Ein Regentropfen landete auf Livs Stirn. “Hm?”, brummte sie unwillig, bevor sie die Situation einordnen konnte. Regen. Wasser von oben. Alles gut. Resigniert schnaufte sie und trottete der Gruppe weiter hinterher, die Augen auf den Boden gerichtet. So bemerkte sie nicht, wie langsam so ziemlich alle zum Stehen kamen und wäre beinahe in jemanden hineingeknallt. “Entschuldigung”, murmelte sie leise und entfernte sich etwas von dieser Person. Erst dann hob sie den Kopf. Ihre Wangen glühten. 'Alles okay, alles okay …', beruhigte sie sich. Manchmal war sie echt albern.
Der Hafen schien beinahe verlassen. Nur vereinzelt vertäuten Fischer noch ihre Schiffe. Und so sollten sie nach Anemonia kommen? Selbst Liv erschien es als unwahrscheinlich. Doch Hoffnung starb immerhin zuletzt, oder? Und so schlug Serena mit anscheinend unzerstörbarer Laune vor, sich aufzuteilen und so möglichst viele Fischer nach einer Mitfahrt zu fragen.
Seufzend setzte auch Liv sich in Bewegung. Nach einigen Schritten stellte sie fest, dass sie mit solch einem Auftreten wohl keinen Fischer von ihrem Anliegen würde überzeugen können. Sie zwang sich zu einem extrabreiten, erkennbar falschen Grinsen und zog Pys Pokéball hervor. Einen Moment lag rollte sie ihn zwischen ihren Fingern, bis sie den Knopf betätigte. Das altbekannte Zischen erklang und ihr Partner materialisierte sich.
“My?”, quietschte der Kleine fragend und verwandelte Livs falsche Grinsen sogleich in ein echtes, warmes Lächeln. Wohlig schaudernd stellte sie fest, dass auch das Band zwischen ihnen nun wieder zu spüren war. Es gab ihr in gewisser Weise Geborgenheit und ein wenig Mut.
“Sorry, dass du so lange da drin sein musstest, Sweety ...”, murmelte sie an seinen Kopf geschmiegt. Es breitete im Gegenzug seine Ärmchen aus und umarmte sie. Nun gut, oder auch nicht. Über Bilderaustausch teilte sie Pygraulon schnell die neuesten Ereignisse mit. Danach fragte sie, ob es ihr helfen wollte. Kaum zu glauben, dass man Gelb für solch ein Anliegen verwenden konnte … Die Antwort kam sofort, zusammen mit einer guten Portion grünem Tatendrang. “Okay!” Überrascht stellte sie fest, dass sie doch tatsächlich ihre Stimme verwendet hatte. Diese Gedankenverbindung war echt verwirrend. Fröstelnd erinnerte sie sich an den vorherigen Abend. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt jemanden von dieser ganzen Sache erzählen sollte, doch ganz sicher war, dass Samuel nicht ihr erster Ansprechpartner sein würde. Aber im Moment kam sie ja noch ganz gut allein zurecht.
Pygraulon fest umklammert stapfte sie auf das nächstbeste Boot zu und hielt nach einem Mannschaftsmitglied Ausschau. Wie aus dem Nichts tauchte ein junger Mann vor ihr auf, der so gar nicht dem Fischer-Stereotypen entsprechen wollte. Groß, hellbraune, verwuschelte Haare … und irgendwie gutaussehend. Diese Feststellung ließ Liv erröten. “Ähm ...”, setzte sie an und bohrte sich die Fingernägel in die Unterarme. “Wir – also ich und eine Gruppe von Trainern ...” Und was nun? Echt, normalerweise waren ihre rhetorischen Künste besser ausgebildet. Sie atmete einmal tief durch. Was sollte der Kerl denn bitteschön von ihr denken? “Wir haben uns bereit erklärt, Medizin für Schwester Joy zu holen. Und jetzt brauchen wir jemanden, der uns nach Anemonia bringt. Wäre es möglich, mit diesem Boot zu fahren?”, ratterte sie herunter. Der Mann sah sie verdattert an und schien für einen Moment zu überlegen.
“Nein, das geht leider nicht”, antwortete er und zuckte entschuldigend mit den Achseln.
“Bitte!”, entgegnete Liv mit geballten Fäusten und einem bestimmten Ton.
“Guck mal, Kleine. Siehst du, wie unruhig das Meer ist? Selbst, wenn du nicht viel von Seefahrt verstehst, sollte dir klar sein, dass das nicht gerade die besten Bedingungen für eine Schifffahrt sind, oder?” Überrascht von der Anrede folgte Liv seinem ausgestreckten Arm und staunte über die Wellen. Ja, sie konnte es gut nachvollziehen.
“Aber das Ampharos der Arenaleiterin ist krank! Und viele andere Pokémon auch!”, hielt sie gegen. So schnell wollte sie nicht aufgeben. Vor allem nicht bei ihm.
Er fasste sich stöhnend an die Stirn. “Auch das noch!”, stieß er hervor. “Dann geht es noch weniger. Amphi schenkt uns das Licht, das wir brauchen, um den Weg zu finden. Und dazu ist es schon bei Tag so eine gefährliche Route … Nein, das kann man nicht riskieren”, lehnte er ab.
“Aber ...”, murmelte sie enttäuscht. Mutlos ließ sie den Kopf hängen.
“Du willst doch nicht riskiern, dass dein kleines Freundchen hier ertrinkt?”, fragte er und tippte Py auf den Bauch. Livs Augen weiteten sich bei dieser Vorstellung vor Furcht.
“Nein. Ist gut, ich habe verstanden”, lenkte sie mit zitternder Stimme ein. Dann drehte sie sich auf der Stelle um und rauschte in Richtung Treffpunkt davon.
“Tut mir leid!”, rief er ihr hinterher. Das machte aber nichts besser. Eher noch schlimmer. Zu allem Überfluss schien es ihr, als würden die Tropfen immer stetiger werden. Regen passte zwar zu ihrer Laune, doch sie hatte eigentlich nicht das Bedürfnis, diese noch zu verstärken. Das Gespräch eben hatte sie schon genug aus dem Konzept gebracht. Vollkommen unerwartet waren die Erinnerungen wieder hochgekommen … vorgestern. Der Brand. Alles. Selbst ihre Großmutter war kurz in ihren Gedanken aufgetaucht. Unsinnig. Aber so war sie nunmal. Abwesend lehnte sie sich an eine Hauswand und wartete auf die Rückkehr der Anderen. Ihre Hoffnung war zwar nicht allzu groß, aber vielleicht verfügte ja irgendwer aus der Gruppe über größere Überzeugungskünste als sie.
OT: Habe ich gerade das erste Mal ihre Großmutter erwähnt? Dabei hat die vor zwei Jahren in der Bewerbung doch so eine dramatisch-zentrale Rolle gespielt : o
Whatever. ^-^