Votetopic
[Blockierte Grafik: http://www.rechenbaer.de/absch…bruno-abschied-300-02.jpg]
Quelle
Information | Vote | Gewinner
Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr frei wählen könnt, wie genau ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenig oder zu viele Punkte enthalten können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen! Weitere Informationen findet ihr hier: Information zur Wettbewerbssaison 2012
Ihr könnt 10 Punkte verteilen
Der Vote läuft bis zum 02.06.2012 um 23:59 Uhr.
Es war Zeit, das spürte sie sofort als sie das Haus betrat, obwohl sie es eigentlich nicht wahrhaben wollte, und eine plötzliche Traurigkeit erfüllte sie. Schon lange war es ihr klar gewesen, doch sie fühlte sich nicht bereit dafür. Sie wollte sich nicht von ihm verabschieden, noch nicht, sie wollte – konnte nicht. Sie unterdrückte ihre Gefühle und zwang sich dazu, weiter zu gehen. Sie stellte ihren Korb auf den alten, furchigen Holztisch in der kleinen Küche, was ein dumpfes Geräusch verursachte.
„Da bist du ja endlich“, ertönte seine brüchige Stimme aus dem Nebenzimmer.
Es klang nicht vorwurfsvoll, doch sie fühlte sich trotzdem, als hätte sie ihn im Stich gelassen, als er sie brauchte. Sie wusste es doch, sie wusste, dass er sie brauchte. Wieso war sie überhaupt gegangen? Sie hätte auch später noch einkaufen können. Wieso hatte sie ihn im Stich gelassen? Sie wusste eigentlich, weshalb sie es getan hatte, doch sie fühlte sich trotzdem schäbig.
„Komm. Komm her zu mir.“
Wieder seine Stimme. Nicht auffordernd, doch sie ging trotzdem ins Nebenzimmer. Es gab keinen Grund, seine Bitte nicht zu erfüllen. Neben ihm kniete sie nieder und griff vorsichtig seine Hand, diese ach so vertraute Hand. Jede Furche kannte sie auswendig, jede Furche dieser alten, rauen Hand. Sie musste nicht nachfragen, sie wusste, dass es Zeit war. Doch sie wollte es sich noch immer nicht eingestehen, so lange hatte sie sich schon auf diesen Tag vorbereiten können, den traurigsten Tag in ihrem ganzen Leben, doch noch immer war sie nicht bereit. Nicht bereit seine Hand loszulassen, ihn loszulassen. Die Gefühle, die sie unterdrückte, und jene, die sie seit ewiger Zeit schon unterdrückte, brachen nun mit aller Macht hervor. Angst, Trauer, Verbitterung, aber auch Wut, Wut auf die Zeit, die alles Schöne kaputt machte. Doch die Trauer überwog, dieses grausamste aller Gefühle, es machte einen Menschen schwach, angreifbar, verwundbar, doch zugleich war sie notwendig. Ohne Trauer keine Freude, es war ein ewiger Kreis, sie wusste es, doch sie wollte es nicht wahrhaben. Sie wollte nicht traurig sein, wollte dieses schmachvolle Gefühl loswerden. Er war nie traurig, sie hatte ihn nie weinen sehen, all die Jahre nicht, doch insgeheim wusste sie, dass er seine Gefühle nur besser unter Kontrolle hatte als sie. Sie kannte ihn zu gut, als dass er irgendetwas vor ihr verbergen könnte. Ihr Mund verformte sich zu einem Lächeln, doch wer in ihrem Gesicht lesen konnte wusste, es war ein bitteres, trauriges Lächeln. Eine aus ihrem Augenwinkel kullernde Träne strafte das vermeintlich fröhliche Lächeln Lügen.
„Weine nicht, du weißt, dass ich dich nicht weinen sehen möchte“, ertönte seine mahnende Stimme erneut.
Natürlich wusste sie es, sie wusste genau, dass er es nicht wollte. Doch diese unendliche Traurigkeit in ihr ließ ihr keine Wahl. Je mehr sie versuchte, sie zu unterdrücken, umso stärker brach sie aus ihr hervor. Die einzelne Träne blieb nicht allein, immer mehr folgten ihr, doch sie ließ keinen Laut über ihre Lippen dringen. Kein Wimmern, kein Klagen, kein Flehen, aber auch keine Erwiderung oder Antwort auf seine Mahnung. Sie musste ihm nicht sagen, musste nicht zu ihm sprechen, er verstand sie auch so. Konnte in ihrem Gesicht, in ihren Gedanken lesen, wie in einem Buch. Sie drückte seine Hand fester und wusste, dass es unangenehm für ihn war, doch es würde ihm keine großen Schmerzen bereiten. Irgendwie musste sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen, sie konnte nicht anders, die Traurigkeit in ihr wuchs und wuchs, und immer mehr Tränen kullerten ihre Wangen hinab, von wo sie auf den morschen Holzboden tropften. Kurz schaute sie, wie ihre Tränen eine kleine Pfütze auf dem Boden bildeten, einen immer größer werdenden See schufen, dann hob sie ihren Kopf und blickte in sein Gesicht, sein altes, runzliges Gesicht. Tage hatte sie damit verbracht, dieses Gesicht zu mustern, sie wusste noch, wie es einst ausgesehen hatte, und konnte immer noch den jungen Mann in ihm erkennen, in den sie sich einst verliebt hatte. So lange war das nun schon her, doch nichts hatte sich an ihren Gefühlen geändert. Diese tiefe Verbundenheit, die sie schon bei ihrem erstem Zusammentreffen gefühlt hatte, die unendliche Liebe, die wohlige Wärme, die in ihr aufstieg, wann immer sie an ihn dachte. Auch jetzt waren diese Gefühle da, spürte sie die Wärme, doch gleichzeitig war auch die Kälte der Traurigkeit da, Kälte und Wärme fochten miteinander, fochten um den Sieg im Chaos ihrer Gefühle. Im Moment schien es, als hätte die Kälte, die Traurigkeit die Oberhand gewonnen. Oder waren es Tränen des Glücks? Ausdruck der Freude über ihr glückliches Leben? Sie vermochte es nicht zu sagen, doch die tiefe Traurigkeit, die sich mit Macht in ihren Verstand fraß schien ein eindeutiges Zeichen zu sein.
„Sei nicht traurig, bitte.“ Wieder seine brüchige Stimme.
Wie könnte sie? Wie könnte sie nicht traurig sein? Nach all diesen Jahren. Sie wusste, die Zeit war gekommen. Doch sie konnte sich nicht damit abfinden, konnte ihn nicht loslassen. Ihr Kopf sank auf ihre Brust hinab und sie sah den riesigen See, den ihre Tränen gebildet hatten. Ein tiefer Ozean voller Traurigkeit, Ausdruck ihrer Gefühle, ihres Schmerzes, ihrer Trauer. Wie ein endloses schwarzes Loch, ein starker Sog, der all ihre Fröhlichkeit in sich aufnahm und vernichtete. Sie war so unendlich traurig, all ihre verbliebene Freude und Wärme war erloschen, wie das schwache Licht einer Kerze im Wind verlischt. Sie wusste nicht, wo ihr Körper all das Wasser für ihre Tränen hernahm, doch noch immer ran ein unaufhörlicher Strom salziger Flüssigkeit ihre Wangen hinab, ohne das geringste Anzeichen dafür, je versiegen zu können.
„Wieso hörst du nicht auf zu weinen? Es gibt doch absolut keinen Grund dazu.“
Wenn er das sagte klang es so einfach. Nicht weinen, einfach aufhören, doch sie konnte es nicht. Sie konnte den Fluss der Tränen nicht stoppen, und er wusste genau weshalb. Es war nicht nötig, ihn darauf hinzuweisen, sie wussten beide, was der Andere dachte. Sie wäre ihm gerne um den Hals gefallen, wollte ihn umarmen, ihn an sich drücken, ihm alle Luft aus den Lungen pressen mit einer freudigen Umarmung, doch sie rührte sich nicht, bewegte sich keinen Zentimeter. Sie konnte es nicht, konnte einfach nur dasitzen, seine Hand umklammern und den morschen Holzboden in einen Ozean voller Traurigkeit verwandeln. Sie blickte aus dem Fenster und sah nichts außer Schwärze, und einer hellen, leuchtenden Scheibe in Mitten dieser Schwärze. Der Mond, ein letzter Lichtfleck in einem tiefen Meer unendlicher Schwärze. Gab es tatsächlich noch Licht? Einen letzten Hoffnungsschimmer? So lange hatte sie auf diesen Tag gewartet, ihn mit Schmerzen erwartet und gefürchtet. Nun war er gekommen und sie wusste noch immer nicht, was sie tun sollte, war nicht vorbereitet auf das, was sie erwartete. Sie war wütend, wütend auf sich selbst, weil sie so hilflos war, nichts tun konnte, nicht einmal wusste, was sie hätte tun sollen, wenn sie es könnte.
„Gräme dich nicht, du kannst nichts tun, es muss so kommen, das wissen wir beide.“ Er packte ihre Hand, erwiderte ihren Griff und spendete ihr Trost, wie es sonst nichts vermochte.
„Danke.“ Es war das erste Wort, das sie seit Tagen mit ihm gewechselt hatte. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, doch ihr war nicht nach Zufriedenheit oder gar Freude zumute. Sie konnte einfach nicht anders, war so unendlich traurig, ohne Hoffnung darauf, je wieder einen anderen Gemütszustand zu erreichen. Sie griff seine Hand noch fester, beugte sich vor und rieb sie vorsichtig an ihrer Wange entlang. Die raue Haut bereitete ihr Schmerzen, doch es war ihr egal, wollte sie fühlen, seine wunderschöne faltige Haut. Einige Tränen tropften auf seine Hand und sickerten von dort seinen Arm hinab, sammelten sich am Ellenbogen, bis ein sich ein großer Tropfen gesammelt hatte, der sich löste und wellenschlagend in das salzige Meer eintauchte. Sein anderer Arm rührte sich und wanderte langsam zu ihr hin. Er hob ihn höher und höher und strich ihr sanft über den grauen Haarschopf. Dann nahm er seinen Arm zurück, der kraftlos niedersank. Ein letztes Aufbäumen vor dem endgültigen Abschied. Doch sie wollte keinen Abschied von ihm nehmen, konnte es einfach nicht. Seine Berührung hatte ihr Trost gespendet, doch nur ein wenig, zu wenig. Sie spürte immer noch tiefe Trauer in sich, die sie zu zerreißen drohte. Der Griff seiner Hand lockerte sich, und sie spürte Furcht in sich aufwallen. Nein. Nein! Ich kann mich nicht von ihm verabschieden! Noch nicht! Bitte. Nicht Wärme und Kälte, sondern Kälte und eisige Kälte fochten nun einem Kampf um die Vorherrschaft in ihrem Kopf. Die Tränen flossen noch stärker als zuvor, zapften die letzten Flüssigkeitsreserven in ihrem Körper an. Dann erschlaffte seine Hand. Sie sank in seine Arme, und legte den Kopf auf seine Brust. Ein letzter Atemzug, dann hörte sie nichts mehr. Etwas in ihr zerriss. Er war fort. Für immer. Ein ewiger Abschied.
So stehe ich, mit ihr im Arm, auf weiten, grünen Wiesen welche von vereinzelten Gänseblümchen bewachsen wird. Ein leichter wind zerzaust mein Haar während ich in deine tiefblauen Augen sehe. Die sonne nähert sich dem Horizont und bald schon wird sie von uns gehen, so wie auch ich bald gehen werde. Ach solle dieser Augenblick doch ewig bleiben. Die Zeit soll stehen, denn ich will für immer in diesem Augenblick verweilen. Doch so unaufhaltsam wie sich die nun blutrote Sonne dem Horizont nähert so unaufhaltsam ist mein entschwinden. Ich will nicht fort, ich will hier bleiben, doch dies hab ich leider nicht zu entscheiden. Die sonne ist schon halb verschunden, und so wird auch für mich Zeit zu gehen. Ein letztes Mal streich ich durch dein goldblondes Haar. Ein letztes mal sehe ich tief in deine Augen. Ein letztes Mal berühren sich unsere Lippen. Ein warmer Schauer durchfährt mich, doch dieses Gefühl ist nur von kurzer Dauer. Es weicht macht der Trauer Platz Ich wende mich ab und eine Träne ziert ihre Wange. Kaum umgedreht möchte ich am liebsten vor Sehnsucht schreien. Nun mache ich mich auf den Weg und höre wie sie leise schluchzt. Mit jedem Meter wird die Trauer grösser und bei jedem Schritt da weint mein Herz. Die Sonne ist nun endgültig weg und das Licht verschwindet aus dieser Welt. So gehe ich dann schweren Herzens in die ungewisse Dunkelheit hinein.
Ein einzelner kleiner Wassertropfen macht sich von seinem Ursprung auf in ein für ihn unbekanntes Terrain. Er fließt über eine weiche, leicht unebene Oberfläche und folgt dabei einer vorgegebenen Route. Einen Weg, der bereits von unzähligen anderen Tropfen benetzt, auf ein bestimmtes Ziel hinführt. Ein Ziel, welches kein Zurück duldet.
Langsam steuert der Tropfen auf den niedrigsten Punkt des gesamten Terrains zu und sammelt sich an dieser Stelle. Er wird durch das nachfließende Wasser immer schwerer und die physikalischen Gesetze ziehen ihn immer weiter nach unten in den Abgrund… Immer mehr, immer weiter, bis er letztlich den Halt verliert und als glitzernde Wasserperle seinen Sturz in die Tiefe wagt…
Mit einem leisen Aufprall landet eine weitere Träne auf meiner bereits durchnässten Schnauze und lässt mich bei der plötzlichen Kühle leicht zusammenzucken. Die wievielte war es diesmal?
Ich öffne meine schwachgewordenen Augenlider und schaue mit getrübtem Blick in das Antlitz meiner „Herrin, die mit stark verzerrten Gesichtszügen über mich gebeugt der in ihr rührenden Trauer ihren Lauf lässt. Noch nie habe ich sie so erlebt - nicht in all der langen Zeit, in der wir zusammen auf Reisen waren.
Sie sieht mich an und die Tränen rinnen ihr noch schneller über die Wangen. Die Trauer frisst sie auf, dass spüre ich ganz genau und es schmerzt mich innerlich sehr, sie so zu sehen. Ich würde sie gerne trösten, doch ich schaffe es nicht einmal mehr, meinen Kopf richtig anzuheben. So strecke ich meine Zunge raus und schlecke ihr wenigstens über das Handgelenk. Bitte… weine nicht, Trip… Sei stark und trockne deine Tränen…
Ich mache sie mit einem tonlosen Laut auf mich aufmerksam. Sie hebt ihre Hand und streichelt mir über den zitternden Körper. Ihre Finger fahren mir sanft durch das pechschwarze Fell und über die stählernen Auswüchse auf meinem Rücken. Die Augenlider fallen mir zu und ich sauge die fürsorgliche Erfahrung auf, wie die trockene Erde den hereinbrechenden Regenschauer. In diesem Moment höre ich eine erstickte Stimme auf mich einreden: „Hundemon…? Bleib bitte da.“
Obwohl mir das Licht der untergehenden Sonne in den Augen brennt, öffne ich sie wieder, weil ich Angst habe, dass Trip sonst noch mehr weint. Sie zittert genauso wie ich, aber nicht aus Kälte. Und als ob sie es auch spüren würde, breitet sie die Arme um mich aus und umarmt mich so gut es geht, indem sie meinen Kopf und Hals an sich drückt. Ich höre keine Tränen mehr, die ihr über das nasse Gesicht laufen, sie schnieft nur vermehrt und ganz plötzlich fängt sie an, von früher zu erzählen…
Erinnerungen werden wieder in mir wach; Erinnerungen, die längst vergangen sind, aber ja… sie sind etwas Wunderbares…
Unsere erste Begegnung hat damals vor vielen Jahren an einem klaren Wintertag am „See der Wahrheit“ stattgefunden. Mein ehemaliger Herr hatte mich dort zurückgelassen, weil ich in seinen Augen eine Schande für sein Team und zu nichts nütze war. So lag ich da im Schnee, spürte aus Erschöpfung meine Pfoten nicht mehr und wollte nur noch einschlafen und die Welt um mich herum vergessen. Da hörte ich deine warme Stimme, die mich ins Leben zurückrufen wollte. Ich hätte gerne zugebissen, war aber zu schwach dafür gewesen und konnte mich auch nicht wehren, als du einen Pokéball auf mich warfst und ich darin gefangen blieb.
Erst als ich wieder zu mir kam, befreit von allen Schmerz und Leid, und du dort mit deinen jadegrünen Augen vor mir standest und fragtest, wie es mir ginge, verstand ich erst, dass du mir helfen wolltest. Aber ich verstand nicht warum… Ich musste immer alleine zurechtkommen, mein Herr hat mir nie geholfen. Du aber kanntest mich nicht und hast meine Wunden trotzdem versorgt. In mir bereitete sich ein seltsames Gefühl aus, welches sich nicht beschreiben ließ, aber auch nicht unangenehm war.
Und genau das war der erste Funke unserer Freundschaft gewesen, der sich in all den Jahren in ein gewaltiges Inferno entwickelt hatte und bis heute unverändert besteht.
Sie hört auf zu erzählen und hält mich weiterhin fest. Erneut fängt sie leise an zu weinen, aber es ist so still um uns herum, sodass ich glaube, dass sogar die Welt den Atem anhält. Am Horizont versinkt die Sonne bereits hinter den Bergen. Lange Schatten greifen nach uns, aber nur der Himmel spendet uns seinen Glanz, in dem er in einem feurig-goldenen Licht erstrahlt… Nur mein eigenes Feuer erlischt allmählich.
Trip, beruhige dich und lausche meinem Herzen. Höre genau hin, was es zu sagen hat. Es sagt dir, dass du um mich nicht trauern musst. Ich habe ein schönes Leben bei dir gehabt. Ein Leben voller schöner und trauriger Momente, die niemals vergessen werden.
Und du weißt doch, dass ich nicht mehr der Jüngste war, als wir uns damals begegneten.
Du hast dich stets um mich gekümmert, hast mich trainiert und mir damit eine zweite Chance gegeben, mich zu beweisen. Du zeigtest mir die schöne Seite des Lebens. Und dafür bin ich dir äußerst dankbar.
Das Band der Freundschaft zog sich in der langen Zeit immer enger um uns. Jeder Kampf machte uns stärker für die Gefahren der Zukunft… doch wir haben sie alle überwunden… Nur eine Prüfung muss noch bestanden werden… eine Prüfung des Lebens… der du dich alleine stellen musst…
Nun hör schon auf zu weinen… ich will nicht, dass du um mich trauerst. Bitte… hör auf…
Sieh mich an… du bist nicht allein. Ich bin bei dir… vertraue darauf. Ich werde immer bei dir sein.
Das Atmen fällt mir immer schwerer und das Heben meiner Flanken wird anstrengender. Ich fange an zu keuchen und das schreckt Trip auf, die mich sofort loslässt und meinen Kopf auf ihren Schoß bettet. Schmerzhaft ziehe ich die Luft in die Lungen und presse sie ebenso schmerzerfüllt wieder aus. Ich werde unruhig, weil mir die letzten Minuten so qualvoll dargeboten werden und Trip nur zu schauen kann, wie ich mich innerlich darum bemühe, wach zu bleiben und nach Luft zu japsen. Aber sie bleibt jetzt unnatürlich ruhig und redet mit mir, und wieder spüre ich diese Wärme in ihrer Stimme.
„Ich bin bei dir, Hundemon. Vertraue darauf.“ Diese Worte, sie ähneln den meinen. Ich sammle meine letzten Reserven und hebe den Kopf, um sie anzuschauen. „Eines Tages… werden wir uns wiedersehen.“ Und dann sehe ich es; ich sehe es in ihren jadegrünen Augen. Sie hat verstanden. Und sie hat selbst keine Angst mehr.
Langsam sinkt mein Kopf in seine Anfangsposition zurück. Ich fühle, wie mir immer schwerer wird. Mein Körper wird kraftloser und mir selbst sehr fremd. Trip spricht weiterhin mit mir und ihre Worte trösten mich. Ihre weiche Hand streichelt mir liebevoll den erschlafften Körper und das beruhigt mich. Allmählich vernebelt sich mein Blick, alles verschwimmt; aber ich habe keine Angst, denn ich weiß, dass Trip bei mir ist. Meine Gedanken und mein Geist werden träge, der Schmerz und das Unwohlsein in meiner Haut lassen nach. Ein entlastendes Gefühl ummantelt mich und nimmt mir die Sorge, dass ich sie womöglich alleine lasse. Aber sie wird nie alleine sein. Unser Abschied ist nicht bis in alle Ewigkeit.
Die Sonne wirft ihr letztes strahlendes Licht auf uns, ehe sie am anderen Ende der Welt untergeht und die Dunkelheit vollends über uns hereinbricht.
Die Augenlider fallen mir zu und schließen sich fest. Die pechschwarzen Flanken erbeben in ihrer Anstrengung ein letztes Mal, bevor sie stehen bleiben und in sich zusammenfallen. Ein kleiner schwacher Lufthauch entflieht meinen geschundenen Lungen und mein Herz hört für immer auf zu schlagen.
Ich möchte noch einmal Abschied nehmen von einem geliebten Tier, indem ich seine Geschichte hier aufschreibe.
Es war Weihnachten und mich plagten fürchterliche Gallenkoliken, da war fetter Gänsebraten gestrichen. So blieb der Ganter, den ich Fridolin taufte, am Leben und die Geschichte begann.
Das einsame Tier, sonst in einer großen Gänsefamilie, war ganz traurig so allein. Ich konnte keinen Schritt mehr machen, ohne dass er mir hinterher lief. Er tat mir so leid, deshalb besuchte ich ihn oft und streichelte ihn. Und bald sah er mich als seine Familie an.
Wenn ich mich auf dem Hof hinsetzte, kam er zu mir auf den Schoß, legte seinen Kopf auf meine Schulter und kitzelte mich liebevoll mit dem Schnabel am Rücken und Hals, dabei gab er Töne ab wie tü,tü,tü.
Bald konnte ich auch mit ihm zum Fluss schwimmen gehen oder zum Briefkasten die Zeitung holen, die er stolz bis zur Tür trug. Er verteidigte mich sogar gegen meinen Mann. Wenn der einen Arm um mich legte, fing er an zu zischen und zwickte ihn in die Waden.
Beim Einkaufen hat er immer die Tür bewacht und keinen rein gelassen, solange ich drin war. Alle Leute mochten ihn und haben ihn auch mit Brötchen bestochen, damit er sie vorbei lässt.
Dann kam der Frühling in dem er erwachsen wurde. Ich saß mal wieder auf dem Hof und er kam, wollte aber nicht auf den Schoß. Er ging mit seinem Schnabel immer meinen Rücken rauf und runter, es kitzelte und ich musste lachen. Er versuchte dann auch auf meinen Rücken zu steigen, aber seine Gänsefrau konnte ich ihm nicht ersetzen. Er bemühte sich so herzzerreißend um mich, dass ich mir ernsthaft Gedanken machte, ihm seinen Herzenswunsch zu erfüllen.
Jetzt fing er an kleine Stöckchen, Blätter, Papier, Zigarettenstummel und Federn zu sammeln. Das packte er fein im Kreis um mich herum.
Da beschloss ich, wenn er mir ein Nest baut, muss ich ihm wohl auch Eier ausbrüten. Also legte ich ein paar Hühnereier in sein Nest und zeigte ihm, dass ich sie in eine Tasche legte.
Er war ganz aufgeregt und wollte unbedingt mit in die Wohnung, als ich mit den Eiern verschwand. Eine Woche später hat es sich so ergeben, dass ich 8 kleine Güssel kaufen konnte.
Die packte ich dann in die Tasche und brachte sie zum Stall. Die kleinen piepten ganz schön laut in der Tasche. Schon vor der Tür hat er das gehört und einen lauten Schrei ausgestoßen. Als ich rein kam, dachte ich schon der fällt gleich um, weil er am ganzen Körper gezittert hat und dann fing er auch noch an zu trampeln, wie verrückt. Hatte schon Angst, wenn ich die Kleinen rauslasse, dass er sie zertrampelt. Aber es war die pure Freude. Ich machte die Tasche auf und setzte einen nach dem anderen raus, er begrüßte jeden einzelnen. Alle wurden mit dem Schnabel auf dem Rücken berührt, als wenn er sie zählen wollte und dabei kamen Laute wie püb,püb.
Da er ja keine weibliche Gans war, hat er die Kleinen nicht unter sein Gefieder genommen zum wärmen, deshalb brachte ich eine Rotlichtlampe an. Aber sonst hat er die Aufzucht voll übernommen, er war Vater und Mutter für die Kleinen. Er kümmerte sich rührend um seinen Nachwuchs.
Ab dieser Zeit hatte dann unser Schäferhund einen schweren Stand. Er durfte sich nicht mehr in die Nähe wagen. Fridolin hat die Kleinen verteidigt, indem er dem Hund auf den Rücken sprang und mit dem Schnabel den Kopf bearbeitete.
Alle Güssel sind groß geworden.
Eine weibliche Gans haben wir behalten, damit Fridolin später eine Frau hat.
Ein Jahr später war unser Fridolin dann auch ganz verliebt.
Viele Jahre hat er mit seiner Frieda Junge großgezogen und ich war nicht mehr seine Nr. 1.
Bis das Schicksal grausam zuschlug.
Es war wieder Weihnachten und eine Kollegin wollte eine Gans, um sie mit zu Verwandten zu nehmen.
Es war schon dunkel und mein Mann ging, mit Taschenlampe in den Stall. Er schnappte sich die erste die vorne stand und stach sie auch gleich ab.
Ich hörte Friedolin furchtbar schreien und lief raus, um nach zu sehen.
Da sah ich das Unglück, unsere Frieda hatte sich schützend vor ihre Jungen gestellt und war nun die, die geschlachtet wurde.
Zu spät, ich bekam keinen Ton mehr heraus, so ein Unglück.
Mein Mann hat dann eine neue Gans besorgt, aber Fridolin konnte sie nicht annehmen, er trauerte immer noch um seine Frieda. Er wollte auch nicht mehr in den Stall, weil dort das Schreckliche passiert war.
Als er gerade anfing sich mit der neuen Frieda anzufreunden, traf auch sie das Schicksal hart. Als das Hoftor einmal offen stand, kamen fremde Hunde auf den Hof. Fridolin wehrte sich tapfer und wir konnten die Hunde verjagen. Aber Frieda hatten sie gebissen und sie hatte zu viel Blut verloren. Deshalb verstarb sie noch am selben Tag.
Nun saß er immer unter meinem Küchenfenster, auch im kältesten Winter.
An seinem 14. Geburtstag bemerkten wir, dass er etwas heiser war und der Hals war auch geschwollen. Ich ging mit ihm zum Tierarzt und erfuhr, dass es sich um eine Vogelkrankheit handelt und es nicht gut aussieht.
Er bekam dann Antibiotika gespritzt und wir hofften auf Besserung. Weil es ihm so schlecht ging, nahm ich ihn mit in die Küche. Er fühlte sich wohl und steckte seinen Schnabel unter den Flügel, um eine Runde zu schlafen. Ich freute mich, weil ich dachte, jetzt schläft er sich gesund.
Doch leider war dies das Ende der Geschichte, er starb 2 Tage später. Vielleicht auch an gebrochenem Herzen, weil er mit ansehen musste, wie auch Frieda Nr. 2, an die er sich gerade etwas annäherte, vor seinen Augen getötet wurde.
Frieda und Fridolin bekamen ein schönes Grab, mit vielen Blumen, auf einem Berg. Sie bleiben für immer, eine unserer schönsten Erinnerungen.
dsasasd
Die Sonne ging gerade auf als ich aufstand, die Vögel begannen gerade zu zwitschern. Ich setzte mich auf und schlich quer durch mein Zimmer. Auf meinem Schreibtischstuhl stand schon meine alte Sporttasche, die ich am Vorabend gepackt hatte. Leise ging ich die Treppe hinunter, um gar niemanden zu wecken, ich durchquerte das große Wohnzimmer und stand vor der Haustür. Unschlüssig lies ich meine Hand auf dem Türgriff liegen.
Sollte ich wirklich gehen? Ich blickte mich noch einmal um, da fiel mir ein Foto in den Blick. Darauf waren ich, mein Hund und meine beste Freundin zu sehen. Wir beide lachten darüber, wie sich der schwarze Labrador über den Boden kugelte. Augenblicklich stiegen Tränen in mir auf, wie ich an meine alte Freundin dachte. Ich nahm das Foto und rannte aus der Haustür. Doch anstatt mich nach Westen zu richten, der Richtung, in der mein Ziel lag, wandte ich mich nach Osten und rannte die Straße entlang. Die Häuser zogen an mir vorbei, ich achtete nicht auf sie. Ich versuchte nicht an das, was mir bevorstand zu denken und konzentrierte mich nur auf eine gleichmäßige Atmung, damit ich nicht gleich wieder in Tränen ausbrach.
Nach vielleicht zehn Minuten erreichte ich einen Häuserblock. Ich ging schnurstracks zum ersten Haus und bevor ich es mir anders überlegen konnte, lief ich durch den Vorgarten und klopfte an eines der Fenster. Die Gardinen waren noch zu gezogen, doch es war mir egal.
Als sich nichts regte, klopfte ich energischer. Dann sah ich Bewegungen hinter dem Vorhang. Ein wütend aussehendes Mädchen riss die Gardinen weg und starrte mich an. Dann öffnete sie ruppig das Fenster.
„Was willst du?!“
„Ich wollte mich ...“, setzte ich an, „ähm...“
„Was denn, sag schon!“
Ich schluckte einmal.
„Ich wollte mich ...“, Erinnerungen stiegen in mir auf, an unsere gemeinsame Zeit an die Dinge, die wir gemeinsam erlebt hatten, „verabschieden.“ Das letzte Wort flüsterte ich nur noch, doch sie schien es verstanden zu haben, denn sie schaute mich verwirrt an.
Als sie antwortete konnte ich das Ungläubige in ihrer Stimme hören, welches sie mit einem spöttischen Tonfall zu übertönen versuchte.
„Du willst dich verabschieden? Na dann, wo fährst du denn hin, mitten in der Schulzeit und so früh am Morgen?“ Sie zog eine Augenbraue hoch.
„Ich gehe für immer, es gibt nichts, was mich wirklich noch in meinem Leben hier hält. Ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll, mich hier wieder wohl zu fühlen, deshalb gehe ich lieber und gucke, ob es mir woanders genau so ergeht, oder nicht.“ Meine Stimme wurde immer leiser, ich drehte mich weg, damit meine Freundin meine Tränen nicht sah.
„Aber ich bin doch hier...“, meinte sie. Sie klang nun auch ein wenig geschockt und ihr Gesichtsausdruck wirkte auf mich, wie eine Folter. Wie sie mich anguckte, es war, genau so wie damals, als wir unbeschwert gespielt hatten und wir uns dann plötzlich stritten und ich wegging. Als ich mich noch einmal umgedreht hatte, blickte sie genau so, wie jetzt.
Ungläubig. Geschockt. Wütend. Traurig. Das was sie mit ihrem Gesicht sagte, umfing meinen Geist wie ein Schneesturm.
__________________________
Ich schaute ihn geschockt an, ich konnte nicht glauben, was er gesagt hatte. Mehr als 15 Jahre lang waren wir beste Freunde und nun sagte er, es gibt nichts, was ihn hält. Ich schluckte, ich wollte etwas sagen, doch es gelang mir nicht. Meine Kehle war ausgetrocknet, als wäre ich stundenlang ohne etwas zu Trinken durch die Wüste gegangen, während die Sonne gnadenlos auf meinen Kopf schien. Ohne die gleiche Gnade sprach nun mein Freund zu mir, er schien sich nicht im meine Gefühle zu kümmern, nur um sich selber. Deshalb wollte er auch gehen. Er meint ich sei nicht gut genug für ihn. Ich schaute aus dem Fenster auf ihn runter und konnte sein Gesicht nicht erkennen. Seine blonden Haare versperrten mir die Sicht, genau so, wie sie ihm das Denken versperrten.
„Du bist so egoistisch!“, schrie ich ihm zu. Ich achtete nun nicht mehr darauf, ob meine Eltern wach wurden, von mir aus sollte die gesamte Straße erfahren, was für ein ... Freund er war.
Er guckte hoch und ich sah Tränen auf seinen Wangen glänzen. Seine großen dunklen Augen blickten zu mir auf. Ich bereute, was ich gesagt hatte, was ich gedacht hatte.
__________________________
Sie war immer wie eine große Schwester zu mir gewesen, ich war geschockt, als ich nun diese Worte aus ihrem Mund hörte. Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und rieb mir die Augen.
„Was meinst du, wie es mir dabei geht? Was ich dabei fühle.“ Meine Stimme zitterte. Ich fragte mich nun wirklich, wieso ich eigentlich gehen wollte. Ich hatte hier meine Familie, meine Freunde, mein ganzes Leben hatte ich hier verbracht. Doch irgendwie erschien mir mein Leben hier nicht richtig, ich fühlte, dass ich etwas anderes tun sollte. Wann immer Nachrichten von Kranken und Sterbenden in den Nachrichten erschienen, fühlte ich mit ihnen und sah mich dann bei mir um. Ich hatte hier alles und genau das war der Fehler. Es gibt Menschen auf der Welt, die sich über einen Kanten Brot freuen würden, während ich nur das Teuerste und das Edelste wollte.
Wieder stiegen Tränen in mir auf, mein Gegenüber hatte immer noch nicht geantwortet, sie starrte mich nur weiter an. Diesmal versuchte ich die Tränen nicht zurückzuhalten, sondern zeigte ihr, was ich dabei fühlte. Es war eine Erleichterung, als ich sah, dass sie aus dem Fenster kletterte und mich in die Arme nahm. Ich erwiderte die Umarmung nicht, aber es war ein gutes Gefühl, zu sehen, dass sie mich wenigstens ein wenig verstand.
„Es tut mir so unendlich leid.“, flüsterte ich und strich ihr durch die Haare. Ich spürte die Wärme ihrer Tränen an meinem T-Shirt, doch sie erwärmten mein in Kälte gefangenes Herz nicht.
__________________________
Ich genoss seine Berührungen, ich wusste, dass er gehen muss, aber dennoch wollte ich es nicht wahr haben. So oft hatten wir über unsere Gefühle gesprochen, obwohl er ein Junge war und ich ein Mädchen, und so oft hatte er von jenen armen Menschen gesprochen, die jeden Tag litten. Ich verstand mit diesen Erinnerungen, was ihn dazu bewegte, sein altes Leben hinter sich zu lassen und ich verstand auch, dass ihn nichts mehr hier hielt, er konnte von hier einfach nichts bewegen.
Meine heißen Tränen versiegten, doch ich lies ihn nicht los. Ich wollte noch einmal seine Wärme spüren, noch einmal seinen Geruch in meiner Nase haben, noch einmal sehen, wie er aussah, damit ich ihn immer wieder erkennen konnte, noch einmal sein Herz schlagen hören. Ich wollte ihn noch einmal.
Ich spürte nun, was ich noch nie wirklich realisiert hatte und was unter besten Freunden nicht hätte sein dürfen. Ich spürte die Liebe. Die Liebe, zu ihm, die schon ewig in meinem Herzen brannte, aber immer zurückgehalten wurde. Nun waren meine Barrikaden zerbrochen und das pure Gefühl der bedingungslosen Liebe durchströmte mich.
__________________________
Ich spürte, dass sich etwas verändert hatte. Ich spürte, dass sie sich nach mir verzehrte. Ich spürte, wie sehr ich bei ihr bleiben sollte, doch ich wusste, dass es unmöglich war. Sie lebte hier, sie sollte auch hier bleiben, ich dagegen musste einfach weg, es war mir nicht möglich, hier zu bleiben und weiter Anderen beim Leiden zusehen zu müssen.
Doch mir wurde nun klar, dass ich sie liebte, mir wurde klar, dass sie mich liebte. Ich hatte es die ganze Zeit über gewusst, doch ich war zu dumm, um es zu verstehen. Und nun musste ich es erkennen, als unsere gemeinsame Zeit zu Ende war.
Plötzlich tat ich etwas spontanes, nicht Durchdachtes. Ich zog sie an mich und küsste sie. Ihre Lippen fühlten sich weich an, wie der feine Sand von dem Strand, an dem wir uns das erste Mal getroffen hatten. Es überwältigte mich, ich blendete alles andere aus, nur noch sie zählte für mich. Sie war alles für mich.
__________________________
Der Kuss überraschte mich, doch ich erwiderte ihn sofort. Ungestüm klammerte ich mich an ihn, meine Hände zerwühlten seine Haare und ich fühlte alles nur noch intensiver. Die Trauer über seinen Weggang, die Erinnerungen, doch über allem thronte nur eines. Liebe. Eine liebe, wie ich sie noch nie gespürt hatte, eine Liebe, die eigentlich nicht existieren konnte. Die eigentlich nicht existieren sollte.
__________________________
Als wir uns wieder voneinander lösten war ich verlegen und kratzte mich am Hals. Gerade als ich etwas sagen wollte, schaute ich in ihr Gesicht. Sie starrte mich einfach nur an, ihr Mund war zu einem leichten Lächeln verzogen. Sie himmelte mich an.
Stumm standen wir vor einander. Wir waren uns beide darüber bewusst, dass ich nun gehen musste, ich sagte nur: „Ich werde jetzt gehen, ich möchte aber, dass du weißt, wie sehr ich dich liebe. Und dass ich immer an dich denken werde.“
Dann drehte ich mich um und ging.
Ich werde zurückkommen...
__________________________
Ich sah, wie er die Straße entlang ging, wie der Wind seine Haare zerzauste. Doch ich wusste, was er dachte. Und das beruhigte mich.
Du wirst zurückkommen, ganz sicher.
Schnell stellte ich mich in die Schlange. Vor mir stand eine kleinere Frau, ganz in schwarz. Ihr Schleier war etwas verrutscht, da sie gerade versuchte sich so leise wie nur irgend möglich die Tränen mit ihrem Spitzentaschentuch weg zu tupfen. Ich konnte das stumme Schluchzen welches ihren Körper schüttelte nicht mehr länger ertragen und liess meinen Blick wandern. Der Raum war nur spärlich beleuchtet. Der langgezogene Saal, dessen Leere ein unheimliches Hallen der Schluchzenden erzeugte, war mit Lilien geschmückt und hatte durch die niedrige Decke etwas beengendes. Einmal tief einatmend sah ich zu meiner Rechten in den kleinen Spiegel der neben einem Foto aufgehängt wurde. Das Foto zeigte sie. Sie lächelte. Grinste. Ihre langen braunen Haare, die sie wie immer mit ihrem weiss-rosa Cap zusammen hielt, fielen ihr in endlos scheinenden Kaskaden auf ihre Schultern. Ihre blauen Augen strahlten wie Saphire. Funkelten, vor Freude, vor Lebenslust.
Der Spiegel zeigte mich - müde und abgekämpft. Augenringe zeugten von meinen schlaflosen Nächten und straften mein aufgesetztes Lächeln als Lüge. In meinem schwarzen Jackett sah ich blass und kränklich aus. Meine Haare, die ich sonst kaum bändigen konnte, fielen schlaff ins Blickfeld meiner trüben, braunen Seelenspiegel. Über diesem Elend war ein Schriftzug angebracht: „Wir trauern …“
„Junger Mann?“, erklang eine sanfte Stimme hinter mir und jemand tippte mir auf die Schulter. Ich fuhr herum, blickte entschuldigend in die verweinten Augen hinter mir und schloss mechanisch zu der kleinen, zitternden Frau auf. Sie hatte sich inzwischen zu diesem schwarz gestrichenen Holzkasten gezwungen und sah bebend hinein. Ein unterdrücktes Schluchzen entkam ihrer Kehle und sie presste ihr Taschentuch mit aller Gewalt gegen ihr Gesicht. Völlig aufgelöst starrte sie ungläubig in den Sarg, als sei sie nicht bereit das zu akzeptieren, was ihre Augen ihr zeigten. Schliesslich wurde sie von einem älteren Herrn in den Arm genommen und begann hemmungslos zu weinen. Unter leisem Zureden begleitete er sie aus dem Raum. Nun war ich an der Reihe.
Meine Beine setzen sich umständlich in Bewegung, drohten einige Male einfach unter meinem Gewicht nachzugeben …
Ich weiss nicht mehr, wie ich es geschafft hatte, doch jetzt stand ich da, an ihrem Sarg, klammerte mich mit ganzer Kraft an dem harten Holz fest und hielt mühsam meine Gefühle im Zaum.
Ruhig lag sie in diesem schwarz gehaltenen Sarg, sanft gebettet auf beigen, mit feinster Seide überzogenen Kissen. Ihre langen Beine, die sonst nur mit kurzen blauen Hotpants bekleidet waren, wurden von einem schneeweissen Kleid bedeckt, das ihre zierliche Figur noch extra betonte. Die kleinen Puffärmel und der runde Ausschnitt gaben ihr ein kindliches, verletzliches, beinahe reines Aussehen. Ihr feines Gesicht, umspielt von ihrer braunen Haarpracht, hatte einen friedlichen, seligen Ausdruck. Mein verwirrter Verstand hoffte darauf, ihre strahlenden Saphire nochmals zu sehen, aufzuwachen aus diesem schrecklichen Alptraum, der mich seelisch völlig fertig machte. Doch sie blieb reglos - kein regelmässiges Heben und Senken ihres Brustkorbes, keine verräterischen Bewegungen ihrer endlos langen Wimpern, kein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht, an dem ich immer erkannte, wenn sie mich veralbern wollte, da sie nicht das schauspielerische Können hatte, ernst zu bleiben - nichts …
Sie ist gegangen. Sie ging ohne sich zu verabschieden, ohne Vorwarnung ist sie einfach abgehauen. Ein grosser Kloss bildete sich in meinem Hals, eine Träne fand ihren Weg über meine Wange und eine weitere folgte. Nie wieder werde ich ihr Lachen oder ihre melodiöse Stimme hören. Nie wieder in den Genuss einer Niederlage kommen, welche sie mir dann Wochen lang unter die Nase reiben würde. Nie wieder wird sie mich mit diesem bewundernden Blick ansehen, welcher mir beinahe den Verstand raubt. Nie wieder …
Ich schloss meine Augen kurz und konnte sie sehen. Sie; wie sie damals in ihrem Zimmer ihr erstes Pokémon aussuchte. Wie ihre Augen vor Aufregung und Freude strahlten, als sie ihr Ottaro gegen mein Floink in den Kampf schickte und siegreich daraus hervorging. Ihr Tatendrang, welcher scheinbar nie gestillt werden konnte. Das Feuer das in ihren sonst so freundlichen Augen wütete, als wir Team Galaktik verfolgten, um Gerechtigkeit zu schaffen und dem kleinen Mädchen ihr Pokémon zurück zu bringen. Die Dankbarkeit und die Verbundenheit die in ihren Seelenspiegeln zu erkennen war, als ich ihr damals zu Hilfe eilte mit meinem neu entwickelten Ferkokel. Wie sie sich vertrauensvoll an mich kuschelte in den kalten Winternächten, in denen wir schützende und wärmende Flammen entfachten um schlafen zu können.
Doch dann tauchte eine Erinnerung auf, bei der sich mein Herz zusammen zog. Sie sah mich an, ungläubig, verletzt, enttäuscht. Warum ich es nicht verstehen könne, N habe ihr alles erklärt. Die Wahren Absichten Team Galaktiks seien ehrenhaft und verständlich, wenn man sich genug Zeit nähme ihnen zu zuhören. Ich solle N eine Chance geben sich zu erklären. Eine heftige Diskussion folgte, von denen ich nur Fetzen wahrnahm. Alles ging so schnell und sie wurde immer wütender, schrie mich an, ich hätte keine Ahnung …
Plötzlich klatschte es wüst und sie hielt sich mit geschockter Mine ihre linke Wange. Ich hatte sie geschlagen. Das Klatschen hallte in meinem Kopf, wurde immer lauter, um schliesslich abrupt zu verstummen. Stille trat ein und mit ihr kam die Vernunft und die Reue. Ihre tief blauen Saphire blickten mich wütend und verletzt an, füllten sich langsam mit Tränen bevor sie mir den Rücken zukehrte und verschwand. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, als ich die Augen öffnete und meinen verschleierten Blick wieder auf die reglose Gestalt vor mir richtete. Die Tränen liefen mir übers Gesicht und ich startete erst gar nicht den Versuch sie aufzuhalten. Ich war wütend auf mich selbst, auf meine Handlungen, auf mein Verhalten. Es war nicht richtig gewesen sie zu schlagen, das wusste ich. Es passierte aus dem Affekt heraus, ich verlor total die Kontrolle über mich, da mein verkorkster Verstand dachte, ich würde sie an diesen N verlieren, sie würde mich verlassen…
Mir selbst hatte ich es zuzuschreiben, dass sie ging, denn ich verhielt mich dumm und kindisch. Ich hätte sie beschützen können, hätte bei ihr sein müssen …
Ein unterdrücktes Schluchzen entkam meiner Kehle und ich wischte mir mit dem Handrücken über mein inzwischen verweintes Gesicht.
Nun war es zu spät. Ich war allein und sie würde nicht zurück kommen …
White war tot.
Sanft fahre ich mit den Fingern über die raue Rinde der großen Eiche. Die Robustheit ihrer Hülle gibt mir das Gefühl am Leben zu sein. Tief nehme ich die Luft in mich auf. Sie riecht nach Blumen und Sonne, Freude und Verheißung. In diesen warmen Tagen, an denen die Vögel schon früh morgens anfangen, ihre lieblichen Melodien zu singen, spüre ich den Sommer in jeder Pore meines Körpers.
Ganz langsam gehe ich in die Knie, lasse mich ins hohe, saftig grüne Gras sinken, bis ich schließlich mit dem Rücken an der Eiche lehne. Neben mir sie. Meine beste Freundin. Ich komme jedes Jahr an ihrem Geburts- und Todesstag hierher, an ihren Lieblingsort. Heute wäre sie 16 geworden. Fee wollte immer 16 werden, hat davon geträumt und gescherzt, dass sich ihr Leben ab diesem Tag ändern würde. Obwohl sie wusste, dass sich dieser Traum nie erfüllen würde.
Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass sie wirklich bei mir ist. Wie vorher an der Rinde fahre ich nun mit meinen Fingern ihren Grabstein entlang. Er fühlt sich kühl unter meinen empfindsamen Fingerspitzen an, aber er ist nicht spiegelglatt und makellos wie die meisten Grabsteine. Fee hasste Perfektion. Sie fand, dass nichts von Natur aus perfekt war, und so war es auch ihr Grabstein nicht. An der Seiten war er uneben und hügelig, beinahe wie die Rinde des Baumes.
Ich denke daran, wie sie in den letzten Wochen ausgesehen hatte. Ausgemergelt und dürr. Krank. Keine Haare mehr. Ach, ihre schönen, langen blonden Locken! Was hatte ich sie vermisst. Nichts sonst, nur ihre Haare, denn gelächelt hatte Fee. Ja, immer. Sie lächelte, wenn ich kam, und sie lächelte immer noch, wenn ich ging. Ich war immer bei ihr und wir redeten über alles, als sei sie nicht todkrank und als wären wir nicht im Krankenhaus. Ich hasste die Stunden in der Schule. Es waren alles weniger Zeit mit Fee. Fee, deren blaue Augen mit ihrem Lächeln geleuchtet hatten und die mich immer an ein Stück Sommerhimmel erinnerten. Ich wusste, dass sie für mich gelächelt hatte. Ich hätte es nicht ertragen können, sie traurig zu sehen, und nur deshalb tat sie glücklich. Für mich.
Meine Finger fahren weiter über den Stein, bis ich blind ihren Namen ertastet habe. Fee. Mehr steht nicht auf ihrem Grabstein. Nicht mehr als ihr Name, riesig und in schwungvollen Buchstaben geschrieben. Es hätte fast ihre Handschrift sein können. Obwohl sie schon ein Jahr vor ihrem Tod zu schwach gewesen war, um überhaupt einen Stift halten zu können.
Fee wollte, dass sie hier beerdigt wurde. Hier, an ihrem Lieblingsort, mitten im Wald; umgeben von hohen Bäumen, Blumen und Tieren, auf der in goldenes Sonnenlicht getauchten Wiese, die sie liebte. Es war ihr letzter Wunsch gewesen. Das Vorletzte, was sie zu mir gesagt hatte. Ganz still war sie plötzlich geworden, hatte mich stumm angesehen und sogar das Lächeln vergessen. Mit großen, ernsten Augen hatte sie gefragt: „Du weißt, wo mein Grab sein soll, nicht wahr, Lucy? An diesem einen Ort. Unserem Ort.“ Und dann war ihr Lächeln zurückgekehrt, als ich es ihr lachend versichert hatte, obwohl es mich innerlich zerriss. Ich wollte nicht, dass sie so sprach. Dass sie über ihren eigenen Tod redete, als sei es nur eine Zeremonie, die man überstehen musste. Niemand sprach darüber, und dass, wo er doch so unmittelbar bevorstand.
Tränen waren mir plötzlich übers Gesicht geströmt, als sie nach einer langen Redepause nach meiner anderen Hand gegriffen hatte. Sie hatte eiskalte Hände gehabt, und sie hatte mich so fest umklammert, als würde sie mich nie wiedersehen. Und das würde sie auch nicht. Das letzte, was sie zu mir gesagt hatte, hatte sie geflüstert, damit nur ich es hörte. „Wir werden uns wiedersehen.“ Mit einer solchen Bestimmtheit hatte sie diese Worte gesagt. Ich wusste, dass sie selbst daran glaubte. Und ich vermute, dass wir beide an das selbe gedacht haben. An diese Lichtung, auf der ich jetzt sitze.
Ich öffne die Augen und sehe in den wolkenlosen Himmel, doch er verschwimmt. Tränen rinnen mir aus den Augen, während ich flüstere: „Siehst du mich, Fee? Kannst du mich sehen, von dort, wo du bist?“ Meine rechte Hand liegt immer noch auf ihrem Namen.
Ich habe nicht wirklich Abschied genommen. Nicht, als sie mir gesagt hat, dass wir uns wiedersehen würden. Nicht, als sie ihre Augen geschlossen hatte und sie nie wieder öffnen würde. Nicht, als wir sie hier unter der großen Eiche begraben haben, die sie beschützen sollte.
Ich tue es immer noch. Ich tue es an jedem Tag, jede Sekunde, die ich an sie denke, und all die Stunden, die ich hier an ihrem Grab verbringe. Ich werde nie vollständig von Fee Abschied genommen haben, bis ich sie eines Tages wiedersehen werde.
Es passierte schnell, doch kann ich mich an alles erinnern, als säße ich noch immer im Behandlungszimmer. Ich hielt mich am Rand. Ich hatte Angst. Meine Eltern redeten mir unablässig Hoffnung zu, auch wenn ich noch Hoffnung hatte, aber auch Angst. Ich erinnerte mich an ihre erste Operation. Vor einem Jahr hatte sie einen Tumor gehabt, der operiert werden musste. Wie damals würde alles gut gehen.
Ich lächelte. Eine Geschichte kam mir in mein Gedächtnis, laut der sie wohl während der Betäubung kaum Luft bekommen hatte. „Die operier ich nicht noch mal.“, sollte der behandelnde Arzt damals scherzhaft gesagt haben. Jetzt bekam sie noch Luft. War also noch alles gut? Meine Eltern fuhren besorgt durch ihr Haar. Ich musste Hoffnung haben, die ihnen fehlte, denn wer aufhört zu hoffen, hat mit seinem Leben abgeschlossen.
Hatte sie auch so gedacht, als das Röntgenbild die zertrümmerten Beckenwirbel zeigte? Woher konnte ich das wissen? Sie hatte seit dem Unfall nicht gesprochen. Ihre Beine hatten sich nicht bewegt, als wir sie am Straßenrand gefunden hatten. Immer wenn ein Auto vorbeigekommen war, hatte sie sich zu uns gestellt, doch an diesem Tag ist niemand dort gewesen, zu dem sie sich hätte stellen können.
Eine Träne fiel stumm zu Boden, wo die weißen Fliesen sie zerplatzen ließ. Es war meine Träne, aber ich wollte nicht weinen. Ich durfte nicht jetzt schon traurig sein, noch bevor etwas Trauriges geschehen war. Sie lebte noch! Das dachte ich, doch in Wahrheit wollte ich verleugnen, dass sie wohl kein Leben mehr führen könnte. Sie könnte nicht mehr an ihren Lieblingsplatz die Treppen rauf kommen, wo sie sich gerne in die Sonne legte, die durch das Fenster auf die Sofas fiel. Viele Abende hatten wir dort oben verbracht, dem Klang des Fernsehers lauschend. Meist lachte ich, weinte ich um gestorbene Personen, ließ ich meinen Unmut über die Werbung aus, fieberte ich mit den Charakteren mit. Hatte sie all das verstanden? Sie hatte nie über etwas gelacht, über das ich gelacht hatte, sie hatte nie um gestorbene Personen geweint, hatte die Werbung stummschweigend auf sich genommen und laute Szenen waren ihr zuwider, weswegen sie sich meist verzog.
Ebenso wie damals gerne weinte ich jetzt ungerne. Ich tat es still, wollte niemanden in seiner Hoffnungslosigkeit stören.
Zehn Jahre war es her, seit wir uns das erste Mal getroffen hatten. Ihr schönes Haar hatte sie zu uns in die Familie geholt. Ihren Vater hatte sie nie getroffen, ihre Mutter sah sie schon bald als Rivalin an. Sie war gerne draußen, hatte die Freiheit der weiten Felder geliebt. Auch wenn sie sie nie erwischt hatte, hatte sie immer wieder Hasen gejagt, hatte Rehe aufgescheucht. Mehr als eine Schüssel voller Essen hatte sie täglich nie zu sich genommen, trotzdem wurde sie irgendwann runder. Sie hatte Kinder bekommen, doch die Kinder hatten die Mutter schon bald verlassen müssen. Eines von ihnen hatte sie wiedergetroffen, der Rest war ihr verwehrt gewesen. Den Vater ihrer Kinder hatte sie noch häufig gesehen. Entgegen der Entscheidung seiner Familie hatte sich der Schwarzhaarige immer wieder zu ihr geschlichen.
Noch immer saß ich in der Klinik, mein Bruder kam inzwischen auch. Es war das erste Mal, dass ich ihn weinen sah. Er hatte sie besonders gemocht. Sie war für ihn eine Spielgefährtin gewesen, hatte ihn oft herausgefordert, angebettelt. Er hatte sie wohl schon fast geliebt, wie wir alle sie fast geliebt hatten. Auch er wollte Abschied nehmen. Bevor wir sie zur Untersuchung gebracht hatten, hatte er seine Trauer überdeckt mit der Wut, die die Fahrerflucht in ihm ausgelöst hatte. Jetzt war er traurig. War er ebenso aufgewühlt wie ich?
Es gab einen Punkt, an dem wir alle aufgewühlt waren. Einmal hatte sie Reißaus genommen. Der Lärm Sylvesters hatte sie verjagt. Sogar die Polizei hatten wir angerufen, doch sie kam unversehrt nach drei Tagen wieder zurück. Damals hatten wir uns gefreut, doch jetzt war kein Platz für Freude.
Wir standen um sie herum, strichen ihr durch das feine Haar, nahmen Abschied. Sie blickte uns fragend an. Wusste sie, was die spitze Nadel bedeutete, die der Arzt in Händen hielt? Aus der einzelnen Träne war ein Strom geworden, dem ich freien Lauf ließ. Ich ging raus, wollte mir den Rest nicht mehr ansehen. Vor der Praxis war Kies. Ich setzte mich in die kühlen Steine, weinte stumm weiter. Ich stellte mir vor, wie die Nadel in ihren Körper eindrang. Ein weiterer Wasserfall ergoss sich aus meinen Augen, mein Bruder ging auf und ab.
Manche hatten sie nur als das Tier gesehen, das sie gewesen ist, doch diese Hündin war unsere beste Freundin gewesen.
Ein „Auf Wiedersehen” schmerzt,
aber nicht so sehr wie ein „Lebewohl”.
Ersteres blickt auf die kommende Wiedervereinigung,
letzteres gedenkt der vergangenen Gemeinschaft.
»Siehst du diesen Sonnenaufgang?«
Seine sanfte Stimme bebte vor Begeisterung, als wir gemeinsam auf dem Leuchtturmgebäude standen - die Spitze mit dem zuverlässig leuchtenden Licht ragte daraus hervor wie ein Speer - und dem zögerlichen Steigen der frühen Morgensonne beiwohnten. Ein kühler Wind strich über uns hinweg und zerzauste seine schwarzen Haare etwas. Ich nickte und blickte wieder zum Meer, dessen Schwärze mehr und mehr zurückgedrängt wurde, während sich die Sonne über das Wasser erhob.
»Zeit, dass wir aufbrechen.«
Ich konnte mich nur schwer von dem Schauspiel abwenden, aber als ich seine Schritte auf dem Steinboden vernahm, drehte ich mich um und folgte auf die andere Seite des Gebäudedaches, die der Stadt Oliviana City zugewandt war. Sein Gepäck war bereits wieder in dem schwarzen, abgegriffenen und alten Rucksack verstaut, nur noch mein ledernes Geschirr lag auf den weißen Steinen.
Mit auf den Steinen klackernden Krallen ging ich auf ihn zu, während er das Geschirr hochhob und ich nur mit dem Kopf durch die Öffnung schlüpfen musste. Wie gewohnt spürte ich das Leder auf meinen Federn - zwei Riemen führten auf meiner Brust zusammen, dieser eine verzweigte sich dann wieder auf der Höhe meiner Flügel, um unter diesen zu meinem Rücken zu führen. Dort wurden die beiden Riemen durch Schnallen mit dem dünnen Sattel verbunden, der eigentlich nur ein ovales Stück Leder war. Ich war es so gewöhnt, dass ich mich fast darauf freute es zu tragen, auch wenn mir das schon das ein oder andere Mal merkwürdige Blicke, sowohl von Menschen als auch von Pokémon eingebracht hatte. Doch es störte mich nicht, denn ich wusste, dass sie auch aufgrund meiner für ein Tauboss recht außergewöhnlichen Größe mich oft erstaunt ansahen. Immerhin war ich dem antiken Aerodactyl ebenbürtig.
Er schulterte den Rucksack und ich begab mich zur Kante des flachen Steindaches, wo ich besser starten konnte. Ich ging etwas in die Knie, damit er leichter aufsitzen konnte und bemerkte wie er sich an dem linken ledernen Griff vorne am Sattel festhielt, um sich auf meinen Rücken zu ziehen. Es dauerte einige Zeit, bis er sich in die gebückte Position gebracht, seine Beine angewinkelt hatte und mit seinen Füßen in die Schlaufen am Ende des Sattels geschlüpft war. Als ich sein Gewicht gleichmäßig auf meinem Rücken und den Druck seiner Schenkel an meiner Seite spürte, war der Moment des Absprungs gekommen.
Kräftig stieß ich mich mit beiden Krallen von dem steinernen Dach nach vorne ab und breitete im selben Moment die mächtigen Schwingen aus. Eine Weile trugen sie mich und ich genoss das schwerelose Gefühl; schließlich schlug ich aber doch mit den Flügeln, um den Leuchtturm zu umrunden und nach Nordosten zu fliegen.
Während des Fluges sprach er selten bis nie, was wohl an dem Wind lag, der nicht nur meine Kopffedern über seinen Kopf hinweg flattern ließ, sondern auch das Rauschen vieler seiner Worte übertönt hätte. Allerdings bemerkte ich viel durch die Bewegungen seines Körpers. Während wir über das unter uns glänzende, strahlend blaue Meer flogen, richtete er sich auf. Für mich ein deutliches Zeichen, dass er den Flug genoss und entspannt war. Ich hatte eine günstige Thermik gefunden und konnte so ohne große Anstrengung durch die Luft gleiten. Unter uns wandelte sich das Bild der Landschaft. Wir konnten bald schon die Pokéathlonhallen sehen, im Zeichen des Sportsgeistes brannten auf den drei Pfeilern Flammen, die im Wind beständig tanzten, aber nie ausgingen.
Gerade als wir über diese hinweggeflogen waren, wurde die deutliche Struktur eines Pokéballs aus grünem Gras aus der Höhe sichtbar und der Nationalpark breitete sich unter uns aus. Noch war niemand zu sehen, die Besucher hatten wohl noch keinen Eintritt. Dafür erwachten die Pokémon bereits aus ihrem Schlaf und zusammen mit dem sanften Plätschern des Springbrunnens erfüllte das erste Lied eines jungen Taubsi die Stille. Die Melodie verklang in der Ferne, als wir den Park hinter uns ließen.
Er begab sich wieder in die typische Reitposition und im ersten Moment dachte ich mir nicht viel dabei. Es war normal, dass er das tat, je näher wir unserem Ziel kamen, aber ich spürte plötzlich einen stärkeren Druck durch seine Schenkel. Was war los?
Tatsächlich begann er furchtbar zu verkrampfen, was mich derartig verwirrte, dass ich Mühe hatte mich auf das Fliegen zu konzentrieren. Ich geriet aus meinem Flugrhythmus und wir sackten schlagartig einige Meter in die Tiefe. Erschrocken bemerkte er seine versteifte Haltung und lockerte sich, wenn auch nur geringfügig und kurzzeitig.
Woher kam diese Anspannung plötzlich?
Ich fühlte mich schrecklich hilflos, denn ich konnte nichts tun, um ihn zu beruhigen. Sag es mir!, flehte ich innerlich, unfähig meinen Schnabel zu öffnen und es auszusprechen. Aber selbst wenn ich das getan hätte, hätte er doch kein Wort verstanden.
Sag es mir, bitte!
Der Glockenturm stieß vor uns plötzlich aus dem grünen Meer aus Bäumen. Ich hatte mich auf den gemeinsamen Flug gefreut, sehr gefreut und er wirkte doch noch so glücklich am Leuchtturm.
Die Häuser der Stadt kamen in Sicht, aber ich konnte mich kaum auf die Umgebung konzentrieren. Dafür beschäftigte mich sein Gemütswandel zu sehr.
Ich wusste, wo er landen wollte und ging ohne groß darüber nachzudenken in einen Sinkflug. Wir flogen an der Arena vorbei auf den freien Platz hinter ihr. Als der Boden näher kam begann ich mit den Flügeln zu schlagen, um mich in eine aufrechte Position zu bringen und schließlich mit beiden Krallen auf dem harten Untergrund aufzusetzen. Er stieg von meinem Rücken und ging einige Schritte von mir weg auf das Tanztheater zu.
»Hier werden sich unsere Wege trennen.«
Die Worte trafen mich wie eisige Speere; unvorbereitet und tiefe Wunden hinterlassend. Hatte er das wirklich gesagt? Ich wollte es nicht wahrhaben, aber ich erkannte an seinem gesenkten Kopf, dass ich es mir nicht eingebildet haben konnte. Er war doch so selbstbewusst, wie konnte er da entmutigt zu Boden blicken?
Langsam drehte er sich zu mir um und ging ohne mich anzusehen an mir vorbei. Ich drehte den Kopf zu ihm, als ich spürte, wie er mit zitternden Fingern versuchte die rechte Schnalle an meinem Sattel zu öffnen. Erschrocken wich ich zurück. Was hatte er vor? Was tat er da? Warum wollte er mir das Geschirr abnehmen?
Er versuchte es erneut, aber ich ging wieder zur Seite, zuckte zurück vor den Händen, die mich aufgezogen hatten und mir nun das, was uns verband, im Begriff waren abzunehmen. Was auch immer ihn zu dieser Tat antrieb, es war stark genug, dass er ohne auf mein Ausweichen zu achten, es immer und immer wieder versuchte. Doch nach einer Weile stellte ich meine Gegenwehr ein. Stattdessen kniff ich die Augen zusammen und erstarrte; wartete darauf, dass er die Schnallen lösen würde. Ich spürte wie die Riemen von meinem Körper glitten, lose hinab hingen und wie er mir schließlich das Geschirr ganz abnahm. Meine Augen öffneten sich von selbst und ich blickte in ein mir fremdes Gesicht. Hinter den Gläsern seiner schwarz umrahmten Brille sahen mich seine sonst so gefassten und freundlichen dunklen Augen mit einem Ausdruck von so tiefem Schmerz an, den ich noch nie gesehen hatte. Lieblos ließ er das Geschirr auf den gepflasterten Boden fallen; die metallenen Schnallen klirrten.
»Es tut mir leid.«
Er streckte seine Hände nach mir aus und vergrub seine langen Finger in den Federn an meinem Hals. Ich schloss die Augen, genoss sein sanftes Kraulen und für einen Moment war alles so, wie es immer war, in einer Situation die es zuvor noch nie gegeben hatte.
»Ich wünschte, ich könnte es dir erzählen. Aber wenn ich das tue, würdest du mir folgen. Ich will nicht, dass du mit mir diesen Alptraum durchlebst.«
Seine Stimme bebte und klang verkrampft, als hätte er Mühe zu sprechen. Ich öffnete die Augen und fiepte, den gleichen Laut den frisch geschlüpfte Taubsi anwandten, wenn sie um Futter bettelten. Ich wollte die Wahrheit, ich wollte wissen, was er wusste. Er schüttelte nur schwach den Kopf und mir wurde bewusst, dass er es mir nie sagen würde, weil er mich beschützen wollte. Ohne es wirklich wahrzunehmen liefen mir die ersten Tränen aus den Augenwinkeln und benetzten die Federn an meinem Hals.
»Ich werde dich nie vergessen.«
Unfähig etwas zu tun, ließ ich zu, wie er seine Hände senkte und an seinem Gürtel nach einem Pokéball griff. Ich wusste sofort, dass es meiner war.
»Flieg nach Norden, flieg nach Sinnoh. Dort bist du sicher, niemand wird dich dort finden.«
Diese Worte waren wichtig, sehr wichtig sogar und doch hatte ich Probleme sie zu fassen, spürte ich doch, wie etwas in mir zerbrach. Krallen aus Trauer und Schmerz umklammerten mein Herz und hinterließen tiefe Wunden. Würden sie jemals heilen? Ich konnte nicht klar denken, wie konnte ich ihn verlassen? Wie konnte er mich nur wegschicken?
»Leb wohl, Lyn.«
Mit diesen Worten ließ er den roten Ball zu Boden fallen, wo er geräuschvoll zerschellte.
Lass mich nicht allein! Verlass mich nicht, Hiraku!
Der dritte Abschied soll angeblich der Schlimmste sein. Zumindest hatte mein Vater dies früher immer behauptet, kurz nachdem meine Schwester uns verlassen hatte. Lediglich der dritte Abschied würde eine tiefe innere Wunde hinterlassen, die ein Mensch nicht vergessen kann. Laut seiner Aussage wäre der erste Abschied zwar fatal, jedoch könnte man ihn sich von der Seele reden. Mit dem zweiten Abschied sei es ähnlich: Man denkt zwar lange über ihn nach, aber die Zeit lässt ihn uns vergessen. Kommt es jedoch zu dem dritten Abschied einer Person, so gibt es keine Heilmittel mehr. Natürlich könnte man eine Wunde kurz vergessen, doch sobald man sie spürt, beispielsweise durch eine Berührung, so schmerzt sie einfach nur noch.
Früher hatte ich ihm nicht geglaubt, konnte es einfach nicht verstehen, wo der große Unterschied zwischen dem zweiten und dem dritten Abschied lag, doch mit der Zeit begann ich es zu verstehen.
Es war tiefer Winter; eisige, kleine Schneeflocken fielen in einer Masse zu Boden, wie ich es schon seit Jahren nicht gesehen hatte. Der Weihnachtsabend stand bevor und mir fehlten die letzten Geschenke, weshalb ich mich in Richtung eines kleinen Ladens begab, der besonders zur Winterzeit viele kleine Dinge führte, welche sich in der Heiligen Nacht unter dem Baum besonders gut machten.
„Besorgst du uns noch etwas für deine Schwester?“, hatte mein Vater mich gefragt, bevor ich mich auf den Weg gemacht hatte und mir einen orange-gelben Geldschein in die Hand gedrückt. Was sollte ich nur für meine Schwester kaufen? Alles was sie wirklich mochte, hatten meine Eltern bereits für sie gekauft – Und meiner Meinung nach war das auch bereits mehr als genug. Nach ein paar Minuten Fußmarsch hatte ich den Laden endlich erreicht, begab mich also auf die Reise durch die engen Gänge, in denen sich Spiele, Puppen, und noch viele weitere Dinge befanden, die Kinder glücklich machen konnten.
„Hey, was suchst du denn jetzt noch hier?“, fragte mich eine laute Stimme mit einem leichten Lachen als Abschluss des Satzes. Neugierig streckte einer meiner Klassenkameraden, der aber auch zu meinen besten Freunden gehörte, seinen Kopf durch eines der Regale, in denen eine Lücke zu finden war und lächelte mich an.
„Dasselbe wie du, nehme ich an“, erwiderte ich.
„Du bist also krank, hast dir eben Medikamente gekauft und hast eben auf die Schnelle eine Toilette gesucht?“, stellte er überrascht fest, obwohl er genau wusste, warum ich mich in dem Laden befand.
„Du bist krank? Dann noch eine gute Besserung bis zur nächsten Woche“, gab ich ihm zu wissen, doch bereits wenige Minuten später, trennten sich unsere Wege, sodass ich mich, ausgestattet mit den gekauften Geschenken, auf den Heimweg begab.
Bei dem besagten Freund war es nicht nur eine normale Grippe, und auch die Medikamente hielten nicht was sie versprachen – Der erste Abschied.
Der Winter endete, der Schnee war verschwunden und der Frühling war ausgebrochen. Mein Vater hatte Recht behalten: Den ersten Abschied konnte man sich von der Seele reden. Trotzdem, dass ein vermeidlicher dritter Abschied am Schlimmsten sein sollte, konnte ich noch immer nicht glauben.
„Treffen wir uns morgen?“, fragte meine derzeitige Freundin mich und warf mir ein leichtes Lächeln entgegen. Ohne viel darüber nachzudenken, gab ich ihr eine positive Antwort und so trafen wir uns am darauffolgenden Tag auf einer großen, leicht abgelegenen Wiese in der Nähe unseres Dorfes. Es war ein toller Tag, den wir gemeinsam verbrachten. Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits zwei Jahre zusammen und das sehr glücklich.
„Übrigends, ich muss dir noch etwas sagen…“, begann sie ihren Satz, als der Tag fast durch den Sonnenuntergang beendet worden wäre. Unentschlossen fuhr sie fort: „Wir müssen ab dem nächsten Monat umziehen. Meine Mutter wurde gebeten, eine Führungsposition in einer der großen Filialen im Ausland zu übernehmen und sie hat angenommen.“
Unsicher stand ich ihr gegenüber, war sprachlos. Viele Fragen schossen mir binnen Sekunden in den Kopf, doch nicht eine davon verweilte lange genug, dass ich sie hätte aussprechen können.
„Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Wer weiß das schon?“, gab sie mir zu wissen, doch bereits an ihrer Stimmlage konnte ich erkennen, dass sie selbst nicht an ihre ausgesprochenen Worte glaubte.
Die letzten Tage des Monats vergingen meiner Meinung nach schneller als jeder andere Tag zuvor. Als hätte sich die Rotation der Erde verändert. Unsicher musste ich mir eingestehen, dass der zweite Abschied schlimmer war als der erste, aber Reden nicht half. – Der zweite Abschied.
Heute muss ich zugeben, dass auch der zweite Abschied mit der Zeit ertragbar wurde. Ich konnte ihn sozusagen vergessen. Inzwischen konnte ich erkennen, dass jeder Abschied seine eigene Trauer erzielt, doch trotzdem bleibt in gewisser Art und Weise die Angst vor einem dritten Abschied. Kurz nach dem zweiten Abschied sind mir jedoch Worte eingefallen, die meine Mutter früher immer sagte, wenn mein Vater von dem dritten Abschied sprach: „Natürlich ist der dritte Abschied schwerwiegend, doch kannst du auch diesen erträglich machen, wenn du nicht zu viel darüber nachdenkst. Nebenbei, was wäre denn mit einem vierten oder fünften Abschied?“
Die Sonne schien den beiden aufs Gesicht, als sie zusammen zum Strand liefen. Ihr rabenschwarzes Haar wehte im warmen Abendwind mit den Palmblättern um die Wette. Er drückte ihre Hand und setzte sich nieder, genau dort wo die Wellen sich an der letzten Düne brachen. Die Füße vom Wasser umspült begannen sie sich innig zu küssen. Ihre Lippen berührten sich und seine sanken auf ihre. Ihre Gedanken waren allein an den anderen gerichtet. Die Welt war ihnen egal. Die untergehende Sonne färbte das Meer rot. Es war, als würde es brennen, so wie ihre Herzen. Langsam krochen von Osten die Schatten der Nacht herauf, doch im Westen stand als letzter Hoffnungsschimmer die Sonne. Sie standen auf, rannten nach Westen, ins Meer herein und auf die Sonne zu, bis ihre Hüften schließlich unter Wasser waren. „Ich denke du musst jetzt gehen?“, fragte er, ohne Hoffnung und verbittert. „Ich gehöre zu meinem Volk. Ich werde die Zeit mit dir nie vergessen, aber meine Heimat ist unter Wasser. Vielleicht komme ich wieder, aber mach dir keine Hoffnung!“, erwiderte sie leise. „Die habe ich nicht mehr. Ich schenkte sie dir gemeinsam mit meinem Herzen! Wenn du mal wieder die Sonne untergehen siehst, dann komm herauf. Ich werde auf dich warten, bis zum Ende meines Lebens. Jeden Tag, zu Sonnenuntergang, werde ich hier stehen und auf dich warten. Das verspreche ich dir!“, sagte er und wendete sich ab, um die Tränen vor ihr zu verbergen. Sie wollte ihn noch einmal umarmen und ihn trösten, doch er ging bereits langsam ans Ufer, in den Schatten der Nacht hinein. Sie wusste, es wäre besser ihn jetzt gehen zu lassen. Wenn sie ihn jetzt noch einmal berühren würde, dann würde es umso schlimmer für ihn. Er war jetzt schon genug zerrissen. Es war schlimm, eine zu lieben, die nicht bei ihm bleiben konnte. Sie würde gern mit ihm leben, mit ihm den Sonnenuntergang beobachten, doch sie konnte nicht. Sie musste zurück, zu ihrem Volk, zu ihrer Heimat. Sie musste dorthin gehen, wo er ihr nicht folgen konnte. Auch wenn sie in ihrem Leben nie jemanden mehr lieben konnte, musste sie doch ein neues Leben anfangen. Das war ihr Schicksal.
Langsam zog sie ihre irdische Kleidung aus und warf ihr Kleid ins Wasser. Dann, als sie sich auch ihres Bikinis entledigt hatte, blickte sie in die letzten Strahlen der Sonne und tauchte unter. Dort traf sie der letzte Lichtstrahl des Tages und verwandelte sie zurück in die Nixe, die sie war. Sie schwamm nach unten und verschwand in der Tiefsee, während ihr Freund aus dem Wasser ging und langsam die Promenade entlang schlenderte….
Wenn das Leben dir eine Chance gibt, dann reiß sie an dich, so schnell du kannst, auch wenn es heißt, Abschied zu nehmen.
Viele Stunden lang ging ich auf den vier Quadratmetern auf und ab, die so lange mein Heim gewesen waren, ja fast so etwas wie ein Zuhause. Ich strich mit den Fingern über die graue Wand. Sie war kalt und rau, wie am ersten Tag. Nie hatte ich erfahren, was sich hinter dieser Wand befand. Wenn ich so meine Fingerknöchel so betrachtete, die bei jeder Bewegung schmerzten, fragte ich mich, ob es sich gelohnt hatte. Das Klopfe. Stundenlang, tagelang, wochenlang, viele, viele Jahre.
Ich setzte mich auf die harte Pritsche, auf der ich nie eine ganze Nacht durch geschlafen hatte. Jede Nacht pünktlich um Viertel vor eins heulte die Sirenen auf dem Hof. Ich konnte nicht glauben, dass ich es diese Nacht zum letzten Mal hören würde.
Ein letztes Mal kletterte ich hinauf, stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte mich an der Wand hoch, wie ich es in den letzten Jahren jeden Tag getan hatte. Oft war ich stundenlang so dagestanden, denn es war die einzige Möglichkeit, durch das kleine Fenster hoch oben an der Wand zu sehen. Meine Zelle hatte eine Deckenhöhe von mindestens dreieinhalb Metern, doch das machte sie nicht weniger beengend. Das Fenster war klein und winzig, eigentlich verdiente es den Namen „Fenster“ gar nicht. Es war nicht mehr als ein dreckiges Loch in der Wand, so hoch oben, dass kaum einer der Gefangenen je dort nach Freiheitsluft schnuppern konnte. Ich hasste den Architekten dieses grauen Klotzes dafür. Ich hasste ihn, wenn ich auf dem dreckigen Zellenboden lag und nach draußen starrte und ich hasste ihn, wenn mir dabei aus dem Loch an der Decke das Wasser auf den Kopf tropfte.
Ich hörte die Vögel zwitschern und sah nichts als den strahlend blauen Himmel. Wie oft hatte ich darüber nachgedacht, ob ich jemals einmal wieder Sonne auf meiner Haut spüren würde. Wenn ich mich so auf Zehenspitzen auf die Pritsche stellte, von denen die Wärter doch tatsächlich behaupteten, es sei ein Bett, dann sah ich Maschendraht und Laternen, die jetzt mitten in der Nacht ihr fahles Licht auf den Exerzierplatz warfen. Ich habe diesen Platz nie betreten, denn dort mussten nur diejenigen antreten, auf deren Zelle man in der wöchentlich oder manchmal sogar stündliche stattfindenden Kontrolle Drogen oder andere verbotene Dinge gefunden hatte. Von einem Mithäftling hatte ich im Tausch ein batteriebetriebenes Radio erhalten. Es hatte ein langes Kabel, das als Antenne fungierte, wenn ich mich auf die Pritsche stellte und es aus dem Fenster hielt. Dass ich nie erwischt wurde grenzt fast an ein Wunder. Vielleicht lag es auch daran, dass ich es, in einer Plastiktüte eingewickelt, im Abflussrohr der Toilette versteckte. Dort sahen die Wachen nie nach, denn sie würden sich nie dazu herablassen, mit der Hand in die Scheiße zu greifen.
Gestern hatte ich es verschenkt, an jemanden, der es bald nötiger brauchen würde, als ich. Das war nicht leicht. Ich musste einen Aufseher bestechen, damit er es weiter gab. Seit ich in Einzelhaft saß, hatte ich zu keinem Menschen sonst mehr Kontakt. Aber ich wollte, dass mein Radio noch jemand anderem nutzen konnte und wenigstens ein bisschen der vielen Zeit, die wir hier zur Verfügung hatte totschlagen konnte. Diese Nacht würde die letzte in diesem Rattenloch sein.
Ich stand immer noch auf meiner Pritsche und sah in die dunkle Nacht hinaus. Die Sterne strahlten vom Himmel und es schien, als wollten sie mir sagen: „Bald bist du bei uns.“ In all den anderen Nächten, als ich in den Himmel gestarrt hatte, hatte ich es nicht glauben können, aber jetzt wusste ich, dass die Sterne immer Recht hatten.
Ich sah mich noch einmal in meiner Zelle um. Ohne die nackte Glühbirne, die hoch oben von der Decke baumelte, wäre es stockdunkel gewesen, doch so konnte ich noch einmal Abschied nehmen, von der Pritsche, auf der ich jetzt lag, die Decke zusammengerollt und in den Nacken geschoben. Daneben der Tisch, auf dem kaum eine Tasse Kaffee Platz fand und eigentlich nicht mehr als eine Fensterbank war. Ich nahm Abschied von meiner Toilette, durch die ich immer sofort riechen konnte, wenn irgendjemand auf dem Korridor Blähungen hatte. Die rostige Stahlschüssel, die ich einmal mit einer eigenen Zahnbürste hatte putzen müssen, als ich es gewagt hatte, die Kruste vom Abendbrotkäse abzuschneiden und am Tellerrad übrig zu lassen. Ich hatte mir geschworen nie wieder Käse zu essen, wenn ich jemals wieder die Sonne sehen sollte und ich glaube dieses Versprechen kann ich halten.
Ich nahm Abschied von meinen vier Quadratmetern und war mir sicher, sie nie wieder sehen zu müssen.
Meine Augenlider wurden schwer und langsam wurde mir bewusst, dass dieser letzte Tag zu Ende ging. Ich besaß keine Uhr, aber es war sicher schon spät. Alles war ruhig, draußen zirpten die Insekten und ich war sicher, dass ich morgen endlich die Sonne sehen würde. Ich schloss die Augen und ein Lächeln huschte über mein Gesicht.
Im Morgengrauen sollte ich im Innenhof hingerichtet werden.
Eine gedämpfte Stimme erklang. Der lila Ball öffnete sich und bildete eine Gestalt. Die Gestalt eines riesigen weißen Drachen. Der Junge mit Basecap und grünen, schulterlangen Haaren blickte den Drachen mit müden Augen an. „N Harmonica“, schallt die tiefe Gedankenstimme durch den Kopf des Jungen. Eine mystische, beruhigende Stimme. „Reshiram...ich muss dir etwas sagen.“ Seine Stimme klang nervös. Reshiram blickte ihn erwartungsvoll an. „Ich... ich habe lange nachgedacht... ich...“ Er schniefte und drehte sich weg. Er konnte den Blicken des Drachen nicht standhalten. „N...was ist los?“, klang wieder die tiefe Stimme durch seinen Kopf. Reshirams eisblaue Augen wirkten verwundert. „Es sollte nie passieren...“ „Was sollte nie passieren, Meister?“, fragte der Drache vorsichtig. Ich bin dem nicht würdig, so genannt zu werden.“ Er fuhr sich durch das blassgrüne Haar. Die Sterne über ihnen funkelten und warfen ihr blasses Licht auf das weiße Fell des Drachen. „Nein... nicht mehr...“ Seine Stimme brach ab. „Was sagst du da? Nein, das ist nicht war...“, erwiderte der Drache. „Mein Vater hat mich gezwungen... Ich bin kein Held... ich bin ein verabscheuender Mensch...“ Vorsichtig strich er dem Riesen über den Rücken. Er seufzte und atmete einmal tief durch. Er wollte seine Verletzlichkeit verbergen, doch ihm gelang es nicht. „Nein, du weißt, dass dies nicht stimmt. Ich spüre ihn, den Held in dir.“ N schüttelte nur langsam den Kopf. „Nein... du solltest frei sein...Ein mächtiges Wesen wie du soll frei sein...“ Doch N spürte, dass er Reshiram nicht überzeugen kann. Er fuhr trotz alledem unbeirrt fort. „Weißt du... ich habe mir immer gewünscht, ein Held zu sein... doch nicht so ein Held... Schwarz ist eines Helden würdig... doch ich, ich bin es nicht.“ Er schluckte erneut und kratzte sich nervös am Arm. Er hatte Angst, allein zu sein, Angst, gehasst zu werden, Angst davor, vergessen zu werden. Der mächtige Drache senkte den Blick und schaute auf den Boden. Es bedrückte ihn, seinen Trainer so verzweifelt zu sehen, seine Angst zu spüren. Das Feuer in seinem Herzen glimmte traurig. Auch sein sonst so flammender Schwanz leuchtete nur noch schwach und tauchte alles in ein leichtes, von Trauer durchzogenes Licht. „Muss ein Abschied immer etwas Schlimmes sein?“, fragte N und lächelte gequält. Ein Lächeln ohne Gefühle und ohne Liebe. „Nein... und doch, doch ist es nie... nie schön... Ich will nicht gehen... nicht jetzt, nicht hier. Nie...“ N vergaß wie immer, wenn er mit Reshiram sprach, dass er mit diesem riesigen Wesen sprach. Die Gedankenstimme des Drachen war so sanft, als würde sie aus dem Mund eines Kindes kommen. „Reshiram... Ich will neu anfangen... Ein Leben fernab von Schwierigkeiten, fernab von nervenden Fragen.“ Er legte seine Hand auf den Bauch des Drachen. Wärme erfüllte ihn, gefolgt von Schmerzen. Schmerzen des Abschieds. Wenn sie sich jetzt trennen, würden sie sich nie wieder sehen, das wusste er, das wussten sie beide. Doch es war nötig. N wollte sich nicht sein ganzes Leben verstecken. Er wollte leben, ein Leben, welches man als lebenswürdig bezeichnen kann. Er nahm den lila Ball, betrachtete ihn und steckte ihn ein. Reshirams Augen waren halb geschlossen und es schien, als würde er Schmerzen haben. Wahrscheinlich war es auch so. Ihre vertraute Verbindung zu zerstören, war, als würde man seine Seele verlieren. Nicht existierende physische Schmerzen, entstanden durch den psychischen Schmerz, der in ihm wie ein Gewitter tobte. N wollte nichts haben, was ihn an früher erinnert. Es verletzt ihn nur noch mehr. Wenn er die Erinnerungen hinter sich lassen wollte, musste er das auch mit seinem Weggefährten tun. Und zu denen zählte nun mal auch Reshiram. „N... tu was du nicht lassen kannst...“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll und ein wenig zornig. „Reshiram... sag das nicht... versteh mich doch... bitte.“ Der zornige Gesichtsausdruck Reshirams schwand und wich zu einem mitfühlenden Ausdruck. Reshiram und seine Stimmungswechsel, dachte N und musste schmunzeln, obwohl ihm in dieser Lage gar nicht danach war. „Weißt du“,, flüsterte N, während er seine Hand über den Bauch des Drachen gleiten ließ, „Wir haben gekämpft um unsere Verbindung zu stärken, der Welt deine Macht zu zeigen. Wir haben verloren und ich habe verstanden, verstanden, dass das was ich tat, falsch war... und nun verstehe ich, ich verstehe, dass ein so wundervoller, mächtiger Drache frei sein sollte und nicht eingesperrt, eingesperrt in einen engen Ball. Ich hoffe, auch du verstehst mich...“ Der Drache schien nachzudenken. Schließlich ertönte wieder seine Stimme in Ns Kopf. „Nun gut, N, es ist allein deine Entscheidung...“ Er gab einen brummenden Seufzer von sich und sah N an. „Doch zuvor...“ Reshiram brüllte. All sein Schmerz, all seine Trauer verließen ihn. Um seine Klauen bildeten sich tanzende Flammen. Zischend umspielten sie seine Krallen. N wich erschrocken zurück und hielt sich den Arm vor die Augen. Die Flammen schossen in die Luft und begannen, eine glitzernde, warme Sphäre zu bilden. Die Luft zitterte vor der Wärme des Feuers. Dann, von einem Moment auf den anderen erlischen sie und eine gerade Rauchwolke stieg in den Himmel empor. Die Sphäre schwebte pulsierend in der Luft und strahlte ein beruhigendes Licht aus. Unter dem bewachenden Blick Reshirams schwebte sie zu N hinüber. Reshiram hob seine andere Pranke und begann, eine Kette zu bilden. In der Mitte der Kette befand sich eine Metallscheibe. Weitere Flammen bildeten sich und hüllten die Kette samt Sphäre in ein gleißendes Licht. N schloss die Augen, um dem blendenden Licht zu entgehen. Als das Licht verschwand, gab es eine Kette frei, in dessen Mitte die rote Sphäre saß. Die Sphäre pulsierte, als ob Leben in ihr existieren würde. Sie schwebte zu N und legte sich um seinen Hals. N stand noch immer wie angewurzelt dort und rührte sich nicht. Er musterte Reshiram fasziniert. In dem Moment, wo die Kette seine Haut berührte, erfüllte ein wohliges Gefühl seine Glieder. „Reshiram... du... „ Er fiel seinem Drachen um den Hals. „Danke...“, flüsterte er ganz leise. Es war das erste Mal, dass N seinem Drachenwesen wirklich dankbar war. Reshiram sah ihn liebevoll an und strich ihm über den Kopf. Es war ein sehr seltsamer Anblick. Der riesige Drache und der Junge. N wich zurück, als ihm bewusst wurde, was er soeben getan hatte. Er errötete und strich sich verlegen eine Strähne aus dem Gesicht. „Na dann...“, flüsterte er mit erstickter Stimme. „Du kannst mich rufen... wann immer du willst, hmm?!“, murmelte der Drache. „Ja... ja... danke, Reshiram... alles Gute...bis bald... hoffe ich.“ Reshiram sah ihn verblüfft an. „Ich dachte wir würden uns nicht mehr wieder sehen.“, flüsterte die Stimme in Ns Kopf vorwurfsvoll. „Ja, ja schon... ich dachte ja nur... egal... Na dann, bis bald.“ „Ich werde immer über dich wachen, N Harmonica... „, erschall noch ein letztes Mal die sanfte Gedankenstimme Reshirams. Sekunden später hatte sich Reshiram schon in die Luft erhoben und flog lautlos dahin. Ruf mich, wenn du mich brauchst..., hörte N es in seinem Geist widerhallen. Mit Reshiram verschwand nun auch die letzte handfeste Erinnerung an seine Vergangenheit. Und doch spürte er den legendären Drachen noch immer, tief in seinem Herzen und dort sollte er immer bleiben. N umfasste das pulsierende Amulett und drückte es an sein Herz. Hatte er das richtige getan? Es schmerzte, doch er spürte Befriedigung. Es musste richtig gewesen sein. Reshiram ist am richtigen Platz. Tief in seinem Herzen wacht er über ihn. Für immer und ewig, bis sie längst unter den Sternen weilen...
„Aonar!“
Das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren hinter mir rief aufgeregt meinen Namen, weswegen ich mich zu ihr umdrehte und sehen wollte, was sie bedrückte.
„Was ist denn, Saol?“
Auf dem Boden kniend bedachte sie mir mit einem Fingerzeig, auf eine bestimme Stelle zu schauen. Ich ging ebenfalls in die Hocke und besah mir die kleine Wasserpfütze, die sich hier unerklärlicherweise gebildet hatte.
„Da, Wasser!“, rief sie stürmisch und bekam beinahe wieder das Problem, sich zu verhaspeln. Sie formte ihre Hände zu einer Schale und hob damit einen Teil des kühlen Nasses hoch. „Wir haben schon so lange keines mehr gesehen.“
„Ja, da hast du recht, aber dieses hier können wir nicht trinken“, antwortete ich schnell. Als sie mich mit einem fragenden Blick ansah, bedeutete ich ihr, sich die Konsistenz genauer anzusehen. „Siehst du es, in deiner Hand? Das Wasser hat eine schwarze Farbe angenommen. Wenn wir das trinken, würden wir krank werden, da unsere Körper das nicht vertragen.“
„Oh, verstehe.“ Mit Enttäuschung in der Stimme ließ Saol das verschmutzte Wasser auf den Boden prasseln und benetzte dabei leicht ihre simple Kleidung, das lediglich aus einem blauen, etwa knielangen Kleid bestand. Es schmerzte mich selbst auch zu sehen, wie sehr diese Welt schon verkommen war und doch wusste ich nicht mehr so genau, was eigentlich geschehen war.
Vor einiger Zeit - mir war entfallen, ob es Tage oder Wochen waren -, als ich mitten auf der Straße aufgewacht war, lag diese Stadt bereits in Trümmern; einem Inferno gleich waren Gebäude eingestürzt und hatten das Landschaftsbild drastisch verändert. Mir fielen dazu die Nachwirkungen eines Erdbebens ein, da dieses eine ähnliche Zerstörung mit sich brachte, aber ich hatte keine Erinnerung daran, was wirklich passierte.
Eine Sache jedoch war noch schlimmer und ich wäre fast daran vergangen - neben mir schien kein Mensch dieses Ereignis überlebt zu haben. Solange ich schon hier umherirrte, so sehr ich mir auch Gesellschaft gewünscht hatte; ich traf auf meiner bisherigen Suche niemanden. Einsam und verlassen wirkte diese Stadt. Einst so blühend, nun verwelkend. So auch ich.
Bis ich vor drei Tagen Saol traf.
„Komm, wir müssen weiter.“ Ich erhob mich in eine stehende Position und hielt dem Mädchen die rechte Hand als Hilfe entgegen.
„Mh“, war ihre knappe Antwort und sie griff nach meinem Handgelenk, woraufhin ich verschmitzt lächelte. Sie nahm mir dieses beständige Vorantreiben nie übel und war eher glücklich darüber, dass sie mit jemandem unterwegs sein konnte. Schließlich war auch ihre Existenz sehr speziell.
Unter hohen Steingebilden gingen wir hindurch, die wohl die Überreste eines Hochhauses bildeten. Beim Einsturz wurden sie wohl zufällig so angeordnet, dass sie eine Art Tunnel ergaben. Nach einigen Schritten auf der mit Rissen übersehenen Hauptstraße trauten wir unseren Augen kaum, als wir ein intaktes Gebäude einige Meter vor uns erblickten. Zu unseren Füßen hingegen lag ein Schild - vermutlich hing es einmal über dem Eingang und wurde hierher geschleudert - mit der Aufschrift „Bahnhof“. Nach einem kurzen Blickwechsel entschlossen wir uns, dort hineinzugehen und uns umzusehen. Unser Vorteil war, dass wir uns keine Worte mehr zusprechen mussten und trotzdem verstanden. Ob auch sie das gleiche Interesse in dieser Unterkunft sah, wusste ich jedoch nicht. Zumindest hoffte ich persönlich, dort jemand Lebendes anzutreffen.
„Aonar?“ Mit zarter Stimme riss Saol das Wort an sich. Nach einem kurzen Deuten in ihre Richtung fuhr sie auch gleich fort. „Meinst du, wir finden bald wieder etwas zu essen?“
„Keine Sorge“, bedachte ich ihr mit sanftem Ton, „wir haben noch etwas Proviant übrig und ich halte das schon durch. Du zumindest musst dir ja keine Sorgen darum machen.“
„Doch, das mach ich aber!“
Ihre leicht aufbrausende Art überraschte mich immer wieder und gab mir für einen kurzen Moment einen kleinen Trost. Dieses Mal konnte ich außerdem nicht anders, als darüber zu lachen.
„W-was ist denn so witzig?“ Offenbar gefiel es Saol nicht, dass ich mich über sie lustig machte. Es dauerte jedoch, bis ich unter meinem Kichern die richtigen Worte fand und aussprach.
„Nein, weißt du: Ich war einfach so lange allein und ich bin froh, dass du da bist.“
„Oh.“ Offenbar wusste sie darauf keine Antwort, weswegen eine längere Stille eintrat. „Das … ist für mich etwas schwierig zu verstehen, aber ich bin auch froh, dass ich mit dir reisen kann.“
„Ich weiß, ich gehe auch nicht näher darauf ein.“
Insgeheim wussten wir nämlich beide um ihre Identität, denn sie war …
„Tut mir leid … dass es nicht länger dauern wird …“ Plötzlich brach sie unter vermeintlicher Kraftanstrengung zusammen. Reflexartig drehte ich mich um und wollte ihr schon helfen, sah jedoch nur mehr ihren zarten Körper auf dem Boden liegen und wusste, dass etwas nicht stimmte.
„Saol, was ist los?“, rief ich unter plötzlicher Furcht vor dem, was sie sagen könnte. Ihre Antwort glaubte ich allerdings schon zu wissen.
„Ich glaube, meine Energie geht zur Neige. Das haben Androiden leider an sich.“
Meine Beine verließ die Kraft und ich ließ mich nach vorne fallen. Im letzten Moment stützte ich mich mit den Armen ab, um nicht hart aufzuprallen, aber das wäre mir ehrlich gesagt lieber gewesen, als diesen Anblick zu erleben. Langsam und so gut ich es konnte krabbelte ich vorwärts, um zu Saol zu gelangen. Schlussendlich saß ich kniend neben ihr und nahm sie in den Arm, um besser mit ihr reden zu können.
„Nein, sag das nicht! H-hörst du mich? Lass mich nicht zurück!“ Die Trauer beherrschte meine Worte und so sprach ich auf sie ein, doch sie schüttelte sachte ihren Kopf.
„Du weißt, dass es nicht geht. Es ist allein schon ein Wunder, dass ich bis jetzt noch stehen konnte. Normalerweise wäre nämlich schon lange Schluss gewesen, da die Leistung begrenzt ist. Vielleicht hat mich auch der Gedanke weitergetrieben, dich nicht allein zu lassen …“
„Ja, das wird es sein; und wir werden noch viel weiter reisen, nicht wahr?“
Sie schüttelte abermals den Kopf. „Nein. Du musst es wohl ohne mich tun.“
Mit panischem Gesichtsausdruck wollte ich ihr ein weiteres Mal erwidern, doch mir versagte die Stimme. Ich wusste nämlich, dass sie recht hatte.
„Aonar.“ Bestimmt sprach sie meinen Namen aus und legte mir ihre Hand auf die linke Wange, sodass ich sie spüren konnte. „Selbst, wenn ich vergehe, darfst du nicht aufgeben. Irgendwo da draußen wirst du weiteres Leben finden, da bin ich sicher und deswegen darfst und musst du weitergehen.“ Nach einer kurzen Atempause fügte sie noch hinzu: „Ich wäre gerne weiter bei dir geblieben, aber unsere Wege trennen sich wohl.“
„Nein, Saol, lass mich nicht zurück!“ Ich kämpfte bereits mit den Tränen und wollte sie aufhalten, aber sie fingen unweigerlich zu fließen an. Eine nach der anderen suchte ihren Weg zum Erdboden und versickerte dort im Grund. „Ich kann einfach nicht, ich war so lange allein, bis ich dich getroffen habe. Warum muss es enden? Wir … wir sind doch Freunde, oder?“
Diese eine Frage lag mir unweigerlich auf der Zunge und ich musste sie noch stellen. Warum ich das tat, wusste ich nicht. Eine Erwiderung würde mich ohnehin nur noch trauriger machen.
„… Ja. Ja, das sind wir.“ Die schwache Stimme des Mädchens drang bis zu mir durch und regte einen kleinen Schimmer der Hoffnung in meinem Herzen.
Eine nicht definierbare Zeit verging, in der niemand von uns etwas sagte, als sich das Mädchen doch noch einmal aufraffte.
„Mach’s gut; und pass auf dich auf …“, in diesem Moment rutschte ihre Hand von meiner Wange ab und fiel auf den Untergrund. „ … Aonar.“
Mit einem verzweifelten Aufschrei beglich ich diese Geste und brach in Tränen aus. Unkontrolliert sog ich Luft ein und stieß sie ebenso unregelmäßig wieder aus, während ich ihren nicht mehr funktionierenden Körper in den Händen hielt.
Nein; das stimmte nicht.
„Sie … war am Leben …“
Mehrmals hintereinander sagte ich schluchzend dieselben Worte. Wieder und wieder, als ob ich mir etwas beweisen müsste. Irgendwann stoppte ich allerdings und widmete mich allein meinen verbleibenden Tränen.
Unfähig, mich noch weiter zu bewegen, legte ich sie behutsam auf den harten Boden und ich mich neben sie; meine Hand in ihrer Hand. Weitere Schluchzer entkamen meiner Kehle und ich trauerte um diesen Verlust, der mir in diesem Moment erst richtig bewusst wurde. Wie zerbrechlich doch eine Freundschaft war, vermochte niemand zu erkennen, bis es so weit war. Selbst eine AI, eine künstliche Intelligenz, glich doch so sehr einem menschlichen Leben; das erkannte ich schnell.
Saol …
Nun war ich wieder allein. Allein auf dieser Welt, in dieser Stadt, in dieser Minute und ohne jemanden an meiner Seite. Mein fragiler Traum, mit jemandem zusammen zu sein, zerbrach wieder in endlos viele Scherben.
„Es… Es tut mir Leid“, dachte ich. Mein Partner bemerkte nicht, was gerade mit mir geschah, ebenso wenig, wie ich. Bis vor ein paar Sekunden war noch alles normal gewesen, wir hatten den Zeitturm gerettet und Dialgas wahres Ich zurück geholt, doch nun trat die Wahrheit ein, die Reptain und Zwirrfinst nicht länger vor mir verschweigen konnten. Gelbliche und bläuliche Lichtpunkte umgaben mich, erst nur ein paar wenige, vereinzelte, doch mit jedem Moment stieg ihre Anzahl an. Ich wollte es nicht tun, doch die Worte platzen plötzlich aus mir heraus, ich hatte meinen Mund nicht mehr unter Kontrolle.
„Héri… Ich… Ich…“ Ich brachte es nicht übers Herz, meinem Partner von dem Geschehen zu berichten, doch nun war es tu spät. Ich hatte etwas gesagt, ich hatte ein Geräusch beschworen und somit die Aufmerksamkeit meines besten Freundes geweckt. Er drehte sich um und blickte mir in die Augen. In den seinen lag tiefe Trauer, als er sah was mit mir geschah, er hatte es also verstanden. Tränen quollen aus seinen gläsernen Augen und fielen anmutig gen Boden herab, bis sie dort wie ein Schiff an einer Klippe zerschellten und in tausende, kleine Teilchen zersprang.
„Vipé, bitte… Geh nicht!“, flüsterte Héri. Seine Stimme war schwach und zerbrechlich, sodass ich mich anstrengen musste um meinen Partner zu verstehen, „Ich brauche dich hier. Die Gilde braucht dich hier.“
Weitere Tränen glitten sein Gesicht hinab und vielen zu Boden, ich betrachtete sie und meinem besten Freund, die Ähnlichkeit der Beiden lag in der Trauer. Doch woher wusste Héri so viel? Ich konnte mich nicht erinnern, ihm etwas davon erzählt zu haben. Hatte er Reptain und mich etwa belauscht?
„Es tut mir Leid“, hauchte ich, „Du wirst weiterleben müssen!“
Héri blickte mich mit einem traurigen Blick an. Eine Spur Verwirrung lag in seinen Augen, doch ich redete einfach weiter.
„Geh nach Hause. Erzähl allen was passiert ist. Erzähle ihnen wer Reptain wirklich war und was Zwirrfinst verbrochen hat. Berichte allen von der Zukunft und dem verborgenen Land und beschreibe wie wir Dialga besiegt haben. Erkläre ihnen den Zeitturm und sorge dafür, dass alle Zahnräder der Zeit dorthin kommen, von wo sie stammen. Sag allen, das ich sie vermissen werde.“
Héri lag die blanke Trauer auf dem Gesicht, noch nie hatte ich etwas Derartiges gesehen, wie es sich hier, direkt vor meinen Augen abspielte. Auch mir entrann eine Träne, doch sie war nur der Vorbote auf einen ganz Schwall ihrer Sorte, auch wenn ihnen nicht viel Zeit blieb, gleich würde ich verschwinden…
„Es tut mir Leid, dass ich gehen muss, Héri, aber das Schicksal will es so… Du bist und bleibst immer… mein bester Freund.“
Mit diesen Worten brachte ich meinen Partner dazu, auf die Knie zu fallen. Er hatte die Hände zusammen gefaltet und betete zu Arceus, dieses Drama zu beenden, mich auf dieser Welt leben zu lassen – Doch betteln schien zwecklos. Héri war traurig und er hatte Angst. Was würde er nur ohne mich machen? Wie sollte er in der Gilde arbeiten, wenn er keinen Partner mehr hatte? Trauer überkam ihn und binnen weniger Sekunden schwappte diese auf mich über.
Das Licht wurde stärker und ich spürte, wie mein Atem zu stocken begann. Er wurde immer abgehackter, bis man es nur noch ein Hecheln nach Atemluft nennen konnte. Mit blanken Entsetzten musste mein Partner Héri beobachten, wie sein aller bester Freund, ich, dahin schied. Es musste ein grausames Gefühl für ihn sein.
Ich spürte wie mir langsam schwarz vor Augen wurde und mein Denken langsam begann auszusetzten. Der Herzschlag in meinem Körper, das rhythmische Schlagen, meines Lebenselixiers, stoppte ab und mein Körper verschwand in einem endlosen, unbekannten Raum. Zurück blieb Héri, mit seiner Trauer und seinen Gedanken. Er dachte an mich und an unsere schönsten gemeinsam Momente. Zurück an den Kampf gegen Groudon und an das Zahnrad der Zeit am Nebelsee. Damals wussten wir noch nicht, dass ich aus der Zukunft stammte, wir hatten Selfe um Hilfe gebeten. Er dachte zurück an den Kampf gegen Zwirrfinst und seine Zobiris, wie Celebi uns vor das Zeitportal gezaubert hatte und wir durch eben dieses zurück in die Gegenwart flüchten konnten. Seine Gedanken schweiften um die Momente auf dem Zeitturm, wie wir das Schatten-Dialga bekämpften und es schließlich besiegt hatten. Schließlich erinnerte er sich an unsere ersten gemeinsamen Sekunden, am Strand von Schatzstadt. Damals hatte er mich ohnmächtig im Sand vorgefunden, woraufhin sein wertvollster Schatz, der später als Schlüssel ins Vergorgene Land dienen sollte, gestohlen. Héri und ich hatten ihn zurückgeholt und nach einigen Überlegungen ein Erkungsteam gegründet. Es war wie als könnte ich seine Gedanken lesen und ohne zu wissen, warum ich es tat, begann ich zu sprechen. Meine Stimme klang anders, als wäre sie nicht die meine. Sie war leise und krächzte ein bisschen, doch trotzdem verstand mein Partner jedes Wort, welches ich ihm in meinen letzten Sekunden mitteilte.
„So hat es angefangen und so wird es enden.“
Mit diesem Satz tat es einen hellen Ton und das Licht ummantelte mich, bis es mich vollkommen verschlungen hatte. Mein Körper löste sich in tausende, winzige Partikel auf, bis auch diese vollends von dieser Erde verschwanden, es bleib kein Hinweis auf meine Existenz zurück, so als wäre ich nie geboren worden. Ich war gekommen als Mensch und ging als Pokémon, zurück blieb mein Partner Héri. Dort lag er - Allein und verlassen auf den Steinen des Zeitturms, welcher nun gerettet war, gerettet durch uns. Diese Rettung war mein Ende und gleichzeitig ein Neuanfang für meinen Partner. Er verharrte auf dieser denkwürdigen Brücke und weinte. Millionen von Tränen fanden ihren Weg aus seinen Augenliedern heraus, auf den steinigen Boden, wo sie langsam und qualvoll versickerten. Mit ihnen Héris letzte Hoffnung, mich wieder zu sehen.