"Ja! das ist das Buch! Dankedankedanke!" Freude war eine Untertreibung dafür, was Evelyn empfand, als Jasmin ihr das Buch unter die Nase geschoben hatte. Das Buch war da, arg zugerichtet, aber da. Evelyn nahm es dankbar entgegen und strich abwesend über die Buchstaben auf dem Einband. Sie pulsierten schwächer unter ihren Fingern als die der anderen Bücher, doch dieser kleine Funke Leben schien das Mädchen anzustecken und wirkte generell immer beruhigend auf sie. Sie versuchte, die Feuchtigkeit vom Einband mit dem Ärmel ihres Pullis zu trocknen, und blätterte danach vorsichtig zwischen den Seiten, um entstehende Eselsohren zu glätten.
Sie bekam nicht mit, wie das Mädchen von vorhin sich umwandte und Jamsin vorstellte, sie hörte auch nichts von den Erklärungen des Busfahrers, sie war nur irgendwann fertig mit dem Buch und flog hochkant aus ihrer Traumwelt. Erschrocken starrte sie Jasmin an, fing sich dann wieder und beruhigte sich leicht, bevor sie schüchtern udn sich total dämlich vorkommend fragte: "Verzeih meine geistige Abwesenheit, hast du was gefragt?"
Evelyn kippte fast vom Stuhl vor Freude, als Jasmin ihr das zerfledderte Buch gab. Meine Güte, das kann man doch neu kaufen... Begeistert wischte sie über den Einband und begann, zu lesen. Jasmin lächelte leise.
"Also..." setzte sie an. Ihre Sitznachbarin zeigte keine Reaktionen. Ihre Augen folgten eifrig den Zeilen. Ein wenig enttäuscht wandte Jasmin sich zum Fenster. Die Dunkelheit hatte alle Farben verblassen lassen. Dieses Phänomen hatte sie mal in Biologie erklären müssen (es lag an Zäpfchen, Stäbchen und fehlendem Licht) mit einem Mädchen, dass sie genau so wenig leiden konnte wie der Rest. Es kam ihr vor, als wäre das mehrere Jahrzehnte her.
Mehrere Minuten vergingen, in denen Jasmin einfach nur dem Motorengeräusch lauschte. Geschlafen hätte sie gern, doch immer, wenn sie die Augen schloss, drängte sich die tote Bestie wie eine nervige Werbeunterbrechung vor ihre Augen. Schließlich drehte sich die Angebetete von dem bunten Jungen träge zu ihr um. "Jasmin?" murmelte sie schläfrig. Ihre Augen klappten beinahe zu. Jasmin reckte den Kopf ein wenig und strich sich den Pony aus den Augen. "Hm?"
"Also… Es tut mir leid, dass ich eben nicht geantwortet habe… Ich konnte nicht… Also... ich wollte nur… ich wollte nicht unhöflich sein…" Das Mädchen schien frustriert über sich selbst zu sein. Immer wieder brach sie ab. Jasmin zog die Augenbrauen hoch. "Ich bin Emma" brachte sie schließlich heraus.
"Ah... okay." meinte Jasmin fragend. Wieso waren heute alle so verwirrt?
Emma drehte sich wieder um und schlief ein paar Minuten später. Jasmin beneidete sie zutiefst. Seufzend stopfte sie sich ihre Kopfhörer in die Ohren, startete die Parachute-Playlist auf ihrem Handy - scheiße, nur noch 19%, ich brauch dringend eine Steckdose - und sah wieder aus dem Fenster. Jetzt fühlte sie sich fast normal, wie auf langen Autofahrten zu Turnieren oder Ähnlichem. Sie war haarscharf davor, sich zu entspannen.
Ein paar Minuten oder auch mehrere Stunden vergingen, in denen sie immer wieder ganz kurz wegnickte. Das Schaukeln des Busses war ziemlich angenehm, sie musste die Gespräche der anderen nicht ertragen und die Landschaft draußen war einigermaßen ansehbar, sodass sie sich gut wegträumen konnte. Schon zum dritten mal riss Evelyn sie in die reelle Welt zurück.
"Verzeih meine geistige Abwesenheit, hast du was gefragt?" Erschrocken starrte sie sie an. Jasmin blinzelte mehrmals und rieb sich die Augen. "Hä? Nee. Hab ich was verpasst?"
"Oh, verzeih. Anscheinend habe ich dich geweckt, das wollte ich nicht. Ich glaubte nur, etwas verpasst zu haben, da ich dazu neige, in meiner eigenen Welt zu versinken, sobald ich ein Buch in die Hand nehme... Verzeih." Evelyn kam sich mal wieder unheimlich blöd für ihre Aussetzer vor, aber was konnte sie auch schon dagegen unternehmen? bis vor kurzen hatte die reelle Welt ihr wenig zu bieten gehabt, mitausnahme eines Rätsels, auf das sie keine Lösung gefunden hatte. Jetzt hatte sie Jasmin. Eine Freundin. Sie musste sich echt zusammenreißen. Seufzend steckte Evelyn ihr Buch weg und schaute herüber zu Jasmin, deren Lippe vor kurzen geblutet zu haben schien, was Evelyn vorher überhaupt nicht bemerkt hatte. Wenn ich überhaupt irgendetwas herausfinden möchte, ist es mir nicht erlaubt, weitrhin so ignorant zu sein., dachte sie bitter und folgte den Blick ihrer Freundin aus dem Fenster. Sie konnte einige schemenhafte Figuren vorbeiwischen sehen, detailierter war jedoch ihr eigenes Spiegelbild, dessen Lippe ebenfalls angeschlagen war. Evelyn konnte nicht anders als über diese Erkenntnis zu schmunzeln.
"Passt schon" lachte Jasmin, amüsiert über die Schamesröte in Evelyns Gesicht, die diese nicht mal zu bemerken schien "Du entschuldigst dich ja fürs Atmen!" Evelyn lächelte auch leise - entweder über ihren schwachen Witz (unwahrscheinlich) oder über Jasmins Gesicht, das sich klar neben Evelyns im Busfenster spiegelte (schon wahrscheinlicher, aber unhöflich!). Unter ihren wie immer unnatürlich weit aufgerissenen Augen lagen beunruhigende Ringe, ein Abdruck von der hochgeklappten Armlehne, auf die sie sich gelehnt hatte, zog sich quer über ihre rechte Wange und es fehlten mehrere Schichten der Haut an ihrer Lippe. Okay, ich würde auch grinsen, mildernde Umstände. Und die Lippen werde ich eh nie benutzen.
Zu ihrer Überraschung musste sie feststellen, dass es Evelyns Mund kaum besser ging. "Mensch, was ist denn mit deiner Lippe passiert?" fragte sie erstaunt und wandte sich dem Mädchen wieder zu. "Tut's weh?" Sie drehte die Musik leiser, um sie über dem ganzen Gerede im Bus verstehen zu können.
"Ähm, stört dich das?", fragte Evelyn perplex, und so leise, dass Jasmin sie wahrscheinlich nichteinmal hören konnte. Es hatte sich noch nie jemand darüber beschwert, dass sie sich zu oft entschuldigte. Wobei sie sich generell nicht bei vielen Leuten entschuldigte, da ihre Interaktion mit anderen Lebewesen am Tag vielleicht drei Minuten einnahm, maximal.
Die schwarzhaarige stellte verdattert fest, dass sie gestarrt haben musste, als sie Jasmins Blick im Busfenster trifft und sofort nach ihrer Lippe gefragt wird, was ihr das Lächeln nicht vom Gesicht nahm. "N-Nein, alles in Ordnung, mir viel nur auf, dass wir ähnliche Gewohnheiten zu haben scheinen...", sie hielt etwas dümlich einen Finger an ihre Lippe, um Jasmin zu zeiegn was sie meinte, während das Rot in ihrem Gesicht kaum weniger wurde. Warum war Jasmin nicht einfach ein Buch? Dann konnte sie entspannt lesen, ohne sich zu schämen. Oder anderesherum... Wobei der Gesprächsfaktor auch irgendwie Spaß zu machen schien.
Immer noch lachte Jasmin amüsiert. "Nein, aber stört diese ewige Unsicherheit dich nicht selbst?" Umständlich wandte sie sich ihr zu und streckte die Beine aus. "Nicht dass ich das schlimm fände. Ich bin ja selbst so. Aber, naja... wir haben uns doch schon bewiesen, dass wir uns nicht gerade beißen, also what's the matter? Wieso setzt du dich selbst so unter Druck?" Evelyn errötete nur noch mehr. Langsam schwand Jasmins Lächeln. "Hab ich was im Gesicht?" fragte sie leicht verunsichert. Welch Ironie.
"Nein, mitnichten!" Evelyn begann sofort abwerend mit den Händen zu wedeln, um Jasmin zu zeigen, dass sie ganz sicher nichts abnormales im Gesicht hatte. "Von den Sinnesorganen natürlich abgesehen..." Uiuiui... Von Sekunde zu Sekunde wurde Evelyn klarer, was ihre Gesprächspartnerin über sie gesagt hatte, und vorallem wie schwer der Wahrhitsgehalt ihrer Worte wog. Evelyn ließ sich kraftlos in ihrem Sitz zurücksinken, bedeckte ihre Nase durch eine Art geschlossene Megafon-bewegung ihrer Hände und seufzte tief. "Ich war mir über diese Umstände bisher eher im Unklaren, allerdings treffen deine Worte natürlich zu. Meine soziale Kompetenz gegenüber anderen Personen ist nur leider nicht sehr stark ausgeprägt, weswegen ich mir nie sicher bin, wie ich nun genau mit anderen Menschen umgehen soll."
Jasmin legte den Kopf leicht schief. Evelyn schien fast genau so einsam gewesen zu sein wie sie selbst. "Hm, weißt du, die meisten Leute erwarten nicht irgendwelche Höchstleistungen. So wie du bist, passt es doch gut. Da musst du dir doch keine Mühe geben" sagte sie fragend. In so etwas war sie wirklich grottenschlecht, was vielleicht aber auch an der fehlenden Übung lag. Sie spürte förmlich, wie der Schmalz von ihr tropfte. "Oh mann, sorry, das klingt ja wie eine wirklich schlechte Kinderserie" murmelte sie grinsend. "Naja. Jedenfalls glaube ich, wir sollen dem Busfahrer es sagen, falls wir noch irgendwo was abholen müssen. Ich hab alles in meinem Rucksack -" sie klopfte auf die dunkelblaue Tasche zwischen ihren Füßen "- aber brauchst du noch irgendwas?"
"Ja, also Nein, äh." Evelyn hatte Jasmins kleine Aufmunterungsrede recht unerwartet getroffen und sie damit etwas aus der Fassung gebracht. Sie versuchte, sich den Rat ihrer Freundin zu Herzen zu nehmen und atmete noch einmal tief durch, bevor sie - nun viel ruhiger - antwortete. "Nein, ich benötige ebenfalls nichts mehr. Alle meine Habseligkeiten befinden sich in diesem Rucksack. Und dankeschön, ich werde versuchen, deinen Rat zu beherzigen..." Die 16jährige lächelte Jasmin irgendwie seltsam an, um ihr zu singnalisieren, dass sie bereits dabei war, das gesagte in die Tat umzusetzen, doch der Gedanke an Veränderungen ihrer bisherigen Umgangsweise mit Anderen rief leichtes Unbehagen in Evelyn hervor. Natürlich verstand Jasmin in dieser Hinsicht viel mehr von der Welt als sie - oder zumindest glaubte Evelyn dies. Trotzdem... Wie sollte sie sich denn Gegenüber anderen Menschen entspannen und gehen lassen, als würde sie ein Buch lesen? Das konnte doch nicht funktionieren, dazu war Evelyn einfach nicht gemacht.
Evelyns Mundwinkel verkrampften sich leicht, und sie stellte innerlich fest, dass sie anscheinend ganz belämmert aussehen musste. Allerdings fühlte sie sich nicht halb so fehl am Platz wie wenn sie mit Fremden sprach. War dies etwa Freundschaft? Sich in der Nähe der betreffenden Person wohl zu fühlen? Fühlt sich schön an..., dachte sie glücklich, während ihr Lächeln sich in ein Echtes Lächeln verwandelte.
OT: Mit Rocketgirl, weil Partnerposts toll sind.