? Rosemaries Welt wird auf den Kopf gestellt, als eines Tages eine schreckliche Serie von Entführungen ihren Lauf nimmt. Ihr ganzes Leben hatte sie im Schutz der Mauer gelebt, hatte ein vielleicht nicht immer glückliches, aber sorgloses Leben geführt. Zu mindestens hatte sie das immer gedacht. Doch nichts ist so, wie es scheint, und plötzlich findet sie sich in einer verdrehten Welt wieder, von der sie nicht wusste, dass sie existierte. Magie, Fabelwesen, eine vergessene Welt, das gibt es doch nur in Büchern. Richtig?


    >>Triggerwarnung und Alters Empfehlung<<

    Sicherheitshalber würde ich hier einmal eine Triggerwarnung für Mobbing, Gewalt und Blut aussprechen. Zwar hält sich das hier noch im Rahmen, jedoch halte ich es für wichtig so was im Vornherein auszusprechen. Außerdem würde ich die Geschichte aufgrund dessen erst ab 16 Jahren empfehlen. [Ich bin mir hier nicht sicher wie man die Altersbeschränkung markiert? Reicht es wenn ich sie im Post erwähne oder soll ich sie zusätzlich in den Titel packen?]


    >>Inhaltsverzeichnis<<

    Kapitel I C´est

    Kapitel II Noel

    Kapitel III Das Haus am Stadtrand

    Kapitel IV Kein schlechter Tag

    Kapitel V Ein Ende und ein Anfang Teil I

    Kapitel V Ein Ende und ein Anfang Teil II

    Kapitel VI Froschmarie und Oliver

    Kapitel VII Frau Margaret Raymond

    Kapitel VIII Ein Entschluss

    Kapitel IX Albert Windson

    Kapitel X Für einen Freund

    Kapitel XI Für einen Unbekannten

    Kapitel XII Es gibt immer ein Morgen Teil I

    Kapitel XII Es gibt immer ein Morgen Teil II






    ~+~


    >>Prolog<<


    „Hey, lass uns morgen etwas spielen?“ Der kleine Junge rief sich diese Worte wieder ins Gedächtnis. Mit großen Augen sah er auf die Lichtung, die vor ihm lag. Wo bleiben die nur? Wieso kommen sie nicht? Habe ich etwas übersehen? Oder-. Nein. Sie verspäten sich nur. Bestimmt. Tausende Gedanken schossen durch den Kopf des Jungen. Er sollte gehen, aber ging nicht. Er wartete weiter, selbst als es dunkel wurde. Mittlerweile waren die Baumriesen zu schemenhaften Silhouetten geworden und der Himmel hatte sich von einem dunklen Blau in ein Meer aus pechschwarzer Tinte verwandelt. Es war kalt geworden. Eine Brise lies das Kind erzittern. Wie lange wartete er schon? Vielleicht 2 Stunden? Er würde nicht gehen. Sie hatten gesagt, sie würden kommen, also würden sie auch kommen, so einfach war das.


    Wie oft soll ich es dir denn noch sagen. Geh Nachts nicht raus!“, hörte er seine Mutter in Gedanken schelten. Seine Mutter schimpfte oft mit ihm, doch sie tat es aus Liebe, etwas das, das Kind nie begreifen würde. Nicht in diesem Leben. Er war schon ein großer Junge und kein kleines Kind mehr. Dieses Jahr war er wieder gewachsen, nur ein paar Zentimeter, aber er war gewachsen. Nächstes Jahr würde er weiter wachsen und dann wäre er bestimmt schon bald größer als sie. Würde sie ihn dann immer noch ein Kind nennen? Den Jungen kümmerte es nicht, was sie sagte, also blieb er, auch wenn er sich immer wieder verunsichert umsah. Niemand da. Wir wollten uns doch hier treffen?, dachte der Junge und wurde nun langsam nervös. Flüchtig ließ er seinen Blick durch die Gegend schweifen, aber seine Augen waren schlecht. Es war dunkel geworden und er konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Sein Herz zog sich zusammen. Sie kommen doch?, schoss es ihn durch den Kopf. Weil es kalt geworden war, faltete er die Hände zusammen, rieb sie aneinander und formte eine Kuhle, in der er hinein pustete. Für einen kurzen Moment wurden seine Hände durch den Schwall warmer Luft heiß, ehe die Kälte noch viel erbarmungsloser in seine Fingerspitzen kroch. Sein Herz wurde schwer, als er begriff, dass er nicht länger warten konnte. Seine Mutter machte sich bestimmt schon Sorgen. Der Mond stand bereits weit oben, als er sich auf den Heimweg machte. Etwas stimmt nicht. Dieser Gedanke wurde mit jedem Schritt präsenter. Das Herz des Kindes schlug ganz laut gegen seine Brust. Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Ein Schrei erschütterte die Nacht. Der Junge hatte mittlerweile die Dorfmitte erreicht - ein runder Platz, der von mehreren Häusern umringt war – als ihn ein ganz seltsamer Geruch in die Nase stieg. Er kannte ihn. Woher? Die Hände des Kindes zitterten, als er den Atem anhielt. Das konnte nicht sein. Seine Augen wurden groß und füllten sich mit Tränen, doch alles, was er hervorbrachte, war ein Wimmern. Hilf mir jemand - Worte, die er nicht aussprechen konnte. Irgendetwas Schreckliches würde passieren, das spürte er. Vor ihm lag der Körper eines ausgewachsenen Mannes. Er hing über den Rand eines Brunnens, fast als würde man ihn dort zur schau stellen. Der Junge beugte sich zu dem Mann hinunter. Seine Haut war verschrumpelt, leichenblass und seine Augen leer. Etwas Dunkles klebte an seiner Kleidung, doch das Kind konnte es nicht identifizieren. Wieso schlief der Mann? Wieso bewegte er sich nicht mehr? Das Kind taumelte zurück. Wieder machte sein Herz einen Satz. Er sah sich um. Seine Hände zitterten. Erst jetzt spürte er die Präsenz einer zweiten Person. Hier war noch jemand. Er bemerkte es zu spät, als das es ihn hätte retten können. Der kleine Junge wollte sich nicht umdrehen. Wenn ich ihn nicht sehe, sieht er mich auch nicht. Wenn ich –, hallte es in seinen Inneren wieder, als er die Augen zusammenkniff. Es war zu spät. Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen. Hinter ihm stand jemand. Er hatte ihn nicht kommen sehen, oder vielleicht war er auch schon die ganze Zeit hier gewesen. Der Junge drehte sich ganz langsam um und schnappte nach Luft. Ein Mann. Für einen Moment machte sich Erleichterung in ihm breit und er zwang sich zu einem Lächeln. Er war gerettet. Richtig?


    „Bitte helfen sie dem Mann hier. Ich glaube es geht ihm nicht gut. Ich hab Angst.“ Solche Angst. Ein Wimmern, Flehen, ertönte aus der Kehle des Kindes. Aber das würde ihm nichts mehr helfen, denn der Mann war nicht gekommen, um zu helfen. Stattdessen lachte er dumpf. Messerscharfe Zähne kamen zum Vorschein. Langsam drehte das Kind seinen Kopf nach rechts, als sein Herz beinahe stehen blieb. Im matten Schein einer einzigen einsamen Laterne erkannte der Junge weitere Körper. Sie schlafen nicht. Sie hatten nie geschlafen. Tränen kullerten über seine Wange. Dort in einer Seitengasse lagen sie, aufgeschlitzt und tot, auf dem Boden. Rote Klumpen waren auf dem Boden verteilt. Jetzt erkannte er den Geruch. Blut, es war der Geruch von Blut. Doch diese Einsicht brachte ihm nichts mehr. Wieso?! Wieso nur-. Der Junge beendete seinen Gedanken nicht mehr. Und damit endete diese Geschichte auch schon. Von diesem Tag an würde nichts mehr so sein wie zuvor, denn die Welt war nun eine Andere.






  • >>Kapitel I C ´est<<

    Juli


    Sie hasste den Namen Rosemarie, das war kein großes Geheimnis. Jeden, denn sie besser kennen gelernt hatte, bat sie darum sie Juli, nicht Rosemarie, zu nennen. Juli war der Monat, in dem sie geboren wurde und wie sie selbst fand ein viel passenderer Name. Das sich viele trotzdem nicht daran hielten, war ein hager Rückschlag gewesen, aber es war zu verkraften.


    >>C´est<<, schrieb Juli mit einem Kugelschreiber auf eines ihrer Blockblätter, dann hielt sie kurz inne und überlegte. Ihre rechte Hand umfasste ihren Stift, den sie ganz fest in das Blatt Papier drückte. Etwas zischte durch die Luft, traf sie an der Wange und verursachte, dort wo es aufgekommen war, einen kurzen stechenden Schmerz. Ihre Augen wurden groß, als ihr Herz einen Satz machte. Eine Papierkugel? Langsam drehte sie ihren Kopf. Aber wer würde denn-? Sie entfaltete die Kugel und strich die Falten glatt. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten.


    >>He Froschmarie<<, stand dort in großen Lettern geschrieben. Den Rest lass sie nicht. Ihr Hals wurde trocken. Das war in Ordnung. Es machte ihr nichts. Richtig? Juli zwang sich zu einem Lächeln, ehe sie sieh ihren Kopf leicht zur Seite drehte und hinter sich blickte. Der Vorlesungssaal war ganz altmodisch abgestuft, so wie man es aus den meisten Serien oder Filmen kannte. Vor ihr und hinter ihr saßen eine Hand voll Kommilitonen, sonst war der Saal allerdings fast leer. Kein Wunder, durch die erste Hitzewelle des Jahres wurde der Raum auf eine ganz unangenehme Temperatur aufgeheizt. Im Hintergrund konnte sie die Stimme ihres Professors hören, doch ihre Gedanken waren im Moment wo anders. Einer der Kommilitonen, der direkt eine Reihe hinter ihr saß, grinste breit. Seine Haare waren pechschwarz, seine Augen blau und seine Haut leicht gebräunt. Hatte er etwa-?


    „Für mich?“ Sie zögerte, dabei wusste sie die Antwort eigentlich schon. Wieso frage ich überhaupt? Das war eine gute Frage, die sie sich selbst allerdings nicht beantworten konnte.


    „Natürlich, oder siehst du hier noch ein anders Froschgesicht?“ Sie sah sich flüchtig im Vorlesungssaal um. Das schien ihn zu verärgern und er verzog das Gesicht. „Natürlich bist du gemeint.“ Wieso? Habe ich ihm etwa etwas getan? Wenn ja-, schoss es ihr durch den Kopf. Julis Herz zog sich zusammen. Sie kannte den Namen des Jungen. Oliver Raymond. Sie hatte einmal mit ihm geredet. Nein, dass stimmte nicht, denn eigentlich kannten sie sich schon seit einer halben Ewigkeit. Das letzte Mal, wo sie mehr miteinander gesprochen hatten, war allerdings schon eine ganz Weile her gewesen. Wann war das noch gleich gewesen? Damals waren sie in einem Projekt eingeteilt worden und er hatte sie angelächelt. Vielleicht war sie naiv gewesen. „Du bist doch klug? Da bin ich aber froh. Ich bin mir sicher, dass wir ein super Team abgeben werden.“, hatte er damals zu ihr gesagt und den Daumen zum Himmel gehoben. Sie war nicht klug, aber sie war bereit, alles dafür zu geben, damit die Leute dachten, sie wäre klug. Über die Monate hinweg, in den sie zusammen an dieser Arbeit gearbeitet hatten, hatten sie sich öfters getroffen. Meistens ging es nur um das Projekt, aber einmal da hatte er sie zum See mitgenommen und danach hatte er ihr einen guten Tag gewünscht. Möglicherweise war das nur eine kleine Geste gewesen und dennoch hatte es ihr Herz ein wenig schneller schlagen lassen. Vielleicht hatte sie sich eingebildet, dass die Dinge wieder so wie früher werden könnten. Dass er sie vielleicht sogar mochte. Oder zumindest nicht hasste. Dumme Juli. Was war nur schiefgelaufen?! „He, was glotzt du denn so?“ Juli blinzelte, als Olivers Stimme sie aus ihren Gedanken riss, dann zuckte sie zusammen.


    „T-Tut mir-.“ Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Waren sie nicht schon zu alt für diesen Unsinn? Sie lachte nervös. Das Ganze war ihr alles unglaublich peinlich. Wieso hatte sie nur gefragt?! Ihr Kopf nahm eine leicht rötliche Farbe an. Schnell kramte sie ein Buch heraus. Juli hatte es sich damals eigentlich ausgeliehen, um nachschlagen zu können, sollte sie etwas nicht verstehen. Jetzt schlug sie es mit einer schnellen Bewegung auf und bohrte ihre Finger in den Einband des Buches, das sie so fest in ihren Händen hielt, als ob es ihr letzter Rettungsanker wäre. Sie sollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Ihre Augen huschten von Zeile zu Zeile, ehe sie schnell ein paar Notizen auf ihren Block kritzelte. Bitte, lass es so wirken, als ob ich beschäftigt bin. Schneller und schneller huschte ihr Stift über das Blatt Papier. Es kümmerte sie nicht, dass es vielleicht seltsam auf andere wirken könnte. Schaut nicht zu mir. Bitte. Schaut wo anders hin. Wenn sie sich besonders verloren fühlte, dann übersetzte sie ein paar Zeilen von französisch ins Deutsche. Eine wirklich alberne, dumme Angewohnheit, aber es half ihr an Tagen wie diesen, an den sie am liebsten die Welt um sich herum verschwinden lassen wollte.


    „Hast du schon gehört-“ Juli sah sich flüchtig um. Ihr Herz schlug einen Purzelbaum. Die anderen Studenten hatten sich zur hinteren Reihe gedreht. Sie beachteten sie nicht. Gott sei Dank. Beinahe hätte sie laut geseufzt. Die Worte galten nicht ihr. Ein paar Studenten hinter ihr redeten über etwas. Blende es aus. Wieder huschte ihr Blick zu ihren Kommilitonen. Worüber redeten sie wohl?


    „Da ist jemand in unser Dorf gezogen. Scheint aber ein echt schräger Vogel zu sein.“ Ein schräger Vogel?


    „Wie meinst du das?“, meinte ein ziemlich dürres, brünettes Mädchen. Ihren Namen hatte sich Juli noch nie merken können. Wie war er noch gleich gewesen?


    „Naja, hast du schon mal den sein Haus gesehen? Echt schräg? Angeblich hat er es von seinem Großvater geerbt. Aber soll ich dir was sagen? Ich wette der ist ein Spanner. Gerüchten zufolge soll er eine Gruppe Mädchen beobachte haben.“ Die Antwort kam von Oliver. Den Rest der Unterhaltung bekam Juli nicht mehr mit. Ihr Blick klebte auf dem Blatt Papier, als sie von Zeile zu Zeile sprang. Ein schräges Haus eines Spanners. Sie schüttelte den Kopf und hatte bereits die nächste Zeile übersetzt. Ob mit schräg wohl verwahrlost gemeint war?



    ~+~



    Vielleicht sollte sie einfach von hier verschwinden, weit weg, dorthin wo niemand sie finden könnte und niemand sie kannte. Nicht das jemand nach ihr suchen würde. Hier war immer alles gleich, immer der ewig gleiche Ablauf. Die gleichen Menschen, die gleichen Straßen und Läden, nichts änderte sich. Sie kannte doch schon alles, was sollte da schon auf sie warten? Ob die anderen Städte wohl auch so sind? Ihre Mutter hatte ihr einmal davon erzählt, von Städten mit Wolkenkratzern, die bis in den Himmel ragten. Ob sich das Leben dort wohl stark von dem, was sie kannte, unterscheiden würde? Ihre Stadt war nicht klein, vielmehr gehörte sie sogar zu einer der größeren Orte. Es gab ein paar Clubs, in den man sich treffen konnte, und sogar ein paar Diskotheken. Gerade in der Dorfmitte herrschte oft reges Treiben. Manchmal wurden sogar Feste gefeiert. Dagegen war es hier am Stadtrand schon etwas ruhiger. Ländlicher. Überall waren Felder, wohin das Auge auch reichte. Manchmal querte ein Fluss den Weg, der in einem See in der Nähe mündete. Die Straßen waren nicht geteert und damit eher unangenehm, mit dem Auto zu befahren. Juli hatte vor ein paar Jahren ihren Führerschein gemacht, gebraucht hatte sie ihn allerdings kaum. Ab und an fuhr sie mit dem Auto ihrer Mutter zum Einkaufen, das war allerdings auch schon alles. Was wenn sie von hier wegziehen würde? Würde sie alleine zurechtkommen. Was wenn nicht? Was dann? Jetzt kam sie sich fast etwas albern vor. Gerade kam sie an einem weiteren Haus vorbei. Juli kannte das große gelbe Gebäude am Rande des Weizenfeldes und den Garten mit den vielen Apfelbäumen, der durch einen Holzzaun eingezäunt war. Sie war auf den Weg nach Hause oft hier vorbeigekommen. Der alte Mann, der ihr gerade zuwinkte, war niemand geringeres als Anton Miller, ein alter Freund ihrer Mutter.


    „Guten Tag Rosemarie.“ Als Juli seine Stimme hörte, drehte sie ihren Kopf. Herr Miller lehnte sich an den Zaun und lachte. Er hatte nur noch ein paar graue Haare. Sein Gesicht war faltig, aber er lächelte, was Juli dazu veranlasste zurückzulächeln.


    „Guten Tag Herr Miller“, sagte Juli.


    „Heute wieder fleißig am Lernen? Wie geht es deiner Mutter? Immer noch so übereifrig?“


    „Ja. Sie ist oft beschäftigt. Homeoffice und so. Sie scheinen wohl einige Krankschreibungen zu haben, deswegen muss sie öfters Schichten übernehmen.“


    „Sie sollte sich ja nicht ausnutzen lassen. Zu viel Arbeit ist nicht gesund. Am Ende bekommt sie noch einen Burnout.“


    „Ich weiß, aber sie kennen sie ja. Sie lässt sich von Niemanden etwas sagen.“


    „Ja ja, Josefine. So ist sie eben. Stur wie sonst noch was. Ich glaube das hat sie von ihrer Mutter.“ Für einen Moment schien der alte Mann in seinen Erinnerungen zu schwelgen. Herr Miller war alt. Sehr alt. So alt, dass er sowohl ihrer Mutter als auch Juli als Kind gesehen hatte. Und man sah ihm sein Alter an. Unter seinen Augen lagen Falten, seine Haare waren grau und spröde und sein Blick war von einer alten Müdigkeit gequält.


    „Wollten sie nicht etwas sagen?“ Juli wollte nicht unhöflich erscheinen, aber Herr Miller hatte die Angewohnheit schnell mal vom Thema abzukommen und dann vergaß er schnell, was er eigentlich hatte sagen wollen.


    „Oh ja. Richtig. Ich habe mit meiner Frau Marmelade gemacht. Es ist so viel geworden, da wollte ich fragen, ob du nicht etwas mitnehmen willst? Für deine Mutter und dich. Wir schaffen nicht alles alleine und es wäre wohl sehr schade sie schlecht werden zu lassen.“ Die Millers machten ihre Marmelade immer selbst und meistens so viel, dass sie für die halbe Stadt reichte. Als sie noch jünger war, nannte Juli die Millers auch die ´Marmeladenmafia´. Sie verkauften ihre Gläser an die Leute in der Umgebung, nur Juli und ihre Mutter bekamen sie oft umsonst. Josefine hatte den Millers oft geholfen. Als die Frau von Herrn Millers krank geworden war und nicht gehen konnte, hatte sie sich extra frei genommen, um sie zu unterstützen. So weit wie es eben ging. Herr Millers hatte ihr gesagt das, dass nicht nötig sei, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden. Das sei doch selbstverständlich, hatte sie gesagt und Juli hatte sich einmal mehr gewünscht, sie würde mehr an sich selbst denken.


    „Oh-.“ Juli wollte gerade etwas erwidern, da krachte es hinter ihr. Das Geräusch kam von der anderen Straßenseite.


    „Sehen sie?! Jetzt müssen sie mir glauben!“ Diese Stimme, war das nicht - Albert. Albert Windson. „Sie sind ja immer noch da! Ich habe ihnen doch gesagt sie müssen gehen!“ Er brüllte schon fast. Albert Windson war ein seltsamer Kauz. Er war wohl noch nie besonders labil gewesen, aber seit dem Tod seiner Frau hatte er den Verstand endgültig verloren. Er trug eine große runde Brille, mit einem goldenen Gestell, hatte dunkle Schatten unter seinen Augen und lange braune Haare, die er allen Anschein schon ewig nicht mehr gekämmt hatte. Dazu trug er einen gestreiften Mantel. Morgenmantel oder normaler Mantel, sie war sich nicht sicher, aber die Schuhe, die er trug, waren definitiv Hausschuhe. Jetzt gerade lehnte er an der Tür seines Gartentors und hatte sich mit so viel Gerümpel überladen, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor und etwas fallen gelassen hätte. „Sehen sie?! Ich kann es ihnen beweisen. Schauen sie durch die Linse, dann sehen sie die dunkeln Schwaden, die hier liegen. Die Mauer wird schon bald zerstört sein. Wir haben vielleicht nur noch ein paar Monate.“ Albert hob ein goldenes, längliches, Rohr in die Höhe.


    „Aber Herr Windson. Das ist ein Fernrohr.“ Die Frau, die er angesprochen hatte, hieß Elisabeth Smith. Sie war schon etwas älter, vielleicht mitte fünfzig und hatte lange blonde Haare, die sie zu einem ordentlichen Dutt gebunden hatte. Wenn man sie so betrachtete, dann könnte man wohl sagen, dass sie genau das Gegenteil von Herrn Windson war.


    „Wie?“ Seine Augen wurden groß, als er entsetzt auf den Gegenstand auf seiner Hand sah. „Nein, nein, nein. Wo war es noch gleich?! Wo hab ich es nur gelassen?! Ich hatte es doch eben noch! Warten sie-.“ Für einen Moment verschwand er in seinem Haus. Sein Grundstück war von einem Zaun eingegrenzt. Allen Anschein hatte er schon ewig nicht mehr Rasen gemäht. Überall lagen Dinge auf den Boden. Eine Steintreppe führte zu seinem Haus hinauf. Auf der rechten Seite konnte Juli einen Teich erkennen, weiter hinten war ein Kreuz in die Erde geschlagen worden. In vielerlei Hinsicht repräsentierte das Anwesen seinen Herrn. Herr Windson brauchte nur ein paar Minuten, dann kam er mit einen anderen Stapel Gerümpel wieder und die Eingangstür würde erneut aufgestoßen. Er sammelte wohl immer noch alles Mögliche? Nicht umsonst war er auch als Messie bekannt. Gerüchten zufolge sollte sein Haus so voll mit Sachen sein, dass man kaum einen Schritt vor den anderen machen konnte, ohne dass man sich die Füße brach. Ob das stimmte, wusste Juli nicht. Sie war schon lange nicht mehr dort gewesen. „He, so warten sie doch Frau Smith.“ Aber Frau Smith wartete nicht. Stattdessen wandte sie sich seinem Haus ab, was ihn dazu veranlasste noch schneller zu rennen. Er überflog fast ein paar Stufen und dann kam es, wie es kommen musste. Er überschätzte sich, schrie einmal auf, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem lauten Knall auf den Boden. Blitzschnell griff nach einem schmalen Rohr und hob es in die Höhe. Es sah anders aus als das Letzte, hatte allerlei Verzierungen und auch die Linse sah trüb aus. Was ist denn das schon wieder für ein altes Ding? Juli konnte sich den Gedanken nicht verkneifen. „So warten sie doch!“ Aber Frau Smith dachte immer noch nicht daran, zu warten. Sie ging weiter ihres Weges, ohne ihm weiter eines Blickes zu würdigen, also begann er schnell die Sachen vom Boden aufzuheben. „Oje. Meine ganzen wertvollen Geräte.“ Sein Gesicht verzog sich und nahm einen Ausdruck des Entsetzten an. „Das ist eine Katastrophe. Eine Katastrophe sage ich euch!“ Aber dann blickte er nach oben, sah direkt zu Juli und Herrn Miller und seine Miene hellte sich augenblicklich auf. „Ich hab gehört das ihre Frau wieder Marmelade gemacht hat.“, plapperte der Alte plötzlich los. Er war ruckartig aufgestanden und stütze sich nun mit einem Ellbogen am Zaun ab. „Ich bekomme doch sicherlich auch ein oder zwei Gläser? Nicht?“ Der alte Herr Millers lachte und schmunzelte dann.


    „Da hat sich aber jemand schnell wieder eingekriegt Herr Windson. Sie sollen die Leute doch nicht immer so verschrecken.“ Albert rümpfte empört die Nase.


    „Wie?! Ich verschrecke niemanden. Aber was meinen sie? Frau Smith mag mich? Richtig? Ich habe doch bestimmt eine Chance bei ihr?“


    „Sie sollten sie endlich aufgeben. Die arme Frau. Haben sie nicht schon genug getan? Außerdem verlobt sie sich bald wieder.“ Für einen Moment hatte Juli das Gefühl, das die gesamte Farbe aus Herrn Windsons Gesicht wich, just in dem Moment, in der Herr Miller die unheilvolle Botschaft ausgesprochen hatte.


    „Verlobung. Ist das nicht etwas voreilig?!“, wisperte er ganz geistesabwesend, aber dann hörte sie ihn nach Luft schnappen. „Gut dann werde ich um sie kämpfen!“


    „Herr Windson. Das werden sie nicht, das wissen wir beide. Oder nein. Sehen sie das als einen nett gemeinten Ratschlag. Tun sie das nicht, oder wollen sie sich wieder blamieren? Hat letzte Woche nicht schon gereicht?“


    „Das war vor 3 Tagen Herr Anton Miller. Sie werden wohl langsam senil.“


    „Um Himmels Willen. Das haben sie nicht getan?!“ Herr Windson kratzte sich am Kopf, schüttelte dann den Kopf und seine Augen weiteten sich, fast so als ob er gerade eine Offenbarung gehabt hätte.


    „Nein. Wissen sie. Ich glaube es war doch letzte Woche. Mein Zeitgefühl ist wohl nicht mehr das Beste. Hier ist jeder Tag immer gleich, da vergisst man schnell mal welcher Wochentag eigentlich ist. Apropro Beste.“ Plötzlich hellte sich seine Miene erneut auf. „Sie geben mir doch bestimmt auch etwas von ihrer weltberühmten Marmelade?“


    „Natürlich. Selbstverständlich.“


    „Sehr gut.“ Wie schnell sich die Stimmung doch ändern konnte. Vor einen Moment schien Albert noch tief betrübt gewesen zu sein, jetzt strahlte er schon fast. So war es immer mit Herrn Windson, kannte man ihn allerdings nicht, so könnte das einen wohl schnell verschrecken. Er war schon ein seltsamer Kauz.


    „Wenn sie wie jeder andere zahlen“, sagte der Alte Millers.


    „Wie?! A-Aber“ Albert schnappte nach Luft, deutete auf Juli, die irritiert einen Schritt zurücktrat, als sie merkte, dass der Verrückte mit seinem Finger auf sie zeigte. „Die bekommt sie doch auch um sonst.“ Dann rückte er seine Brille zurecht und verengte seine Augen, die zu Schlitzen wurden. „Oh. Rosemarie. Du bist´s. Was macht deine Mutter so?“ Juli hatte kaum mit dem alten Kauz gesprochen. Offensichtlich hatte er ihre Anwesenheit jetzt auch bemerkt. Meistens war er es, der sie ansprach, nicht umgekehrt und so war es auch dieses Mal wieder. Sie wollte natürlich nicht mit ihn reden, aber er entdeckte sie jedes Mal, wenn sie das Pech hatte, das er etwas im Garten zu erledigen hatte.


    Wenn du nicht mit ihm redest, dann hört er irgendwann von selbst auf dich anzusprechen, hast du gehört Rosemarie?!“, hatte ihre Mutter ihr immer gepredigt. Leider war Herr Windson äußerst hartnäckig.


    „Ist deine Vorlesung den schon aus? Ich habe gehört du gehst jetzt zur Uni. Wie ist es dir denn so ergangen? Hast ja schon ewig nichts mehr von dir hören lassen.“ Albert hatte zwar nicht ihre Mutter, dafür aber durchaus Juli groß werden sehen, was die Situation nur noch peinlicher machte. Wieder veränderte sich Alberts Gesichtsausdruck und plötzlich wirkte er bitterernst. „Du solltest weg von hier gehen. Der Ort ist nicht sicher und-“ Alberts Rede wurde jäh von einem bitterbösen Blick seitens Herrn Millers unterbrochen.


    „Sie sollen dem Mädchen doch keine Angst machen.“


    „Angst?!“ Albert schien fast etwas gekränkt zu sein, ehe er irritiert zu Juli blickte. „Das war nicht meine Absicht.“


    „Nimm das nicht so ernst Rosemarie.“ Herr Antons Stimme war sanftmütig und weich.


    „Wie-“, aber da fiel Herr Millers Herrn Windson erneut ins Wort.


    „Wir könnten sie oben auf die Liste setzten, wenn sie das wollen. Meine Frau macht heute noch ein paar Gläser, dann können sie sie noch warm abholen.“ Herr Miller warf Juli einen flüchtigen Blick zu.


    „Das würden sie tun?!“ Herr Windson hatte sich nun vollkommen der Unterhaltung mit Herrn Miller zugewandt. Verschwinde, solange es noch geht. Sie verstand, was er damit bezweckte. Juli trat einen Schritt zurück, dann noch einen, drehte sich um und kehrte den beiden schnell den Rücken.


    „Auf wiedersehen!“, schrie sie. Albert drehte seinen Kopf in ihre Richtung und wollte ihr noch etwas zurufen, aber sie war bereits außer Hörweite. Dennoch bildete sie sich ein, seinen Blick in ihren Nacken zu spüren und beschleunigte ihre Schritte. Niemand redete mit Herrn Windson. Er war verrückt und erzählte wilde Geschichten über das Ende der Welt. Er hatte den Verstand verloren und niemand wusste, was mit ihm verloren gegangen war. Am besten man beachtete ihn nicht. Er war nicht gefährlich, nur wahnsinnig. Dennoch tat der alte Kauz ihr leid.



    ~+~



    „Bin wieder da.“ Sie zog sich die Schuhe aus, ehe sie ihren Blick zu Seite schwenkte. Auf dem Bild an der Wand waren drei Personen zu sehen. Ihr Vater, ihre Mutter und sie selbst, an den Moment, in dem das Foto geschossen wurde, konnte sie sich allerdings nicht erinnern. Sie war damals noch ein Baby gewesen, und ihr Vater zu früh gestorben, als dass sie sich noch daran erinnern könnte. Irgendein Arbeitsunfall. Sie hatte ihn nie gekannt. Selbst dann nicht, wenn ihre Mutter von den vielen Ausflügen, den Erlebnissen, die sie zusammen erlebt hatten, erzählte. Sie erinnerte sich nicht daran. Für sie war er nur er irgendein fremder Mann mit dunklen, struppigen Haaren, den sie nie kennen gelernt hatte. Dennoch fragte sie sich manchmal, wie er wohl so gewesen war. Ob ich ihm ähnlich bin?, dachte sie und legte den Kopf schief. Einmal sollte er sie auf die Schulter genommen haben und sie hatte sofort angefangen zu schreien. Ihre Mutter hatte ihn ausgelacht, ehe sie Juli von seinen Schultern gehoben hatte. Das Ganze soll ihm so peinlich gewesen sein, dass er rot wie eine Tomate angelaufen sein soll. Julis Mutter hatte ihn noch lange damit aufgezogen. Stimmte das? War er so unbeholfen gewesen? Ihr Blick blieb an dem Spiegel im Flur hängen. Geh einfach weiter Juli, sagte sie immer wieder zu sich selbst, aber jedes Mal, wenn sie vorbeiging, blieb sie stehen und betrachtete ihr eigenes Spiegelbild. Das Mädchen vor ihr hatte über das ganze Gesicht Sommersprossen verteilt. Ihre Nase war flach, während die Position ihrer Augen seltsam unsymmetrisch war. Die Gestalt Spiegel hatte lange braune Haare. Jeden Tag verbrachte Juli mindestens eine Stunde, um sie im Griff zu bekommen, nur damit sie so aussahen, wie sie aussahen. Sie waren das Einzige, was Juli an sich selbst mochte.


    Sie ist nicht schön, aber sie hat ein gutes Herz“, sagte ihre Nachbarin oft. Was bringt mir ein gutes Herz? Niemand braucht jemand mit einem guten Herzen.


    Sie hasste den Namen Rosemarie. Deswegen hatte sie sich vorgenommen von nun an nur noch Juli genannt werden zu wollen. Sie wollte einfach mehr sein als nur Froschmarie. Jemand mit einem guten Herz, aber sonst auch nichts.


    „Essen steht auf dem Tisch.“ Eine dumpfe Stimme riss sie aus ihren Gedanken. War das ihre Mutter? Eilig hastete sie durch den Flur ins Wohnzimmer und erkannte sofort, wer es sich auf einen Stuhl bequem gemacht hatte. Sie war über ihren Laptop gebeugt und blickte nicht auf, als sie das Zimmer betrat. Viele sagten ihr oft, dass sie und Josefine sich überhaupt nicht ähnlich sähen. Sie hatte dunkle lange blonde Haare, die offen über ihre Schultern vielen und außerdem ein recht hübsches Gesicht das nur von ein paar Falten gezeichnet war. Juli sah zu dem Tisch, auf den bereits eine Schale mit Reis stand und Enttäuschung machte sich in ihr breit, obwohl sie genau wusste, dass es nicht angebracht war.


    „Keine Soße?“, murmelte Juli.


    „He. Sei nicht so wählerisch.“ Juli verzog erst das Gesicht, grinste dann aber, ehe sie schnell ein paar Zutaten aus dem Kühlschrank hervor brachte. „Dann mach ich uns jetzt etwas. Zucchini oder Curry, was ist dir lieber?“ Ihre Mutter reagierte nicht. Sie schien auf irgendetwas auf ihren Bildschirm fixiert zu sein. Wahrscheinlich irgendein Auftrag.


    „Gut, dann mach ich uns Zucchini.“


    „Mhm.“ Eilig stellte Juli die Zutaten in einer ordentlichen Reihe auf und begann mit den Vorbereitungen.


    „Du scheinst ja echt viel um die Ohren zu haben. Ist immer noch so viel los? Es muss doch endlich mal ein Ende in Sicht sein.“


    „Ich befürchte leider nicht. Scheint wohl gerade eine Grippewelle rumzugehen.“ Ihre Mutter stütze ihren Kopf mit einer Hand ab, ehe sich ihre Augenbrauen krauszogen. Eine Grippewelle? Hoffentlich würde sich die Juli nicht auch noch holen. Das war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Um ihre Mutter machte sie sich allerdings noch viel mehr Sorgen. Sie schien sie gar nicht weiter zu beachten. Die letzte Zeit war sehr stressig für sie gewesen und das hatte sich auch auf ihre Nerven ausgewirkt. Sie schien ständig nervös zu sein, wirkte geradezu rastlos. Ob das wohl wieder besser werden würde, sobald die Engpässe wieder nachließen? Bestimmt. So muss es einfach sein. Ihre Mutter neigte dazu, es zu übertreiben. Richtig, Juli hatte es fast vergessen. „Achja. Ich soll dir einen schönen Gruß von Herrn Miller ausrichten. Er macht sich Sorgen um dich. Er denkt wohl du würdest dich wieder überarbeiten.“ Juli war gerade dabei die Zucchini mittels einer Reibe in kleine Stücke zu raspeln. Ihre Mutter sah nicht einmal auf.


    „Ich bin erwachsen. Ich weiß schon was gut für mich ist. Er soll sich nicht immer solche Sorgen machen.“ Dass sie das sagte, änderte nichts daran, dass man sich trotzdem Gedanken machte. Das war schon damals so gewesen, als Julis Vater gestorben war. Sie hatte niemals um Hilfe bitten müssen. Vielleicht weil sie sich schon immer um ihre Mitmenschen gekümmert hatte. Sei es bei einer Steuererklärung, den Einkauf oder anderen Sachen. Als Juli noch klein gewesen war, war Herr Anton öfter vorbeigekommen und hatte auf sie aufgepasst, während ihre Mutter ihr Abitur in der Abendschule nachgeholt hatte. Aber Herr Miller war nicht der Einzige gewesen. Manchmal hatte sie das Gefühl vom ganzen Dorf großgezogen worden zu sein. Nur Albert, den konnte ihre Mutter nicht ausstehen. Wieso wusste sie selbst nicht so genau. Irgendwas war zwischen den beiden vorgefallen. Wie gut das sie ihrer Mutter nicht von heute erzählt hatte. Sie würde ihr bestimmt wieder eine Predigt halten, dabei war sie bereits viel zu alt für so etwas. „Wie war die Uni so?“


    „Die Uni?“ Ihr Herz machte einen Satz. Im Hintergrund konnte sie das Fett brutzeln hören, als sie vorsichtig erst Milch, dann Sahne in die Pfanne goss. „Ach die.“ Nicht doch, ihre Mutter sollte nicht auch noch von ihren Problemen Wind bekommen. Sie hatte schon genug um die Ohren. „Prächtig. Ging noch nie besser. Aber mal ehrlich, wie geht es dir so auf der Arbeit?“


    „Ich arbeite von zuhause Schatz. Schon seit einer Woche. Ist alles in Ordnung?“ Hastig stocherte Juli in der Mischung aus Zucchini, Milch und Sahne herum und versuchte, den Blick ihrer Mutter zu meiden.


    „Natürlich. Ich-. Ich bin nur etwas durch den Wind. Da ist wieder so ein Projekt und ich weiß einfach nicht, wie ich weiterkommen soll.“


    „Dann geh doch in die Bibliothek. Da findest du bestimmt etwas.“


    „Richtig.“ Juli zwang sich zu dem größten falschen Lächeln, wie es ihr nur möglich war. „Brillante Idee. Dass ich darauf nicht selbst gekommen bin. Du bist ein Genie. Das werde ich machen. Aber jetzt-. Oh-.“ Nein. Dieser stechende Geruch. Habe ich etwa-, schoss es Julie durch den Kopf und sie rümpfte die Nase.


    „Schatz, das riecht aber nach angebrannter Milch.“ Ja. Und es stank barbarisch. Blitzschnell schob sie die Pfanne von der Flamme, aber der Schaden war bereits angerichtet.


    „Oh nein.“, stotterte sie. Vor ihr lag ein Schlachtfeld und sie wusste nicht, wie sie das je wieder in Ordnung bringen würde. Juli sog scharf die Luft ein.


    „Da isst jemand heute wohl doch Reis ohne Soße.“ Der angebrannte Belag von der Pfanne, er ging einfach nicht mehr ab. Mit einer flinken Bewegung griff sie nach einem Topfreiniger und schrubbte über die Oberfläche. „Mach die Beschichtung nicht kaputt. Tu einfach etwas Spülmittel in die Pfanne und fülle sie dann mit Wasser. Das wirst du nicht so schnell wegbekommen. Ich glaube ich werde mich dann wohl ins Schlafzimmer verdrücken.“ Richtig. Es war erstaunlich, wie viel ihre Mutter mitbekam, ohne auch nur ein einziges Mal von ihrem Bildschirm aufzusehen.


    „Mach ich.“ Juli war gerade im Begriff die Pfanne mit Wasser zu füllen. Ihre Stimme klang gehetzt. Mit ihrer flachen Hand fegte sie eilig die Reste der Zucchini in einen Müllbeutel. „Tut mir leid. Morgen mach ich uns was Richtiges. Versprochen.“ Immer wieder huschten ihre Augen zur Uhr.


    „Willst du wieder in den Garten?“


    „Hmm, ja. Ich würde gerne noch da sein, bevor es dunkel wird. “


    „Dann geh schon. Der Abwasch läuft dir nicht davon. Aber pack dir wenigstens noch was ein. Du isst zu wenig.“ Das musste sie gerade sagen. Statt etwas zu erwidern, nickte Juli allerdings nur stumm. Schon 16 Uhr. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sich ihre Augen weiteten. Wie war die Zeit so schnell vergangen?


    „Ich-Ich muss dann mal los.“


    Gezielt griff sie nach ihren gelben Gummistiefeln und roten Regenmantel. Für einen flüchtigen Moment sah sie aus dem Fenster in den Flur. Der Himmel hatte sich grau gefärbt, was normalerweise kein gutes Zeichen war. Ganz besonders wenn der Wetterbericht heute noch Regen angesagt hatte.


    „Bleib nicht zu lange weg!“, hörte sie ihre Mutter noch sagen, da viel die Wohnungstür auch schon in ihre Angeln.



    ~+~



    Sie konnte das Plätschern des Baches, das Heulen des Windes hören und dann spürte sie auch schon die ersten Tropfen auf ihrer Haut. Regen. Sie zog ihre Kapuze tiefer, dennoch konnte sie nicht verhindern wie einzelne Haarspitzen ihres dunkelbraunen Haares, nass wurden. Sie hätte eine Matschhose anziehen sollen, nicht ihre Latzhose, die sich an den Stellen mit Wasser vollsog, wo sie nicht von dem roten Regenmantel bedeckt war. Aber so ein bisschen Regen machte ihr nichts. Bei einem Sturm sah die Sache allerdings schon etwas anders aus. Der Letzte hatte einen verehrenden Schaden angerichtet. Manche Wege waren immer noch von umgefallenen Bäumen blockiert, manche Dächer immer noch abgedeckt. Einmal hatte es auch mal das Haus ihres Wohnkomplexes erwischt. Bis die Handwerker den Schaden beseitigen konnten, war schon der nächste Sturm aufgezogen. Mai war kein guter Monat, für niemanden. Je weiter sie dem Feldweg folgte, desto weiter rückten die Häuserreihen auseinander. „Jemand soll vor kurzen hierhergezogen sein.“ Juli erinnerte sich wieder an das Gespräch ihrer Kommilitonen. Das Haus. Sie blieb stehen. War das nicht – Richtig. Sie sah zu dem großen Gebäude, das zu ihrer Linken lag. Eine Treppe führte zu dem Anwesen hinauf. Laternen zierten den Weg. Konnte das sein? Es war mit allen unterschiedlichen Farben gestrichen, an einem Eck gelb, dann rot, dann blau, völlig ohne Ordnung. Die Fenster waren rund, viereckig, hatten alle möglichen Formen und Größen. Mehrere Schornsteine, ein kurzer und ein langer, ragten aus dem Dach. Vereinzelt konnte sie Erker erkennen. Das Haus bestand sowohl aus einen runden als auch einem viereckigen Komplex. Auch die Dächer waren nicht einheitlich gebaut worden. An einer der Dächer schien eine Leine befestigt worden zu sein, die zu einer Art Dachterrasse führte. Waren das Kleidungstücke, die dort hingen? Vor ein paar Monaten war hier noch eine Baustelle gewesen. Das Haus wurde, kurz bevor Juli geboren wurde, von irgendjemanden angefangen, allerdings nie fertig gestellt. Seitdem stand Rohbau hier fast wie eine Ruine aus alten Zeiten. Sie hatte es nie anders gesehen. Niemand hatte sich darum gekümmert und noch viel weniger hatte es irgendjemanden gekümmert, ob es je fertig gestellt wurde. Sein Besitzer war einfach verschwunden und nicht mehr wieder gekommen. Früher hatte ihr einmal jemand erzählt, dass dort Geister hausen würde oder das das Anwesen verflucht wäre. Natürlich glaubte sie das nicht. Es war nur eine Geschichte gewesen, die sich damals die Erwachsenen ausgedacht hatten, um ihre Kinder von dem maroden Bauwerk fernzuhalten. Ein seltsamer Gedanke, dass jemand ausgerechnet hier wohnen wollte. Ein junger Mann, der das Haus von seinem Großvater geerbt hatte. Ein Creep der hier durch die Gassen zog. Mit einem Male klangen die Gerüchte immer plausibler. Man sollte ihn dabei beobachtet haben, wie er anderen nachstellte. Einmal sollte er sogar mal eine Gruppe von Mädchen beobachtet haben. Ein sehr skurriler Typ, und zwar nicht auf die Art und Weiße wie Albert skurril war. Juli kannte die Gerüchte schon, bevor sie ihren Studiengang überhaupt erreichen, hätte können. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken. Sie sah hastig zu einem der runden Fenster und bildete sich aus Paranoia ein, dort jemanden stehen zu sehen. Aber dort war niemand. Beruhige dich. Diese seltsame Unruhe verließ sie nicht, selbst als sie dem Anwesen bereits den Rücken zugedreht hatte. Wie schräg, dachte sie.



    ~+~



    Endlich hatte sie den Wald erreicht. Sie folgte den Weg, bis sie schließlich kleine Lichtung erreichte. Ein Schuppen, ein kleines Beet und ein paar Töpfe mit Pflanzen, die an der Wand des Schuppens gelehnt waren, zeichnete sie aus. Ihre Mutter hatte einmal ein kleines Grundstück gekauft. Sie hatten selbst nie einen Garten gehabt, aber, so sagte sie, ein Kind brauchte einen Ort, wo es sich austoben konnte. Wie albern. Die meisten der Grundstücke am Stadtrand gehörten bereits Bauern, deshalb hatten sie sich damals gemeinsam für ein Stück Wald entschieden. Josefine hatte noch nie viel Zeit gehabt, das war schon so gewesen, als Juli noch ganz klein gewesen war, aber manchmal da war sie mit ihr zu dem Grundstück gegangen. Irgendwann hatte Juli begonnen ein Beet anzulegen. Oder nein, eigentlich war es ihre Mutter gewesen, aber die hatte irgendwann keine Zeit mehr gehabt und seitdem lag es an ihr sich um die Pflanzen zu kümmern. Das Grundstück selbst war nicht eingezäunt, aber jeder wusste, dass es ihrer Familie gehörte. Bis jetzt hatte das nur selten zu Problemen geführt und meistens waren es Kinder gewesen, die etwas vom Beet stibitzten. Vielleicht sollte Juli doch mal einen Zaun aufstellen? Ein Knacken. Hastig sah sie sich um. Juli sog scharf die Luft ein. Etwas knackte im Hintergrund. Jemand ist hier. Unsinn. Sei nicht albern. Nein. Hier war jemand. Da war es wieder, dieses Gefühl. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Jetzt war sie sich sicher. Ihre Hände zitterten. Ihr wurde warm und kalt zugleich. Dort stand jemand. Jemand stand hinter ihr. Ihre Muskeln spannten sich an, wurden zu einer Faust. Sie drehte sich um. Nein. Das ist nicht möglich. Ihre Augen weiteten sich. Ihr Puls raste. Noel O´ Neil. Die leichenblasse Haut, die stechend grünen Augen und der dunkle Schatten der Teile seines Gesichts verdeckte. Er war der Creep, von dem jeder sprach.


    „Guten Abend“

  • >>Kapitel II Noel<<


    Juli


    „Guten Abend.“


    „Du!“ Sie sog scharf die Luft ein, ehe sich jeder einzelne Muskel in ihrem Körper anspannte. Wie war sie nur in diese Situation geraten?! Ist das mein Ende? Sie hatte noch so viel erleben wollen. Nein, es konnte nicht einfach so vorbei sein! Wieso nur?! Ihr Herz pochte, als sie schon fast mechanisch zurückwich. Das ist nicht fair. Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke. Ihr Atem wurde flach. Jetzt oder nie. Mit einer einzigen schnellen Bewegung holte sie zum Schlag aus. Adrenalin pumpte durch ihre Venen. Sie brauchte nur Zeit – nein Sekunden, Sekunden würden genügen. Schnell weg von hier. Doch sie war zu ungelenk. Ihr Schlag landete ins Leere. Sie stolperte zurück, verlor beinahe das Gleichgewicht. Das Beet hinter ihr brachte sie ins Straucheln. Wollte er ihr etwas antun? Sie wagte es nicht einmal, ihren Kopf zu heben. Er hat dich. Jetzt hat er dich. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie das Gefühl hatte, es würde gleich in Stücke zerrissen werden. Noels Augen waren geweitet, seine Mundwinkel nach unten gehuscht. Was-?


    „W-Was sollte das denn bitte werden?!“, hörte sie eine Stimme, die einen Schrei glich. Sie zuckte zusammen.


    „Was?“ Sie wich weiter zurück. Dieser Noel redete mit ihr. Um Himmelswillen. „Bist du wahnsinnig geworden? Du hättest mich fast erwischt.“ Noel O´Neil. Er hatte schulterlange, platinblonde Augen, die fast schon penibel auf die gleiche Länge geschnitten worden waren und einen Kontrast zu seinen grünen Augen bildeten. Sein Teint war blass. Leichenblass. Er trug er einen braunen Mantel, einen blau, weiß gestreiften Pullover und eine blaue Jeans. Tatsächlich sah er auf dem zweiten Blick zwar merkwürdig, allerdings nicht wie ein Creep aus. Sie hatte ihn sich ganz anders vorgestellt, dachte, er wäre größer, vielleicht etwas blasser mit dunklen Augenringen, einem kantigen Gesicht und Augen, die so tief in seinen Augenhöhlen verborgen wären, dass sie als dunkle Löcher in seinem Gesicht zum Ausdruck kommen würden. Wie ein Monster in Menschengestalt. Ein beklemmendes Gesamtbild. Aber er war nichts davon. „He! Wolltest du mich gerade umbringen?! Ich rede mit dir.“


    „Oh.“ Richtig. Sie hatte nach ihm geschlagen. Jetzt sah sie abwechselnd zu ihrer geballten Faust und Noel hin und her. Ihr war nicht einmal bewusst gewesen, dass sie dazu überhaupt in der Lage war.


    „Du. Du bist ja gar kein Creep“, stammelte sie. Jetzt musste sie fast schmunzeln. Hier passierte doch sonst nie etwas. Wer hätte den ahnen können, dass - nein - sie musste echt dumm gewesen sein, dafür gab es keine Ausreden. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie ausgerechnet ihm über den Weg laufen würde. Sei wachsam. Juli horchte auf und riss ihren Kopf nach oben.


    „Ein Creep?! Ich?! W-Wer hat das denn bitte gesagt?!“ Noel schnaubte und sah erst zu ihr, dann in Richtung der Stadt. „Ich-Ich bin kein Creep. Oje, scheiße. Sag, wie lange erzählt man sich schon diese haltlosen Gerüchte über mich? Natürlich! Ich bin so blöd!“ Sein Blick glich einem Flehen. „He! Du musst mir glauben ich bin doch nicht-!“ Was jetzt? Er war unheimlich. Noel verzog das Gesicht und schien über etwas nachzudenken. „Nicht gut. Alle denken jetzt ich wäre-. Aber was soll ich-. Ich habe doch niemanden etwas...aber, dass macht doch überhaupt keinen Sinn!“ Noel beendete keinen einzigen seiner Sätze. Ein Bündel wirrer Wörter sprudelten aus seinem Mund. Er ging auf und ab und sah immer wieder flüchtig zu Juli, dann nickte er stumm, fast als ob ihm gerade etwas offenbart worden wäre. Juli war sichtlich irritiert. „Deswegen meiden mich also alle. Darauf hätte ich wohl selbt kommen können. Nicht?“ Redete er mit ihr, oder mit sich selbst? Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. Vielleicht sollte sie jetzt abhauen, ganz heimlich ohne dass dieser Mann namens Noels es bemerken würde. „He du!“ Juli zuckte erneut zusammen und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück.


    „Ich?“


    „Genau.“


    „Hm?“


    „Auf gute Nachbarschaft.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer lachenden Fratze. Wie skurril. Er streckte ihr eine Hand entgegen, die sie entgeistert anstarrte. Was sollte sie jetzt tun?


    „Wie?“


    „Na wir sind ja jetzt immerhin so etwas wie Nachbarn.“


    „Wir sind was?!“ Wovon spricht er?!, schoss es in ihren Kopf. Ihr Herz pochte ganz laut. Der Kerl war echt seltsam. Was hatte er nur vor? Nachbarn? Meint er etwa-. „Ich wohne doch nicht hier.“ Jetzt musste sie doch schmunzeln. Ein gezwungenes Lachen. „Oder meinst du etwa man kann in dem kleinen Schuppen da leben?“ Noel sah sie verdutzt an, ehe er ganz schnell seinen Blick abwandte.


    „Das-“, murmelte er und wich ihrem Blick aus. „Das wusste ich natürlich. Wer würde denn schon, ich meine... Was ich eigentlich sagen wollte...gestern habe ich mich im Wald mal genauer umgesehen und bin auf das Grundstück hier gestoßen. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es jemand gehören muss. Außerdem-!“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Woran dachte er nur wieder? „Ich habe den ein oder anderen kennen gelernt der in so einen Schuppen, wie du es nennst, gelebt hat. Also-.“ Noel kam ins Stocken. Wovon redete er nur? Vielleicht hatte er sich den Kopf gestoßen? Jetzt machte sie sich doch Sorgen, allerdings nicht um sich selbst. Sein Blick wanderte von ihr, zu der Hütte am Rande des Grundstückes, dann wieder zu Juli zurück. „Sag mal, du denkst doch nicht-.“


    „Nein.“, fiel sie ihm ins Wort. Für einen Moment trat Stille ein. „Vielleicht.“ Sie hatte ihn wirklich für unheimlich gehalten. Das hatte er sie doch fragen wollen? Aber wie sie ihn so auf einer Stelle tretend sah, da kam sie sich albern vor.


    „Ich schwöre dir Juli, ich würde nicht...ich meine...also-.“ Für einen Moment hielt er inne, ehe er wieder seinen Mund öffnete. „Schade eigentlich. Ich meine hier wohnt sonst niemand. Ich hatte mich fast schon gefreut einen Nachbarn zu haben. Aber da kann man wohl nichts machen“, seufzte Noel.


    „Du bist echt seltsam.“


    „Wieso? Ich? Also angenommen ich wäre schräg. Was wäre denn so schlimm daran?“ Juli starrte ihn an und legte den Kopf schief. Richtig, darüber hatte sie noch gar nicht so recht nachgedacht.


    „Sag mal-“, diese Frage hatte ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge begrannt, „was hat es eigentlich mit dem Haus auf sich? Gehört das deinem Großvater?“


    „Hm?“


    „Na das mit den zwei Schornsteinen. Du weißt schon, das Bunte.“


    „Ach, du meinst mein Haus? Ja, könnte man so sagen. Er hat es mir vermacht und seit dem wohne ich darin. Das ist alles. Aber echt mal, hier kommt nie jemand vorbei. Ich wollte ja schon öfters mal jemanden ansprechen aber-.“


    „Ich glaube du machst den Leuten Angst“, beendete sie seinen Satz.


    „Oh.“ Eine Pause setze ein. „Das...du könntest Recht haben. Du bist klug.“ Zufrieden nickte er. „Dabei wollte ich nur etwas fragen. Die Leute hier sind echt schreckhaft.“ Weil nie jemand freiwillig hierherzieht, Noel. Du bist eine Anomalie. Menschen schätzen keine Anomalien. Mit einem Male wurden seine Augen groß. Irgendetwas schien in seinen Kopf zu rattern. „Wie soll ich denn so in Kontakt mit anderen Menschen kommen?! Das ist, das ist ja eine Katastrophe. Eine Katastrophe sag ich dir!“ Er presste beide Hände an seinen Schädel und schüttelte den Kopf. Seine Haare zerzausten. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. So dramatisch.


    „Du bist echt nicht oft unter Menschen?“ Noel hob langsam den Kopf.


    „Könnte man so sagen. Merkt man mir das so sehr an? Städte sind nicht so meins. Ich lebe lieber etwas Außerhalb. Mein Großvater wohnt nicht hier und den Rest meines Lebens habe ich, sagen wir es so, in nem ziemlich Gott verlassenen Kaff gelebt. Mit den anderen meines Jahrgangs habe ich mich nicht sonderlich gut verstanden. Und ich schwöre dir, dort leben die Menschen wirklich in kleinen Hütten. Das habe ich mir nicht eben ausgedacht.“ Mit einem Finger zeichnete er ein Haus in die Luft. Nicht gut verstanden? Was er wohl damit meinte?


    „Sie haben dich einen Exzentriker genannt, oder?“ Hatte sie das gerade wirklich laut gesagt?!


    „He.“ Er sah sie vorwurfsvoll an, rümpfte die Nase, lächelte dann aber. „So etwas in der Art. Wir waren einfach nicht auf einer Wellenlänge. Und du?“


    „Hm?“ Was sollte sie antworten. Sollte sie überhaupt etwas antworten? „Ich, ich denke ich komme klar.“ Das war gelogen. Sie biss sich auf die Lippe und sah auf den Boden. Jetzt schwiegen sie beide. Jemand begann zu lachen. Nein. Sie lachte. Hör auf. Juli konnte nicht aufhören. Das war doch absurd.


    „Was ist?“


    „Sag mal? Also, dass mag jetzt albern klingen, aber ich habe über dein Haus nachgedacht. Es sieht, nunja-.“


    „Gefällt es dir? Ich weiß, es ist schon ein Prachtstück.“ Noel grinste breit. Seine Miene hatte sich aufgehellt und seine steife Haltung lockerte sich.


    „Sag mal, was hat dich eigentlich dazu veranlasst zwei Schornsteine einzubauen?“


    „Ach das?“ Mit einem Lächeln winkte Noel ab. „Sieht doch hübsch aus, findest du nicht?“ Wie? Das war also sein Grund?! Sie hatte an etwas Tiefsinnigeres gedacht. „Oder wieso sollte man sonst einen zweiten Schornstein einbauen?“


    „Oh. Natürlich.“ Mittlerweile war es dunkel geworden. Der Himmel hatte sich schwarz gefärbt und der Mond stand bereits hoch oben. Von ihrem Garten waren nur noch Silhouetten zu erkennen. Schemenhafte Andeutungen von dem, was hier eigentlich stand. Kleine Kreaturen, die ihre Köpfchen zum Licht reckten. Er grinste wieder und sah zu den Sternen hoch, die mittlerweile den Himmel schmückten. Helle Flecken in einem Meer aus pechschwarzer Tinte.


    „Siehst du. Jetzt gibst du mir sogar recht.“ Einen Moment sah er in eine andere Richtung. Es entstand eine kurze Pause, ehe er erneut den Mund aufmachte. Dabei nestelte er an seinem Mantel. „Da gibt es noch was, dass ich dich fragen wollte. Du studierst doch? Ich habe dich einmal in der Stadt gesehen. Du bist dort in dieses große Gebäude gegangen, das mich irgendwie an eine Bibliothek erinnert hat. Wie hieß das noch gleich? Uni? Ich-. Ich meine...ich wollte eigentlich nur fragen, ob man sich einfach in eine Vorlesung setzten darf? Ich weiß, ne ziemlich bescheuerte Frage? Nicht?“ Mit einem verträumten Blick sah er in die Welt. Woran er wohl gerade dachte? „Es gibt da... so einiges das ich gerne nachholen würde. Wie du ja bereits gemerkt hast, bin ich etwas...nun...also-. Ich bin nicht gerade der Hellste, was manche Themen angeht und ich würde gerne neue Dinge lernen. Mein Wissen erweitern. Verstehst du? Aber andere fürchten mich. Verrückt?“


    „Du meinst die Universität? Klar. Da kann jeder rein. Aber willst du dich nicht einfach anmelden? Sie nehmen fast jeden. Zumindest wenn du ein Abitur hast. “ Deswegen hatte er also die Gruppe Studenten beobachtet?


    „Echt?! Das ist ja wunderbar!“ Seine Augen funkelten, doch dann schüttelte er erneut den Kopf. „Nein. Ich glaube nicht, dass sie mich nehmen würden. Aber einfach nur in der Vorlesung zu sitzen, würde mir auch schon reichen.“ Er drehte sich zu ihr und lachte. „Jedenfalls danke nochmal. Oh, wo wir schon mal dabei sind-“, sein Blick wanderte zu den einzelnen Tannen und Laubbäumen, „hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang? Ich bin erst vor kurzem hierhergezogen, also kenne ich mich hier noch nicht so gut aus. Deswegen wäre das die perfekte Gelegenheit die Gegend etwas zu erkunden. Ist doch eine wirklich tolle Idee findest du nicht Juli? Ich findest sie jedenfalls toll. Ich muss wohl ein echtes Genie sein.“ Juli blinzelte. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Wer sagte den so was?


    „Kennst du die Gegend denn gut genug?“ Sie legte den Kopf schief. Was dachte er sich nur dabei? Du bist seltsam. Echt schräg. Verschroben. Sie grinste, als er die Hände gegen die Hüfte stemmte.


    „Nein. Keinen Plan. aber“, er lachte. „so ist es doch am interessantesten? Nicht?“


    „Normalerweise gehe ich aber nicht mit Fremden mit“, scherzte sie nur halb.


    „Wie gut das wir jetzt keine Fremden mehr sind.“


    „Hm.“ Sie zögerte. Soll ich? Was sollte es schon schaden? „Dann lass uns mal gehen.“ Sie kannte den Wald wie ihre Westentasche, oder zu mindestens Teile davon. Dem Weg, dem sie folgten, führte sie einen Hügel hinauf. Wie sie den Trampelpfad entlang gingen, rückten die Baumreihen näher und näher aneinander.


    „Du warst hier schon oft, nicht?“


    „Ja als Kind. Früher habe ich oft mit Freunden im Wald gespielt.“


    „Das muss toll gewesen sein.“ Er war gerade damit beschäftigt einen Ast zur Seite zu schieben, stellte sich dabei allerdings so ungeschickt an, dass ihm der Ast ins Gesicht zurück peitschte. Juli, konnte gerade noch so ein Lachen unterdrücken, da übersah sie selbst eine dicke Wurzel, und knallte auf den kalten, feuchten Waldboden. Sie konnte die Erde in ihren Mund schmecken. Dunkle Flecken säumten ihren roten Mantel. Widerlich. Zu allem Überfluss lachte Noel auch noch. Pff, dachte sie, sah dann aber zu Noel hoch. Er reichte ihr eine Hand, aber die würde sie nicht annehmen. Stattdessen streckte sie ihm die Zunge raus. Wahrscheinlich sah er es nicht mal. Du bist so ein Kind Juli. „Ich beneide dich ja ein wenig“, hörte sie ihn sagen.


    „Weil ich in einem Wald gespielt habe?“


    „Nein, weil du Freunde hattest mit denen du in diesem Wald spielen konntest.“


    „Oh hattest du die nicht? Ich meine das tut mir leid ich-.“ Was war sie nur für ein Trampel?!


    „War nur ein Scherz.“


    „Hey. Idiot. Ich habe dir geglaubt. Ich-.“ Am liebsten hätte sie ihn in die Seite geboxt. Jetzt schwiegen sie beide. Juli hasste Pausen in Gesprächen, deshalb konzentrierte sie sich auf den Weg vor ihr. Gestrüpp, Äste und ein glitschiger, matschiger Boden lag vor ihr und bildeten einen Trampelpfad. Für eine Weile gingen sie einfach nur hintereinander her, ohne dass einer der beiden etwas von sich gab. Es war Noel, der zuerst wieder zu sprechen begonnen hatte.


    „Sag mal-.“ Er sah geradeaus, als sie ihren Kopf zur Seite drehte. „Wusstest du das etwa 4,5 – 5, 5 Liter Blut durch einen Menschen fließen? Unglaublich, nicht? Blut besteht zu 50% aus Wasser, der Rest zu großen Teilen aus festen Bestanteilen wie Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten.“ Was? Sie öffnete ihren Mund, doch ihre Worte blieben ihr im Hals stecken. „Oh.“ Schnell wandte er seinen Blick von ihr ab. „Tut mir leid.“ Eine unangenehme Stille trat ein.


    Plötzlich, wie aus dem nichts blieb er stehen. Rührte sich nicht mehr, während sie nichts ahnend weiter gegangen war und beinahe in ihn rein gekracht wäre.


    „Was?!“, japste sie. Sie standen vor einer großen Mauer. Juli war noch nie so nah dran gewesen. Ihre Mutter hatte es ihr als Kind verboten und als Erwachsene hatte sie nie den Drang gespürt, etwas daran zu ändern. Wieso? Darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. Die Mauer zäunte ihre ganze kleine Welt ein. Sie war so ein alltäglicher Anblick, verschmolz regelrecht mit der Umgebung, war schon immer hier gewesen, schon seitdem sie denken konnte. Sie kannte weder Anfang noch Ende, noch wusste sie, ob die Mauer so etwas überhaupt hatte. Da war dieses seltsame Gefühl. Sie konnte es selbst nicht beschreiben. Ein Gefühl des Unwohlseins. Richtig. „D-die Mauer.“


    „Sie ist tatsächlich so hoch wie man sich erzählt. Schon erstaunlich. Ich frage mich ja wie sie die so hinbekommen haben.“ Seine Augen waren groß geworden, wie die eines Kindes, der sein neustes Spielzeug in die Finger bekommen hatte. „Hast du sie schon mal von so nahem gesehen? Ich habe sie von ganz unterschiedlichen Dörfern gesehen, von Städten oder vom Land, aber irgendwie sieht sie überall gleich aus. Ist das nicht seltsam?“ Er schien nicht eingeschüchtert zu sein, vielmehr wirkten seine Augen wach. Eine verspielte Neugierde spiegelte sich dort wider.


    „Sag mal-.“ Sie schluckte. Ihre Hände zitterten. Man sprach nicht über die Mauer. Niemand sprach über die Mauer. Es war fast so, als ob die Menschen ihre Existenz ausblenden würden. Hier passiert nie etwas. Was wohl-., formte sich ein grotesker Gedanke, der immer mehr Form annahm. „Meinst du...meinst du, dass sie etwas verbergen wollen? Dass hinter der Mauer etwas liegt das wir nicht sehen sollen?“ Ihr Hals war ganz trocken. Wieso pochte ihr Herz plötzlich so laut? Allein der Gedanke machte ihr eine heiden Angst. Trotzdem sah sie zur Wand hinauf in den Himmel. Was wenn-.


    „Ich weiß es nicht. Das kann ich dir beim besten Willen nicht beantworten. Lass uns noch etwas weiter gehen. Hast du noch Lust?“ Seine Stimme klang gelassen, fast etwas abwesend. Hatte sie etwas Falsches gesagt?


    „Wieso?“


    „Ich habe mich nur etwas gefragt.“ Mit schnellen Schritten folgte er dem Weg entlang der Mauer, nur um dann wieder stehen zu bleiben. „Na komm schon. Worauf wartest du denn noch?“ Dieses Mal zuckten seine Mundwinkel. Huschten nach unten. Die Baumkronen verdeckten Teile des pechschwarzen Nachthimmels. Der Boden unter ihnen war schlammig. Immer wieder lag Gestrüpp im Weg. Bestimmt war ihr Gesicht mittlerweile schon von Schrammen übersät. Ihre Mutter würde sie bestimmt wieder fragen, wo sie sich schon wieder herumgetrieben hätte. Falls sie überhaupt noch wach wäre, wenn sie heimkommen würde. Der Abwasch. Ich hab den Abwasch vergessen!, dachte sie, doch ihr Gedankengang wurde jäh unterbrochen. Ihr stockte der Atem. Noel war stehen geblieben. Sie blinzelte mehrere Male ehe sie Begriff, wieso er stehen geblieben war. Das ist nicht möglich. Vor ihr erstreckte sich dieselbe steinerne Mauer, mit nur einen grotesken Unterschied. Sie schnappte nach Luft, und spürte Unbehagen in sich aufkeimen. Die Mauer hatte ein Loch. Als sie es wagte, einen Schritt weiter nach vorne zu treten, konnte sie einen Blick auf den Querschnitt werfen. Ziegelsteinen, sie bestand aus ganz normalen Ziegelsteinen. Das war jetzt fast etwas enttäuschend. Wieder pochte ihr Herz ganz laut und machte einen Satz, mit jedem Schritt, den sie sich näherte. Ihr Blick huschte zu Noel, dessen Augen weit aufgerissen war.


    „Das ist...das kann nicht-“, murmelte Noel. Was liegt wohl dahinter. Ihr Puls raste, als sie noch einen weiteren Schritt darauf zutrat. Gleichzeitig stellten sich ihre Nackenhaare auf. War sie aufgeregt oder doch verängstigt? Beides. Noel rang immer noch um seine Fassung. Erst stolperte er zurück, dann schüttelte den Kopf. „Ein Loch. Das-. Das ist unglaublich.“ Seine Stimme klang irritiert, dann monoton, doch seine Hände zitterten und sein Gesicht wirkte noch blasser als sonst. Was hatte das zu bedeuten?


    „Unglaublich. Ja.“ Ein Loch in der Mauer. Seltsam. Ihr ganzes Leben lang war sie von der Mauer umgeben gewesen und ihre Mutter musste es wohl ähnlich ergangen sein. Es war seltsam, fast so als hätte jemand ein Gesetz der Natur gebrochen. Vielleicht war es auch genau das, für die Leute, die hier wohnten. Sie wollte einen Blick durch die Öffnung werfen, doch Noel zog sie zurück.


    „Was machst du da? Lass uns gehen. Es ist schon dunkel.“ Als sie den Boden unter ihr begutachtete, erkannte sie ganz eindeutig Fußspuren, die zu Schleifspuren wurden. Jemand war durch das Loch hier reingekommen? „Alles in Ordnung? Lass uns gehen. Wir-. Wir können morgen noch einmal kommen.“ Er verschränkte immer wieder seine Finger ineinander nur ums sie dann wieder zu lösen. Was hatte das zu bedeuten? Ein Geheimnis, eine unentdeckte Welt. Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren. Nein. Sei nicht albern. Was war nur in sie gefahren?! Das war nur ein Loch in einer Mauer. Eine Mauer, von der sie gedacht hatte, dass nichts und niemand sie zerstören könnte. Kein Sturm, Hurrikan, keine Naturgewalt, nicht einmal der Mensch. Noel hatte sich bereits abgewendet. Er setzte einen Fuß vor den anderen, doch etwas stimmte nicht. Sein ganzer Körper bebte. Was war nur los?


    „He. Alles gut bei dir?“


    „Hm? Bei mir? Wieso sollte es mir nicht gut gehen, mir geht es sogar prächtig also-.“


    „Nein geht es dir nicht.“ Er hatte ihre Hand genommen und zog sie hinter sich her, während sie alle Mühe hatte, nicht über irgendeine Wurzel zu stolpern.


    „Das musst du dir einbilden“, nuschelte er.


    „Du sagst das, aber du weißt nicht mal den Weg zurück.“ Plötzlich blieb er stehen.


    „Du...du hast recht, ich weiß nicht einmal wie wir zurück kommen. Da renne ich schon wie hysterisch und kenne den Weg nicht einmal.“ Verunsichert sah er erst zu Juli, dann wieder in die Richtung, von der sie gekommen waren. Seine Mundwinkel formten, ein mattes Lächeln. „Ganz offen und ehrlich, mir geht es nicht gut. Ist so eine chronische Krankheit. Genau chronisch. Ich hätte es schon vorhersagen sollen“, seine Stimme stockte kurz, „aber ich habe mich geschämt. Lass uns nicht weiter darüber sprechen. Ist ne ziemlich peinliche Angelegenheit. Ich...ich weiß nicht wie ich es erklären soll.“ Gezielt wich er ihren Blicken aus. Seine Stimme bebte. Er presste seine Lippen aufeinander. Auf seiner Stirn bildeten sie Schweißperlen. Noel? Er sah schrecklich aus. Chronisch also?


    „Gut. Zurück geht es aber da lang.“, murmelte sie. Sie würde nicht weiter nachfragen, wenn er nicht darüber sprechen wollte. Nicht dass sie die Gelegenheit bekommen würde, den just in diesen Moment beschleunigte er sein Tempo erneut.


    „Lass uns zurück gehen. Oder weißt du was? Ich gehe alleine heim. Wir sind eh gleich da.“ Eine ganze Weile sagte sie nichts.


    „Aber du-.“ Sie konnte den Satz nicht einmal beenden, bevor sie wieder an ihren kleinen Garten angekommen waren.


    „Sehr gut. Von hier komme ich alleine zurecht.“ Mit einem Grinsen hob er eine Hand. Ob das Lächeln auf seinen Lippen echt war, konnte sie allerdings nicht sagen. „Freut mich das du mich begleitet hast. Jedenfalls kannst du mich gerne einmal besuchen. Vorrausgesätzt du möchtest das.“


    „Oh. Eh...kein Problem. Ich wohne übrigens in der Niemalonstraße 23. Wenn du willst, kannst du ja vorbeikommen.“ Jetzt wo er sie schon indirekt eingeladen hatte, hatte sie das Gefühl, dass sie zumindest aus Höflichkeit das Gleiche tun sollte. Hatte er sie gehört? Noel schüttelte ihr die Hand. Sie hoffte nur inständig, dass er wusste, was er tat. Seltsam. Sie kannte ihn doch nicht einmal richtig. Was dachte sie sich nur dabei? „Gute Besserung Noel!“, presste sie hervor, doch Noel hatte ihr schon den Rücken zugedreht und war zwischen den Bäumen verschwunden. Mehrere Male blinzelte sie, nur um sicherzugehen, dass sie das alles nicht nur geträumt hatte.



    ~+~



    Auf ihren Weg nach Hause ging sie alles noch einmal in ihrem Kopf durch. Es war spät geworden. Als sie die Wohnungstür hinter sich zuzog, zeigte die Uhr an der Wand bereits eins. Wahrscheinlich war ihre Mutter schon zu Bett gegangen. Zumindest hoffte sie das, denn wenn nicht, hieß das, dass sie schon wieder Überstunden gemacht hatte. Wie auf Zehenspitzen schlich sie sich lautlos durch den Flur. Mit einem erleichterten Seufzen stellte sie fest, dass das Wohnzimmer leer war. Jetzt wanderte ihr Blick zu dem Geschirr. Doch da war nichts. Sie hat doch nicht-. Nein. Juli schluckte. Ihr Herz wurde schwer. Müde suchte sie die Arbeitsfläche ab, aber auch die wurde bereits sauber gemacht. Nur der Laptop lag immer noch auf den Esstisch, also wollte sie ihrer Mutter wenigstens den kleinen Gefallen tun und räumte ihn zur Seite. Wie es Noel wohl ging? Er war schon seltsam - ein echt verschrobener Kerl - aber die Leute taten ihm Unrecht. Er war kein Creep. Sie hingegen war ein Kind. Jeder wusste bereits, was er machen wollte, wie er oder sie ihr Leben führen wollten oder was sie erreichen wollten. Und was war mit ihr? Was wollte sie? Wieso war sie die Einzige, die sich so verloren fühlte? Wieso konnte sie nicht ein wenig wie die Anderen sein? Selbstbewusster. Zielstrebiger. Einfach anders als sie jetzt wäre, würde schon genügen. So viele `Wieso´. Ob es Noel wohl gut geht, war der zweite Gedanke, der sie immer wieder einholte. Sie hätte ihn nicht alleine nach Hause gehen lassen sollen, hätte ihn begleiten sollen, auch wenn sie ihm doch insgeheim dankbar gewesen war. Es war bereits spät gewesen, als sich ihre Wege getrennt hatten, und sie wollte eigentlich ihrer Mutter noch-. Nein. Stimmt ja, selbst dafür war ich zu spät. Juli blieb noch lange auf, saß am Tisch und stütze Ihren Kopf mit einer Hand ab. Ihre Gedanken kreisten immer weiter und kehrten am Ende doch wieder zu dem Loch in der Mauer zurück. Jetzt wo sie darüber nachdachte, so faszinierend es auch war, es war auch unheimlich. Allein der Gedanke daran machte sie nervös. Die unzerstörbare Festung, ein Bunker, den niemand betreten konnte, hatte eine Schwachstelle.

  • >>Kapitel III Das Haus am Stadtrand<<


    Juli




    Die Uhr zeigte sechs. Uhren logen nicht, sie wahren erbarmungslos, ohne Gnade. Juli blinzelte, dann stöhnte sie genervt. Mist. Verdammt. Sie musste aufstehen. Die ersten Sonnenstrahlen schienen durch ihr Fenster, hüllten den Raum in ein warmes Licht. Was war passiert? Hatte sie geträumt? Sie hatte Noel getroffen, ein wirklich seltsamer junger Mann. Von draußen hörte die Vögel zwitschern. Ihre Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Steh auf Juli! Träge streckte sie ihre Hand in Richtung ihres Nachtisches aus und ertastete mit den ihren Fingerspitzen einen Knopf. Für einen Moment ruhten sie nur dort. Nur noch eine Minute. Vielleicht auch zwei. Nein. Das Piepen stoppte und sie blinzelte. Sehr gut und jetzt-. Schwerfällig erhob sie sich aus ihrem Bett. Auf dem Boden, Bett und Schreibtisch - überall lagen ihre Unterlagen verteilt. Sie hätte nicht mehr lernen sollen. Es war eine schlechte Idee gewesen, aber wenn sie das Semester nicht bestand, was dann? Mit einer schnellen Handbewegung fischte sie einen Block und Stift aus ihrem Bett und verstaute ihn in ihrer Tasche. Im ganzen Haus herrschte eine gespenstische Stille. Für einen Moment machte ihr Herz einen Satz. Schlief ihre Mutter noch? Leise bewegte sie sich durch den Flur. Fast geräuschlos öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer. Da war sie. Ganz seelenruhig saß ihre Mutter am Wohnzimmertisch. Ihr Blick klebte am Bildschirm des Laptops, also schlich sich Juli, so leise, wie es ihr nur irgendwie möglich war, zum Kühlschrank, öffnete ihn und griff gezielt nach den Resten von gestern.


    „Du, schon wach? Heute nicht verschlafen?“ Juli wirbelte herum. Ihre Mutter sah in ihre Richtung und grinste. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Sie hat heute wieder nicht geschlafen? Richtig?


    „Ich eh...hab ich dich gestört? Tut mir leid.“


    „Nein, nein, keineswegs. Ich wollte sowieso gerade eine Pause einlegen. Willst du einen Kaffee?“ Sie war gerade im Begriff aufzustehen, da winkte Juli schnell ab.


    „Nein, bleib sitzen. Du hast schon genug zu tun. Ich mach uns Kaffee.“


    „Aber ich kann-.“


    „Schon gut.“ Schnell griff sie nach dem Kaffeefilter und kramte den Milchaufschäumer aus einer der Schubladen hervor. „Latte?“ Juli sah ihre Mutter nicht an, vielleicht weil sie ihren Blick schon kannte und wusste, was sie dort finden würden, noch ehe sich ihre Augenbrauen zusammenziehen könnten.


    „Das wäre nett.“ Die Milch zischte, doch bevor sie anbrennen konnte, drehte Juli schnell die Flamme runter. Sie schäumte die Milch auf und goss den Milchschaum zum Rest des Kaffees.


    „Hier.“ Die Tasse schlitterte über den Tisch, ehe sie ihre Mutter erreichte.


    „Das ist lieb Schatz.“ Ding Dong. Ein Klingeln löste Juli aus ihrer Starre. „Machst du bitte auf? Ich musst noch-.“


    „Natürlich.“ Wer zum Teufel konnte das sein? Um halb sieben?! Als sie den langen Flur durchschritt, schüttelte sie den Kopf. Sie zog Türe auf, dann blinzelte sie irritiert und rieb sich die Augen. Träume ich noch? „Noel du-“


    Tatsächlich, dort stand Noel O´Neil. Richtig, sie hatte ihm gestern noch ihre Adresse gegeben. Er hatte sie sich gemerkt? Heute trug er einen braunen Mantel mit grünen Streifen. Seine Augen waren wach und musterten sie aufmerksam, während seine Mundwinkel nach oben huschten. Sie hatte nicht geträumt, diesen Noel gab wirklich. Als sie die Tür aufzog, winkte er ihr zu. Sie traute ihren Augen immer noch nicht. Er stand mitten im Hausflur des Wohnkomplexes.


    „Guten Morgen Juli.“ Noel grinste, sah allerdings an ihr vorbei, geradeaus in die Wohnung. „Hier wohnst du also.“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Worüber denkst du jetzt schon wieder nach? „Schade.“


    „Wie?“


    „Naja. Ich dachte es wäre etwas-.“


    „Was dachtest du?“


    „Naja, etwas ausgefallener...abgedrehter.“ Seine Augen wurden zu Schlitzen. „Lebst du alleine?“


    „Wieso?“


    „Nur so aus Interesse.“


    „Meine Mutter wohnt mit mir, aber sie ist beschäftigt.“


    „Du wohnst also mit deiner Mutter zusammen? Das ist toll. Muss schön sein mit jemanden zusammen zu leben.“


    „Ja.“ Er hatte recht. So hatte sie das nie betrachtet. Und dennoch wünschte sie sich nur ein wenig mehr Selbständigkeit in ihrem Leben. Vielleicht alleine in einer Wohnung zu leben, so wie ihre Kommilitonen, die ihr schon um so viel voraus waren, die ihre eigene Familie hatten und so viel mehr erreicht hatten. „Es ist halb sieben.“ Sie konnte es immer noch nicht so recht glauben.


    „Hm?“ Noel legte den Kopf schief und warf ihr einen fragenden Blick zu. „Und?“


    „Naja...also...ist es nicht zu früh, um zu klingeln?“


    „Ist es das? Ich weiß es nicht, ich wollte nur sichergehen, dass wir die Vorlesung nicht verpassen.“


    „Du willst heute schon die Vorlesung besuchen?“


    „Ja. Und jetzt komm mal in die Pötte. Ich warte hier schon seit ner halben Stunde. Moment...zu direkt?“ Noel kratzte sich am Kinn.


    „Um Himmels Willen.“ Ihre Augen wurden groß. „Seit 30 Minuten?!“ Was zum Teufel-. „Was hast du dir dabei gedacht?! Und was hast du die ganze Zeit überhaupt gemacht?“


    „Was ich gemacht habe? Also...die meiste Zeit habe ich gelesen. Ich weiß ja nicht wann wann die Vorlesung beginnt, also wollte ich auf Nummer sicher gehen. Ich habe da ein paar tolle Bücher in der Bibliothek gefunden, willst du sie auch einmal lesen?“


    „Nein, also...ich meinte nur-.“


    „Schade, sie sind echt lesenswert.“


    „Hm. Vielleicht.“ Zögerlich sah er erst zu ihr, dann wieder auf den Boden.


    „Also...ich weiß nicht wieso du hier noch herumsteht, aber meinst du nicht das wir langsam losgehen sollten? Ich meine, von mir aus können wir hier auch noch weiter im Flur stehen, aber ich bin mir nicht sicher ob das-.“


    „Oh stimmt ja.“ Julis Gesicht wurde heiß. Wie peinlich. „Natürlich.“ Sie eilte wieder durch den Flur, griff hastig nach ihrer Tasche und dem Lunchpaket, sagte noch ein flüchtiges „Tschüss Mum-“ und war auch schon wieder im Begriff zu gehen.


    „Du hast es aber heute eilig Schatz? Ist das da draußen ein Freund von dir?“ Ihre Mutter hatte nicht aufgesehen, als sie die Frage gestellt hatte. Ihre Augen fixierten immer noch den Bildschirm. Ihre Stimme war abwesend.


    „Ein Bekannter. Ich zeige ihm nur die Uni.“


    „Dann viel Spaß euch beiden.“ Wieso nur? Juli warf sich ihre Tasche und einen Mantel über ehe die Tür auch schon in ihre Angeln fiel. Wieso strahlt sie nur so? Ihr muss etwas äußerst Gutes widerfahren sein. Was das wohl sein konnte. Sie schmunzelte.


    „Das ging jetzt aber schnell.“ Noel stand immer noch an der gleichen Stelle. Was hatte sie erwartet? Das er einfach verschwinden würde? Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, als sie das Treppenhaus hinunter gingen und durch die Tür ins Freie traten.


    „Lass uns einfach schnell gehen“, brummte Juli. Vielleicht war sie ein Morgenmuffel. Ja, ganz bestimmt war sie ein Morgenmuffel, ganz im Gegensatz zu Noel. Der pfiff gut gelaunt irgendeine Melodie, während sie den Weg entlang schlenderten.


    „Sag mal was studierst du eigentlich?“


    „Hm?“


    „Naja darüber haben wir noch gar nicht geredet.“ Sie gingen an einem Bauernhof vorbei. Ein Fluss begleitete ihren Weg.


    „Was mit Geschichte. Nichts Besonderes schätzte ich. Die meisten studieren das hier.“ Ihr Blick wanderte, während sich ihre Lieder schwer anfühlten. Sie war ganz entsetzlich müde. Noch war die Luft kühl und weckte ihre trägen Sinne.


    „Hm.“ Er schien etwas zu überlegen, rieb sich am Kinn und nickte dann. „Dann werde ich mich zu dir in die Vorlesung setzten. Ich kann bestimmt noch etwas lernen. Oh und Mathe, Physik, Biologie, Kunst...meinst du das sie das auch anbieten?“ Seine Augen waren ganz groß geworden, fast wie bei einem Kind, während sich seine Stimme fast überschlug.


    „Ich...also ich weiß es nicht. Du überschätzt unsere Uni. So viel gibt es da nicht...aber du kannst dir ja mal den Vorlesungsplan ansehen.“


    Aus einzelnen Häusern wurden Reihen aus Wohnkomplexen, die immer dichter zueinanderstanden - aus dem Schotterweg unter ihren Füßen eine geteerte Straße. Je näher sie der Stadtmitte kamen, desto mehr Läden tauchten am Straßenrand auf. Kleine Süßigkeitenläden, Antiquitätenläden oder Kleidungsgeschäffte, später auch Clubs und Restaurants, zu den sie nur zu oft gegangen war, wenn sie einmal keine Lust gehabt hatte, etwas zu kochen. Sie kannte den Weg in- und auswendig, kannte die schmalen, verwinkelten Gassen, die zu kleineren Läden führten, ja sogar die urige Shishabar, die ihre Kommilitonen öfter besucht hatten. Juli und Noel blieben erst stehen als sie an einem großen, weißen Gebäude ankamen. Die Wände des Erdgeschosses und des ersten Stockes waren aus Glas und wurden von weißen Säulen getragen. In großen Lettern konnte man die Aufschrift „Universität“ lesen. Die oberen Stockwerke lösten die Glaswände durch weiße Wände ab. Auch heute schien die Sonne erbarmungslos auf das Gebäude. Letztes Jahr zur selben Zeit hatte sie in einer der Säle gesessen, war noch jünger und naiver gewesen. Die Studenten hatten sich kleine Fächer aus Papier gebastelt, dabei war es nicht einmal Sommer gewesen und die heißesten Monate hatten noch vor ihnen gelegen. Sie stöhnte.


    „Alles in Ordnung?“


    „Das Wetter, es ist schrecklich.“


    „Du magst wohl Sonne nicht so gerne?“ Noel schien es allen Anschein nichts auszumachen.


    „Nein, das ist es nicht. Ich mag gutes Wetter, aber in einem Hörsaal ohne Klimaanlage zu sitzen ist was anders. Es ist schrecklich...kaum ertragbar.“


    „Also ich mag das Wetter.“


    „Das würde ich auch sagen, wenn ich nicht in nem Raum mit Glaswand bei 40 °C für mehrere Stunden sitzen müsste.“


    „So schlimm?“


    „Nein, noch nicht, aber es ist ja auch noch nicht richtig Sommer. Nächster Monat ist schon wieder Juni, dann wird es schlimm werden Noel.“ Sie musste wieder an letztes Jahr denken. Es war geradezu unerträglich gewesen - die Luft war stickig gewesen, man hatte förmlich an den Sitzen geklebt und das Gefühl gehabt gleich zu dehydrieren. Hatte sie ihre Flasche dabei?! Die Temperaturen waren harmlos, das wusste sie. Sie waren nur ein milder Vorbote von dem, was noch kommen würde. „Lass uns schnell reingehen.“ Juli öffnete die Tür und augenblicklich kam ihr ein kalter Windstoß entgegen. Sie wusste das, dass nicht so bleiben würde, aber für den Moment gab es ihr die Zuversicht einen Schritt vor den anderen zu tun, bis sie vor einer grauen Eisentür stehen blieb. „Das hier“ und deutete auf die Tür, „ist mein Vorlesungssaal. Jedenfalls für diese Vorlesung.“


    „Ihr wechselte also die Räume?“


    „Genau.“ Sie lachte und nickte.


    „Soll ich“, zögerlich deutete er auf die Tür, „soll ich klopfen?“


    „Nein. Man muss nicht klopfen, die Vorlesung hat ja noch nicht begonnen. Und selbst wenn sie begonnen hätte. Man klopft nicht.“


    „Nicht? Das muss ich mir merkten.“ Er schloss die Augen und nickte, dann drückte er die Klinke hinunter. Moment. Plötzlich wurde sie blass. Erst jetzt wurde ihr ihr Fehler bewusst. Noel O´Neil. Was würden die anderen denken, wenn sie mit ihm hier auftauchen würde? Sie würden bestimmt anfangen zu reden. Ich bin so dumm. So verdammt blöd. Die Gerüchte, die man sich über ihn erzählten, waren richtig übel. Und all das wird auf mich zurückfallen. Natürlich. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie ihn unruhig, dabei beobachtete, wie er die Türklinke herunterdrückte. Es war zu spät, sie konnte nichts tun, konnte nur zusehen, was als Nächstes passierte.


    „He, was macht denn der hier?“, hörte sie jemand giftig aufstoßen. Es war der gleiche Hörsaal wie gestern. Die gleichen abgestuften Klapptische, die gleichen Bilder an den Wänden und die gleiche Tafel, die immer von den Professoren benützt wurde. Nur Oliver war nicht da. Sie bemerkte es sofort als ihren Blick durch den Raum schweifen lies, und atmete erleichtert auf, ehe ihre Augen zu Noel huschten. Er war einige Schritte in Richtung ihrer Kommilitonen gegangen – viel zu schnell, viel zu voreilig. Sei nicht dumm Noel. Seine Mimik war aufgeweckt, als er sie anstrahlte. Du bist irre. Sie werden dich für irre halten. Aber einen Noel störte das nicht. Er griff viel zu früh nach den Händen von einem der Studenten und schüttelte sie, ohne dass er überhaupt dazu aufgefordert worden war. Sag nichts, bitte, erwähne nicht meinen Namen. Das war so-. „He freut mich euch kennen zu lernen. Ich bin Noel. Ich bin mit Juli hier. Ihr müsst die Kommilitonen von ihr sein. Ich werde jetzt wohl auch ab und zu hier vorbeikommen, also hoffe ich auf eine gute Zusammenarbeit.“


    Ihr Hals wurde trocken, als sich ihre Muskeln anspannten und ihre Hände zu einer Faust wurden. Das ist so...so entsetzlich peinlich. „Ich würde den Stoff, denn ich verpasst habe gerne nachholen. Also wenn ich mir Mitschriften ausleihen könnte, dass wäre super. Wobei, ich glaube die würden mir wohl nicht weiterhelfen.“ Noel schüttelte den Kopf. „Aber ein Buch wäre schon hilfreich. Vielleicht könnt ihr mir ja eins empfehlen?“ Die junge Frau, die neben den Jungen stand, den er just in dem Moment angesprochen hatte, stolperte zurück. Sie schrie, während der Andere ihn immer noch fassungslos anstarrte, fast als ob er einen Geist gesehen hätte. Hör auf Noel! Ihr Gesicht glühte und ihr Blut brodelte. Natürlich, natürlich würde Noel “Noel“ sein und ihr nur Ärger bereiten.


    „War doch logisch das der Creep was mit Juli zu tun hat. Aber musstest du ihn auch noch hierherbringen? Musst ja echt verzweifelt gewesen sein!“, spuckte die Brünette und warf ihr einen giftigen Blick zu, der Juli zusammenzucken lies.


    „Wovon redet ihr?!“ Noel sah eilig hin und her. Er hob die Hände in die Höhe und wollte etwas erwidern. Hör einfach auf Noel. Bitte. Halt einfach deinen Mund.


    „Ich.“ Ich- was hatte ich mir dabei gedacht?! Sie schluckte. Ich bin so dumm. So verdammt, verdammt dumm. „Ich…ich kenne ihn eigentlich nicht.“ Eine Lüge. „Wir haben uns erst gestern getroffen. Das ist alles.“ Das war die Wahrheit.


    „Lüg nicht.“ Die Brünette funkelte sie immer noch an. Wie war ihr Name noch mal? Nein, das war jetzt nicht wichtig.


    „Ich kenne ihn doch eigentlich nicht“ , wiederholte Juli mit noch mehr Nachdruck. Bitte glaub mir doch.


    „War doch logisch das sie sich mit diesen Typen was am Laufen hat.“ Abscheu, Ekel, die Stimme der Frau bohrte sich tief in das Herz von Juli. Sie war so eine Idiotin. Plötzlich drehte sich alles um sie herum. Die Luft war so dünn, dass sie das Gefühl hatte gleich zu ersticken. Sie musste hier raus. Sofort.


    „He warte.“ Sie hörte Noels Stimme, doch es kümmerte sie nicht. Wieso ausgerechnet ich? Wieso musste er ausgerechnet mich ansprechen? „Alles in Ordnung?“ Er hatte nach ihrem Arm gegriffen. Sie sah ihn nur für ein Bruchteil von Sekunden an, dann riss sie sich los.


    „Nein.“ Das war seine Schuld. Wegen ihm werde ich-, schoss es ihr in den Kopf. Sie war nie beliebt gewesen, aber sie hatte es zu mindestens geschafft, unauffällig zu sein – ein Schatten, den man keine Aufmerksamkeit widmete. Studium war nicht wie Schule, man sprach weniger miteinander, hatte weniger miteinander zu tun. Es war ihre Chance gewesen neu anzufangen. Und jetzt? „Wieso musstest du mich ansprechen?! Hättest du nicht irgendjemand anderen Fragen können? Und wieso musstest du mitkommen wegen dir-“ Tränen kullerten über ihre Wange. Jetzt würde man sich wieder über sie lustig machen. Sie hörte die anderen schon reden. Und am meisten hasste sie sich selbst. Was hatte sie sich dabei gedacht? Vielleicht war er doch ein Creep. Vielleicht hatten die anderen doch recht gehabt. Sie kannte ihn doch nicht einmal richtig. Wie naiv kann man sein?!


    „Ich dachte wir sind Freunde.“ Seine Stimme war dünn, fast wie ein Flüstern.


    „Nein Noel. Wir...wir kennen uns nicht einmal. Weißt du, vielleicht ist es meine Schuld. Vielleicht habe ich falsche Signale gesendet. Ich hätte schon Nein sagen sollen als du mich heute früh gefragt hast. Siehst du? Wir haben vielleicht einmal miteinander geredet.“ Sie lachte bitter und sah zu Boden. Juli konnte ihn einfach nicht in die Augen sehen. „Wir kennen uns doch eigentlich nicht einmal.“


    „Dein...dein richtiger Name ist Rosemarie, richtig?“ Er senkte seinen Kopf. „Stimmt das? Ich habe mich gefragt wieso du-.“ Ihr Hals war ganz heißer, ihre Augen gerötet. Das kann ja wohl jetzt nicht sein Ernst sein?


    „Von allen Dingen, die du mir hättest sagen können, fragst du mich ausgerechnet das? Du bist so kindisch Noel. Du wirst nie erwachsen. Vielleicht halten dich deshalb andere für seltsam. Weißt du?! Ich habe mir darüber schon den Kopf zerbrochen, du tust es ja nicht.“ Noel wollte etwas erwidern, da hatte sie ihm allerdings schon den Rücken zugedreht. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, schneller und schneller ehe sie begann zu rennen. Die Welt konnte untergehen, konnte mit einem Mal verschlungen werden. Ein Unwetter konnte aufkommen und jeden einzelnen Baum aus seinen Wurzeln reißen. Es kümmerte sie nicht mehr. Alles, was sie jetzt noch wollte, war sich in ihrem Zimmer einzuschließen und nicht mehr rauszukommen.



    ~+~



    Sie hatte ihr Zimmer tatsächlich nicht mehr verlassen - den ganzen Vormittag nicht - aber jetzt, wo sie langsam wieder zu Verstand kam, da fühlte sie sich schlecht.


    Was hatte sie sich nur dabei gedacht?! Das sah ihr gar nicht ähnlich. Sie hatte Noel verletzt und das hatte er bei aller Liebe nicht verdient. Er hatte ihr nichts getan und sie? Vielleicht war es richtig gewesen, dass sie ausnahmsweise an sich selbst gedacht hatte. War es denn so verwerflich, zur Abwechslung einmal akzeptiert werden zu wollen?! Ja. Ja ist es. Wenn du jemand anderen dafür verletzten musst, dann ist es das. Sie schmunzelte. Es war schon urkomisch, da machte sie ihm Vorwürfe, sich kindisch zu benehmen, und was machte sie? Was war sie dann? Juli umklammerte ihr Kissen noch fester, presste es an ihren Körper. Ich bin das Kind. Den ganzen Vormittag über hatte sie sich in ihrem Zimmer verkrochen, hatte sich ganz leise ins Haus geschlichen, weil sie nicht gewusst hatte, wie sie es ihrer Mutter hätte erklären können. Doch jetzt war sie sich sicher. Sie musste sich entschuldigen. Sie war kein Kind mehr. Als vorsichtig durch den Türspalt linste, war niemand zu sehen. Wie auf Zehenspitzen, schlich sie am Wohnzimmer vorbei, warf noch einen flüchtigen Blick hinein, nicht genug allerdings, um zu sehen, ob ihre Mutter noch immer dort saß, dann zog sie sich ihren roten Mantel über. Sie straffte ihre Schultern und atmete noch einmal tief ein und aus. Ich entschuldige mich. Das muss ich. Kaum hatte sie den Entschluss gefasst, viel auch schon das Schloss in die Angeln.


    ~+~



    Noel wohnte nicht weit von Juli. Sie war ungerecht gewesen? Nicht? Jetzt schämte sie sich dafür. Sie sah zu ihrer Rechten, wo einzelne Kühe auf einer weiten Wiese grasten. Dort wo die Weide endete, begann ein weiteres Feld, dann noch eins. Je näher sie dem Haus kam, desto nervöser wurde sie. Hatte sie ihn überhaupt gefragt? Vielleicht wollte er auch gar nicht, dass sie ihn besuchte. Sie könnte es ihm nicht verübeln.


    „Ich dachte wir wären Freunde“ Juli hatte sich echt idiotisch verhalten. Es war schon fast zum Lachen. Sei nicht albern. Wer würde schon mit ihr befreundet sein wollen? Das Haus war immer noch genauso beeindruckend, wie sie es im Gedächtnis hatte. „Wieso zwei Schornsteine?“ Weil es hübsch ist. Ihre Mundwinkel zuckten. Stimmt schon, das hat schon was. Das ganze Gebäude war kunterbunt bemalt, die ganzen unterschiedlichen Fenster ließen es nur noch chaotischer wirken, fast wie aus einem Märchen. An den Wänden kletterten Pflanzen hinauf. Der Garten wucherte regelrecht, überall blühten bunte Blumen. Sie entdeckte einen Apfelbaum, der wohl vor langer Zeit dort gepflanzt worden war, und einen kleinen Garten. Ein Steinweg führte zum Haus hinauf und wurde auf seinem Weg dorthin von Laternen begleitet. Es war schon etwas ganz Besonderes. Am ungewöhnlichsten war jedoch das riesige Loch in der Wand des Gebäudes. Es gab einen Blick ins Innere frei – lies das Haus fast wie eine Ruine aus einer alten, vergessen Zeit erscheinen. In ein paar Töpfen waren Tomaten gepflanzt worden. Ein wenig beneidete sie ihn schon. Wie oft war ihr ihre Tomaten eingegangen, die sie mit so viel Mühe gesät hatte. Ein heftiger Sturm hatte über das Land gefegt und weg war ihr kleines Gewächshaus, in das sie so viel Zeit und Liebe investiert hatte.


    „Soll ich klopfen?“, hatte Noel sie heute früh gefragt, jetzt fragte sie sich dieselbe Frage. Sie biss sich auf die Lippe, dann berührten sie mit ihren Fingerknöcheln ganz vorsichtig die raue Oberfläche der Holztür. Nichts rührte sich. Sie klopfte erneut. Wieder keine Reaktion. Was jetzt? Ihre Augen musterten den Eingang. Eine Klingel. Neben der Tür war ein eiserner Löwenkopf angebracht, an dem ein Hebel - nein, eine Art Seil, an dem man ziehen konnte – befestigt worden war. Wieder zögerte sie. Soll ich-? Einen Moment haderte sie mit sich selbst, aber dann schluckte sie und nickte zaghaft. Sei kein Feigling. Sie kniff die Augen zusammen und zog an der Vorrichtung. Ihr Herz schlug unregelmäßig gegen ihre Brust. Ein seltsames Geräusch ertönte - eines das ihr durch Mark und Bein ging. Eine Melodie? Ein Laut eines Tieres? Wie sonderbar. Juli zuckte zusammen. Vielleicht sollte sie noch einmal klingeln? Ihr Herz machte einen Satz. Die Tür öffnete sich und Noel stand vor ihr. Sie blinzelte irritiert und traute ihren Augen nicht.


    „Du-.“ War er wütend?


    „Ja“, presste sie hervor und schnitt ihm das Wort ab. „Ich, ich wollte...also... ich wollte mich für heute Morgen entschuldigen. Es tut mir leid. Ich hätte nicht-. Ich hatte das nicht sagen sollen. Die Einzige, die sich danebenbenommen hat, war ich und das tut mir leid. So, so unglaublich leid! Ich bin eine echte Idiotin. Ich-“


    „Du kommst mich besuchen?“ Seine Mimik war entspannt, seine Haltung locker. Wieso? „Ich muss dir unbedingt mein Haus zeigen. Warte kurz.“ Er strahlte förmlich, griff nach ihrem Handgelenk, ehe er sie ins Innere zog. Seine Worte überschlugen sich. Was passierte hier nur? Wieder schlug ihr Herz schneller. Ihre Augen wurden groß, als sie die Luft einsog. Sie kamen in einen völlig überfüllten Flur. Überall lagen Sachen auf einen Stapel. Kein einziger Fleck der Wand war nicht bedeckt. Bunte Bilder schmückten diese, während mehrere Schuhpaare auf dem Boden lagen. Zu ihrer Rechten war eine Garderobe, an den einige Mäntel hingen.


    „Das ist ja-.“


    „Ziemlich beeindruckend. Nicht?“ Er führte sie durch einen weiteren Raum, der völlig überwuchert war. Es war der Raum, den sie von draußen gesehen hatte. Die Fliesen hatten Sprünge bekommen und Gras kämpfte sich durch die einzelnen Risse.


    „Den Teil habe ich nicht renovieren lassen. Ich fand ihn hübsch also habe ich ihn so gelassen.“


    „Aber es regnet rein.“


    „Nur in diesen Raum“, Noel zuckte mit den Achseln „den benütze ich eh kaum. Jetzt wo dus sagst. Ich könnte ein paar Topfpflanzen reinstellen.“ Er kratzte sich am Kinn und rieb sich die Nase. „Das könnte ich machen.“


    „Aber Einbrecher-.“


    „Bis jetzt ist noch niemand eingebrochen.“ Als Nächstes kamen sie in einen Raum voller mechanischer Geräte. Ein Teelicht war unter einen Miniaturkessel mit Wasser gestellt worden. Der Wasserdampf wurde über ein Rohr in einen Zylinder geführt. Immer wieder klackten Ventile und der Kolben im Zylinder schoss abwechselnd in die Höhe und wurde wieder abgesenkt. Was war das nur alles? Sie hielt den Atem an. Das ist unglaublich. Juli konnte es nicht fassen. Der Raum war voll mit seltsamen Apparaturen. Einige kannte sie, einige auch nicht. Als Letztes kamen sie in einen etwas kleineren Raum an, der voll mit Gerümpel vollgestellt worden war. Wertvolle Gemälde hingen an den Wänden, Schmuck lag auf den Regalen und einen teuer aussehenden Kronleuchter hing von der Decke. Der Raum war prunkvoll, fast schon überladen. Bunt gewebte Teppiche schmückten den Boden. Ihr ganzes Leben hatte sie und ihre Mutter sich immer irgendwie durchgekämpft. Als es besonders knapp geworden war - damals hatte ihre Mutter ihren alten Job verloren - da hatte sie selbst für ein paar Wochen jobben müssen. Schule und Arbeit war nicht immer einfach auf die Reihe zu bekommen, aber schlussendlich hatten sie selbst diese Krise überstanden. Vielleicht faszinierte es sie deshalb so sehr. Noch nie hatte sie so viel teures Zeug auf einem Platz gesehen. In einer Ecke stand ein Klavier. Sie hätte gerne ein Instrument gespielt, aber für so etwas war selbstverständlich nie Geld übrig gewesen. Wie es wohl war, sich nie Gedanken machen zu müssen, ob man über die Runden kam oder nicht?


    „Du spielst Klavier?“


    „Nein, aber ich fand es hübsch, deswegen habe ich es in diese Ecke gestellt. So habe ich es immer im Blickfeld, wenn ich den Raum betrete und gleichzeitig steht es auch nicht im Weg rum.“ Er besaß ein Klavier, nur weil er es hübsch fand. Wie gerne würde sie in seiner Welt leben. Schluss jetzt. Was machte sie da? Juli ertappte sich dabei, wie Neid in ihr aufkeimte. Stopp Juli. Sie war gekommen, um sich zu entschuldigen.


    „Hmm.“ Auf den Tisch vor ihnen waren ein paar Stoffe ausgebreitet. In einen Wäschekorb am Boden waren mindestens ein Dutzend Instantnudeln aufgestapelt worden. Ernährte er sich denn von nichts anderen? Das konnte unmöglich gesund sein. „Vielleicht sollte ich nächstes Mal Obst mitnehmen?“, murmelte sie abwesend. Mit einem Male wurde Noels Gesicht blass. Was, hatte sie etwas Falsches gesagt?


    „Obst.“ Seine Stimme klang dünn und langgezogen.


    „Magst du denn kein Obst?“


    „Nein. Viel zu gesund.“ Er zog eine Grimasse.


    „Oh.“ Das war ihr jetzt doch etwas peinlich. „Das ist schade. Also eh-.“ Was sollte sie dazu erwidern? „Du magst echt kein Obst?“


    „Nein, ganz bestimmt sogar nicht.“ Ein angewidertes Gesicht verriet ihr, dass er nicht log. Das war jetzt schon fast amüsant. „He lachst du mich etwa aus?“


    „Nein. Das würde ich nicht machen.“ Juli ertappte sich dabei, wie sie angefangen hatte zu grinsen.


    „He hör mal, nicht jeder kann das Zeug mögen außerdem-.“ Rechtfertigt er sich gerade dafür? Ihre Augen wanderten zu dem Stapel Stoffen, während sich ihre Gedanken immer weiter vom Gespräch entfernten. Noels Stimme war nur ein weiteres Geräusch im Hintergrund. Was hatte er nur mit all dem Zeug vor und was war das überhaupt für ein seltsamer Raum? Ob er wohl hier aß? Es sah fast so aus wie eine Mischung aus Wohn- und Esszimmer, ähnlich wie es bei ihr Zuhause auch war. „Und deswegen ernähre ich mich auch nicht ungesund, sondern sehr ausgewogen. He, sag mal hörst du mir überhaupt zu?!“


    „Hm?“


    „Also doch.“


    „Sag mal. Wo isst du überhaupt Noel? Oder wie findest du überhaupt etwas in dem Durcheinander?“


    „Durcheinander? Das ist kein Durcheinander! Ich darf doch schwer bitten. Dieses Chaos hat eine perfekte Ordnung. Ich weiß genau wo was zu finden ist. Oh, ich weiß was. Lass uns ein Spiel spielen.“ Er strahlte.


    „Ein Spiel?“


    „Ja genau. Du sagst mir einen Gegenstand und ich sag dir, wo er zu finden ist.“


    Ein Gegenstand? Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.


    „Gut. Wie wäre es mit Tellern?!“


    „Pff“, er grinste siegessicher, „zu leicht.“ Mit einer schnellen Bewegung hob er den Stapel Tücher hoch. „Gewonnen.“


    „Oh.“


    „Und ich kann sogar noch mehr.“ Er griff nach dem Teller und ließ in von seiner Hand über die Schultern zur Anderen rollen. „Ich kann sie auch jonglieren.“ Er zog aus einem Regal einen weiteren Teller hervor und warf erst den Einen, dann den Anderen in die Luft. „Siehst du Juli? Ziemlich cool nicht?!“ Ihre Augen wurden groß. Er grinste breit und lachte dabei.


    „Noel ich denke nicht-.“


    „Und noch einer.“ Diesmal zog er einen Teller unter einen Stapel Bücher hervor. Ein weiterer Teller flog durch die Luft. Jetzt waren es schon drei. „Siehst du das Juli?“, gluckste er.


    „Noel-“, ihre Mundwinkel zuckten. Ihr Atem stockte. Was war das?! Hier war noch jemand?! Wieso bemerkte sie es erst jetzt? Ein Kind stand im Türrahmen - ein kleiner Junge, dessen Mund zu einer seltsamen lachenden Fratze verzogen war. Der Junge hatte schulterlange Haare, sah nicht älter als 11 aus und trug einen weiten Pullover. Juli schnappte nach Luft.


    „Was ist los?“ Noel drehte sich ruckartig um und zuckte zusammen. Alles passierte plötzlich ganz schnell. Erst war ein lautes Krachen von Porzellan zu hören und im nächsten Moment lagen die Teller in Scherben auf dem Boden. Seine Mundwinkel huschten nach unten. „Oh nein.“ Was war das für ein Kind?! Er hatte ihr nie davon erzählt, dass ein kleiner Junge bei ihm wohnte? Sie wurde nervös. Sei nicht albern Juli, das ist doch nur ein Kind! Doch offenbar kannte Noel das Kind. Dieses stand immer noch im Türrahmen und starrte sie beide an. Oder nein, vielmehr sah es durch sie beide hindurch. Sie schluckte. Juli bemühte sich um ein zaghaftes Lächeln. Der Junge ließ seinen Blick nicht von ihnen ab. Sie hatte das Gefühl, Klauen würde sich um ihren Körper legen, die sie nicht mehr losließen. Ein Kind, es ist nur ein Kind. Und dennoch. Bitte, schau wo anders hin. „Die schönen Teller. Das waren meine letzten Porzelanteller. Erdschreck mich doch nicht immer so!“


    „D-du kennst das Kind?!“, war das Einzige, dass sie unter zusammengepressten Lippen hervorbrachte.


    „Achso, du meinst Astor.“ Was passierte hier gerade?


    „A-Astor?“


    „Über den brauchst du dir keine Gedanken machen. Der streift nur durch das Haus. Das ist alles. Er verdient sich ein wenig dazu in dem er mir ab und an etwas unter die Arme greift.“ Astor zog eine Grimasse und streckte ihm die Zunge raus. „He, das weiß ich selber. Machst du dich etwa über mich lustig?“, brummte Noel. Er stemmte die Hände gegen die Hüfte. „Ja, ich hätte sie nicht fallen gelassen, wenn du hier nicht einfach im Türrahmen gestanden hättest. Denk mal drüber nach. Also ist es nur indirekt meine Schuld. Siehst du?“ Was ging hier gerade ab? Dennoch konnte sie nicht anders, als zu schmunzeln. Seltsam, hatte sie nicht eben noch Angst gehabt?


    „Ihr scheint euch ja prächtig zu verstehen.“


    „Hm.“, Noel zögerte, „es geht so.“ Er warf Astor einen flüchtigen Blick zu. „Um die Teller ist es jedenfalls echt schade, dabei wollte ich dir gerne etwas zu Essen anbieten.“


    „Oh. Das macht doch nicht.“ Sie hob beschwichtigend die Hände vor ihren Körper. „Ich brauche nichts.“


    „Es seiden...“ Er schlug seine Faust auf seine flache Hand. „Ich habs. Siehst du den Teppich? Schiebe ihn mal zur Seite.“ Der Teppich? Tatsächlich, sie standen auf einem Teppich. Bilder waren hinein gewebt worden. Er war bunt und aus ganz unterschiedlichen Fäden gewebt. Als sie ihn gerade zur Hälften aufgerollt hatte, kam eine Luke zum Vorschein. Verdutzt blinzelte sie. „Nun mach schon auf“, drängte Noel. Sie schob ganz vorsichtig die beiden Riegel an der rechten Seite auf. Noel wippte nervös von einem Bein auf das Andere. Was ist das?! Sie konnte nicht anders als irritiert von der Luke zu ihm hinaufzuschauen und blinzelte, doch Noel strahlte bereits wieder.


    „Das sind... Teller. Du hast Teller hier unten verstaut?“


    „Ja, genial, nicht? Stell dir das mal vor, später, viele 100 Jahre später, werden Leute hier vorbeikommen und in das mittlerweile verlassenen Haus gehen und sich denken: Hey vielleicht gibt es Schätze. Und dann werden sie diese Luke unter dem Teppich finden. Vielleicht werden sie einen Schatz dort unten vermuten? Aber weißt du, was sie stattdessen finden werden?“


    „Teller.“ Sie griff in das Loch und zog zwei Teller hervor. Er hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, dass er genau wusste, wo sich was befand. Irgendwie gab es in diesem wirren Haus tatsächlich eine schräge Art von Ordnung. Man konnte alles finden, man musste nur wissen wo.


    „Wirklich?“


    „Nein. Natürlich nicht. Ich hatte noch keine Schränke, also habe ich die Luke benützt und es dabei belassen. Aber, ich mag die erste Version mehr.“ Seine Mundwinkel hatten bei der Lüge nicht einmal gezuckt.


    „Du bist schon merkwürdig.“


    „Ich?“ Noel zeigte auf sich selbst. Sie lachten Beide. Moment, was machte sie da eigentlich? Deswegen war sie nicht hier. Ihr Hals wurde plötzlich trocken. Sie hatte sich schon wieder ablenken lassen.


    „Ich- es tut mir so leid wegen dem, was ich gesagt habe. Das hätte ich nicht sagen sollen. Eigentlich war ich es ja die sich kindisch benommen hat.“ Sie wandte ihren Blick nicht vom Boden ab. „Ich-“, wieder brach ihre Stimme ab. Sie könnte es ihm nicht verübeln, wenn er sie jetzt hasste, wagte es aber nicht, ihren Kopf zu heben. Wie sein Gesicht jetzt wohl aussehen würde? Bestimmt war er wütend und sie könnte es verstehen.


    „Willst du Instantnudeln?“


    „Noel-.“


    „Ich mein ja nur. Wäre schade, wenn sie schlecht werden würden.“


    „Ich...jetzt tu doch nicht so als ob ich mich nicht wie die letzte Idiotin benommen hätte. Ich- ich war echt-.“ Erneut konnte sie den Satz nicht beenden. Reiß dich zusammen. Wieso ist das nur so schwer?! Sie straffte ihre Schultern. Ich muss mich entschuldigen. Ich muss-.


    „Mach dir keine Gedanken. Ich bin es nicht anders gewöhnt. Die Leute reden gerne alles Mögliche über mich. Was macht es schon, wenn es noch jemand mehr tut?“


    „Ist- ist dir denn vollkommen egal was andere über dich denken?! Es muss doch unglaublich schrecklich sein.“ Wie konnte er nur so etwas sagen?! Noel öffnete den Deckel der Verpackung.


    „Hm...nein, wobei die Gerüchte momentan schon übel sind, nicht?“ Er lächelte schwach. Noel kratzte sich am Kinn und ließ die Verpackung der Instantnudel von einer in die andere Hand fallen. „Gibt es eine Sorte, die du gerne magst?“


    „Chili.“


    „Sehr gut. Die mag ich nicht.“


    „Und du hast sie trotzdem gekauft?“


    „Ich wollte sie ausprobieren. Hat allerdings nicht gut für mich geendet.“ Er zog eine Grimasse. „Das `scharf´ auf der Verpackung ist kein Witz. Das Zeug ist schrecklich.“


    „Aber du isst sie trotzdem?“


    „Essen kann man ja wohl schlecht, schlecht werden lassen.“


    „Stimmt“, sie grinste. „Weißt du was?“ Juli zögerte, schlucke und biss sich auf die Lippe. „Ich bin eigentlich sogar recht froh, dass wir uns getroffen haben. Tut mir leid. Ich glaube, wenn dich die Leute nur etwas besser kennen würden, dann würden sie dich bestimmt auch mögen.“


    „Hmm.“ Noel antworte nicht. Seine Hände zitterten plötzlich. Mit einem Mal wurde sein Gesicht blass, als sein Lächeln wackelte. Was ist los?


    „Du Juli... könntest du bitte gehen? Ich habe mir es anders überlegt.“ Seine Mimik wirkte locker, seine Haltung jedoch steif und dann presste er seine Lippen aufeinander. „Lass uns das mit den Instantnudeln wann anders machen.“ Von einen auf den anderen Moment kippte die Stimmung. Er lachte nicht mehr, vielmehr war sein Mund zu einem schmalen Strich geworden. „Ich zeig dir natürlich, wo der Ausgang ist.“ Er war bereits aufgestanden.“ Seine Beine wackelten. Also doch. Er war doch sauer. Seine Hand baumelte an seinem Körper. Habe ich... habe ich was Falsches gesagt? Tut mir leid. Alles ging so schnell vorbei und ehe sie sich versah, war sie schon fast wieder draußen. Er führte sie zur Haustür, schoss die Tür vor ihr und verschwand ins Innere des Hauses. „Ich muss noch etwas erledigen“, hatte gesagt, ehe er verschwunden war. „Es tut mir leid.“ Es gab nichts zu entschuldigen. So war ihr Besuch ganz abrupt beendet worden. Sie sah zu dem Gebäude hoch. Das hier war das Haus am Stadtrand. Noel O´Neils Haus.

  • >>Kapitel IV Kein schlechter Tag<<


    Noel



    Schlecht. Sehr schlecht. Ihm war spei übel. Fast erwartete er, sich gleich übergeben zu müssen. Das war in Ordnung, richtig? Es war nicht so schlimm wie an anderen Tagen. Heute würde er es schaffen. Seine Augen huschten nach draußen, als er durch das Fenster sah. Die Bäume bogen sich, als eine starke Böe sie erfasste. Ein Sturm würde bald schon aufziehen. Hoffentlich hatte es Juli wohlbehalten nach Hause geschafft. Er hätte sie nicht begleiten können, selbst wenn er es gewollt hätte. Etwas Unheilvolles lag in der Luft und es beunruhigte ihn. Dumme Juli. Wieso hatte sie ihn besuchen müssen? Wieso war sie überhaupt gekommen? Weil du sie eingeladen hast, deswegen ist sie gekommen. Richtig. Er sah müde zu dem Wäschekorb.


    „Ich weiß. Du denkst ich hätte es total vermasselt. Bin ein echter Idiot. Richtig?“ Astor stand im Türrahmen. Die Mundwinkel des Jungen zogen sich ganz unnatürlich nach oben, wurden zu einer Fratze, die ihn verhöhnte.


    „Gut dann muss ich es dir ja nicht selbst sagen.“ Seine Stimme hallte in seinem Kopf wider, wie ein Echo. Schnell drückte Noel sich von den kalten Holzdielen ab und kramte etwas aus einer Schublade. Sein Herz schlug unregelmäßig. Nicht gut. Es ist nicht hier. Er eilte zu einer anderen Schublade. Gehetzt sah er sich immer wieder um. In der zweiten Schublade fand er, wonach er gesucht hatte - ein paar Papiere und einen Stift. Als Nächstes griff er nach dem Feuerzeug, das neben dem Wäschekorb lag. Hastig rannte er von einem Raum zum Nächsten, immer den Blick nach draußen gerichtet. Hatten sie ihn gefunden? Nein, das konnte nicht sein, das war unmöglich. Sei nicht albern. Du wirst noch verrückt. Er kritzelte etwas auf das Blatt Papier, viel zu schnell, viel zu hastig.


    „Weiche Schatten, weiche Licht“, zischte er. Seine Lippen bewegten sich kaum merklich. Er klebte Zettel auf die Fenster. Mit einem kleinen Messer schlitzte er seine Haut auf. Blut tropfte auf den Boden, ehe er es auf das Blatt Papier presste und damit einen hässlichen roten Fleck hinterließ. Zuletzt zündete er es mit seinem Feuerzeug an. Ein bedrohliches Zischen ertönte, dann war es wieder still.


    “Das wird sie nicht ewig aufhalten.“


    „Halt den Mund Astor.“ Noels Augen waren zu Schlitzen verengt. „Das muss es auch nicht. Heute würde mir schon voll und ganz genügen.“ Er wollte ruhig sein, gelassen, doch seine Stimme bebte und seine Hände zitterten. Wieder ging ein Zettel in Flammen auf, dann noch Einer und noch Einer. Er hatte es fast geschafft. Sein Atem rasselte. Jetzt fehlte nur noch der Garten. Mittlerweile hatte es zu regnen angefangen, aber das hielt ihn nicht davon ab weiterzumachen. Er konnte das Donnergrollen hören, konnte die Blitze im Himmel sehen, die für einen Moment alles in ein grelles weißes Licht hüllten. Immer wieder sah er in die Ferne, schluckte, als Schweißperlen seiner Stirn herunterkullerten und seine Nackenhaare sich aufstellten. Konzentrier dich! Verdammt noch mal! Ablenkung konnte er jetzt nicht gebrauchen. Wieder ertönte ein Donnergrollen. Als er eines der Blätter befestigte, musste er zusätzlich eine Hand darüber halten, nur um zu gewährleisten, dass es ja nicht nass wurde. Er fluchte leise, als er sich beinahe verbrannte. Geschafft. Das letzte Papier war lichterloh in Flammen aufgegangen. Er hatte es an einer der Laternen befestigt. Seine Hände zitterten immer noch. Noel seufzte erleichtert auf, ehe sich seine Haltung lockerte und seine Muskeln sich entspannten. Pitschnass stand er strömenden Regen. Plötzlich wurde ihm wieder schlecht. Er krümmte sich und kniff die Augen zusammen, als er das Gefühl bekam, sein Magen würde sich umdrehen. Er kannte diese Schmerzen. Sein Hals war ganz trocken. Es wird schlimmer werden Noel. Viel schlimmer. Er rannte zum Haus, knallte die Türe hinter sich zu, dann ließ er sich auf den Boden sinken. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. Er hatte das Gefühl jeden Moment zu dehydrieren - von innen heraus auszutrocknen. Sein Atem rasselte, also schnappte er nach Luft. Ihm war schlecht, aber das war noch ertragbar. Seine Hände zitterten, während er alle Mühe hatte, seinen Kopf mit diesen abzustützen. Er presste sie an seinen Schädel und versuchte gleichmäßig ein und auszuatmen.


    „Heute ist also ein schlechter Tag“ Astor stand am Ende des Flures.


    „Geht schon.“, brachte Noel unter zusammengepressten Lippen hervor, „Ich habe schon viel schlimmere Tage erlebt. Mir ist nur etwas schummrig.“ Ich will das nicht. Ich will nicht. Ich will nicht nach oben. Ich will hier sitzen bleiben - für immer und ewig - aber ich muss. Reiß dich zusammen Noel. Er riss seine Augen auf, als sich seine Finger in seinen Schädel bohrten.


    „Natürlich. Ich sehe, dir geht es blendend.“


    „Ich...ich sollte jetzt nach oben gehen. Kümmerst- kümmerst du dich bitte um den Rest?“ Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie geworden.


    „Natürlich. Aber nur wenn ich Lust habe.“ Astor, du verdammter Dreckskerl!


    „Gut.“ Er hatte keine Zeit, um mit ihm weiter zu diskutieren. Nicht heute. Er musste sich einfach darauf verlassen, dass er das tat, was man ihm sagte. Hör einmal auf mich du verdammtes Arschloch. Astor war klug, er wusste, dass man seine Befehle nicht missachtete. Mit viel zu schnellen Schritten stieg er die Treppe hinauf. Nahm mehrere Stufen auf einmal. Seine Muskeln spannten sich an. Noel rannte nicht durch den Gang, beschleunigte aber seine Schritte, bis er eine Tür am Ende des dunklen Flures erreichte. Dieses Stockwerk war immer dunkel. Noel hasste es. Er schluckte, als er die Tür mit einem kräftigen Ruck öffnete, ging ganz zielstrebig auf die Regale an der Wand zu und öffnete die erste Schublade. Ungleichmäßig atmete er ein und aus, immer schneller und schneller, ehe seine Stirn zu glühen begann. Endlich. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Sein Blickfeld verschwamm immer mehr. Die Schublade, die er geöffnet hatte, war eiskalt. Noel brachte einen durchsichtigen Beutel hervor, der mit einer seltsamen viskosen roten Flüssigkeit gefüllt war. Als Nächstes zog er ein Tablett unter dem Bett heraus, auf dem mehrere Gläser gestapelt waren. Seine Hände zitterten so stark, dass er fast das Glas in seiner Hand fallen ließ. Endlich schaffte er es, den Deckel des Beutels abzuschrauben, und goss die rote Flüssigkeit in das Glas. Gierig nahm er erst einen, dann noch einen Schluck. Ein Glücksgefühl machte sich in ihm breit. Adrenalin pumpte durch seine Venen. Er konnte nicht stoppen. Seine Stirn war erst ganz heiß, dann ganz kalt. Was mach ich da? Es war immer das Gleiche. Beschämt sank er auf den Boden. Draußen schüttete es immer noch. Das Glas war mit nur einem einzigen Zug geleert worden. Am Rand konnte man immer noch kleine rote Flecken erkennen. Dieser Tag ist ertragbar. Was war nur dieses unbehagliche Gefühl, das er verspürte? Es bringt nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er würde es wohl ohnehin nie erfahren. Vielleicht sollte er sich um den Abwasch kümmern? Die hässlichen Flecken auf dem Glas störten ihn. Er drehte es, wog es mit seinen Händen. Wie ein Stein zog es ihn nach unten. Heute würde noch eine lange Nacht werden. Von draußen hörte er den Wind heulen. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheibe. Was geht da nur vor sich?

  • >>Kapitel V Ein Anfang und ein Ende

    Teil I<<


    Juli



    Regen prasselte gegen die Fensterscheibe. Draußen konnte sie ein lautes Donnergrollen hören. Sie zuckte zusammen. In einer Hand hielt sie einen Block, in der anderen einen Stift. Ihre Finger trommelten auf den Einband des Buches, das sie als Unterlage benützte. Konzentriert dich! Es brachte alles nichts. Juli hatte sich in eine Decke eingewickelt. Vielleicht sollte sie versuchen zu schlafen? Immerhin ist es schon zwei Uhr. Sinnlos, sie behielt einfach nichts mehr im Kopf. Mit einem Stöhnen erhob sie sich von ihrem Bett, während sie sich flüchtig in ihrem Zimmer umsah. Nur ihre Nachttischlampe spendete etwas Licht, ansonsten war es stockfinster. Die Silhouette eines Stuhles, der Umriss eines Regals und der Kleiderschrank in der Ecke - mehr konnte man nicht erkennen. Die Welt um sie herum war dunkel geworden. Geh wieder ins Bett Juli! Wenn sie jetzt nicht schlafen würde, würde sie morgen Probleme bekommen. Tick Tock, hörte sie ihre Uhr gleichmäßig ticken. Tick Tock – ihre Nerven wurden gespannt. Tick Tock – sie fingen an zu reißen. Schluss damit. Juli warf der Uhr einen tödlichen Blick zu. Wieder ertönte ein Donnergrollen. Sie schreckte hoch. Jetzt saß sie fast aufrecht im Bett. Es brachte nichts. Du musst schlafen Juli! Sie erhob sich und fing an, auf und ab zu gehen. Langsam wurde sie nervös. Julis Augen huschten erneut zum Wecker. Ihre Gedanken kreisten und kreisten - über Noel, den Tag, die Vorlesung, dann über ihre Mutter. Flüchtig sah sie zu der Zimmertür. Sie könnte nachsehen. Und wenn sie schon dabei war, konnte sie sich ein Glas warme Milch holen. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass das gegen Schlaflosigkeit helfen würde. Wo war das noch gleich gewesen? Sie schlich sich durch den Flur und öffnete leise die Tür. Ihre Mutter saß am Wohnzimmertisch. Ihr Kopf lag auf der Tastatur ihres Laptops. Ihre Arme waren ausgestreckt, ihre Lieder geschlossen, aber sie konnte erkennen, wie sich ihre Brust gleichmäßig hob und senkte. Sie schlief. Juli musste schmunzeln. So sah man sie selten - so unbesorgt und frei. Sie öffnete den Kühlschrank und zog ein Tetrapack heraus. Juli tastete die Arbeitsfläche ab, bis sie etwas fand, dass sich wie ein Glas anfühlte. Nach einer Zeit hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnte. Sie stellte das Glas Milch in die Mikrowelle. Pling. Das Geräusch ließ sie aufschrecken. Hatte sie ihre Mutter geweckt? - Nein. Die schlief ganz fest. Ob sie die letzten Tage überhaupt geschlafen hatte? Juli umfasste das warme Glas mit beiden Händen und grinste wollig, ehe sie es in zwei Zügen leerte. Nichts. Es half nichts. Fast war sie enttäuscht. Vorsichtig zog sie Tür wieder hinter sich zu und warf einen flüchtigen Blick zur Wohnungstür, am Ende des Ganges. Sollte sie einen Spaziergang machen? Draußen schüttet es. Ich bin nicht aus Zucker. Und wenn ich meinen Regenmantel anziehe? Sie wägte eine Möglichkeit nach der anderen ab. Tagsüber hatte ihre Mutter früher oft gearbeitet. Wenn sie nicht gearbeitet hatte, hatte sie ihren Nachbarn unter die Arme gegriffen und manchmal war Juli mitgekommen. Nur nachts war sie tatsächlich zuhause gewesen – nicht bei irgendjemand anderes. Bei Personen die Juli vielleicht nicht einmal gekannt hatte. Als sie noch jünger gewesen war und sie in einer Phase gekommen war, wo sie fast täglich von Albträumen geplagt worden war, da hatten sie oft gemeinsam einen Spaziergang unternommen. Es war stockfinster gewesen, aber das hatte Juli nicht gestört, denn ihre Mutter hatte ihre Hand gehalten und das hatte, ihr schon damals den Mut gegeben einen Schritt vor den anderen zu setzten. Sie hatten über alles Mögliche geredet, bis da kein Platz mehr für Albträume gewesen war. Julis Blick huschte zur Garderobe. Ich sollte mir etwas Passendes anziehen. Wie wärs damit? Ein Regenmantel, eine Matschhose und natürlich Gummistiefel? Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben, als sie sich ihre rote Jacke überwarf.



    ~+~




    Die Baumwipfel bogen sich. Der Wind heulte, als der Regen auf die Erde niederprasselte. Auf dem Schotterweg bildeten sich kleine Rinnsale, die zu immer größeren Pfützen wurden. Der Untergrund war matschig. Dreckiges Wasser spritze ihre Beine hoch. Plitsch, Platsch – sie kannte das schmatzende Geräusch unter ihren Füßen. Wo gehe ich hin? Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein Feld aus Schilf, das im Takt des Windes auf und ab wippte. Früher hatte sie darin immer gespielt, doch mittlerweile war sie zu alt dafür geworden. Das glitschige Nass unter ihren nackten Füßen, der Geruch von Erde, das Kitzeln einzelner Farne – Stopp Juli. Dass sie hier Schilf sah, hieß, dass hier in der Nähe der See sein musste, und zum See wollte sie auf gar keinen Fall. Wenn es viel regnete, dann stieg der Wasserpegel für kurze Zeit stark an und sorgte am Ufer für Überschwemmungen. Keine gute Idee. Der Himmel hatte sich pechschwarz gefärbt - keine Sterne, nur dunkle Wolken, dich sich bedrohlich zu einem Ungetüm aufbauschten. Was ist das?! Die Luft war geladen. Sie hielt dem Atem an und zitterte. Ihre Augen weiteten sich, ihre Nackenhaare stellte sich auf. Nein. Plötzlich, von einen auf den anderen Moment kippte Stimmung.



    Ein Schrei.



    Sie zuckte zusammen. Ihre Augen weiteten sich und sie schnappte nach Luft. Hatte da gerade jemand- ?! Nein. Nein, das ist unmöglich. Ihr Verstand erlaubte sich einen Streich mit ihr. Der Regen peitschte gegen ihren Körper, der Wind zerrte an ihrer Kleidung. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Das hatte sie sich nicht eingebildet? Was war das? Sie stand einfach nur da, erstarrte und wagte es nicht einmal, zu atmen. Ihre Muskeln spannten sich an. Ein Tier. Es ist nur ein Tier gewesen. Juli schluckte. Ihr Blick war auf das Schilffeld gerichtet. Es kam von da, richtig? Was war das?! Ihr Herz rutschte in ihre Hose. Sie musste nachsehen. Auf der anderen Seite des Feldes lag der Uferweg. Sie kannte den Weg, war ihn schon so oft entlanggegangen. Vielleicht war jemand gestürzt? Sie schluckte als sie einen Fuß vor den anderen tat. Ihre Füße wurden zu Wackelpudding. Reiß dich zusammen. Sei nicht albern. Ihr Lächeln wackelte. Du hast Angst Juli. Nein. Sie schüttelte den Kopf, doch ihre Hände zitterten immer noch. Mit jedem Schritt hatte sie das Gefühl, mehr im Untergrund zu versinken. Doch sie blieb nicht stehen und schob weitere Schilfgräser zur Seite. Wieso schlug ihr Herz so schnell? Das Wasser reichte ihr bis du den Knöcheln. Sie durchwatete das Feld, als ihr Puls zu rasen begann. Alles ist gut. Endlich, sie hatte die andere Seite erreicht und stand nun auf den Uferweg, der etwas oberhalb des Schilffeldes lag. Wieder wurden ihre Augen groß, als ihr Atem ins Stocken kam. Dort war nichts. Das ist nicht möglich. Die Luft knisterte immer noch. Eine Spannung lag in der Luft. Hier stimmt etwas nicht. Der laute Schrei, der gegen ihr Trommelfell hämmerte. Sie hatte sich das nicht eingebildet. Mein Handy. Sie kramte es hervor, doch ihre Hände zitterten so stark, dass sie es beinahe fallen, ließ. Sie schluckte, nickte, ehe sie es schaffte die Taschenlampe zu aktivieren.


    Was zum Teufel?! Sie schnappte nach Luft, taumelte zurück. Das kann nicht sein. Das ist unmöglich. Das matte Licht der Lampe viel auf den Schotterweg. Ihre Wangen wurden heiß. Sie hatte mit allen gerechnet. Mit allen - nicht damit. Auf den Boden, zwischen Erde und Kies waren Anzeichnen einer Blutlache zu erkennen. Sie vermischte sich mit dem Regenwasser und wurde mit jeder verstrichenen Sekunde unsichtbarer. Nein. Bitte nicht. Ihr wurde übel. Juli hielt sich die Hand vors Gesicht. Bitte. Das muss ein Irrtum sein. Ich träume. Was ist hier passiert?! Was wenn-. Sie wurde leichenblass. Wurde sie beobachtet?!


    “Hil-“ Ihr Herz blieb fast stehen. Lauf Juli. Lauf, solange du noch kannst. Sie begann zu rennen. Ihr Atem rasselte. Immer wieder peitschte Schilf in ihr Gesicht. Es kümmerte sie nicht. Mit einem Mal war die Welt um sie verstummt, war zu einem einzigen Herzschlag – ihren eigenen – reduziert worden. Das muss ein Albtraum ein. Was sollte sie nur tun?! Was konnte sie überhaupt tun?! Ihr Puls raste. Sie hatte niemanden, den sie fragen könnte. Sie war alleine. Nein. Noel, schoss es in ihr in ihren Kopf.


    Er wohnte hier in der Nähe. Er musste ihr einfach helfen. Er musste! Sei nicht albern. Ja, sie war albern, unglaublich albern, aber wen sollte sie sonst fragen? Sie rannte und sah kein einziges Mal zurück. Ihr Blut kochte. Adrenalin pumpte durch ihre Venen. Sie blieb nicht stehen. Immer wieder kam sie ins Stauchen, fiel, stand wieder auf. Ihre Seite begann zu stechen. Sie blieb nicht stehen. Mach weiter. Ihre Augen tränten. Ren weiter. Das Haus – ihr Herz machte einen Satz – sie stand endlich davor. Ohne zu zögern, zog sie an der Klingel und holte tief Luft. Für einige Minuten passierte nichts. Bitte mach auf. Schweißperlen klebten auf ihrer Stirn. Paranoid blickte sie in alle Richtungen. Bin ich alleine?! Bei den Göttern, Noel mach auf! Tränen kullerten ihre Wange hinunter. Sie hörte ein Geräusch hinter sich, doch wagte sie es nicht, zurückzublicken. Bitte.

  • Hallo,


    bisher hast du eine spannende Basis geschaffen. Die ungewollte Begegnung mit Noel scheint Juli immer weiter in eine Sache hineinzuziehen, die sie vermutlich nie gewollt hätte. Wobei ich anhand der bisherigen Hinweise vermute, dass es sich bei Noel um einen Vampir handelt und er nicht der Einzige in der Umgebung zu sein scheint. In diesem Zusammenhang wundert es mich kaum, dass er von allen anderen als seltsam angesehen wird. Privat wirkt er eigenbrötlerisch, witzig, verpeilt und doch zuvorkommend. Dadurch macht er, ähnlich wie Juli, einen charakterlich recht menschlichen Eindruck. Ich bin gespannt, wie es weiter geht.


    Wir lesen uns!







  • >>Kapitel V Ein Ende und ein Anfang

    Teil II<<



    Juli




    Endlich, Noel öffnete die Tür. Ihr Herz machte einen Satz.


    „Noel.“, piepste sie. Ihre Stimme war leise, kaum lauter als ein Flüstern.


    „Um Gottes Willen. Was ist passiert?“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, sein Gesicht war kreidebleich und seine Haare zerzaust.


    „Ich- ich kann...es ist-.“ Sie brachte keinen Satz heraus, schnappte nach Luft und hatte das Gefühl zu ersticken. Als ob ein Strick sich um ihre Kehle legte und sich langsam, mit jeder verstrichenen Sekunde, zuzog. Tränen kullerten über ihre Wange. „Es ist... ich glaube etwas ganz Schreckliches ist passiert!“


    „Ganz ruhig. Atme ein und aus. Und dann-.“ Sie hatte keine Zeit. Sie mussten jetzt los! Juli griff wie ferngesteuert nach seiner Hand und lies ihn nicht einmal Zeit, sich umzuziehen. Du musst mit mir kommen. Du musst-. Alleine hatte sie doch keine Chance. Ihre Lunge brannte. Doch Noel blieb stehen. Rührte sich keinen Meter. Das Getöse des Windes wurde lauter, bedrohlicher.


    „Neol, es ist-. “ Ihr Herz pochte ganz laut, als ihre Stimme erneut abbrach. Sie musste sich beruhigen. Juli atmete ein und aus, während sie die Augen schloss. Erneut versuchten ihre Lippen einen Satz zu formen. „Jemand-“, wieder schossen Tränen in ihre Augen, „ich glaube etwas ganz Schreckliches ist passiert. Und ich...ich wusste einfach nicht...ich konnte-.“ Einatmen. Ausatmen. „Wen hätte ich sonst Fragen sollen?!“ Ihre Augen waren gerötet und geschwollen. „Jemand hat geschrien da habe ich-.“ Vielleicht hätte sie der Spur folgen sollen? Vielleicht hätte sie nicht kommen sollen? Was wenn es jetzt zu spät ist? „Ich bin so ein entsetzlicher Feigling Noel!“


    „Ein Schrei?!“ Er sah sie entgeistert an, doch sie beachtete ihn nicht weiter. Alles drehte sich. Ein widerlicher, süßlicher Geschmack machte sich auf ihrer Zunge breit, als Flecken in ihrem Blickfeld zu tanzen begannen.


    „Aber als ich angekommen bin da-. Ich wollte doch nur–. Noel, da war niemand, aber ich habe Blut gesehen! So entsetzlich viel Blut.“ Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu. War er schon immer so blass gewesen? Sein Blick war ruhig, gelassen, seine Hände zitterten nicht, nur sein Lächeln wackelte. Kurz, flüchtig, kaum sichtbar. Wieso? Wie konnte er nur so ruhig bleiben?!


    „Juli. Beruhige dich. Das kann genauso gut nur ein Tier gewesen sein.“ Wieder kullerten Tränen über ihre Wange.


    „Noel. Ein Tier?“ Ihre Lippen formten einen schmalen Strich. Konnte es ein Tier gewesen sein? Aber wo war dann der Körper? „Aber was, wenn es kein Tier war, Noel?!“, presste sie hervor. „Was, wenn sich jemand verletzt hat und jetzt Hilfe braucht? Oder noch schlimmer. Was, wenn ein Irrer hier rumläuft?“


    „Juli, du musst dich beruhigen. Hast du heute überhaupt geschlafen? Komm erst einmal rein, dann können wir gemeinsam drüber nachdenken, was unser nächster Schritt ist.“ Sie zögerte. Sie fühlte sich seltsam müde und träge. Fast als ob ihr Körper im Begriff war, seinen Dienst zu quittieren. Von Kopf bis Fuß triefte sie. Ihre Matschhose war übersät von hässlichen braunen Flecken, ihre Haare von Schweiß und Dreck verklebt – sie war in einen echt miserablen Zustand.


    „Aber ich-.“


    „Wenn wir jetzt gehen, dann werden wir im schlimmsten Fall noch von einem Baum erschlagen.“


    „Aber-.“


    „Wenn wir beide tot sind, dann können wir auch niemand anderen mehr helfen.“


    „Aber wenn-.“


    „Komm.“ Wieder sah Noel abwechselnd zur Tür, dann zu Juli, während er ihr eine Hand entgegenstreckte. Sie schluckte. Erst nach ein paar Sekunden griff sie, wenn auch zögerlich, danach. Ein Schwall warmer Luft kam ihr entgegen, als sie durch die Haustür trat. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie gefroren hatte. Ihre Finger waren rot und fühlten sich seltsam taub an. Wie war das möglich?


    „Ich-.“ Ihre Augen waren immer noch gerötet.


    „Astor, kannst du bitte ein paar Tassen holen?“ Sie sollte zusammenzucken, sollte überrascht wirken und sich wundern, sollte sich fragen, wer das Kind eigentlich genau war, wieso es überhaupt in so einer stürmischen Nacht bei ihm war. Sie tat nichts davon. Stattdessen verschränkte sie ihre Arme und presste sie an ihren zittrigen, nassen Körper.


    „Ich-. Was wenn der Person etwas passiert ist? Was wenn sie stirbt, weil-.“


    „Wir wissen doch noch gar nicht was los ist. Und dieser Mensch könnte genauso ein Tier gewesen sein. Ein Reh, das von einem Wolf erwischt wurde.“


    „Machst du dir denn gar keine Sorgen?“ Seine Mundwinkel zuckten. Sie konnte seinen Blick nicht deuten. Er zog sie durch eine weitere Tür am Ende des Ganges. Es war nicht der Weg, den sie letztes Mal genommen hatten. Flüchtig wanderte ihr Blick zur Treppe zu ihrer Linken, doch da wurde sie schon weitergezogen. Der Raum, den sie jetzt erreichten, war anders als die Anderen. Es handelte sich um eine riesige Bibliothek, mit mehreren Stockwerken. Tausende von Büchern. Prunkvolle, strahlend, surreal – wie ein Traum aus einem anderen Leben. Doch er stoppte nicht, hielt keine Sekunde inne, als dass sie einen zweiten Blick darauf hätte werfen können. Da standen sie wieder. Er stoppte seinen Schritt nicht. Nicht bevor sie nicht das Ziel erreicht hatten. Das ist das Wohnzimmer? Sie waren wieder im gleichen Zimmer, in das er sie auch das letzte Mal geführt hatte. Noel brachte einen Topf und ein Päckchen mit der Aufschrift „Kakao“, zum Vorschein. Mit einer schnellen Bewegung schob er eine Topfpflanze zur Seite und drehte an einem Rädchen der Herdplatte. Eine kleine Flamme erschien, die ein Lächeln auf Noels Lippen legte.


    „Du denkst also es war ein Mensch.“, sagte er schließlich und war immer noch der Kochfläche zugewandt. Seine Stimme klang seltsam abwesend.


    „Ich weiß nicht...ich-.“


    „Genau, du sagst es.“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Aber Pessimismus bringt uns nichts. Du hast Blut auf einen Weg gesehen und bist dir sicher, dass es nichts Anderes sein kann als das eines Menschen? Richtig?“


    „I-Ich weiß nicht ...ich-.“


    „Du hast einen Schrei gehört und auch dort warst du dir sicher, dass es ein Mensch gewesen sein muss.“


    „Ich-.“ Sie verstummte. Im Hintergrund konnte man das leise Zischen des Herds hören, der die Milch im Topf langsam aufheizte.


    „Was wenn es kein Mensch gewesen ist? Ich habe das schon vorhin gesagt, aber es ist nichts Ungewöhnliches, dass irgendein wildes Tier verendet. Und es war Nacht, wie gut siehst du in der Dunkelheit? Wer sagt denn, dass das, was immer du auch gesehen hast, tatsächlich Blut war?“, murmelte er und schüttelte den Kopf. „Wenn wir uns selbst in Gefahr bringen, wer soll uns dann noch helfen?“ Aber sie war sich sicher! Oder doch nicht? Es war dunkel gewesen. War das, was sie gesehen hatte, wirklich Blut gewesen? Vielleicht doch nicht. Aber was soll es sonst gewesen sein? Alles - es konnte alles sein. Sie war müde gewesen. Hatte kaum geschlafen. Wahrscheinlich spielte ihr Verstand ihr einen Streich. Vielleicht.


    „Ich...also...ich-.“ Sie schluckte und sah beschämt zu Boden. Richtig, wie war sie nur darauf gekommen? Was war nur in sie gefahren? Dennoch konnte sie die Angst nicht vergessen, die sich tief in ihr Herz gefressen hatte. „D-Du hast Recht. Wie dumm von mir. Ich wäre glatt nachgelaufen und wäre wahrscheinlich-.“ Was wäre dann passiert? Wäre sie womöglich in den Wald gelaufen und von einem Baum erschlagen worden? Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie musste verrückt gewesen sein. „Es tut mir leid. Jetzt merke ich es selber. Wie dumm von mir.“ Sie lachte – ein bitteres Lachen – und senkte ihren Blick. Würde er sie auslachen?


    „Nein, du hast einfach ein gutes Herz, deswegen machst du dir Sorgen. Für so etwas sollte man sich nicht schämen.“ Er sah nicht auf. Hinter der lockeren Miene lag etwas Unbekanntes verborgen. Seine Stimme klang angespannt. Was-? Sie konnte ihren Gedanken nicht zu Ende führen. Astor tauchte wie aus dem Nichts auf und ließ drei Tassen über den Tisch schlittern. Noel rümpfte die Nase, sah flüchtig zu Astor und lachte schadenfroh. „Mutig von dir zu erwarten, ich würde dir auch einen machen.“ Wieder zogen sich die Mundwinkel des Kindes nach oben, als der Junge auf einer ganz schaurigen Art und weiße zu kichern begann. Astor trug ein weites Nachthemd und eine weite, schwarze Hose. Seine Haut war so bleich wie ein Blatt Papier. Was für ein unheimlicher Anblick. Sie sog die Luft ein. Das Kind sah in ihre Richtung, beobachtete sie und ließ seinen Blick nicht von ihr ab. Ein Schauer durchfuhr sie. Noel umklammerte mit beiden Händen die Griffe des Topfes und füllte die qualmende Milch nach und nach in die Metalltassen um, dann schnappte er sich einen Löffel und schüttete in zwei der drei Tassen einen Teelöffel Kakaopulver hinein. Bei der Letzten waren es allerdings vier gewesen. Erst als Juli fragend eine Augenbraue hob, stellte er verlegen die Tüte zur Seite und begann umzurühren.


    Es schüttete immer noch. Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben und drückte sie nach innen. Äste kratzten an der Oberfläche des Glases. Noel und Juli warteten auf den Moment, wo der Regen schwächer wurde und sich das Unwetter endlich legte. Einen Moment sahen sie nur nach draußen und schwiegen, während sie ihre heiße Schokolade schlürften. Ihre Blicke wanderten immer wieder nach draußen, wo Wort wörtlich die Welt unter ging. Es war Noel, der zuerst wieder zu sprechen begonnen hatte.


    „Sag mal. Was hast du eigentlich um diese Uhrzeit draußen gemacht?“, murmelte er abwesend und rührte erneut in seiner Tasse um. Der Löffel kratzte über die metallene Oberfläche. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Richtig, was war eigentlich gestern Abend los gewesen? Das habe ich ihn nie gefragt. Müde sah sie erst zu ihrer Tasse, dann zu ihm. Wie spät war es jetzt wohl?


    „Hm ich? Also-“, ihr Lächeln wackelte, „ich wollte spazieren gehen. Das mache ich öfters, wenn ich nicht schlafen kann.“ Die Tasse in ihren Händen war immer noch angenehm warm. „Aber wieso warst du eigentlich noch wach Noel?“


    „Ich schlafe meistens nicht viel. Schlafstörung und so.“


    „Hm. Noel, wie also wie geht es dir eigentlich?“


    „Mir?“, er lächelte und schüttelte den Kopf. Für einen Moment schwieg er, dann nickte er und öffnete den Mund. „Gut. Danke der Nachfrage.“ Noel stütze sich auf seinen Ellbogen ab und lächelte verschlafen. „Das ist schon...Irgendwie ist das schon urkomisch.“


    „Was?“ Juli legte den Kopf schief. Was meint er damit? Noel gab ihr keine Antwort. „He!“, brummte sie, musste dann aber selbst lachen. Wenn man es so betrachtet. Wahrscheinlich würde bald der nächste Morgen anbrechen und sie saßen gemeinsam an einem Tisch und redeten. Irgendwie hatte die ganze Situation tatsächlich etwas Surreales. Erst jetzt bemerkte Juli wie müde sie eigentlich war. Ihre Augenlieder fühlten sich schwer an. Sie streckte sich und gähnte.


    Draußen hatte der Sturm etwas nachgelassen. Sie sahen beide aus dem Fenster und warteten eine weitere halbe Stunde, bis der Regen endgültig stoppte.


    „Ich glaube du solltest langsam nach Hause gehen. Es ist schon spät. Oder früh. So sicher bin ich mir da nicht.“ Er kratzte sich am Kinn. „Jedenfalls, mach dir keine Gedanken. Morgen ist schon ein anderer Tag.“ Sein Lächeln war warm und ließ sie schmunzeln.


    „Du meinst heute?“ Juli grinste.


    „Du scheinst es verstanden zu haben. Pass auf dich auf.“, flüsterte er und begegnete ihr mit einem warmen Lächeln, wie er sie zur Haustür führte. Noel hatte Recht. Es brachte überhaupt nichts, sich Gedanken zu machen, ganz besonders wenn sie nicht einmal wusste, ob überhaupt etwas passiert war. Jetzt kamen ihr ihre Sorgen plötzlich ziemlich albern vor.


    „Danke Noel.“ Es war ein ehrliches, herzliches Danke.


    „Oh also-“, er sah zu Boden, senkte den Blick, ehe er hastig weitersprach, „nicht dafür Juli.."


    _____________________

    Anmerkung: Das nächste Kapitel kommt wahrscheinlich deutlich später. Im Moment überarbeite ich den ersten Ark und werde hoffentlich im September damit fertig. Der zweite und dritte scheinen allerdings sehr viel mehr Zeit in Anspruch zu nehmen und ich muss mir Gedanken machen ob ich das ein oder andere umschreiben sollte. Dementsprechend kommt nächste Woche ein Kapitel, und die darauffolgende Woche eins.

  • >>Kapitel VI Froschmarie und Oliver<<


    Juli


    „He du! Ja du!“ Der Junge hatte eine Grimasse gezogen. Juli erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Das kleine Mädchen blinzelte überrascht, deutete erst auf sich, dann auf ihn. „Ich meine schon dich. Mum hat mir gesagt ich soll auf dich aufpassen. Sie hat mit deiner Mutter geredet. Du sollst mit uns fahren.“ Irritiert hatte sie ihn angesehen, als sie den Atem angehalten hatte.


    „Aber Mama-.“


    „Du bist echt ne lahme Ente. Nun komm endlich.“ Als das kleine Mädchen die Worte des Jungen hörte, da sank es auf die Knie und hatte begonnen zu weinen. Etwas unbeholfen hatte der Junge abwechselnd zu ihr, dann zu seiner Mutter gesehen. „Deine Mama wird nicht kommen. Die muss arbeiten. Hat meine Mama zu mindestens gesagt. Erwachsene müssen nun einmal Arbeiten. Also komm jetzt. Wir sind auch ganz sicher nicht böse.“ Weil er nicht gewusst hatte, was er sonst tun sollte, hatte er sie am Handgelenk gepackt und hinter sich hergezogen. Die Mutter des Jungen hieß Margaret Raymond, eine unglaublich liebe Frau, die sie im Leben noch nie bekümmert oder traurig gesehen hatte. Doch Juli hatte geschrien, sich die Augen gerieben bis ihr Hals trocken wurde und ihre Stimme heißen. Margaret Raymond war nie böse gewesen, und wie sie Juli weinend am Boden gesehen hatte, hatte sie ihr lediglich ein warmes Lächeln geschenkt.


    „Nana, da ist aber jemand traurig. Aber du brauchst keine Angst haben. Wir sind nämlich keine Drachen. Aber weißt du, wer ein Drache war?“, hatte Margaret plötzlich zu reden begonnen. Und dann hatte sie angefangen, eine Geschichte zu erzählen. Auf ihren Lippen hatte immer ein verspieltes Lächeln gelegen. „Sir Pharell. Ich habe ihn selbst gekannt, das müsst ihr mir glauben. Es war ein netter, wenn auch etwas schräger Kauz.“ Wie ging die Geschichte weiter? Juli wusste es nicht mehr, aber sie hatte sie schon damals dazu bewegt, aufzuhorchen und sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Frau Margaret Raymond hatte sie oft zusammen mit Oliver vom Kindergarten abgeholt und jedes Mal hatte eine neue Geschichte auf sie gewartet. Irgendwann hatte es ihr gar nichts mehr ausgemacht, dass ihre Mutter sie nicht abholen kam. Viele unterschiedlichste Menschen waren über die Türschwelle der kleinen Wohnung getreten. Sie hatten sich `Freunde ihrer Mutter´ genannt. Nur manchmal war sie alleine im Haus gewesen, hatte am Küchenstich gesessen und darauf gewartet, dass ihre Mutter nach Hause kommen würde. Und gelegentlich hatte Oliver sie besucht. Früher hatte man sie oft zusammen gesehen und manchmal, da hatte sich Oliver während der Pause zu ihr gesetzt und sie hatten sich die Brotzeit geteilt. Es gab viele Erlebnisse, an die sie sich genau erinnern konnte, selbst nach all den Jahren. Eines Tages hatte das Mädchen und der Junge jeweils eine Sandburg gebaut. Aus ihrer kindlichen Perspektive war es das Beste, was sie je gemacht hatte. Den ganzen Tag hatte sie daran gebaut. Oliver war offenbar anderer Meinung gewesen. Mit einem Tritt hatte er ihre ganze Arbeit zunichtegemacht. Er war rot angelaufen und hatte sich beleidigt in eine Ecke gesetzt. „Dumme Marie.“ An diesem Tag hatten beide geweint. Sie, weil eine unglaubliche Heulsuse gewesen war, er weil er Ärger von seiner Mutter bekommen hatte. Als sie ihn ausschimpfte, da hatte er begonnen zu schreien. „Wegen dir mag mich Mama jetzt nicht mehr.“ Damals hatte sie gedacht, dass sie bestimmt nie wieder miteinander reden würden, und das hatte sie schon damals unglaublich traurig gemacht. Doch am nächsten Tag hatte er sie aufgesucht und hatte ihr nicht einmal mehr in die Augen sehen können.


    „Es tut mir leid. Ich war total gemein!“ Vielleicht hatte der kleine Junge diese Worte nur gesagt, weil seine Mutter ihm mit einem Verbot gedroht hatte, aber dem Mädchen war es egal gewesen. Danach hatten sie gemeinsam eine Sandburg gebaut. Sie erinnerte sich noch gut an diese Zeit. Sie hatten viel zusammen erlebt, wenn auch nicht immer Positives. Trotzdem hatte sie sich immer ganz besonders gefreut, wenn Frau Raymond sie gefragt hatte, ob sie nicht mit auf einen Ausflug wolle. Vielleicht war es kindisch, aber sie hatte sich diese Tage immer mit einem fetten, roten Stift im Kalender markiert.


    Zu ihrer Kindergartenzeit hatte sie lediglich eine Hand voll Freunde gehabt, als sie dann allerdings in die Schule ging, waren viele dieser flüchtigen Bekanntschaften in Sande verlaufen. Ein paar ihrer Freunde waren weggezogen, andere gingen einfach nur auf eine andere Schule. So einfach hatte sich das kleine Mädchen allerdings nicht geschlagen geben wollen, deshalb beschloss sie, Briefe zu schreiben, auch wenn sie zu jener Zeit noch keinen blassen Schimmer vom Schreiben gehabt hatte. Manchmal hatte sie Stunden lang nur an einem Buchstaben, dann ein Wort und schließlich an einen Satz geübt. Wenn sie nur schreiben könnte, dann könnte sie bestimmt – ganz bestimmt – den Kontakt halten. Und gelegentlich hatte Oliver sie besucht.


    „Hör doch mit dem Blödsinn auf, das schaffst du doch eh nicht. Lass uns lieber draußen spielen.“ Aber sie hatte sich nicht von ihren Vorhaben abbringen lassen.


    In dem Moment, wo sie beiden zur Grundschule wechselten, da hatte Frau Raymond damit aufgehört, sie mit dem Auto hinzufahren. Stadtessen waren sie den Schulweg immer zusammen gegangen. Das Mädchen war sich nie sicher, ob sie wirklich Freunde gewesen waren, Tatsache war allerdings, dass sie sich jede Woche mehrere Male getroffen hatten, zumal Frau Raymond darauf bestand, dass sie sie besuchen, kommen sollte. An schlechten Tagen hatten sie immer Brettspiele gespielt, die sie ihn fast immer gewinnen ließ. Er war ein schlechter Verlierer. Außerdem hatte er sich bei einem Sieg immer so gefreut und sie wollte ihn nicht wütend machen. Damals hatten sie noch viel zusammen unternommen.


    Später wechselten sie gemeinsam auf eine weiterführende Schule. Wieso erinnerte sie sich an kaum etwas? Sie hatte immer viel gelernt, schließlich hatte sie sich fest vorgenommen, einen guten Abschluss zu bekommen, und damit konnte man ja nie früh genug anfangen. Die Mutter des, nun nicht mehr ganz so kleinen Mädchens, war immer noch nicht oft zu Hause, aber sie war es nicht anders gewöhnt, also hatte es sie nicht weiter gestört. Viele verregnete Tage hatte sie alleine im Lernzentrum verbracht. Seite um Seite, Buch um Buch, waren ihre Augen von Zeile zu Zeile gehuscht. Sie war nicht klug, aber sie hatte zumindest nicht ihre Mutter enttäuschen wollen.


    „He lass uns etwas unternehmen, lass uns schwimmen gehen, lass uns zum Zirkus.“ Sie hatte jedes Mal abgelehnt. Seine Faust war auf den Tisch gelandet und sein Gesicht hatte sich rot gefärbt. „Gut.“, hatte er geschrien. „Dann eben nicht.“ Er musste nie viel lernen, verstand alles immer so schnell. Vielleicht hatte sie einfach nur mit ihm mithalten wollen. Mit jemand, der so viel schneller rannte, als sie es je könnte. Oft hatte sie ihn verstohlen hinterher gesehen, als er mit seinen Freunden etwas unternommen hatte. Die anderen Schüler hatten oft dumme Dinge über das Mädchen gesagt, aber dem Mädchen kümmerte es nicht, denn Oliver war ja da gewesen. Und sie mochte Oliver. Immer wenn er an ihr vorbeigegangen war, sich zu ihr heruntergebeugt hatte und ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte, dann war sie schon damals rot angelaufen. Doch hatte sie sich so sehr dafür geschämt, dass sie jedes Mal ihren Blick gesenkt hatte. Irgendwas änderte sich. Was war es nur? Er hatte begonnen sich für sie zu schämen, in dem Moment wo die Leute ums sie herum begonnen hatten über sie zu reden. Vielleicht fürchtete er sich auch. Sie hätte ihn nicht böse sein können. Für sie war er immer noch der Junge, mit dem sie als Kind versucht hatte, eine Fischfalle aus einem Glas zu bauen, oder einen Baum erklommen hatte. Und so würde es doch gewiss auch immer bleiben? Einmal war ein besonders schlimmer Tag gewesen. Es hatte geschüttet wie aus Eimern. Sie hatte auf dem nassen, schlammigen Boden der Straße gelegen. War sie gestolpert? Wie dumm von ihr. Doch als er sie sah, da hatte er ihr, ohne zu zögern, eine Hand entgegengestreckt.


    „Nun steh schon auf, dumm Marie.“, hatte er gesagt, während er seinen Blick abgewandt hatte. Vielleicht hatte er auch Mitleid gehabt. Was hatte sich nur verändert? Plötzlich war es ihm unangenehm, mit ihr gesehen zu werden. Sie sollte Abstand zu ihm halten. Dieser Abstand war mit jedem verstrichenen Tag größer geworden. Sie hatte gedacht das Nichts mehr so, wie früher werden würde. Dabei hatte sie nichts anders gewollt, als bei ihm bleiben zu dürfen. Vielleicht hatte ihr Herz deshalb damals einen Satz gemacht, als er ihr sagte, dass es ihm leidtäte, dass er sie mochte, dass er sie vermisste oder, dass er sie seinen Freuden vorstellen wolle. Wie verrückt hatte ihr Herz gepocht, als sie an die Tür seines Klassenzimmers geklopft hatte. Was sie erwartet hatte, war nicht Oliver. Schüler standen dort. Finger wurden auf sie gerichtet. Menschen lachten. Doch Oliver, Oliver war nicht da gewesen. Ihre Brust hatte sich zusammengeschnürt. Das Mädchen war sich sicher – ja ganz sicher sogar – gewesen, dass sie diesen Tag nicht überleben würde. Doch sie hatte ihn überlebt, wenn sie auch den ganzen restlichen Tag auf einer Parkbank gesessen und geweint hatte.


    „Als ob ich mit einem Frosch etwas anfangen würde. Ich meine seht sie euch doch ein? Was ist das für eine Nase? Was für komische Augen!“ Diese Worte hatten sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt, als sie sich so verloren gefühlt hatte. Die Passanten hatten sie ganz komisch angesehen, doch das hatte sie nicht mehr gekümmert. Sie hatte sich in der Schulbibliothek verkrochen und hockte fortan dort ihre Zeit in den Pausen ab. Seit diesen Tag redeten sie kaum noch miteinander. Vielleicht war es besser so, hatte das Mädchen zu sich selbst gesagt und versucht das Beste, daraus zu machen. Manchmal hatte Frau Raymond sie gefragt, ob sie sie nicht besuchen wolle, hatte sogar einmal aus Scherz gemeint, ob sie und Oliver jetzt zusammen wären. Sie vergaß die Furchen, die ein paar wenige Worte ihn ihren Herzen hinterlassen hatte, nie wieder. Doch natürlich hatte sie trotzdem gelächelt, auch wenn es dieses Mal ein müdes, erschöpftes Lachen war.


    „Ich muss lernen. Ich habe leider keine Zeit. Es tut mir leid Miss.“ Es war besser so. Und so kam schließlich der Tag des Abschlusses. Er kam und ging und es war ein schöner Tag gewesen - einer der Schönsten überhaupt, denn ihrer Mutter war gekommen. Und so hatte ihre Schulzeit geendet. Die Monate darauf hatte sie sich für unterschiedliche Universitäten beworben. Sie hatte nicht einmal gewusst, welchen Studiengang sie eigentlich belegen wollte, aber wenn sie hier zur Uni gehen würde, vielleicht könnte sie ihre Mutter dann unterstützen? Sie erinnerte sich immer noch an ihren ersten Tag. Das Mädchen, das jetzt kein Mädchen mehr war, hatte es nicht glauben können – ausgerechnet Oliver hatte dort hinter der Tür des Vorlesungssaals gestanden. Ihr Herz hatte einen Satz gemacht. Aber sie hatte sich geirrt. Sie wollte eine Hand heben, doch er hatte in eine andere Richtung gesehen. Und sie? Sie hatte die Hand wieder gesenkt. Da war ihr Lächeln verschwunden und sie hatte sich wortlos auf einer der leeren Stühle gesetzt. Es hatte sich im Grunde nichts geändert? Seitdem hatte sie versucht, in der Masse unterzutauchen. Denn jemand der nicht existierte, um den kümmerte man sich auch nicht. Aber vor allen Oliver hatte sie aus dem Weg gehen wollen. Und eine ganze Zeit lang, hatte das meistens auch funktioniert.



    ~+~



    Ein gellender Schrei hatte die Nacht in Stücke gerissen, während ihr Herz beinahe gestoppt hätte, ehe sie nach Luft geschnappt hatte. Dieser Schrei, was konnte es gewesen sein? Alles um sie herum war verschwommen gewesen. Sie musste sich erinnern.


    „Es war ein Tier Juli.“, hörte sie Noels Stimme in ihrem Kopf widerhallen. Damals hatte ihr ganzer Körper gezittert. Sie hatte nicht schlafen können und hatte deswegen einen Spaziergang gemacht. Dann war da dieser Schrei gewesen. Schrill und laut schnitt er sich durch das Getöse des Sturmes. Dieser Schrei, der spitze Ruf – ihre Augen wurden groß – es war kein Tier gewesen. Sie war heute Morgen wieder zu der Stelle gegangen, zu dem Uferweg, zu dem sie schon gestern gerannt war. Alles sah anders aus, sobald man es am Tageslicht sah. Dort war nichts. Die verschmierten Spuren von Blut waren nicht mehr dort. Wieder war das Bild der Nacht in ihren Kopf aufgetaucht. Die Baumwipfel, die sich bogen, das Schilf, das auf und abwippte und das Blut auf den nackten Kies unter ihren Füßen. Es hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Am Tag hatte plötzlich alles anders ausgesehen und die gestrige Nacht war zu einem entfernten Albtraum geworden. Aber ich bin mir sicher. Es war kein Tier. Oder doch? Den ganzen Weg zum Vorlesungssaal waren ihre Muskeln angespannt gewesen. Es war fast so, als ob etwas ihr einen Stich ins Herz verpasst hätte, während sich eine seltsame Unruhe in ihr breit machte. Etwas ganz Schreckliches ist passiert Juli. Etwas ganz, ganz Schlimmes. Sei nicht albern. Alles ist gut. Ihre Kommilitonen warfen ihr lange Blicke zu. Hatte sie etwas im Gesicht? Oder-. Sie sah betreten zu Boden. Natürlich. Sie denken immer noch an gestern. Damit muss ich jetzt wohl leben. Ich habe mich echt danebenbenommen, nicht?


    „He Froschmarie, sag mal. Du und Oliver, ihr kennt euch doch. Oder?“ Oliver? Ihr Herz machte einen Satz. Wieso Oliver? Die Brünette hatte sich zu ihr herumgedreht. Juli kannte ihren Namen. Nicole Dellas. Olivers Freundin.


    „Ich-“, Julis Lächeln wackelte, „wir hatten mal ein Projekt zusammen.“ Sie wurde langsam nervös. Wieso fragte man ausgerechnet sie, wo Oliver war? Ihr Herz rutschte in ihre Hose. Wieso war sie so nervös? Sei nicht albern, Juli. Es ist nur eine Frage. Aber sie konnte nicht anders, wartete qualvolle Sekunden auf die Antwort der Kommilitonin. Nun sag schon!


    „Er ist heute nicht aufgetaucht. Ich dachte du könntest vielleicht wissen was mit ihm los ist. Er wollte nach Hause gehen und wollte noch mal anrufen, wenn er angekommen ist. Aber er hat sich nicht mehr bei mir gemeldet. Du weißt schon, er wohnt im Haus in der Nähe des Sees.“ Nein. Sie schnappte nach Luft. Nein. Bitte nicht. Ihre Augen weiteten sich. Ihr Hals wurde trocken. Bitte, bitte, bei den Göttern nicht. Das kann nicht wahr sein.


    „Was?!“ Sie versuchte zu lächeln, doch Schweißperlen rollten ihre Stirn hinunter.


    „Nun reg dich doch nicht gleich so auf. Das war nur ne Frage. Wäre ja nicht das erste Mal gewesen.“ Sie wandte sich von Juli ab, deren Augen immer noch weit aufgerissen waren. Juli rührte sich nicht, war erstarrt, als ihrem Kopf nur einen einzigen Gedanken immer und immer wieder abspielte. Eine Stimme. Ein Schrei. Oliver.

  • Hallo,


    dass du deine Charaktere sehr menschlich darstellst, fällt in Kapitel Fünf sogar etwas stärker auf. Insbesondere, als Juli bei Noel ankommt und völlig verängstigt ist, wirken die Dialoge authentisch. Keinen wirklich Gedanken fassen zu können und irgendwelche Worte zu stammeln. Zwar wurde Astor wieder nur kurz angeschnitten, aber es wird sicher nicht das letzte Mal sein, dass er auftaucht. Ich empfand hier auch die Hintergrundgeschichte mit Oliver passend, um eine Überleitung zum Schrei in der Nacht zu vollführen. Fraglich ist, ob er tatsächlich an diesem Ort gewesen sein könnte. Da freue ich mich gern auf mehr.


    Wir lesen uns!


  • >>Kapitel VII Frau Margaret Raymond<<


    Juli



    Oliver. Das muss ein Scherz sein, richtig? Sie schluckte. Ihr wurde kalt, als ein eiskalter Schauer ihren Rücken hochkroch. Natürlich, wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen? Er wohnte in der Nähe des Sees. Oliver war heute Nacht unterwegs gewesen, doch war er nie zuhause angekommen. Die Welt um Juli drehte sich. Es war nur ein Tier Juli. Reiß dich zusammen. Bestimmt ist alles in Ordnung. Hatte sie das wirklich gedacht?! Die Stimme des Professors wurde zu einem unbedeutenden Geräusch im Hintergrund. Was sollte sie jetzt tun? Was konnte sie tun?! Oh Gott, Frau Raymond wusste nichts davon. Niemand wusste irgendetwas. Vielleicht ist alles in Ordnung. Vielleicht interpretierte sie zu viel hinein. Nein. Aber wieso war dann ihr Hals so trocken? Wieso fühlte sie sich wie betäubt? Selbst als die Vorlesung längst vorbei gewesen war, blieb sie wie ein Stein an Ort und Stelle sitzen. Regte sich nicht. Es war, als ob, in just diesen Moment, alles in ihr erstarrt wäre, und sie bemerkte es nicht einmal mehr. Sie würde heute zu seiner Mutter gehen, dann würde sich bestimmt alles klären. Genau. Juli hob ihre Umhängetasche vom Boden auf und nickte. Alles wird gut werden. Das ist nur ein Missverständnis. Sie irrte sich. Sie musste sich irren. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf machte sie sich auf zum Haus am See. Alles würde wieder zur Normalität zurückkehren. Alles so wie zuvor werden. So war es schon immer gewesen und so würde es doch bestimmt auch immer bleiben?



    ~+~


    Früher war sie oft hier entlanggegangen. Zu ihrer Rechten deuteten sich die Umrisse eines Gebäudes an. Spielzeuge lagen auf dem Boden des kleinen Gartens verteilt. Eine Rutsche und ein Sandkasten, mehr gab es hier nicht zu sehen. Dieses schlichte, weiße Haus weckte so viele Erinnerungen. Längst Vergessene und alt Bekannte. Wie oft hatte sie sich ans Ufer gesetzt und die tanzenden Wellen beobachtet. Damals, als sie noch oft hier gewesen war. Geh weiter Juli. Dafür ist jetzt keine Zeit. Der Weg vor ihr wurde von nichts weiter als Schilf begleitet. Ganz leise konnte sie den Wind pfeifen hören. Als er ihre Haut streifte, erschauderte sie. Nur Oliver, Oliver war nicht mehr hier. Nein, hör auf Juli. Alles wird sich klären. Du wirst mit seiner Mutter reden und sie wird dir sagen, dass er einfach keine Lust auf Uni hatte. Das würde sie doch? Wieso machte sie sich nur immer so viele Gedanken? Der Schotterweg unter ihren Füßen verwandelte sich zu einem Steg, während ihr gleichmäßiger Atem von dem dumpfen Geräusch ihrer Schritte begleitet wurde. Zu ihrer Linken tauchten Silhouetten dürrer, drahtiger Gestalten auf. Es war derselbe Wald, in dem sie früher immer Räuber und Gendarm gespielt hatten. Jetzt wagte sie es nicht, hinzusehen. Mit jedem Schritt beschleunigte sie ihren Gang – hielt nicht an – nicht einmal für eine Sekunde. Da war es, das blaue Haus am See. Juli stoppte erst, als sie direkt davorstand und sah nicht einmal mehr auf. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet, wie sie ganz langsam, fast zögerlich ihren Kopf hob. Das Anwesen besaß lediglich einen kleinen Garten und einen noch viel kleineren Hinterhof. Ihr Herz wurde schwer. Eine ganze Weile sah sie einfach nur zu dem Gebäude hoch, wie es bedrohlich, fast monströs vor ihr stand. Was soll ich sagen? Sie schluckte, als ihre Hände immer noch zitterten. Reis dich zusammen. Wieso wurde ihr Hals nur so trocken? Ihre Fingerspitzen wanderten in Richtung Tür, doch ihr ganzer Körper bebte. Beweg dich Juli. Verdammt noch mal, beweg dich doch! Ein Geräusch riss sie aus ihrer Starre. Sie hatte die Klingel gedrückt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Tür öffnete sich. Da stand sie. Frau Margaret Raymond trug einen blauen Pullover und eine Jeans. Ihre langen blonden Haare fielen ihr locker über die Schultern. Sie hatte eine Schürze umgebunden, auf der dunkle, braune Flecken zu sehen waren. Julis Kehle schnürte sich zu, als Frau Raymond den Mund öffnete und ihr ein warmes Lächeln schenkte.


    „Rosemarie. Du hier?“ Eine Augenbraue wanderte nach oben. „Oliver ist leider nicht hier. Aber freut mich, dass du dich auch mal wieder blicken lässt. Das letzte Mal war ja schon ein Jahr her.“ Oliver ist nicht hier. Juli, Oliver ist nicht hier! Sie spürte, wie der Klos in ihren Hals größer wurde. Wie soll ich jetzt nur-. „He. Was schaust du denn so bedrückt?“ Beruhige dich.


    „Oliver. Er ist nicht hier?“ Julis Lippen bebten.


    „Nein wieso? He, du siehst ja aus, als ob du einen Geist gesehen hättest. Komm doch erst mal rein.“ Wenn er nicht hier ist, dann-. Nein. Nein, das darf nicht wahr sein. Was soll ich ihr jetzt erzählen?! Einladend hielt Frau Raymond die Tür auf, doch Juli zögerte. Du musst stark sein. Sie trat über die Türschwelle und sah sich augenblicklich um. Alles war noch genauso, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Am Ende des Ganges stand ein Telefonkästchen, während Zimmerpflanzen die Fensterbretter schmückten. Selbst die kleine Küche und das urige Wohnzimmer war dasselbe wie damals. Überall standen Pflanzen, die den Raum lebendig werden ließen. In einer Ecke konnte sie sogar noch den alten Kicker entdecken. Nichts hatte sich verändert. Nein Juli, alles hat sich verändert. Ihr Sohn, er ist-. „Freut mich das du mich mal wieder besuchen kommst. Um ehrlich zu sein habe ich mir schon Sorgen gemacht.“ Juli schluckte. „Magst du einen Kaffee?“


    „Ich-.“


    „Schwarz nehme ich an? So wie immer.“ Daran konnte sie sie sich also auch noch erinnern. Ihr Hals brannte. Gleichzeitig fühlte sich ihr Körper taub an. Ein lautes Rattern war zu hören. Als Juli durch das Küchenfenster sah, konnte sie die Wäscheleine sehen, die Frau Raymond wohl aufgespannt hatte. „Hm? Ist das Ding schon wieder kaputt?! Dabei habe ich Oliver extra gesagt, dass er sie sich noch einmal ansehen soll. Aber der Taugenichts hat natürlich nichts als Unsinn im Kopf!“ Missmutig gab die Frau der Maschine einen Klaps, als sie erneut zu rattern begann. „Irre. Dachte nicht, dass das funktioniert.“ Frau Margaret Raymond grinste zufrieden und für einen Moment vergaß Juli, wieso sie eigentlich hier war. Frau Raymond wirkte immer noch so unbeschwert wie immer. Nichts konnte sie aus der Bahn werfen. „Diese alte Haut hat es eben immer noch drauf.“ Sie griff nach der Tasse und ließ sie über die karierte Tischdecke zu Juli schlittern, die sie gerade noch rechtzeitig auffangen konnte. „Jetzt aber genug von mir. Wir ist es dir so ergangen? Oliver erzählt ja nie etwas, der alte Geheimniskrämer.“ Juli zögerte und umklammerte mit beiden Händen die Tasse.


    „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich...es ist nichts passiert, das wirklich erzählenswert wäre.“ Margaret zog einen Schmollmund, fast wie ein kleines Kind. „Ihr seid beide solche Geheimniskrämer.“


    „Ich-.“ Juli suchte nach Worten, aber was sollte sie darauf schon groß erwidern? Du musst es ihr sagen. Ihr Herz pochte. Ihre Augen weiteten sich. „Also-“


    „Sag mal, habt ihr euch gestritten? Ich habe mir schon länger den Kopf darüber zerbrochen. Aus irgendeinem Grund redet er nicht gerne darüber. Und du gehst mir auch schon seit einer ganzen Weile aus dem Weg, da macht man sich so seine Gedanken. Und dann habe ich eins und eins zusammengezählt.“


    „Ich...er hat nichts gemacht.“ Das war nicht ihre Frage gewesen. Was rede ich da?


    „Du brauchst nicht zu lügen. Ich weiß das mein Sohn ein Idiot ist. Das weiß ich schon lange.“ Abwesend schwenkte Margaret ihre Kaffeetasse hin und her. Sie lächelte nicht. So hatte Juli sie selten gesehen. „Du brauchst ihn nicht in Schutz nehmen.“


    „Das nehme ich nicht.“ Julis Stimme war trocken, dennoch bestimmt. „Er hat wirklich nichts gemacht. Ich hatte einfach viel um die Ohren.“


    „Meinst du? Ich hatte da so ein Gefühl.“ Julis Puls beschleunigte sich.


    „S-Sagen sie mal Frau Raymond, wo ist Oliver eigentlich?“ Ihre Stimme brach beinahe. Reiß dich zusammen. „Wissen sie das?“, flüsterte sie.


    „Hm? Er sollte jetzt bei seinem Job sein.“ Stimmt. Oliver arbeitete. Wie hatte Juli das nur vergessen können? Frau Raymond war alleinerziehend, deswegen hatte Oliver nachmittags oft gearbeitet. Zusammen hatten sie sich immer irgendwie durchgebissen. Die beiden waren schon unglaublich. Wieso hatte sie es ihnen nie gesagt? Wieso fiel es ihr erst jetzt auf?


    „Wo war er gestern Nacht?“, presste Juli hervor. Ihre Stimme war ganz kratzig. Was machst du da? Auf einmal wünschte sie sich, dass sie einfach den Mund gehalten hätte. Frau Raymond legte den Kopf schief, als ihre Lippen zu einem schmalen Strich wurden.


    „Er...er ist zu seiner Freundin gegangen. Die beiden wollten dann noch zu einer Studentenparty. Danach wollte er wieder heimgehen. Aber ich schätze er hat es sich wohl doch anders überlegt.“


    „Achso.“


    „Wieso?“ Frau Raymond Finger bohrten sich in die Tischdecke. „Ist irgendwas?“


    „Nein.“ Lügnerin. Sie musste die Wahrheit sagen. Ihre Stimme zitterte. „Vielleicht.“ Ihr wurde schlecht. Sei kein so gottverdammter Feigling! „Er ist heute nicht in der Vorlesung aufgetaucht.“ Ihr ganzer Körper fühlte sich wie gelähmt an. Und heute Nacht habe ich jemand schreien hören. Sie konnte nicht mehr sprechen. Alles, was sie zustande brachte, war den Blick zum Boden zu richten.


    „Achso.“ Juli hatte viel erwartet. Verzweiflung, Trauer, Sorge, vielleicht Wut – nichts davon trat ein. Olivers Mutter sah abwesend durch das Fenster und lächelte. „Wenn es nur das ist. Das wundert mich nicht. Er hat in der Schule bereits öfters geschwänzt. War nur eine Frage der Zeit, bis er auch in der Uni damit anfängt. Und überhaupt. Machen das Studenten nicht ständig? Das ist doch ganz normal.“ Was redete sie da? Oliver würde niemals-. Würde er? Julis Muskeln spannten sich an. Wieso sagte sie das?


    „Ich weiß nicht-“. Ihr warmes Lächeln wurde zu Fesseln, zu einem Seil, dass ihr die Kehle zu schnürte. Du musst es ihr sagen! Sie presste ihre Lippen zusammen. „Ich muss ihnen etwas sagen.“ Wieso fühlte sich ihr Hals so trocken an? Wieso wurde ihre Stimme heißer?


    „Ich-“


    „Ja?“


    „Ich...“ Juli zögerte. Ihre Hände wurden schwitzig.


    „Was ist?“ Jetzt Juli! Du musst es ihr jetzt sagen. Ihre Lippen formten einzelne Worte.


    „Nichts. Es ist nichts. Ich...eigentlich wollte ich nur fragen-. Ich glaube ich wollte einfach mal wieder vorbeikommen.“


    „Das ist sehr lieb von dir.“ Frau Margaret Raymond lachte. Ein warmes, einladendes Lächeln. Ihr wurde übel.



    ~+~



    Sie hatte versucht Worte mit ihrem Mund zu formen und doch konnte sie es wieder nicht übers Herz bringen ehrlich zu sein. Feigling. Verdammter Feigling. Tränen kullerten über ihre Wange. Du bist so eine gottverdammte Idiotin. Wie konntest du nur?! Ihre Wangen brannten. Wieso hatte sie nichts gesagt?! Wieso?! Weil ich nicht wollte. Das war die Wahrheit gewesen, richtig? Sie kannte den Weg, kannte den Zaun und die Wiesen, an der sie immer auf dem Weg nach Hause vorbeigegangen war. Immer noch konnte sie den Wind pfeifen hören und merkte, wie eine eiskalte Brise sie erfasste. Sie würde nach Hause gehen, würde sich ins Bett legen und am nächsten Tag wäre alles wieder so wie früher. Richtig. Sie würde vergessen, was sie gesehen hatte. Nein. Hör auf Juli. Ihre Augen weiteten sich. Das wirst du nicht tun. Sie konnte es nicht vergessen. Nein. Sie wollte es nicht vergessen. Mit einem Mal wusste sie, was zu tun war. Deshalb bleib sie abrupt stehen. Die Polizei. Sie musste zur Polizei gehen.

  • >>Kapitel VIII Ein Entschluss<<


    Noel



    „Wo waren sie heute Nacht?“


    „Ich? Was wird das hier? Ein Verhör?“ Noel kratzte sich am Kinn. Seine Mundwinkel zuckten unmerklich. Nicht gut. Gar nicht gut. Was hatte sich Juli nur dabei gedacht, die Polizei einzuschalten? Sie hätte es einfach vergessen sollen. Genauso, wie er es ihr gesagt hatte. Aber sie hatte es nicht vergessen. Dumme Juli. „Ich wohne nur hier. Das ist alles.“


    „Und sie wohnen hier alleine?“


    „Ja. So in der Art.“ Der Polizeibeamte ließ nicht locker. Natürlich lässt er nicht locker. Stattdessen musterte der alte Mann ihn mit einem mahnenden, schneidenden Blick. Noel hatte das Gefühl, dass sein Blick ihn durchbohren würde, hätte er nur eine Sekunde länger hingesehen.


    „Sie sind nervös nicht? Wieso ist das so?“


    „Jemand ist verschwunden wieso sollte ich nicht-.“ Dieser Mann spielte mit ihm. Natürlich. Zu dumm nur, dass er nicht mit sich spielen ließ. Noel schenkte dem Alten ein schiefes Grinsen, als ein hohles Lachen seine Kehle verließ. Der Alte trat einen Schritt nach vorne, doch Noel stand bereits im Türrahmen und versperrte ihm den Weg. Es war ein hässlicher Mann mit einer hässlichen Glatze, hässlichen matschgrünen Augen, mit einer hässlichen Uniform und allen voran einer ganz besonders hässlichen Persönlichkeit. „Das wird nicht nötig sein. Sie müssen nicht ins Haus und ich für meinen Teil würde das Gespräch gerne hier draußen fortführen. Das dürfte für sie wohl in Ordnung gehen“, seine Stimme triefte von Spott, „oder haben sie etwa einen Durchsuchungsbefehl?“ Noel lachte schief, fast schon höhnisch. „Das dachte ich mir schon.“ Die Mundwinkel des Beamten huschten nach unten, als sich seine Augenbrauen zusammenzogen und sein Gesicht falten schlug. Offenbar hatte er für einen Bruchteil einer Sekunde seine Fassung verloren. Zu schade, dass er sich sofort wieder fing. Das war schon fast amüsant gewesen. Natürlich. Am liebsten würden sie mich gleich mitnehmen, aber sie haben keine Beweise gegen mich und das wurmt ihn.


    „Da sie meiner Frage ja gekonnt ausgewichen sind, wo waren sie gestern Nacht? So ungefähr gegen 3 Uhr?“ Wieder zuckten Noels Mundwinkel, sehr zu seinem eigenen Unmut.


    „Hier, oder denken sie etwa ich bin so wahnsinnig und gehe bei dem Sturm nach draußen?! Wenn ich etwas mitbekommen hätte, wäre ich selbst zur Polizei gegangen.“ Nein wäre ich nicht. Er würde bestimmt nicht verlieren, nicht gegen diesen alten Kauz.


    „Sie waren also im Haus?“ Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Der Mann musterte ihn und Noel wusste, dass er grade den Wahrheitsgehalt seiner Aussage einschätzte. Seine Muskeln spannten sich an. Er spielte immer noch mit ihm, aber das gleiche Spiel konnte er auch spielen.


    „Juli war kurz danach bei mir, also kann ich es nicht gewesen sein, richtig?“ Noel lachte siegessicher, als ein süffisantes Grinsen seine Lippen umspielte. „Aber das können sie sich sicher von ihr bestätigen lassen.“ Der Polizist schnaubte. Ins Schwarze getroffen.


    „Juli? Sie meinen Rosemarie Anderson.“


    „Ja, genau die.“ Der Beamte wandte sich von Noel ab.


    „Gut dann wären wir erst einmal fertig.“ Nanu?


    „Für heute sind wir fertig. Sie sollten sich allerdings für weitere Fragen bereitstellen.


    „Natürlich.“




    Juli



    „Wo waren sie, als sie den Schrei gehört haben?“


    „Ich habe einen Spaziergang gemacht. Als ich dann den Schrei gehört habe, bin dem Geräusch bis hin zum Uferweg gefolgt.“


    „Und sie haben Spuren von Blut gesehen?“


    „Ja ich...es ging alles so schnell. Und es war dunkel, deshalb kann ich es nicht mit Sicherheit sagen.“


    „Sie sind sich sicher, dass es die Stimme von Oliver Raymond gewesen ist?“


    „Ich...ich meine, ich weiß es nicht. Aber er ist am nächsten Tag nicht mehr aufgetaucht. Ich weiß einfach nicht, was ich sonst noch tun soll. Ich meine, wer soll es denn sonst gewesen sein? Ich bin mir sicher, dass es die Stimme eines Menschen war, sonst wäre ich doch nicht so verstört gewesen.“ Richtig?


    „Hat er sich mit irgendjemanden nicht gut verstanden?“


    „Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Wir reden hier von Oliver. Wer würde sich mit Oliver nicht verstehen?“


    „Gut, dann sind wir für den Moment fertig. Halten sie sich für weitere Fragen bereit und machen sie sich keine Gedanken. Wir kümmern uns darum.“



    Der Mann hatte gesagt, er würde noch einmal auf sie zurückkommen. Das war vor einer Woche gewesen. Immer wieder war ihre Stimme abgebrochen. Sie hatte geschluchzt und ihre Worte waren verschluckt worden, doch sie hatte sich aufgerafft, um zumindest ihre Aussage festhalten zu können. Diese wenigen Worte des Polizisten hatten ihr Hoffnung gegeben. Hoffnung das vielleicht doch alles gut werden würde. Doch es hatte sich nichts verändert. Seit mehr als 7 Tagen fehlte von Oliver jede Spur. Was wenn sie früher da gewesen wäre? Wen sie nicht einfach weggelaufen wäre? Vielleicht war es nicht Olivers Stimme gewesen? Nein. Ihr Herz sank wie ein Stein. Den Rest der Woche war sie nach der Vorlesung sofort nach Hause gegangen und hatte sich in ihrem Zimmer verkrochen, ein Buch gelesen oder gelernt. Manchmal hatte sie Noel besucht oder einen Spaziergang gemacht, als sie dabei allerdings Frau Raymond getroffen hatte – Frau Raymond die immer noch lachte, Späße machte und so tat, als ob alles in Ordnung wäre – da hatte sie selbst damit aufgehört. Frau Raymond glaubte ganz fest daran, dass er wieder auftauchen würde. Dass das alles nur ein Missverständnis wäre. Juli wusste, dass sie sie nicht vom Gegenteil überzeugen würde. In ihren Kopf war nichts als Watte. Ihr ganzes Leben war von einem Nebelschleier umhüllt worden, der ihren Körper stetig lähmte und sie immer wieder zu den gleichen Tag zurückkehren ließ. Der Tag an dem Oliver verschwand. Ich habe das Richtige getan, oder? Die Polizei würde sich um alles kümmern. Und alles würde wieder so wie früher werden. Ganz bestimmt.



    Er wird schon wieder kommen. Er ist eben ein Rumtreiber und außerdem schon erwachsen.“



    Vielleicht hat Frau Raymonds Recht. Du musst nur daran glauben. Sie hatte ihre Hände um ihre Beine geschlungen. Wie gerne würde sie das daran glauben können. Mit jedem verstrichenen Tag wurde dieser Hoffnungsschimmer schwächer. Alles wird wieder ins Lot kommen, richtig? Die Polizei hatte nichts gemacht. Es waren 7 Tage vergangen und sie hatten nichts unternommen. Viele Leute waren befragt worden – an den Schulen, an den öffentlichen Plätzen, einige Haushälter und ihr gesamter Studiengang. Nichts. Oliver Raymond war von einen auf den anderen Tag wie vom Erdboden verschluckt und niemand wusste, wo er sich aufhalten könnte. Sie saß zusammengekauert auf einem Stuhl am Küchentisch. Noel saß ihr gegenüber. Sie hatten sich heute früh bei ihm getroffen, weil sie jemand zum Reden gebraucht hatte. Er hatte ihr einen Tee hingestellt, doch sie hatte ihn nicht angerührt. Diese Gedanken ließen sie einfach nicht mehr los.


    „Sag mal Noel“, ihre Stimme zitterte, aber sie hörte nicht auf zu sprechen, „ich...ich glaube nicht, dass die Polizei sich darum kümmert. Sie haben einige Leute befragt, aber sie-.“ Ihre Körper fühlten sich mit einem Mal schwer an.


    „Ich weiß.“


    „Wieso machen sie nichts?“


    „Wieso? Woher soll ich das denn wissen? Du verlangst Unmögliches von mir. Ich kann dir deine Fragen unmöglich beantworten.“ Noels Stimme war leise, gedämpft, fast wie ein Flüstern.


    „Ich...tut mir leid. Das war dumm von mir.“ Natürlich. Juli senkte ihren Kopf, als sie langsam ihre Augen schloss. Was wenn niemand nach Oliver suchen würde? Ihr Herz zog sich zusammen. Was wenn er da draußen war, und Angst hatte? Wenn er verletzt war? Was dann? Dieser Gedanke war unerträglich. Wenn er sich nicht hier war, vielleicht war er dann in einer anderen Stadt? Vielleicht ging es ihm gut. Nein Juli. Wenn er in einer anderen Stadt wäre, dann hätte man ihn doch schon längst gefunden, oder? Die Städte waren nicht groß oder zu mindestens nicht groß genug, als dass ein junger Mann darin verloren gehen könnte. Richtig? Oliver hatte nie davon erzählt, dass er von hier wegwollte. Und sie war sich sicher, dass er die Stadt nicht verlassen hatte. Nicht freiwillig. Genau, jemand musste ihn entführt haben. Aber wieso? Hatte er Feinde gehabt? Unsinn. Doch wenn er weder hier noch in irgendeiner anderen Stadt innerhalb der Mauer befand, wo konnte er dann sein? Ihre Augen weiteten sich. Sie schnappte nach Luft und sah zu Noel. Die Fußspuren. Am Loch in der Mauer waren Fußspuren gewesen. Wie konnte sie nur so blind gewesen sein? Sie erinnerte sich an die Nacht, als sie an der Mauer entlanggegangen waren. Niemand geht in die Nähe der Mauer. Über die Mauer redet man nicht. Hinter der Mauer ist nichts. Es gibt keine Mauer.


    „Das Loch Noel! Deswegen findet man ihn hier nicht. Er wurde nach draußen verschleppt!“ Was wenn die Polizisten das auch wussten? Was wenn genau deswegen nichts in die Gänge kommt?“


    „Beruhige dich erst einmal Juli. Wir wissen doch noch nicht einmal-.“


    „Nein Noel. Er ist nicht hier. Aber wieso-. Was könnte denn so schlimm sein, dass man einen Menschen einfach in Stich lässt?!“ Noels Gesicht wurde bleich, leichenblass. Er sah so aus, als ob er gerade einen Geist gesehen hätte. War er schon immer so blass gewesen?


    „Juli, es ist nur ein Loch in einer Mauer. Er könnte überall sein. Vielleicht hast du Recht, aber was bringt es uns schon das zu wissen. Die Welt braucht keine Helden Juli.“


    „Aber-.“ Das konnte jetzt nicht sein Ernst sein. „Aber wenn niemand etwas tut, dann-.“


    „Dann wird er sterben. Aber vielleicht ist er auch schon tot.“ Was? Hatte er das gerade gesagt? Oliver kann nicht sterben. Oliver ist doch-. Tränen kullerten über ihre Wange. Ihre Kehle schnürte sich zu und sie spürte ein Stechen in ihrer Brust. Wie konnte er so etwas nur sagen?!


    „Hör auf!“, schrie sie. Ihre Wangen glühten, ihre Stimme wurde zu einem Krächzen.


    „Das willst du nicht hören, richtig? Er ist nicht seit gestern verschwunden Juli. Er ist seit 7 Tagen verschwunden. Er könnte nach draußen verschleppt worden sein, aber was, wenn nicht? Und angenommen er ist verschleppt worden. Angenommen das Loch in der Mauer steht in einer Verbindung dazu. Was bringt uns das schon? Meinst du die Polizei wäre nicht schon früher draufgekommen? Aber sie haben nichts unternommen. Siehst du Juli?“ Noel sah abwesend aus dem Fenster. Sein Blick teilnahmslos.


    „Ich.“ Ihre Hände zitterten, und wieder verließen nur Wortfetzen ihren Mund. „Aber die Polizei-.“


    „Glaubst du immer noch, dass die Polizei etwas machen wird?“


    „Ich-.“ Ein Kloß bildete sich in ihren Hals. Ihre Stimme wurde zu einem Piepsen. „Ich weiß.“ Sie saßen sich gegenüber und schwiegen. Noel war der Erste, der wieder zu sprechen begonnen hatte. Er kramte etwas in einer Schublade hervor und sah flüchtig zu Juli.


    „He du hast deinen Tee ja noch nicht mal angerührt. Möchtest du lieber einen Kaffee?“


    „Ja vielleicht.“ Sie wich seinen Blicken aus und seufzte. „Aber wenn die Polizei nichts tut, was sollen wir dann tun? Ich-. Wir können doch nicht einfach nichts tun?“


    Noels Augen wurden zu Schlitzen, als er begann, die Milch aufschäumen.


    „Und was passiert, wenn wir einfach nichts tun? Ich meine, selbst wenn wir es versuchen würden, was können wir schon alleine ausrichten? Wir wissen nicht was da draußen auf uns wartet. Und es ist auch nur eine Vermutung.“


    „Doch.“ Sie war ruckartig aufgestanden. Noel zuckte augenblicklich zusammen. Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?! Dabei war es so offensichtlich gewesen.


    „Du machst Witze. Juli, mach keine Dummheiten.“


    „Ich kenne Jemand der uns helfen könnte.“ Noel setzte sich an den Tisch und legte den Kopf schief.


    „Und wer soll das sein?!“


    „Albert. Er lebt hier. Er ist ein ziemlich verrückter Kauz, aber er hat oft in seinen Warnungen von der Welt da draußen geredet. Wenn irgendjemand uns weiterhelfen kann, dann er!“



    „Sag mal. Sind wir eigentlich Freunde?“, hatte sie Oliver damals gefragt. Er hatte gelacht.


    „Du bist echt nervig.“ Trotzdem hatte er ihre Hand in seine gelegt und gesagt: „Lass uns jetzt nach Hause gehen.“



    „Und was dann?! Juli, was hast du vor?“ Noel Augenbrauen zogen sich zusammen. Er lachte nicht. Ihr Herz zog sich zusammen. Sie fühlte sich seltsam benommen. Damals war sie so verloren gewesen. So verloren, genauso verloren, wie sich jetzt wahrscheinlich Oliver fühlen musste. Nein. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Ihr Herzschlag hämmerte gegen ihren Brustkorb, doch sie wusste, dass niemand sie von ihren Vorhaben abbringen könnte.


    „Ich werde nach draußen gehen. Und ich werde ihn retten. Falls ihn etwas passiert ist muss ich ihm einfach helfen.“ Ihre Stimme war leise, dennoch bestimmt. Noels riss die Augen auf.


    „Das kann nicht dein Ernst sein. Hast du den Verstand verloren?!“ Fassungslos sah er zu ihr hoch, wie sie ihm ruckartig den Rücken zugedreht hatte.


    „Doch Noel das ist es. Du musst nicht mitkommen. Ich kann verstehen, wenn du nicht mitkommen willst. Aber wenn-. Wenn ich jetzt nicht gehen würde, könnte ich Frau Raymond nie wieder in die Augen sehen. Du verstehst das nicht, ich habe sie angelogen als ich-.“ Ihre Stimme brach. Wieso weinte sie? „Ich-. Ich muss doch irgendetwas, selbst wenn es noch so klein ist, tun können?! Ich kann nicht einfach wegschauen, das überlebe ich nicht. Es geht nicht, ich kann es einfach nicht“ Sie hatte geschrien. Wieso hatte geschrien? Wieso waren ihre Augen ganz nass?


    „Das meinst du nicht ernst. Das ist doch nur irgendein Junge. Es gibt tausende auf dieser Welt!“


    „Nein Noel. Er-. Ich-. Ich kann ihn jetzt nicht in Stich lassen. Du musst nicht mitkommen. Aber ich frage mich, wieso du solche Angst hast. Du hast doch Angst? Immer wenn wir drüber reden, lenkst du vom Thema ab.“ Sie griff krampfhaft nach ihrer Kaffeetasse. Ihre Augen waren ganz verquollen und rot. Ihre Stimme war heißer und schwach. Nein, ihr ganzer Körper fühlte sich wie betäubt an. Noel zögerte. Er schwieg für einen Moment. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und sein Gesicht schlug Falten. Erst nach einer qualvollen Ewigkeit öffnete er wieder den Mund.


    „Ich...du hast Recht. Ich habe keinen Grund. Wie albern von mir.“ Seine Haltung wirkte steif, sein Blick abwesend. „Gut. Dann haben wir ja einen Plan schätze ich.“


    „Wie?“


    „Naja. Du hast es ja bereits gesagt. Wenn wir jetzt noch länger warten, dann könnte es übel um diesen Oliver stehen. Und die Polizei macht sich ja bestimmt, just in diesen Moment, in die Hose. Also bleibt uns wohl keine andere Wahl als die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.“ Wieso lachte er auf einmal? Ihr Herz machte einen Satz und Tränen schossen in ihre Augen.


    „D- das ist-. Danke Noel.“


    „Nicht dafür.“

    __________________

    Anmerkung: Jetzt bin ich fast up to date mit meiner Korrektur. (Momentan bin ich noch bei Kapitel 9). Mal sehen wie schnell ich weiter komme. Normalerweise meide ich es wie die Pest mehrere Perspektiven in einen Kapitel zu haben. Hier ließ es sich allerdings leider nicht vermeiden @.@ (Das ist glaub eines von zwei oder drei Kapitel im gesamten Buch, es kommt also nicht oft vor).

  • Hallo,


    persönlich empfinde ich es nicht als schlimm, wenn Kapitel aus zwei Sichtenweisen geschrieben sind. In erster Linie sollte es Sinn ergeben und Noels Blick auf die Polizeibefragung sorgt für eine andere Perspektive neben Juli. Dass sich in weiterer Folge Gewissensbisse ergeben und sie die Initiative ergreift, um Oliver zu suchen, hast du recht glaubhaft dargestellt. Den Entschluss nach dem Gespräch mit ihrer Mutter und insbesondere nach einer Woche zu fassen erfordert Mut. Dass Noel so schnell überzeugt wurde, wirkte etwas gestellt. Ich frage mich, ob er mehr weiß oder sich tatsächlich von ihrem Enthusiasmus anstecken ließ.


    Wir lesen uns!

  • Huhu, it´s been a while. Ich hab das wohl ein wenig aus den Augen verloren. @.@



    >>Kapitel IX Albert Windson<<


    Noel



    Als Gast bringt man Geschenke mit. Er hatte sich schon die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen. Bringt man Blumen mit? Noel konnte Blumen nicht ausstehen. Sie brachten ihm zum Niesen. Seine Augenlider würden anschwellen, verkleben und auf seinen Handflächen würden sich hässliche Pusteln bilden, während seine Haut simultan dazu anfangen würde zu jucken. Gut, keine Blumen. Sein Blick wanderte zu einer der Pfannen in der Küche. Ich könnte etwas kochen. Ob das wohl angebracht wäre? Oder doch Instantnudeln? Zu schade, dass Juli noch nicht da war, sonst hätte er sie einfach gefragt. Jetzt rieb er sich das Kinn und wusste nicht weiter. Man könnte es auf einen Versuch ankommen lassen.


    „Was tust du da?“ Die Stimme in seinem Kopf ließ ihn hochschrecken. Sein Blick wanderte durch den Raum. Er hatte gestern noch ein wenig aufgeräumt, sodass zumindest der Boden frei war. Astor stand neben ihm. Er war hager, hatte eine drahtige Figur, die von einer weiten Jacke verborgen blieb und reichte ihn nicht einmal bis zu den Schultern. Seine Augen waren groß, fast schon merkwürdig entstellt und ähnelten den eines Fisches, während seine Mundwinkel ganz unnatürlich nach oben gezogen waren. Wie lange hatte er schon dort gestanden?


    „Ich-“, Noel zuckte mit den Achseln, „ich dachte ich bringe etwas mit.“


    „Das sieht grauenhaft aus.“


    „Herzlich wie eh und je. Danke für deine Ehrlichkeit.“


    „Du kannst nicht backen. Nein, ich verbessere mich. Du kannst weder kochen noch backen.“


    „Das sagst du, ich bin da allerdings einer ganz anderen Meinung. Ich bin großartig.“ Astor begann zu kichern. Ein schauriger Laut der aus seiner Kehle drang. Noel sah grimmig zu ihm hinunter und warf ihm einen tödlichen Blick zu. Er rümpfte empört die Nase, während er noch viel energischer in der Schüssel umrührte. Flecken landete auf der vollgestellten Arbeitsfläche. Idiot, du bist so ein Idiot Noel! Schau dir die Sauerei an! Er hatte ein paar Bücher auf der Arbeitsfläche abgelegt, als der den Boden gewischt hatte. Das müsste er später wieder sauber machen. Hastig gab er eine Zutat nach der anderen in die Schüssel. Einmal hatte er sich ein Fläschchen mit der Aufschrift “Apfelaroma“ gekauft. Er erinnerte sich an den uriger, kleiner Laden voll mit kleinen Wundern die, die Form von kleinen Fläschchen annahmen. Ob sich das Zeug wohl auch fürs Backen eignen würde? Er schlug Eier am Rand der Schüssel auf. Fragmente der Eierschale landeten in der runden Schüssel. So ein bisschen Schale schadet doch bestimmt nicht. Oder? Ein Klingeln. Noel zuckte zusammen und sah flüchtig zu Zimmertür.


    „Vielleicht sollte ich das übernehmen.“


    „Nein. Kommt gar nicht in Frage.“ Er würde Astor ganz bestimmt nicht hier alleine lassen. Wer wusste schon, was er alles aushecken würde? Am Ende ruinierte er noch seine Kreation. „Komm rein“, wollte Noel schreien. Idiot, sie hört dich doch nicht. Ich muss ihr aufmachen. Aber was wird dann aus dem Teig?! Hastig wich er ein paar schnelle Schritte zurück – nicht ohne die Schüssel weiter im Blick zu behalten. Komm ja nicht auf dumme Ideen. Astor sah ihn aus seinen unnatürlich großen Augen heraus an. „Wage es nicht Astor.“ Noel rannte zur Zimmertür. Wehe dir Astor. Ich schwöre bei meinen Namen, falls du auch nur auf die Idee kommen solltest-. Wieder ein Klingeln. Er hastete durch das Zimmer mit dem Loch in der Wand, direkt zum Hausflur und riss die Haustür auf. „Schnell. Ich kann es nicht erklären aber-“, er schnappte nach Luft, „du musst sofort mitkommen. Es ist ein absoluter Notfall!“ Noel packte ihr Handgelenk und sie riss überrascht ihre Augen auf.


    „Was ist-?“


    „Ich habe es schon einmal erklärt! Keine Zeit!“ Ihm blieb höchstens noch eine Minute. Er rannte durch den Flur, zerrte sie den gleichen Weg, den er gekommen war, zurück und erreichte atemlos die Küche. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Zehn Sekunden. Astor stand neben der Schüssel. „Wag es ja nicht.“ Der Junge blinzelte. „Ich sage dir wehe-.“ Astors Arm näherte sich der Schüssel, dann zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Bastard. Noel stürmte nach vorne. Alles passierte plötzlich ganz schnell. Astor schob die Schüssel von der Arbeitsfläche. Noel setzte zum Sprung an und sog scharf die Luft ein. Zu spät. Da passierte es. Die Schüssel kullerte auf dem Boden. Der Teig spritzte in sein Gesicht und verursachte hässliche Flecken auf seinen gestreiften Pullover. Alles, was er tun konnte, war irritiert zu blinzeln. „Astor!“,


    „Was ist-?“, stieß Juli aus, als sie einen Schritt zurückwich.


    „Das hast du absichtlich gemacht!“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Juli sah abwechselnd zu Noel, dann zu Astor und strauchelte abermals ein paar Schritte zurück. Astor grinste immer noch, aber das mochte nicht viel heißen. Insgeheim hoffte Noel, dass er sich jetzt fürchtet. Juli beugte sich zu der Brühe hinunter und zögerte.


    „Sind das... sind das Eierschalen?“, murmelte sie und schüttelte den Kopf.


    „Hm. Ja, ich dachte, dass ein bisschen Krunch schon nicht schaden wird.“ Noel lachte. Juli lachte nicht, stattdessen warf sie ihm einen irritierten Blick zu. Ihre Augen weiteten sich. Jetzt wo er so darüber nachdachte, war das immer noch besser als das Meiste, was er in den letzten Jahren gegessen hatte.


    „Wow.“


    „Was?“ Noel konnte seine Überraschung nicht verbergen. Was meinte sie denn bitte damit?


    „Du kannst ja echt nicht backen.“


    „Wie?!“ Was hatte sie gerade gesagt? „Ich bin großartig.“ Verunsichert sah er zur braunen Pampe auf dem Boden. Für ihn hatte es bis jetzt immer gereicht. Allerdings buk er auch nicht oft. „Wenn du es so viel besser kannst, dann übernimm du doch das Backen.“ Sie zögerte und hob die Schale vom Boden auf.


    „Wo ist ein Waschbecken?“


    „Waschbecken? Im Zimmer nebenan ist ein Wasserhahn. Aber-“ Er hatte nicht einmal aussprechen können, da war sie schon hinter der Zimmertür verschwunden. Vielleicht sollte ich mich mal ums Saubermachen kümmern? Er kratzte sich am Kinn und nickte schließlich. Ob Juli das Waschbecken finden würde? Im Raum mit dem Loch in der Wand hatte er ein Waschbecken angeschlossen. Früher hätte das Zimmer wohl ein Badezimmer werden sollen, doch dazu war es nie gekommen. Die Rohre waren schon vor langer Zeit verlegt worden, also hatte er sich das zu Nutzen machen wollen. Sollte ich ihr helfen? Vielleicht findet sie es nicht? Vorsichtig lugte er durch die Tür. Das Zimmer wucherte nur so vor Pflanzen, die sich ihren Weg durch einzelne Risse in den Fliesen suchten. Vielleicht war es deshalb auch so schwierig, das Waschbecken auszumachen, jedenfalls hatte Juli einige Sekunden gebraucht, bis sie es entdeckt hatte. Sie beugte sich darüber und legte schließlich den Kopf schief.


    „Das ist schon ein seltsamer Platz für ein Waschbecken.“ Er ging nun ebenfalls auf die Knie und füllte den Eimer mit Wasser.


    „Findest du?“


    „Ja ich mein-.“, ihre Augen waren groß geworden, „im Winter ist es bestimmt kalt. Und außerdem-.“


    „Jetzt wo du´s sagst. So habe ich das noch nie betrachtet. Aber ich wohne noch nicht so lange hier. Erst seit ein paar Monaten.“


    „Ich hab mal gehört, dass das Loch von einen Baum kommt, der bei einem Sturm aus den Wurzeln gerissen wurde und hier in das Haus gekracht ist. Ist da eigentlich was dran?“ Noel zog eine Augenbraue nach oben.


    „Hm.“ Er stand auf. Seine Schritte halten vom nackten Boden. Die Fließen unter seinen Füßen fühlten sich eiskalt an. Er öffnete die Tür zur Küche und warf Juli einen flüchtigen Blick zu. „Davon weiß ich nichts, aber unmöglich ist das natürlich nicht. Ich habe hier einige große Bäume auf dem Grundstück gesehen.“ Noel zuckte mit den Achseln. Juli stand auf und nickte, ehe sie wieder zurückgingen „Dann zeig mal wie man´s richtig macht.“ Er lehnte sich gegen den Tisch und musterte sie aufmerksam. Sie hatte sich über die Schüssel gebeugt und schien angestrengt über etwas nachzudenken. Für einen Moment hielt sie inne, dann griff sie zielstrebig nach den Zutaten auf der Arbeitsfläche. Mehl, Eier, Backpulver, Zucker und Kakao – er sollte sich die Reihenfolge merken. Vielleicht sollte er sich Notizen machen? Sie griff nach dem Löffel auf dem Tisch und begann umzurühren.


    „Du Noel?“


    „Ja?“


    „Du hast doch bestimmt ein Rezept?“


    „Nein. Wieso?“ Ihr Lächeln wackelte. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn.


    „Eh, nichts. Ist nicht wichtig.“ Sie senkte den Kopf.


    Jetzt starrten sie beide auf die bräunliche Masse in der Schüssel. Das sah immerhin schon besser aus als der erste Versuch. Kein großer undefinierbarer Brocken und auch keine Eierschalen im Teig. „Jetzt muss man die Kekse nur noch backen. Wo ist der Backofen?“ Noel deutete zu dem grauen Kasten unter der Arbeitsfläche. Ihre Augen strahlten. Voller Übereifer öffnete sie den Ofen, wobei ihre Mundwinkel augenblicklich nach unten huschten. Im Ofen waren normale Pfannen, zusammen mit einem Metallgitter deponiert worden. „Das ist jetzt doch etwas enttäuschend.“


    „Wie? Was hast du denn bitte erwartet?!“ Er klang fast etwas empört. „Was sollte denn bitte sonst in einem Backofen sein?“


    „Naja, ich weiß nicht. Ich habe irgendwie auf was Verrücktes gehofft. Du weißt schon...Topfpflanzen...oder vielleicht auch eine Uhr.“


    „Wie kommst du denn auf so was? Die bekommen doch im Ofen keine Luft. Und Uhren könnte ich durch das Glas weder gut sehen noch hören.“


    „Ja aber-.“ Sie hielt inne und beendete ihren Satz nicht. Dabei hätte es ihn wirklich interessiert, was sie hatte sagen wollen. Sie griff nach dem Blech und schob es in den Ofen. Der Teig blähte sich nach und nach immer weiter auf. Soll das so sein? Juli verzog das Gesicht und er fragte sich, was ihr wohl gerade durch den Kopf ging. Als die Kekse, die nicht wie Kekse aussahen, fertig waren, zogen sie das Blech heraus und legten sie in eine Box, die sie mit einem Deckel verschlossen. „Fertig.“, murmelte Juli, als der letzte Keks seinen Platz in der Schachtel fand, und sie dazu veranlasste erleichtert aufzuseufzen.


    „Gut. Dann lass uns zu dem wichtigen Teil kommen.“ Er hatte seine Beine überkreuzt und stützte sich auf beiden Ellbogen ab. Sie hatten den Standort gewechselt und sich beide am Küchentisch niedergelassen.


    „Richtig.“


    „Wie stellen wir es am besten an?“


    „Was genau meinst du?“


    „Wie retten wir ihn?“


    „Ich würde sagen-. Wir gehen raus, also hinter die Mauer? Wir suchen ihn. Wir finden ihn und bringen ihn zurück.“ Wie-?! Noel unterdrückte ein Lachen. Es gelang ihm nicht und er prustete.


    „Du bist immer für Späße bereit.“


    „Das meinte ich ernst!“ Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Du meine Güte. Wie formuliere ich das jetzt am besten?


    „Oh, dass...dass ist eine nette Idee, aber ich glaube nicht, dass das so einfach werden wird. Und ich hätte gerne ein paar weitere Pläne. Einen Plan B, verstehst du? Oder Plan C...oder, naja einen Plan Z.“ Er deutete auf den Papierstapel auf dem Fensterbrett. „Ich habe mir da schon was überlegt.“


    „Das ist ein großer Stapel. Du liebe Güte, hast du das alles an einen Tag gemacht?!“ Hastig hatte sie nach dem obersten Blatt auf dem Haufen gegriffen. Durch das Fenster fiel ein mattes gelbes Licht. „Das sind ja Strichmännchen. Diese Augen hier sind wie ein X gezeichnet?“


    „Das sind nur schnelle Skizzen. Ich hatte keine Zeit für mehr und ich musste meine Ideen schnell festhalten, sonst vergesse ich sie wieder.“


    „Das beantwortet noch immer nicht die Frage wieso-.“


    „Das muss wohl einer der Pläne sein, wo wir draufgehen.“


    „Oh-“, sie legte das Blatt schnell beiseite, „ich mag die Version nicht.“


    „Ich auch nicht. Lass uns Plan X und W auf jeden Fall vermeiden.“


    „Ja auf jeden Fall!“ Für einen Moment war sie etwas blasser im Gesicht geworden. Gut.


    „Also...jetzt sag mal, was du geplant hast?“


    „Ich?“ Überrascht sah Juli zu Noel und brauchte ein paar Sekunden, ehe sie begriff, was er meinte. „Oh...also...ich denke wir sollten Albert besuchen. Er hat oft von der Welt hinter der Mauer geredet. Allerdings ist er etwas“, sie zögerte, „naja, dass siehst du ja dann selbst.“


    „Das klingt doch nach einem Plan. Willst du dir meine anderen Pläne auch noch durchlesen bevor wir losgehen?“ Juli Mundwinkel zuckten.


    „In wie vielen sterben wir?“


    „Hmm...in ungefähr 30 %“


    „Oh...ehm...ich glaube ich lese mir sie später durch. Jetzt lass uns erst einmal zu Albert gehen. Es wird langsam schon spät.“


    „Gut.“ Er sah abwechselnd zu ihr, dann aus dem Fenster. Sein Lächeln wackelte. „Noch eine Sache. Wir sollten unter allen Umständen tagsüber aufbrechen.“


    „Wieso das?“


    „Sagen wir so-.“ Was sollte er darauf antworten? Er versuchte zu lächeln, erwischte sich allerdings dabei, wie seine Mundwinkel nach unten huschten. „Dunkelheit ist schon irgendwie unheimlich. Findest du nicht? Außerdem glaube ich, dass es tagsüber sicherer ist.“ Das war jetzt wohl ganz offiziell die schlechteste Ausrede, die er jemals erfunden hatte.


    „Damit wäre ich mehr als einverstanden.“


    „Gut“, Noel nickte schnell, „dann lass uns den alten Herrn mal einen Besuch abstatten.“



    ~+~



    Einer seiner vielen Pläne, die er sich zusammengebastelt hatte, bestand daraus, dass sie überhaupt gar nicht erst die Schutzzone verließen. Er hatte gehofft, sie mit Plan W und X genug zu verschrecken, dass Plan A aufgehen würde. Und ähnliche Szenarien zogen sich bis Plan J. In den meisten seiner Pläne fanden sie Oliver nicht, nur in zwei von 24 Plänen konnten sie den Kerl tatsächlich in die Schutzzone zurückbringen. Ob nun Tod oder lebendig.


    „Achja. Ich wollte dich nur einmal vorwarnen. Albert ist etwas...er ist etwas verrückt im Kopf. Aber er ist kein schlechter Mensch.“, murmelte Juli. Ihre Mundwinkel zuckten, während ihre Stirn Falten schlug.


    „Inwiefern verrückt?“


    „Er redet oft vom Krieg. Und von der Welt da draußen. Angeblich stehen wir kurz vor einer weiteren Tragödie. Die Mauern werden zerstört werden und jeder der dann noch hier bleibt wird sterben. Verrückt nicht?“


    „Oh, ja...natürlich“, brummte er gedehnt. Noel bemühte sich um ein Lächeln.


    „Außerdem glaubt er an Fabelwesen. Du weißt schon, Werwölfe, Vampire, Feen, Elfen, so was eben. Und irgendwann werden sie die Mauern niederreißen und jeder Mensch wird sterben. Man könnte ihn einen waschechten Verschwörungstheoretiker nennen.“ Sie lachte immer noch etwas verlegen und schüttelte den Kopf.“


    „Verrückt, ja? So jemand ist er also?“ Juli hatte Noel einen flüchtigen Blick zugeworfen, ehe sie wieder die Straße fokussierte.


    „Meine Mutter mag ihn nicht besonders. Als ich noch jünger war, hat sie mir immer gesagt ich soll mich von ihm fernhalten und das habe ich bis jetzt auch immer gemacht oder zu mindestens versucht. Aber ich dachte, wenn jemand Bescheid weiß, dann doch er, nicht?“


    „Da könnte etwas dran sein.“


    „Ja nicht?! So habe ich auch gedacht.“ Just in diesen Moment blieben sie vor dem großen Anwesen – Alberts Anwesen – stehen. Ein Steinweg führte hinauf zum Haus. Der Putz blätterte an ein paar Stellen von den Wänden. Immer wieder waren Holzpfähle in den Boden gerammt worden. Der Garten selbst war chaotisch. Im hohen Gras konnte er Teile eines Stuhles und einer Heckenschere erkennen. Noel konnte einen kleinen Pfad zu einer verkommenen Gartenterrasse, mit ein paar alten Stühlen, erkennen. An der Stelle, wo der Weg anfing, war das Gras plattgedrückt worden. Ansonsten reichte ihn das Gras bis zu den Kniekehlen. Hier wurde schon lange nicht mehr rasengemäht und der Garten war allgemein eher in schlechten als rechten Zustand.


    „Das ist also sein Haus.“


    „Ja genau.“ Sie lächelte. „Ganz schön verrückt nicht?“


    „Hm, ich finde es ganz interessant.“


    „Wieso kann ich mir das nur zu gut vorstellen?“ Ihre Mundwinkel huschten nach oben. Wie bitte?


    „Was anderes, hast du ihm eigentlich gesagt, dass wir heute kommen werden?“


    „Ich hab´s ihm gestern gesagt. Aber für meinen Geschmack hat er sich etwas zu sehr gefreut.“


    „Ist doch gut für uns.“ Er drückte die Klingel und sie zuckte unmerklich zusammen. „Wieso bist du so nervös?“ Noel legte den Kopf schief und warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie war gerade im Begriff zu antworten, da öffnete sich auch schon die Türe.


    „Da seit ihr ja!“ Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, sah nicht älter als 60 aus. Seine langen braunen Haare wiesen eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Vogelnest auf und standen ihm in alle Richtungen ab. Hatte er sich jemals die Haare gekämmt? Albert Windson trug einen blauen, gestreiften Mantel, darunter ein Hemd, dass nicht so ganz zum Rest seiner Kleidung passen wollte und eine Brille, mit einem goldenen Gestell.


    „Wir haben ihnen etwas mitgebracht. Als Gastgeschenk oder so.“, murmelte Noel und griff zu der Schachtel, die er den Alten in die Hände drückte.


    „Oh...f-für mich? Wie nett von euch. Jetzt fühle ich mich doch etwas geehrt.“ Der ältere Herr kratzte sich an den Schläfen und sah etwas unbeholfen erst zu Noel, dann zu Juli.


    „Das hoffe ich ja auch. Ich und Juli haben sie gebacken.“


    „Das ist sehr freundlich von euch. Aber jetzt kommt erst einmal herein.“ Im Haus herrschte ein reges Durcheinander. Bücher, Papiere und andere Gegenstände lagen überall verteilt auf den Boden und Schränken. „Ich bin nicht mehr dazu gekommen aufzuräumen. Es tut mir leid-.“


    „Schon in Ordnung“, unterbrach Noel ihn schnell.


    „Gut. Sehr gut. Also zurück zum Thema.“ Albert Windson wischte schnell, mit einer einzigen


    Bewegung seiner Hand, den Tisch frei. Eine Kerze, Bücher, Scheren, Messer und ein Teller fielen klirrend zu Boden. Richtig, Juli hatte ihn vorgewarnt, dass er etwas schräg war.


    „Oh“, war das Einzige, was Noel von sich geben konnte. Auf dem Boden konnte er einige Notizen und Bücher ausmachen. Einige waren aufgeschlagen, andere wiederum geschlossen. Eine Skizze eines Werwolfes, ein Bericht über eine Hexe, ein Bild einer Fee und eine Skizze der Mauer, wie sie wohl vor 100 Jahren ausgesehen haben musste - nur ein hoher Drahtzaun - hatte er erkennen können. Einladend deutete der Alte auf zwei Stühle neben sich. Soll ich mich setzten? Die Augen von Albert strahlten, als er sich wieder den Beiden zuwandte.


    „Ihr sprecht hier mit dem berühmten Vampirjäger Albert Windson. Ich habe bereits einigen den gar ausgemacht. Das sind echt hässliche Gestalten. Doch sie haben alle den Kürzeren gezogen. Niemand nimmt es mit meiner Wenigkeit auf. Ich wusste, dass du irgendwann kommen würdest Rosemarie. Ich wusste, dass sie aufhören, werden mich für verrückt zu halten. Und dann werden sie in Scharren zu mir kommen und mich, ja genau mich, um Hilfe bitten. Und ich habe mich darauf vorbereitet nur“, er rückte seine Brille zurück und musterte sie aus seinen runden Brillengläsern, „muss ich gestehen, dass ich doch überrascht war, dass du die Erste warst, die mich aufgesucht hat.“ Dann sprach er jedoch eilig weiter. „Natürlich freue ich mich trotzdem. Und jetzt kommen wir zum Thema. Was brauchst du genau? Geht es um einen Werwolf? Ich habe ein paar Silberdolche.“ Er kramte in einer seiner Schubladen. „Wo waren die noch gleich?“ Noels Blick wanderte zu dem Stuhl mit dem roten Polster, ehe er den Mund öffnete.


    „Dort. Sie haben sich beinahe drauf gesetzt Herr Windson.“


    „Oh, genau...stimmt!“


    „Ich hab doch gesagt. Verrückt“, zischte Juli und hatte sich im Stillen Noel zugewandt.


    „Oder doch Vampire?!“ Er rannte zu einer anderen Schublade und zog eine Kette aus Knoblauch hervor, die er in Noel Richtung warf. Dieser fing sie etwas irritiert auf. „Vampire mögen den Geruch nicht. Es verbrennt ihre Nasenschleimhäute.“ Noel legte den Kopf schief und ließ die Kette vor seinem Gesicht baumeln, viel konnte er allerdings nicht riechen.


    „Das macht Vampiren also den gar aus?“


    „Ja genau.“


    „Interessant.“ Noels Mundwinkel zuckten nur unmerklich.


    „Du klingst zweifelnd? Aber du solltest wissen das Vampire extrem gerissen sind. Es ist eine Methode sie aufzuspüren. Du sprichst hier immerhin mit einem erfahrenen Vampirjäger. Ich habe schon Vampire gejagt, da warst du noch nicht geboren. Wenn sich jemand auskennt, dann ich. Manche sehen fast wie Menschen aus. Einmal da habe ich sogar die ganze Stadt vor diesen Blutbeißern gerettet. Das war-.“


    „Herr Albert. Das war eine Fledermaus.“ Juli machte eine Grimasse und Noel unterdrückte ein Lachen.


    „Eine verwandelte Fledermaus. Ich spüre so was. Ich spüre einen Vampir schon 10 Meter gegen den Wind.“


    „Tun sie das?“, murmelte Noel. Jetzt wanderten seine Mundwinkel nach oben. Ganz vorsichtig trat er einen Schritt nach vorne, beugte sich nach unten, um einen Blick auf Albert zu erhaschen, der wieder etwas aus dem Stapel von Dingen hervorzog.


    „Das hier ist ein Spiegel.“


    „Beeindruckend. Ich habe noch nie einen Spiegel gesehen.“ Seine Stimme klang fast etwas sarkastisch. Noel erkannte sein eigenes Spiegelbild, seine schulterlangen, platinblonde Haare, der Pullover, seine Jacke, seine grünen Augen - ein perfektes Abbild seiner selbst.


    „Vampire haben kein Spiegelbild.“


    „Haben sie nicht?“, stellte Noel fest und zog eine Augenbraue nach oben.


    „Oh und dieser Holzpfahl. Damit kann man einen Vampir den gar aus machen!“


    „Aber stirbt man nicht so oder so, wenn man ein Pfahl ins Herz gerammt bekommt?“ Eine Pause entstand.


    „Ja, also...darauf bin ich auch schon gekommen. So einen Unfug aber auch!“ Albert schmiss das Holzstück achtlos zur Seite. „Aber das hier, das hier ist spitze!“ Das Ding, das er nun in der Hand hielt, sah fast wie eine Taschenlampe aus.


    „UV-Strahllampe“, murmelte Noel und seine Augen wurden groß. Albert hatte sie angemacht und schwenkte sie hin und her. „Nicht. Sind sie wahnsinnig?! Was leuchten sie denn in meine Richtung?! Oder wollen sie uns alle noch blind machen?!“ Auch Juli war unmerklich zusammengezuckt.


    „Oh. Entschuldigung“, der alte Mann sah verlegen zu den Beiden, „da ist es wohl etwas mit mir durch gegangen.“


    „Geht es uns nicht allen so?“, scherzte Noel, dessen Haltung sich wieder etwas entspannte. Plötzlich änderte sich etwas in der Mimik des Alten. Noel wurde nervös und trat vorsichtig einen Schritt, dann doch einen, zurück. Was ist denn plötzlich in den Alten gefahren?! „Ist. Ist etwas in meinem Gesicht?!“


    „Hm.“ Der Blick von Albert Windson war fast unerträglich. Noels Nackenhaare stellten sich auf, als er plötzlich, wie aus dem Nichts, aufgestanden war und sich in seine Richtung lehnte.


    „Mit dir habe ich auch noch ein Wörtchen zu reden.“ Herr Windson verengte seinen Augen zu Schlitzen. „Herr Noel O´Neil.“ Noels Muskeln spannten sich an. Was konnte das sein?!


    Er schluckte, bemühte sich aber um ein Lächeln. „Sie sind doch in das Haus von Herrn O´Neil gezogen.“ Noel zögerte. Was sollte er darauf antworten? Seine Muskeln spannten sich an.


    „Ja stimmt. Mein Großvater hat mir das Haus vermacht.“


    „Der alte Peterson. So ist das also.“ Dann, wie aus dem nichts, griff der Alte nach seinem Handgelenk. Noels Herz rutschte in seine Hose. Hat er etwa-? „Der alte Sack hatte einen Enkel und hat mir nichts gesagt?! Und das nach all den Jahren der Freundschaft. Alter Verräter. Wie konnte er mir nichts Bescheid sagen?! Mir?! Und ich dachte wir wären Freunde?!“


    „S-Sie kannten also meinen Großvater?!“


    „Natürlich. Aber wundern tut es mich schon. Der hat sich ja ewig nicht mehr blicken lassen. Und ein Geheimniskrämer war er auch, der alte Sack. Ich dachte er hätte dieser Stadt schon längst den Rücken zugedreht. Das es ausgerechnet seinen Enkel hierher treiben würde...Welch Ironie.“ Was sollte er darauf antworten?! „Und...dein Großvater hat bestimmt viel über mich erzählt? Immerhin waren früher einmal enge Freunde und natürlich Kollegen.“


    „Nein. Er hat sie nie erwähnt.“


    „Wie?“ Etwas änderte sich in der Mimik des Alten. Noel war sich nicht ganz sicher, ob das ein gutes Zeichen war. „Natürlich. Dieser Banause.“ Auf der Stirn des Alten bildete sich Falten, als er mit einem betroffenen Blick zu Boden sah. Er kratzte sich am Kinn und etwas musste in seinen Kopf zu rattern begonnen haben. „Naja. Da kann man wohl nichts machen.“


    „Ich will ihre Midlifecrisis jetzt nicht unterbrechen Herr Windson, aber es wäre nicht schlecht, wenn wir langsam zum Thema kommen würden?“, brummte Noel und schüttelte den Kopf.


    „Midlifecrisis sagst du...“, japste der Alte, warf den beiden einen betrübten Blick zu und griff beherzt nach der Box mit den Keksen. Just in diesen Moment, in dem er begonnen hatte, die Kekse zu essen, verzog er das Gesicht und musste husten. „W-Wer hat die gebacken?!“


    „Ich und Juli. Ist was damit?“


    „Wie viel Backpulver habt ihr da rein?“


    „Hmm. Nach Gefühl?“, meinte Noel und warf Juli einen flüchtigen Blick zu. Ihre Kinnlade kippte nach unten und sie sah entsetzt auf die Plastikbox, ehe ihr Kopf einen leichten Rotstich annahm.


    „Oh Gott. Das tut mir so leid! Ich kann doch nicht backen.“, platzte es aus Juli heraus.


    „Ich habe gerade mein Leben an mir vorbeiziehen sehen.“ Das Gesicht von Herrn Albert war ganz blass geworden.


    „Naja. Wenigstens war es lang“, meinte Noel trocken, was Juli dazu veranlasste ihm einen ganz bösen Blick zuzuwerfen. Albert trank hastig ein paar schlucke Wasser nach, ehe er wieder zu reden beginnen konnte.


    „Das mit den Keksen tut uns jetzt doch leid.“, log Noel, der im Grunde nur wenig reue für solche Dinge empfand. Es war natürlich schade um die Kekse, aber was sollte man schon groß machen?


    „Schon gut, schon gut.“, wandte Albert hastig ein, „Also zurück zum Thema. Was genau wollt ihr wissen?“


    „Wie ist es da draußen?“, murmelte Juli.


    „Da draußen? Du meinst hinter der Mauer? Wieso wollt ihr das wissen? Hinter der Mauer ist es gefährlich. Dort wohnt allerlei Unrat. Man sollte generell nie nachts unterwegs sein. Man nennt den Ort hinter der Mauer auch die alte Welt.“


    „Die alte Welt.“ Juli riss die Augen auf.


    „Ja genau. Früher lebten dort auch Menschen. Aber dann kam es zu einer schrecklichen Tragödie. Heute lebt dort niemand mehr. Oder kaum jemand.“


    „Eine große Tragödie also.“ Noels Blick verlor sich in der Ferne.


    „Habt ihr schon etwas davon gehört?“, murmelte Herr Windson.


    „Nein.“, erwiderte Noel, ohne ihn anzusehen.


    „Wesen, die wie Menschen aussahen, überfielen die Stadt hinter der Mauer und brachten jeden um, der nicht fliehen konnte. Dass waren die, die Glück hatten.“, zischte er. „Die Unglücklichen Seelen ereilte ein weitaus schlimmeres Schicksal. Sie wurden selbst zu den gleichen Monstern, die ihre Angehörigen umgebracht hatten. Ein wahrlich scheußliches Schicksal. Es gibt kein Heilmittel und keine Erlösung. Sie sind dazu verdammt ihr Leben als Monster zu Leben. Man darf keine Nachsicht zeigen. Sie haben keine menschlichen Emotionen mehr und die, die sie zeigen sind nur nachgeahmte Schauspiele. Imitationen. Vampire sind keine Menschen und kennen kein Mitgefühl oder Empathie. Sie können nur töten. Dass liegt in ihrer Natur. Die Stadt der alten Welt sah anders als unsere neue Welt aus. Allein die Häuser unterschieden sich von unseren. Ich war schon mal dort, aber es ist kein schöner Anblick. Es steht nirgends offiziell geschrieben – oder nein, nirgends innerhalb der Mauern – aber ich glaube es hat sich dabei um Vampire gehandelt.“ Alberts Blick wurde trüber. „Nachts ist es besonders schlimm. Ich glaube dieser Vorfall wird sich wiederholen. Sie werden die Mauern niederreißen, zu uns kommen und uns alle umbringen.“ Herr Windsons Stimme war ganz leise geworden. Ein Flüstern. Das waren also diese Wahnvorstellungen, von der Juli immer gesprochen hatte. Der Alte ist verrückt, aber er ist nicht gefährlich. Das, was er gerade gesagt hatte, war beängstigend.


    „Sie kennen doch Oliver? Oder vielleicht kennen sie ihn nicht. Er ist irgendwann letzte Woche verschwunden und es werden vielleicht noch mehr verschwinden. Es wäre ganz nützlich, wenn man sich verteidigen könnte. Richtig? Sie denken doch bestimmt auch, dass es kein Zufall ist, dass er einfach von einem auf den anderen Tag verschwunden ist?“ Es war Noel, der wieder begonnen hatte zu sprechen, während Juli immer noch um Worte rang. Natürlich tat sie das. Eine Pause entstand. Noel konnte den Blick von Albert nicht deuten und das machte ihn nervös. Juli hingegen, sah irritiert erst zu Noel, dann zu Albert, wagte es jedoch nicht, noch etwas beizufügen. Er lächelte nervös und hoffte, sich dadurch nicht selbst zu verraten. Dennoch musste er schlucken.


    „Ach. Wären nur alle so vernünftig.“ Albert seufzte und Noel viel ein Stein vom Herzen „Natürlich. Nehmt euch alles, was ihr braucht. Ich wünschte nur, dass mehr Menschen auf die Idee kommen würden.“


    „Danke.“ Noel strahlte und schüttelte ihm die Hand. Viel zu übermütig und überstürzt, was den Alten dazu veranlasste ihm einen irritierten Blick zuzuwerfen.


    „Na. Da scheint ja jemand begeistert zu sein.“


    „Wir müssen dann auch schon gehen“, japste Juli eilig. „Ich muss meiner Mutter noch beim Abendessen helfen. Sie kennen sie ja.“


    „Oh natürlich. Du bist ein liebes Mädchen. Deine Mutter ist wahrlich gesegnet eine so fleißige Tochter zu haben. Ihr könnt jederzeit zu mir kommen, wenn ihr noch Fragen haben solltet. Ich habe meistens Zeit und freue mich immer über etwas Besuch.“


    „Natürlich Herr Windson. Danke, dass wir kommen konnten.“, entgegnete Noel eiligst und würgte den Alten mit ein paar wenigen Worten ab. Endlich traten sie nach einer gefühlten Ewigkeit wieder ins Freie. Wie viel Zeit hatten sie da drinnen verbracht? Mittlerweile war bereits später Nachmittag. Albert Windson winkte ihnen ein letztes Mal zu, dann war er auch schon wieder hinter der schweren Tür ins Haus verschwunden.



    ~+~



    Es war noch früh am Morgen gewesen, als Noel auf die Türklingel mit der Aufschrift “Anderson“ gedrückt hatte, wenige Sekunden später war Juli erschienen. Sie hatte einen roten Regenmantel, mit dem er sie fast immer sah, und einen schlichten Pullover getragen. Es war kälter als an den anderen Tagen gewesen. Überall hatte man Pfützen erkennen können und der Boden unter ihren Füßen war matschig gewesen. Zu allen übel hatte sein Pullover ein paar hässliche Flecken abbekommen. Gegen 8 Uhr hatten sie die Mauer erreicht, standen davor und waren sprachlos. Die Fußspuren, die sie damals gesehen hatten, waren mittlerweile nicht mehr erkennbar. Das wars dann also. Sie standen vor der Mauer.


    „Ich hab sie noch nie am Tag gesehen. Nicht so nah“, presste sie unter fast geschlossenen Lippen hervor.


    „Hast du Angst?“, murmelte Noel. Noch können wir umkehren. Für ein paar Sekunden standen sie einfach nur da, dann nickten sie sich gegenseitig zu. „Dann lass uns mal gehen.“ Ihre Stimme war fest, bestimmt und hätten ihre Hände nicht gezittert, dann hätte er es ihr fast geglaubt.


    ___________

  • Hallo,


    das Backen mutete seltsam an, nachdem Juli und Noel mit linken Händen gesegnet sind. So ganz möchte mir Astors Rolle in der Geschichte noch nicht einleuchten, da seine Persönlichkeit quasi überall ist. Umso amüsanter empfand ich aber schließlich die Begegnung mit Albert, der einen äußerst exzentrischen Eindruck erweckt hatte und darüber hinaus fasziniert von Vampiren war. Seine Theorien zu widerlegen machte das Gespräch unterhaltsam, wenngleich hinter dem menschenleeren Ort doch wahre Worte stecken könnten. Das Geheimnis um die Fußspuren ist noch immer nicht gelüftet und hier geht es wohl weiter. Ob sie die Sache auflösen können?


    Wir lesen uns!

  • Nach einer ganzen Weile auch wieder ein Update. Hab irgendwie übersehen hier zu Updaten @.@

    Damit ist der erste Ark beendet ´^´ Und dieses mal verpeile ich es nicht zu updaten. Bestimmt ´^´

    Nächstes Update kommt nächste Woche, da ich endlich fast mit dem nächsten Ark fertig bin.


    Lg. Perfain

  • Update für dieses Wochenende :3

    So, jetzt bin ich nicht mehr ganz so weit hinterher. Aktueller Stand ist Kapitel 17 Teil 1 von 43. Tatsächlich hatte ich das schon im ... November fertig korrigiert? Ich glaube das Kapitel hat mich so demotiviert das ich ne Korrekturpause einlegen musste.XD Szenen streichen, umstrukturieren, Reihenfolge ändern, cut wo anders setzten. Es gibt nur ein Kapitel das schwieriger zu korrigieren wird und das ist... das Nächste ): So viel aber auch schon zu der Story. Einen guten Start in das Wochenende. :3

    Lg Sinya.