Wie bereits angedroht, hier noch der Text zur Illustration ;)
Alles Getier im Haulewald duckte sich in seine Höhlen, Nester und Schlupflöcher.
Es war Mitternacht, und in den Wipfeln der uralten riesigen Bäume brauste der Sturmwind. Die turmdicken Stämme knarrten und ächzten.
Plötzlich huschte ein schwacher Lichtschein in Zickzacklinien durchs Gehölz, blieb da und dort zitternd stehen, flog empor, setzte sich auf einen Ast und eilte gleich darauf wieder weiter. Es war eine leuchtende Kugel etwa von der Größe eines Kinderballs, es hüpfte in weiten Sprüngen dahin, berührte ab und zu den Boden und schwebte wieder aufwärts. Aber es war kein Ball.
Es war ein Irrlicht. Und es hatte den Weg verloren. Es war also ein verirrtes Irrlicht, und das gibt es selbst in Phantásien ziemlich selten. Normalerweise sind es gerade die Irrlichter, die andere Leute dazu bringen, sich zu verirren.
Im Inneren des runden Lichtscheins war eine kleine, äußerst bewegliche Gestalt zu sehen, die aus Leibeskräften sprang und rannte. Es war weder ein Männchen noch ein Weibchen, denn derlei Unterschiede gibt es bei Irrlichtern nicht. In der rechten Hand trug es eine winzige weiße Fahne, die hinter ihm herflatterte. Es handelte sich also um einen Boten oder einen Unterhändler.
Gefahr, bei seinen weiten Schwebesprüngen in der Finsternis gegen einen Baumstamm zu prallen, bestand nicht, denn Irrlichter sind ganz unglaublich geschickt und flink und vermögen mitten im Sprung ihre Richtung zu ändern. Daher kam der Zickzackweg, den es nahm, doch im großen und ganzen genommen bewegte es sich immer in einer bestimmten Richtung fort.
Bis zu dem Augenblick, da es um einen Felsvorsprung kam und erschrocken zurückfuhr. Hechelnd wie ein kleiner Hund saß es in einem Baumloch und überlegte eine Weile, ehe es sich wieder hervorwagte und vorsichtig um die Ecke des Felsens lugte.
Vor ihm lag eine Waldlichtung und dort saßen beim Schein eines Lagerfeuers drei Gestalten sehr unterschiedlicher Art und Größe. Ein Riese, der aussah, als bestünde alles an ihm aus grauem Stein, lag ausgestreckt auf dem Bauch und war fast zehn Fuß lang. Er stützte den Oberkörper auf die Ellbogen und blickte ins Feuer. In seinem verwitterten Steingesicht, das seltsam klein über den gewaltigen Schultern stand, ragte das Gebiss hervor wie eine Reihe von stählernen Meißeln. Das Irrlicht erkannte, dass er zu der Gattung der Felsenbeißer gehörte. Das waren Wesen die unvorstellbar weit vom Haulewald in einem Gebirge lebten, - aber sie lebten nicht nur in diesem Gebirge, die lebten auch von ihm, denn sie aßen es nach und nach auf. Sie ernährten sich von Felsen. Glücklicherweise waren sie sehr genügsam und kamen mit einem einzigen Bissen der für sie äußerst gehaltvollen Kost wochen- und monatelang aus. Es gab auch nicht viele Felsenbeißer, und außerdem war das Gebirge sehr groß. Aber da diese Wesen schon sehr lang dort lebten – sie wurden viel älter als die meisten anderen Geschöpfe in Phantásien -, hatte das Gebirge im Laufe der Zeit doch ein recht sonderbares Aussehen angenommen. Es glich einem riesenhaften Emmentaler Käse voller Löcher und Höhlen. Deshalb hieß es wohl auch der Gänge-Berg.
Aber die Felsenbeißer ernährten sich nicht nur vom Gestein, sie machten alles daraus, was sie benötigten: Möbel, Hüte, Schuhe, Werkzeuge, ja sogar Kuckucksuhren. Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass dieser Felsenbeißer hier eine Art Fahrrad hinter sich stehen hatte, das ganz und gar aus besagtem Material bestand und zwei Räder hatte, die wie gewaltige Mühlsteine aussahen. Im ganzen glich es eher einer Dampfwalze mit Pedalen.
Die zweite Gestalt, die rechts vom Feuer saß, war ein kleiner Nachtalb. Er war höchstens doppelt so groß wie das Irrlicht und glich einer pechschwarzen, fellbedeckten Raupe, die sich aufgesetzt hat. Er gestikulierte heftig beim Sprechen mit den zwei winzigen rosa Händchen, und dort, wo unter den schwarzen Wuschelhaaren vermutlich das Gesicht war, glühten zwei große Kreisrunde Augen wie Monde.
Nachtalben der verschiedensten Form und Größe gab es überall in Phantásien, und so konnte man zunächst nicht erraten, ob dieser hier von nah oder weit gekommen war. Allerdings schien auch er auf Reisen zu sein, denn das bei Nachtalben gebräuchliche Reittier, eine große Fledermaus, hing kopfunter in ihre Flügel gewickelt wie ein zugeklappter Regenschirm hinter ihm an einem Ast.
Die dritte Gestalt auf der linken Seite des Feuers entdeckte das Irrlicht erst nach einer Weile, denn sie war so klein, dass man sie aus dieser Entfernung nur schwer ausmachen konnte. Sie gehörte der Gattung der Winzlinge an, war ein überaus feingliedriges Kerlchen in einem bunten Anzüglein und mit einem roten Zylinder auf dem Kopf.
Über Winzlinge wusste das Irrlicht so gut wie nichts. Es hatte nur einmal sagen hören, dass dieses Volk ganze Städte auf den Ästen von Bäumen baute, wobei die Häuschen untereinander durch Treppchen, Strickleitern und Rutschbahnen verbunden seien. Doch wohnten diese Leute in einem ganz anderen Teil des grenzenlosen Phantástischen Reiches, noch viel, viel weiter weg von hier als die Felsenbeißer. Um so erstaunlicher war es, dass das Reittier, das der hier anwesende Winzling bei sich hatte, ausgerechnet eine Schnecke war. Sie saß hinter ihm. Auf ihrem rosa Gehäuse glitzerte eine kleiner silberner Sattel, und auch das Zaumzeug und die Zügel, die an ihren Fühlern befestigt waren, glänzten wie Silberfäden.
Das Irrlicht wunderte sich, dass gerade diese drei so verschiedenartigen Wesen hier einträchtig beisammen saßen, denn normalerweise war es in Phantásien durchaus nicht so, dass alle Gattungen in Frieden und Eintracht miteinander lebten. Es gab oft Kämpfe und Kriege, es gab auch jahrhundertelange Fehden unter gewissen Arten, und es gab außerdem nicht nur ehrliche und gute Geschöpfe, sondern auch räuberische, bösartige und grausame. Das Irrlicht selbst gehörte ja durchaus einer Familie an, der man, was Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit betraf, einiges vorwerfen konnte.
Erst nachdem es eine Weile die Szene am Feuerschein beobachtet hatte, bemerkte das Irrlicht, dass jede der drei Gestalten dort entweder ein weißes Fähnchen bei sich hatte oder eine weiße Schärpe quer über der Brust trug. Also waren auch sie Boten oder Unterhändler, und das erklärte natürlich, dass sie sich so friedlich verhielten.
Sollten sie am Ende sogar in der gleichen Angelegenheit unterwegs sein wie das Irrlicht selbst?
Was sie sprachen, war aus der Entfernung nicht zu verstehen wegen des brausenden Windes, der in den Baumwipfeln wühlte. Aber da sie sich gegenseitig als Boten respektierten, würden sie vielleicht auch das Irrlicht als solchen anerkennen und ihm nichts tun. Und irgendjemanden musste es schließlich nach dem Weg fragen. Eine günstigere Gelegenheit würde sich mitten im Wald und mitten in der Nacht wohl kaum bieten. Es fasste sich also ein Herz, kam aus seinem Versteck hervor, schwenkte das weiße Fähnchen und blieb zitternd in der Luft stehen.
~ Michael Ende, "Die Unendliche Geschichte"