Part 20
Es war einige Zeit vergangen, seitdem Henri zum ersten Mal seit vielen Wochen ein Pokémon behandelt hatte. Noch immer wirkte der gesamte Verlauf, wie es dazu kam, in seinen Augen merkwürdig. In erster Linie hatte er es wohl Katie zu verdanken, dass er überhaupt den Mut dafür aufbringen konnte. Zwischendurch hatte er sich mehrere Male gefragt, wie es weitergehen würde. Mit langsamen Schritten war es ihm nun aber hoffentlich möglich, laufend kleine Erfolge zu verbuchen.
Aus ihm noch nicht näher bekannten Gründen sprach sich bei Team Skull schnell herum, dass er Veterinär war und Pokémon behandeln konnte. Durch die äußeren Umstände und das generelle Verhalten waren Mitglieder des Teams in Pokémon-Centern nicht gern gesehen, wenngleich sie natürlich wie alle anderen mit einer Behandlung ihrer Pokémon rechnen konnten. Einige wollten aus Prinzip nicht damit konfrontiert werden, wohl weil sie Ablehnung fürchteten und sich nicht unnötig lächerlich machen wollten. Henri versicherte ihnen zwar, dass sie lediglich höflich sein mussten, allerdings überzeugte das nur wenige Leute des Teams. Daher kamen sie in den Nachmittagsstunden zu ihm, damit er sich um diverse Probleme ihrer Pokémon kümmern konnte.
„Hab ich’s nicht gesagt, dass du gut bist?“, kommentierte Katie jeden neuen Besuch mit süffisantem Lächeln. Ab einem bestimmten Punkt verdrehte Henri nur mehr die Augen oder lachte trocken über die Bemerkung. In manchen Fällen musste er für bestimmte Mittel tatsächlich zu einem Pokémon-Center gehen und sie von dort besorgen. Insbesondere mit Rala, jener Schwester, die Sproxis Behandlung in die Wege geleitet hatte, verstand er sich mittlerweile prächtig. Zu keinem Zeitpunkt machte sie den Eindruck, dass die Unterhaltung mit einem Mitglied von Team Skull unangenehm wäre. Sie hatte auch verstanden, dass er selbstständig Pokémon behandelte und gab daher in kleinen Mengen die benötigten Mittel aus. Henri verwunderte es, dass die Pokémon-Center so spendabel waren. Er hoffte lediglich, dass Rala damit ihre Kompetenzen nicht überschritt. Auf diese Weise konnte er zumindest seine Arbeit verrichten und war neuerdings häufiger guter Laune.
Nach wie vor kam Henri für seine Aushilfsstunden als Kellner von Vormittag bis zum frühen Nachmittag zu Keonis Café. Manchmal wurde er sogar von Gästen als Mitglied von Team Skull erkannt. Dennoch sprach niemand schlecht über ihn, da er sich für die Arbeit im Café engagierte und einen guten Umgang zu pflegen wusste. Die Motivation, sich in das Team zu integrieren, wurde jedoch gerne hinterfragt.
„Weil es keine besseren Freunde als unsere Vierergruppe gibt“, antwortete er immer mit einem Lächeln. In jedem Moment konnte er auf Malio, Katie und tatsächlich auch Xan vertrauen, dass sie ihm in schwierigen Situationen helfen würden. Es war eine Selbstverständlichkeit, die absolut nicht alltäglich war.
„Aber da scheint noch mehr zu sein als euer gegenseitiger Zusammenhalt“, sagte auch Keoni beiläufig gegen Ende der Schicht. Henri nahm die Aussage als interessierte Frage wahr und offenbarte seine Erlebnisse.
„Vor kurzem musste ich gezwungenermaßen ein Pokémon behandeln. Eigentlich sträubte sich alles in mir. In meinem Inneren hatte sich aber ein Gefühl aufgedrängt, ihm helfen zu müssen. Das hat letztendlich dafür gesorgt, dass ich mich nun regelmäßiger um Pokémon kümmere.“
„Fantastisch!“, rief Keoni und klatschte vor Freude in beide Hände. „Wie es scheint, tut dir der Aufenthalt bei Team Skull wirklich gut.“
Über diese Erkenntnis war Henri ebenfalls mehrmals gestolpert. Nie im Leben hatte er sich zu träumen gewagt, dass er sich aus dem tiefen Loch, in dem er sich vor einigen Wochen einmal befunden hatte, retten und tatsächlich etwas wie Lebensfreude empfinden konnte. Allein deswegen war er den Geschehnissen der letzten Monate wirklich dankbar. Die Begegnung mit seinen Freunden und die Entscheidung, etwas zu ändern, trugen Früchte.
„Ja, ich denke schon“, gab er schließlich zurück und sah Keoni an. „Ohne unsere Unterhaltungen wäre ich allerdings nicht so weit gekommen. Oft muss ich noch Stunden später an deine Worte denken. Du darfst dir also ebenfalls auf die Schultern klopfen. “
„Ach was“, winkte der Café-Inhaber lachend ab. „Ich rede nur dummes Zeug und interessiere mich für vieles, was in der Welt passiert. Deinen Weg kannst aber nur du selbst bestreiten.“
„Ja. Vermutlich hast du recht.“
Henris Smartphone vibrierte in seiner Tasche. Behände nahm er es heraus und sah, dass ihm seine Schwester Vivienne eine Textnachricht geschrieben hatte. Auch in Aquarellia konnte sich laut ihr wieder eine relativ normale Lebensart etablieren. Die dort lebenden Menschen wussten, dass sie sich gegenseitig schützen würden und hatten ihre Angst vor dem Unbekannten wohl auch zu einem großen Teil abgelegt. Henris Mutter kümmerte sich seit kurzer Zeit wieder um die Gewächse in ihrem Laden und hatte eine Menge Spaß daran, anderen mit Blumen eine Freude zu bereiten. Würden sich in der näheren Umgebung keine Zombie-Pokémon befinden, könnte beinahe angenommen werden, dass es nie anders war. Es hatte ihn jedenfalls sehr gefreut, dass sich das Leben in Aquarellia etwas beruhigt hatte.
„Hallo Henri!“, las er die Nachricht im Stillen. „Was läuft bei dir? Ich denke darüber nach, in den kommenden Tagen aufzubrechen. Maman und Papa geht es wirklich gut und sie sagen ebenfalls, dass ich mich wieder in fremde Regionen stürzen sollte. Dabei fühle ich mich aktuell wirklich wohl Zuhause. Kannst du dir das vorstellen? Schreib bald zurück!“
Im denkbar ungünstigsten Moment wurde er schließlich wieder mit der Realität konfrontiert. Noch immer behielt Henri seine Geschichte für sich, dass er sich Team Skull angeschlossen hatte und bei ihnen glücklich war. Jedes Mal, wenn er von seiner Schwester oder seinen Eltern angeschrieben wurde, dachte er für kurze Zeit darüber nach, die Sache zu offenbaren. Allerdings brachte er es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen. Sie wussten durch seine frühen Erzählungen von Team Skull und hatten sich dementsprechend ein genaueres Bild von ihnen gemacht.
„Deine Eltern?“, fragte Keoni interessiert. Henri schreckte hoch und bemerkte, dass er für seine Verhältnisse viel zu lange die Nachricht auf dem Bildschirm angestarrt hatte. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, meine ältere Schwester. Sie ruft mich manchmal an und erkundigt sich, wie es geht.“
„Weiß sie denn von deinem geheimen Doppelleben?“
Obwohl Keoni bei der Aussage zwinkerte, blieb er bei der Sache und betrachtete sein Gegenüber ernst. Nachdenklich sah Henri zu Boden. So hatte er seinen Alltag ehrlich gesagt noch nie betrachtet. Für ihn war es bereits so selbstverständlich geworden, sich im Café oder bei seiner Truppe einzufinden, dass es ihn wenig überraschte, diesen Begriff von Keoni zu hören.
„Nein“, sagte er und schüttelte abermals den Kopf. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich das nach so vielen Wochen am besten erklären kann.“
„Nachvollziehbar“, sagte der Mann aus Alola und hielt beide Hände mit der Öffnung nach oben vor sich. „Am Ende musst du selbst bestimmen, ob du mit dieser Version deiner Geschichte konform gehst. Wenn du damit keine Probleme hast, wird es wohl das Beste für dich sein.“
Henri sah Keoni mehrere Sekunden lang an, bevor er sich abwandte. Seine Aussage war neutral gehalten, aber er konnte die Kritik darin deutlich vernehmen. Wie lange hatte er nun schon darüber nachgedacht, die Sache zu klären? Selbst wenn er dazu bereit wäre, wäre ihm aber selbst eine einfache Textnachricht zu wenig. Es machte unter Umständen einen sehr unpersönlichen Eindruck, die Sache auf diese Weise aufzuarbeiten.
„Darf ich mir etwas Zeit für mich nehmen?“, fragte Henri schließlich. „Sorry, dass ich das Gespräch etwas vorzeitig beende. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas Freiraum benötige, um mich besser zu konzentrieren. Vielleicht erschließt sich mir eine Lösung.“
„So viel, wie du benötigst“, antwortete Keoni und lächelte. „Danke, dass du heute wieder da warst! Du bist mir wie immer eine große Hilfe.“
Zum Abschied winkte er sanft. Henri erwiderte die Geste verhalten und verließ daraufhin das Café. Es war ein sonniger Tag in Hauholi City und aus unbestimmten Gründen zog es ihn weiter in die Stadt hinein. Er entließ Fleur aus ihrem Pokéball, damit sie ebenfalls etwas von dem schönen Wetter hatte.