Liv bemerkte die entstehende Stille sehr gut, wusste aber nicht so recht, wie sie zu beenden wäre. Vorsichtig schielte sie zu Samuel herüber, der anscheinend in Gedanken versunken war. Auch sie driftete langsam ab, erinnerte sich an ihre Aktion. Sie hatte sich einiges getraut, darauf war sie stolz, aber teilweise hatte sie das Gefühl, übertrieben zu haben. Für wie egoistisch und dreist mochten die Anderen sie wohl halten? Dabei hatte sie ja wirklich nur helfen wollen ... Nun, es war nicht mehr zu ändern. Sie musste es nur schnell aus ihren Gedanken verbannen. "Samuel? Was meinst du, wie stark darf man Andere auf ihr falsches Verhalten hinweisen?", fragte sie vorsichtig. Sie war sich selbst nicht ganz sicher, was sie mit dieser Frage erreichen wollte. Sie hörte sich ja noch nicht einmal nach ihr selbst an und ... Ja, eigentlich war sie idiotisch. Brauchte sie denn schon wieder Aufmerksamkeit? Glaubte sie wirklich, dass Samuel bei so einer vage formulierten Frage eine Antwort passend zu ihrer Situation finden würde? Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Konnte das denn nicht einfach mal aufhören?
"Hmmm, was?" Livs Frage überraschte den Schwarzhaarigen etwas. Der Inhalt ließ seinen Blick jedoch gleich wieder ernst werden. Das war eine gute Frage. Aber für ihn selbst war die Antwort klar, nur schien sie kaum jemand zu teilen. Das war eine Bürde,unter der er schon oft hatte leiden müssen. "Ich denke...", setzte er an und sah zur Decke, während er dabei an seiner Brille rückte, "Man sollte Leute immer darauf hinweisen, wenn sie der eigenen Meinung nach etwas falsches tun. Nur sollte man es nicht übertreiben, sondern es kompetent und wohlwollend formulieren. Selbst wenn man es nicht so meint. Menschen hören nämlich nicht auf einen, wenn man sich feindselig verhält, man muss ihnen immer ein Gefühl von Sicherheit geben, sonst..." Nein, stopp. Was redete er da? Er musste nachdenken, verdammt! Er konnte doch nicht einfach so seine Zunge unkontrolliert sprechen lassen. Wie er es vorher an Deck getan hatte, quetschte er mit seinen Händen seine Arme nun wieder regelrecht. "Oh... tut mir Leid...", murmelte er und sah zu Boden, "Das war ziemlich ungeschickt von mir ausgedrückt. Na ja." Schon wieder seufzte er und sah Liv nun entschuldigend an. "Warum fragst du?", meinte er schließlich und versuchte dabei seinen Anflug von negativen Gefühlen mit einem fröhlichen Unterton zu überspielen.
"Oh, dann habe ich es wohl vollkommen verhauen ...", stellte Liv nicht gerade überrascht fest. Warum genau hatte sie gefragt? Wollte sie denn wirklich so, so dringend, dass jeder von ihrem Auftritt erfuhr? Nun, da musste sie sich wohl jemand anderen suchen als Samuel, er erschien ihr tatsächlich als recht verschwiegen. "Also ...", setzte sie an, "ich habe also Azurill beruhigt. Aber ich war nicht alleine. Und zwei Andere waren so aufdringlich, das tat beinahe schon weh, das anzugucken" Kurz sammelte sie die Worte in ihrem Kopf zusammen. "Und ich wollte dem Pokémon ja helfen und ... naja, ich habe sie ziemlich angemeckert, glaube ich ..." Erst jetzt fiel ihr auf, wie schnell sie von dieser so unbestimmten Frage zu einer wirklich konkreten Situation gesprungen war. Das hatte sie eigentlich nicht so geplant. "Und jetzt ... naja, ich will gar nicht wissen, was sie denken. Aber trotzdem hatte ich das Gefühl, das sagen zu müssen ... ach" Sie sollte es einfach lassen. Was nützte es denn schon? " ... egal", winkte sie hastig ab. Sie sollte Samuel nicht mit ihren Problemchen nerven, sie hatte das leise Gefühl, dass auch er gerade nicht ganz glücklich war. Und sie hatte seine Geduld eindeutig schon genug ausgenutzt. Seufzend zog sie ihre Beine zu sich heran und legte ihr Kinn auf die Knie.
Schweigend lauschte der Schwarzhaarige Livs Geschichte. So war das also gewesen... "Verstehe...", murmelte er kaum hörbar und hob seinen Blick wieder leicht, wobei er seine Beine entkreuzte und dich wieder normal hinsetzte. Ein weiteres Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Kurz darauf legte er seine Hand auf Livs Kopf und tätschelte sie sachte, wie man es wohl mit einer Tochter oder kleinen Schwester tun würde. "Ich kenne das.", sprach er vor sich hin, wobei er leicht traurig klang. Sein Blick wurde erneut von der Reflexion seiner Brille verdeckt. Schließlich nahm er seine Hand wieder von ihrem Kopf. "Ich kenne das zu gut. Keine Sorge, Liv, jeder hat das Recht, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Selbst wenn es egoistisch klingt. Manchmal muss man lernen, egoistisch zu sein..." Ja, er selbst war ein Egoist, so ein verdammt großer Egoist... Liv und er waren so verschieden... "Solange du glaubst, das Richtige getan zu haben, musst du dich nicht dafür schämen. Man muss auf das stolz sein, was man tut. Und du wolltest das Azurill doch, oder?" Er hatte sie währenddessen kein einziges Mal angesehen. Er dachte zu sehr nach. Ja, damals... da war er wohl auch so gewesen... "Aber Liv...", setzte er wieder an und fuhr sich durch sein Haar, während er einmal bedrückt und tief durchatmete, "bleib so wie du bist, ja?"
Beinahe wäre Liv vor der unerwarteten Berührung zurückgeschreckt. So zuckte sie zwar zusammen, sah Samuel aber nur verwundernd mit offen stehendem Mund an. Fasziniert lauschte sie seinen Worten. Sie klangen so richtig, so wahr ... eine gute Erinnerung daran, dass sie nicht immer so viel hinterfragen sollte. Was geschehen war, war nun einmal geschehen - sie konnte nur die Zukunft kontrollieren. "Mache ich!", versicherte sie ihm etwas sehr eifrig. "Lass du dich auch nicht unterkriegen, ja?", versuchte sie, auch ihn etwas aufzumuntern. Sie mochte vielleicht nicht gerade gut darin sein, aber vielleicht merkte er ja, dass sie es versuchte.
Liv schaffte es irgendwie immer, ihn wieder aufzumuntern... dafür bedachte er sie mit einem strahlenden Lächeln. "Ja, werde ich.", meinte er und hob seinen Blick wieder, seine Augen wirkten nun wieder weitaus klarer, "Was einen nicht umbringt, macht einen nur stärker." So wiederholte er noch einmal die Worte, die er zuvor an Geri gerichtet hatte, doch dieses Mal eher fröhlich. "Jetzt muss ich irgendwie daran denken, wie es war, als ich so alt war wie du...", murmelte er anschließend mit lachendem Unterton vor sich hin und legte sich eine Hand in den Nacken.
"Nostalgie, was?", kicherte Liv. "Kaum zu glauben, irgendwann bin ich auch so alt wie du, dann kann ich ja mal gucken, wie ich das alles dann sehe ...", überlegte Liv leise. Sie wusste nicht wirklich, wie alt sie Samuel einschätzen sollte, aber dass alles ganz anders sein würde, wenn man Abstand gewann, da war sie sich sicher.
"Darüber muss man sich nich keine Gedanken machen.", meinte Samuel grinsend und wippte leicht mit seinen Beinen auf und ab, "Man kann die Zukunft nur auf sich zukommen lassen. In so vielen Jahren... wer weiß, vielleicht werden wir dann zu all den Leuten, mit denen wir unterwegs sind, keinen Kontakt mehr haben..." Welch düsterer Gedanke. Ihm war es ja irgendwie egal... wobei... "Deshalb, genieße den Augenblick. Man kann nur in der Gegenwart die Zukunft ändern.", fügte er noch hinzu. Plötzlich gab es ein dumpfes Krachen und die Kajütentür wurde aufgestoßen. Eines der Machollo war dort mit einer Tafel. Es schrieb die Worte "Mitkommen!" und anschließend "Wir haben angedockt!" auf, woraufhin Samuel begeistert mit offenem Mund aufsprang. "Boah, es kann ja schreiben...", staunte er. Das schienen wirklich intelligente Vertreter ihrer Art zu sein. Schließlich sah er zu Liv runter und lächelte sie an. "Endlich wieder fester Boden!", sagte er mit unüberhörbarer Freude zu ihr.
"Cool!", war das einzige, was Liv auf die Schnelle einfiel. Ein Pokémon, das schreiben konnte, nun, das war schon etwas. "Ja, endlich!",pflichtete sie ihm bei. Und vielleicht bald sogar trockene Klamotten ... ein wundervoller Gedanke. Inzwischen hatte sie sich so an die klamme Nässen gewöhnt, eigentlich spürte sie sie schon fast gar nicht mehr. Sie nahm sich ihren Rucksack und vergewisserte sich schnell, dass der Luxusball noch oben in ihrer Umhängetasche lag. "Na los!", forderte sie ihn auf.
"Ja.", antwortete er knapp. Liv war so energetisch. Samuel wollte unbedingt ins nächste Center, seine Klamotten wechseln. Er hasste es nass zu sein. Und das machte ihm sein Körper auch kurzerhand klar... "Hatschi!" Ugh, so ein furchtbares Kribbeln! Als sich die beiden in Richtung Deck bewegten, musste er feststellen, dass draußen der Wind gewaltig heulte. Also legte sich der Forscher kurzerhand seinen linken Unterarm leicht über die Stirn, damit Auge und Brille wegen der Sicht noch etwas geschützt waren. Für den Schirm war es leider zu windig. Seine Rechte streckte er nach Liv aus. "Komm, nimm meine Hand! Ist sicherer!", brüllte er gegen den Sturm an. Er wusste selbst nicht, warum er plötzlich so fürsorglich ihr gegenüber war. Vielleicht war es das Gefühl, dass er ihr etwas schuldete... und sie war viel kleiner und zierlicher als er. Er könnte es sich nie verzeihen, wenn sie bei dem Sturm von den nassen Planken rutschen und ins tosende Meer fallen würde...
Als sie das Deck betraten, hätte Liv es beinahe unfreiwillig wieder verlassen. Der Wind war wirklich schrecklich. Als Samuel ihr etwas zubrüllte, sah sie ihn verwirrt an. "Was?", fragte sie schreiend zurück, bis sie seine Hand sah und meinte, zu verstehen. Bevor irgendwelche zweifel sie davon abhalten konnten, nahm sie seine Hand und hielt sie fest. Tatsächlich wurde sie nicht einmal rot, sie hatte das Gefühl, es gab dazu keinen Grund. Er wollte nicht, dass sie von Bord gefregt wurde, mehr steckte nicht dahinter ... hoffte und glaubte sie zumindest.
Hand in Hand verließen beide schließlich das Deck und kamen an Land an. Samuel hätte den Boden küssen können. Und zu Beginn hatte er noch gedacht, sie würden wegen dem Sturm das Zeitliche segnen... das musste man Horty und seiner Mannschaft lassen, sie wussten wirklich, wie man ein Schiff manövrierte. An Land rief Kapitän der Gruppe noch irgendwas zu, Samuel konnte lediglich noch das Wort "grün" aufschnappen, aber mehr verstand er nicht. Plötzlich erfasste ihn wieder dieses inzwischen bekannte Schwindelgefühl und er wankte, versuchte sich aber noch zu halten, da er Liv nach wie vor noch an der Hand hielt. Auf einmal hörte er Serena aufschreien und wandte seinen Blick sofort in ihre Richtung... woraufhin er seinen Augen kaum traute. Tatsächlich. Das Schiff, die Mannschaft... alle waren verschwunden.
Erleichtert seufzte Liv. Endlich wieder auf festem Land. Dann rief Horty ihnen etwas hinterher, in etwa, dass sie auf etwas Grünes aufpassen sollten. Das war dann wohl Azurill. "Machen wir!", brüllte Liv zurück. Ein leichtes Glücksgefühl ergriff sie. Wieder sicher, bald im Pokémoncenter, Azurill ... der restliche Tag würde sicherlich nur noch gut verlaufen können. Gerade bei diesem Gedanken ergriff sie der altbekannte Schwindel. Nicht nur ihr schien es so zu gehen, auch Samuel schwankte etwas. Besorgt sah sie ihn von der Seite an und bemerkte so, dass er seinen Kopf drehte. Verwundert sah sie in die selbe Richtung - und riss erstaunt die Augen auf. Das Schiff. Einfach weg. "Sam-Samuel?", fragte sie verwundert.
Liv schien ebenfalls überrascht. Samuel stand für einige Sekunden noch an Ort und Stelle, ehe sich ein tückisches Grinsen auf seine Lippen legte. So viel Unerklärliches... es machte ihn schier wahnsinnig, er war immerhin der Typ von Person, der alles aufklären musste. Egal, was es war! "Was geht hier nur vor...", murmelte er vor sich hin, was man im tosen des Sturmes wohl kaum hören konnte. Mit einem Kopfschütteln deutete er Liv, dass sie sich jetzt nicht weiter damit beschäftigen sollten und führte sie immer noch Hand in Hand den anderen folgend in Richtung Center. Dabei musste der Schwarzhaarige an eine bestimmte Person denken. Nein, SIE würde es erst recht nicht glauben, was er in den zwei Tagen inzwischen erlebt hatte.
OT: Und hier Teil 2 :3